Montag, 2. Oktober 2023
Düster

Roman in Fortsetzungen, Spielzeit um 1965. Sämtliche Geschichten ranken sich um die Titelfigur, einen Kriminalkomissar aus dem nord-hessischen Städtchen Karlskirchen. Ich habe sie zum Teil aus verworfenen Buchmanuskripten gerettet, dann freilich umgearbeitet. Folge 8 wurde Ende Oktober online gestellt. Gesamtumfang: knapp 120 Seiten.

1 Der Rollstuhl (Gut 40 S.)
2 Ein Freundschaftsdienst (10 S.)
3 Frisch gestrichen (11 S.)
4 Sanierungshilfe (9 S.)
5 Gefährliche TÜV-Prüfung (10 S.)
6 Favoritensterben (15 S.)
7 Müllerkoogs BernharDiener (8 S.)
8 Der Mückenschuster (15 S.)





Der Rollstuhl


»Ich sehe, du bist völlig überlastet, Bernd«, sagte die Chefin genüßlich.

Die Bürotür von Düster und Ohl stand wie meistens auf. Die üppige, um nicht zu sagen dicke Chefin der beiden Herren stand wie aus dem Boden gewachsen auf der Türschwelle und zwinkerte. Ja, leichtfüßig war die 54jährige Kriminalrätin. Man hörte noch nicht einmal ihre prächtigen kastanienroten Locken rascheln. Es waren sogar echte.

Düster winkte ab, tat sein Lesezeichen in das vor ihm auf dem Schreibtisch liegende Buch und klappte dieses zu. »Was gibts denn, Lilli ..?«

Aber sie ließ sich Zeit. Sie war neugierig geworden. »Was liest du denn für einen Schmarren?« wollte sie wissen, trat dabei längst näher und nahm das Buch zur Hand.

»Erstklassige Fachliteratur!« protestierte Düster zum Schein, legte sich lang im Drehstuhl zurück und ver-schränkte seine Arme. »Unerläßliche Fortbildung, Lilli!«

Der einzige Karlskirchener Kriminalkommissar, eigentlich Bernd Dühser mit Namen, maß 1,83 und sah mit seiner zurückgekämmten windschnittigen, schwarzen Mähne durchaus gar nicht so schlecht aus. Er war schlank und knapp über 40.

Lilli verstülpte die Lippen, las den Buchtitel Der Robin Hood des Warmetals und schlug das Buch auf. Dann las sie ihrem Untergebenen die ersten Sätze vor: »Der Robin Hood des Warmetals war eine Frau. Uns Heutige mag eine solche Eröffnung nicht mehr erschüttern, doch damals, in der ‚romantischen‘ ausgehenden Goethezeit, kam die Enttarnung der heimischen, wenig zimperlichen Rebellin und Wohltäterin der Armen und Entrechteten zumindest im Waldecker Land einer Bombe gleich …«

Lilli schob das Buch wieder auf den Tisch. »Hm, hm«, sagte sie. »Vielleicht ein bißchen ungeschickt, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Ist das Buch nicht langweilig?«

»Ach woher! Diese Ilona Velberting, übrigens eine Lehrerin des Kasseler Friedrichsgymnasiums, das ja, aus seinem Kollegium, bereits Prominenz wie den Theater-mann Franz Dingelstedt hervorbrachte, versteht sich aufs Erzählen. Im übrigen wird das Ende der Rebellin aus dem Warmetal noch nicht einmal im Klappentext verraten.«

»Na gut. Dann mußt du ran. Erstatte mir Bericht, sobald du den Schmarren durch hast.«

»Zu Befehl, Frau Kriminalrätin … Und was hast du sonst so auf dem Herzen?«

Lilli hatte es wirklich nicht eilig. Sie nickte auf den leeren Drehstuhl von Kriminalhauptmeister Reimut Ohl, Düsters Gegenüber, sofern er anwesend war. »Wo steckt denn Reimut?«

»Na, weißt du doch. Er ist im Sägewerk, wegen dem angeblichen Arbeitsunfall.«

»Mein Gott!« schlug sich Eugenie Lilienthal an die Stirn, »ein Kopf wie ein Sieb, obwohl der so dick ist!«

»Aber mit allen Wassern gewaschen!« erwiderte Düster prompt.

Lilli winkte schelmisch mit einem Zeigefinger. Dann richtete sie diesen etwas unvermittelt gegen die südliche Außenwand des ziemlich unscheinbaren, erst nach dem Krieg gebauten Mietshauses, in dem die kümmerliche Außenstelle der Fritzlaer Kripo residierte. Sie nutzten ihre Vier-Zimmer-Wohnung in der zweiten Etage lediglich zu dritt.

»Wie es aussieht, hat sich mal wieder ein alter Mensch umgebracht. Am Untermarkt, Hausnummer 17. Könntest du einmal nach dem Rechten sehen, Bernd? Eine Streife ist schon da, sie sichert den Unglücksort, bis du eintriffst.«

Düster nickte nur, erhob sich, griff nach dem hellen Jäckchen, das die Hälfte seines zerbeulten Leinenanzuges ausmachte, und steckte noch ein paar Dinge in die Jackentaschen. Dann folgte er seiner Chefin in den Flur. Ein Spaziergang an der frischen Luft würde ihm guttun, es war ein sonniger Vormittag im Mai. Lilli ging Düster kaum bis zur Schulter und konnte bestenfalls bei Interviews mit der Kasseler Post noch so eben als »vollschlank« durchgehen. Kassel war die nahe Bezirkshauptstadt an der unteren Fulda.

»Ach ja«, meinte Lilli in Höhe ihrer wegen Mach Männchen wohlweislich geschlossenen Bürotür und hielt Düster für Sekunden an der Schulter zurück. »Könntest du freundlicherweise Mama Josipovic bitten, mir ein Stück Käsetorte und ein Kännchen Schokolade zu schicken, Bernd?«

»Selbstverständlich.«

Düster deutete eine grüßende Handbewegung an und verschwand im Treppenhaus.

Lilli aß für ihr Leben gern Käsetorte, vor allem die aus der Konditorei am Untermarkt. Die Wohnung der Kripo lag in der kaum 300 Meter langen Bahnhofstraße – eine Stichstraße, die am Untermarkt von der Kasseler Straße abging und die ihren Namen bislang beibehalten hatte, während man Karlskirchen den Bahnanschluß vor wenigen Jahren geraubt hatte. Eugenie Lilienthal – wie Lilli eigentlich hieß – hatte es nicht verhindern können, obwohl sie sich als wackere Kämpferin gegen Mißwirtschaft und Korruption verstand. Auch den Auftrag mit der Käsetorte erachtete sie als Bestandteil ihres Kampfes gegen die Korruption. Sie hätte natürlich auch in der Konditorei anrufen können. So jedoch hatte sie dem Steuerzahler wieder die Gebühren für ein unnötiges Ortsgespräch erspart.





2



Bei knapp 12.000 Einwohnern wies Karlskirchen eine Straßenbahnlinie, zwei Marktplätze und sogar noch ein Amtsgericht auf. Man munkelte allerdings in Polizei-kreisen, das Justizjuwel am Holzweg werde demnächst aufgelöst und dem Fritzlarer Amtsgericht eingegliedert. Düster hatte nichts dagegen, denn er verachtete nicht nur den klobigen Sandsteinklotz am Holzweg, sondern das Rechtswesen überhaupt. Das durfte er natürlich bei dienstlichen Tagungen oder Schulungen nicht laut sagen.

Die eingleisige Straßenbahn fuhr auf der Kasseler/Fritz-larer Straße, die ungefähr die Alt- von der Neustadt trennte, hin und her. Der Untermarkt war auf der Seite mit der Straßenbahnhaltestelle unbebaut. Zur Rechten lagen ältere Geschäftshäuser, zur Linken die Konditorei und das ansehnliche Gut Gleim. Dieses zeigte dem Markt einen Triumphbogen als Toreinfahrt und ein prächtiges Herrenhaus, das mit roten Fachwerkbalken und grünen Fensterläden glänzte. Am Kopf des Untermarktes erhob sich das eher einfallslos gestaltete, erst knapp 100 Jahre alte dreigeschossige Rathaus. Es war weiß getüncht. Das graue Schieferwalmdach wurde von einem Uhren- und Glockentürmchen gekrönt. Die Uhr zeigte kurz vor 11.

Düster winkte zwar seinen beiden Kollegen von der Schutzpolizei zu, erledigte aber zunächst seinen Auftrag in der Konditorei, damit Lilli nicht etwa von all dem Wasser, das ihr inzuwischen im Mund zusammenlief, jämmerlich ersticken mußte. Dann hielt er auf dem buckligen Marktpflaster etwas schräg auf das dreigeschossige gelbe Backsteinhaus mit der Nummer 17 und einer Tordurch-fahrt zu. Im Erdgeschoß lag die Polsterei Rühmling & Nagel. Merkwürdigerweise waren die Scherengitter an den beiden hohen schmalen Ladenfenstern und der dazwischen sitzenden Ladentür herabgelassen. Sollte der Todesfall bereits so rasche Folgen gezeitigt haben?

Die uniformierten Herren Schütz und Beberbeck lungerten kichernd in der Durchfahrt herum. Wahrscheinlich hatten sie sich just über Düster das Maul zerrissen. Man begrüßte sich jedoch kollegial mit den Vornamen. Die Durchfahrt, in der die Haustür mit den Klingeln lag, war schon überwiegend in Schatten getaucht, denn das Rathaus, über dem sich der Karlskirchener Schloßberg abzeichnete, ging gegen Süden.

»Wir müssen in den Hof«, nickte Schütz nach hinten. »Der Leichenwagen war bereits hier. Aber Holger hat fleißig Bilderchen gemacht.«

Es waren nur wenige Schritte. Der Hof erwies sich als ein von recht hohen Mauern begrenzter Schlauch, der vor dem kleinen Park des alten Hospitals endete. Dort badete sich, ebenfalls vor einer Mauer, eine alte Badewanne in der Sonne. So weit Düster sah, diente die mit Erde gefüllte Wanne als Tomatenbeet. An der westlichen Mauer war ein Vordach zu sehen, unter dem ein zerbeulter, dunkelblauer Renault-Kastenwagen stand, wohl von dem Polsterer. Die Rückfront des Hauses lag noch im Schatten. Sie wies in der Mitte einen Vorbau auf, der vielleicht zwei Wintergärten enthielt. Vor dem zweiten Stock endete er, denn man hatte sein Flachdach für einen Balkon ausgenutzt. Und dort war die nächste Merkwürdigkeit zu erblicken: das Geländer fehlte. Aber es lag nicht etwa im Hof. Dafür standen die drei Polizisten vor einem Rollstuhl, der auf der Seite lag. Schütz, ein massiger Kerl in Düsters Alter, wischte mit dem Handrücken über das nach oben zeigende Rad, ohne daß sich dieses dadurch in Bewegung gesetzt hätte. Dann nickte er am Haus hinauf und erklärte:

»Wir nehmen stark an, die alte Frau Rühmling ist mitsamt ihrem Rollstuhl vom Balkon gefallen – oder wie man das Ereignis nennen soll. Die Balkontür steht ja auf, wie du siehst. Womöglich fehlt das Geländer, weil der Balkon gerade saniert wird. Trotzdem benutzte ihn die Frau, sofern unsere Annahme zutrifft. In der Konditorei heißt es, sie sei die Tante von dem Polsterer und die Hauseigen-tümerin. Ihr Mann, ein höherer Postbeamter, liegt schon seit längerem unter der Erde. Der Arzt sagt, die Gestürzte war gleich tot: Genickbruch. Er schätzte, sie sei nicht früher als höchstens zwei Stunden vor unserem Eintreffen zu Tode gekommen. Wir wollten natürlich gleich ins Haus gehen, um vielleicht Auskünfte zu erhalten und Zeugen aufzutreiben, aber es scheint niemand da zu sein. Die Polsterei hat ein Schild in der Tür hängen: Geschlossen, auch die Hintertür ist verrammelt, und auf die Klingeln drückten wir vergeblich. Man müßte in der Nachbarschaft fragen.«

Düster nickte und dachte über diese Eröffnung nach, während er seinen Blick schweifen ließ. Beberbeck, ein blonder Jüngling, griff in sein schickes Umhängetäschchen aus genarbtem, braunem Leder und ergänzte:

»Willst du mal die Bilder sehen?«

Auch dazu nickte Düster. So reichte ihm Beberbeck die Fotos aus der Sofortbildkamera, die er stets mit sich zu führen pflegte.

Danach war die Clanmutter eine klapperdürre, weißhaarige Greisin mit starken Backenknochen gewesen. Ihre Friseuse konnte man bedenkenlos weiter empfehlen: ihre helmartige Dauerwellenfrisur hatte bei dem Absturz kaum gelitten. In Ohrnähe waren allerdings Platzwunden zu sehen. Ihr gefrorener Blick zeigte noch, wie Düster jedenfalls vermutete, ihre Angst vor dem Fall.

»Wie seid ihr eigentlich hierher gekommen?« wollte Düster von seinen Kollegen wissen. »Wenn doch das Haus verwaist ist?«

»Sieh an«, spottete Beberbeck, »die Kripo!«

Schütz übernahm die Antwort. »Ein Touristenpaar aus Kassel hatte sich in den Hof verirrt. Sie sahen die Leiche und rannten gleich in die Konditorei. Frau Josipovic alarmierte die Polizei und spendierte den beiden Gästen unseres bezaubernden Landstädtchens eine Runde Kognak.«

»Habt ihr die Personalien und die Kasseler Hotelanschrift der beiden?«

»Selbstverständlich.«

Düster verstülpte seine Lippen, nickte anerkennend und sagte nach einem erneuten Rundblick durch den Hof:

»Ich glaube, den Rest schaffe ich allein, Kollegen. Grüßt den lieben Onkel Ollenhauer und macht mir später einen schönen Bericht!«

Sie grinsten sich an, nickten Düster zu und verschwanden in der Durchfahrt. Ollenhauer war der Karlskirchener Polizeichef, ein Arschloch.





3



Bevor Düster die Feuerleiter nahm, rüttelte er an ihr; ein Unfall war schließlich genug. Sie schien noch fest in der Hauswand verankert zu sein. Sie war ihm bereits aufge-fallen, bevor ihn die beiden Schutzpolizisten verließen. Zwar war sie nicht neben dem Vorbau angebracht, aber unter Einbeziehung eines Fenstersimses konnte er den Balkon trotzdem erreichen.

Vom Geländer keine Spur, nimmt man einmal die Halte-rungen aus. Vielleicht war es in irgendeine Schlosserei verfrachtet worden, wo es, durch neue Stäbe oder Gitter ergänzt, zur Minute einen hübschen, tomatenroten Anstrich erhielt, der später trefflich mit der 20 Meter entfernten Badewanne korrespondieren würde. Der Balkonfußboden zeigte einen grauen Estrich, der jedenfalls nicht erneuert worden war.

Da die Balkontür sowieso aufstand, betrat Düster die Wohnung. Von der vorderen Hausseite aus hatte man einen hübschen Blick auf das Gleimsche Herrenhaus und auch noch über den halben, ausgedehnten Gutshof. Die Gestürzte hieß Hertha, Hertha Rühmling also, wie Düster einigen Briefen entnahm, die er in der Küche in einem Brotkorb fand. Wie sich versteht, ließ er seine Blicke nicht völlig arglos aus den Fenstern und über die rustikalen Möbel schweifen, aber niemand lauerte dem Kommissar auf, um ihn heimtückisch zu überwältigen.

Für eine alleinstehende, gebrechliche Greisin war die Wohnung eher zu groß. Im Schlafzimmer stand noch ein altmodisches Doppelbett, das aber offensichtlich nur zur Hälfte genutzt wurde. Die Wohnung machte einen durchaus sauberen, wenn auch etwas schäbigen, davon abgesehen spießigen Eindruck. Düster wunderte sich fast, keinen Vogelbauer und kein Katzenklo zu entdecken. Die Wohnungstür war verschlossen. Es gab eine Kette, sie war jedoch nicht eingehakt.

Nachdem er mehrere Schlüssel eines Bundes ausprobiert hatte, das an einem Brettchen hing, betrat Düster den Hausflur. Er spähte eine Stiege empor, die auf den Dachboden führte, ohne sie zu nutzen. Eins tiefer schien der Polsterer zu wohnen, stand doch Benno Rühmling an der Wohnungstür. Schütz hatte erwähnt, Nagel stünde nur noch aus Pietätsgründen im Firmennamen. Düsters Klingeln ließ den Alleininhaber ungerührt, falls er zu Hause war. Im Erdgeschoß gab zu Düsters Verblüffung die Klinke einer Tür nach, die ihn in Rühmlings Werkstatt führte. Sie wirkte aufgeräumt und verwaist. Die Schatten der geschlossenen Scherengitter zur Gasse hin wurden von der Mittagssonne in ausgesprochen spitzem Winkel auf das gediegene Linoleum des Werkstattfußbodens geworfen. Im Gitterschatten der gleichfalls verglasten Eingangstür sah Düster jetzt auch das an die Scheibe geklebte Schild, das ihm beim Eintreffen am Unglücks- oder Tatort nicht aufgefallen war. Wie er später von außen las, verkündete es Wegen Krankheit vorübergehend geschlossen.

Düster vergewisserte sich, daß sowohl die Haus- wie die Hoftür verschlossen waren, und ging wieder nach oben, weil er sich noch einmal auf dem Balkon umsehen wollte. Er verschloß Frau Rühmlings Wohnungstür und verstaute das Schlüsselbund in der Innentasche seines Jäckchens, ehe er wieder ins Freie trat. Hatten sie Pech, war der Balkon von Nachbarn kaum einzusehen. In Richtung zum Bahnhof wurde der Hof, bevor die Mauer anfing, von einem alten Stallgebäude begrenzt, das sich im rechten Winkel an das lückenlos angebaute Nachbarhaus anschloß. Dieses Quergebäude wies, statt Fenstern, lediglich ein paar Schlitze auf, die an Schießscharten erinnerten. Gen Süden dagegen, zum Schloßberg hin, fielen die paar Nachbarhäuser hinter die Fluchtlinie zurück, weil das geräumige Haus der Rühmlings vergleichsweis tief angelegt worden war.

Düster setzte, im Interesse des Gemeinwohls, erneut sein Leben aufs Spiel, hangelte sich auf den erwähnten Fenstersims und gelangte so wieder auf die rostige Feuerleiter. Auf halber Höhe angekommen, vernahm er von der Südseite her eine Frauenstimme.

»Sie sind ja wohl kein Ganove? Ist die arme Frau wirklich tot?«

Er bog seine Nase um die Hausecke. Die Frau schüttelte gerade ein Tuch aus einem Fenster des Nachbarhauses, wobei sie es freundlicherweise vermied, Düster in eine Staubwolke zu hüllen. Sie wollte ihn lieber ganz genau sehen. Düster schätzte, sie war nicht viel jünger als die Verstorbene, freilich vollbusig. Er sagte:

»Müßte ich mich nicht an dieser Rostgräte hier sorgfältig festhalten, könnte ich Ihnen meinen Polizeiausweis zeigen. Ja, sie ist leider tot. Kannten Sie Frau Rühmling?«

»Naja, was heißt schon kennen? Das Haus gehört – oder gehörte ihr. Sie saß oft auf ihrem Balkon. Das Geländer hat der junge Rühmling neulich abgeschraubt und in seinen Kastenwagen geladen, den Polsterer meine ich. Er hatte das Geländer in vier Teile zerlegt, die paßten gerade noch in seine blaue Beule hinein. Der Junge war ihr Neffe, und er betreute sie wohl auch. Ist er nicht da?«

»Leider nicht. Jedenfalls habe ich vergeblich an seiner Wohnungstür geklingelt, und seine Werkstatt hat er ja geschlossen.«

»Ja, weil er von der Leiter gefallen ist und sich die Hand gebrochen hat, so viel Pech auf einmal!« rief die Nachbarin in weinerlichem Tonfall aus. »Vielleicht ist er in diesem sogenannten Zugball, im ehemaligen Bahnhof, wissen Sie, wo sie jetzt immer Billard spielen.«

»Tut er das?«

»Ja, tut er. Schließlich kann er nicht den ganzen Tag neben ihrem Rollstuhl sitzen und ihr das Händchen halten.«

Düster schmunzelte nur innerlich. Zudem fragte ich sich, wie einer mit einer gebrochenen Hand Billard spielen wolle, schließlich handelte es sich nicht um Fußball. Aber von alledem verriet er seiner neuen Flamme nichts. Er sagte:

»Haben Sie das Unglück zufällig verfolgt oder sonst eine sachdienliche Beobachtung gemacht? Gab es Lärm? Streit? Besuch?«

Natürlich hatte sie nicht. So weit ging ihre Nächstenliebe nicht, daß sie der Polizei unter die Arme griff.

Düster dankte ihr und setzte seinen Weg zum Hof fort. Heil wieder unten angekommen, hielt er zielstrebig auf den halb umgekippten Rollstuhl zu, während er sich den Rost von den Handflächen zu streifen suchte. Dann eiferte er Beberbeck nach, zog eine kleine Leica aus der Jacke und fotografierte den Rollstuhl mehrmals. Dabei nahm er sich, in Naheinstellung, besonders dessen Bremsen vor. Darauf hatte ihn ein fast nagelneues Rennrad gebracht, das er in Rühmlings Polsterwerkstatt entdeckt hatte. Auch Fahrräder haben schließlich Bremsen. Bei dieser Entdeckung hatte es in Düsters Gehirnkasten geklingelt. Die beiden Bremsen des Rollstuhls bestanden aus verhältnismäßig primitiven Bügeln, die durch Betätigung eines kleinen, einrastbaren Hebels auf die Reifen gepreßt werden konnten. Dies war hier der Fall: Die Bremsen des vom Balkon gefallenen Rollstuhls waren angezogen.

Nachdem er seine Kamera wieder verstaut hatte, verließ Düster den Hof, musterte die Polsterei von außen, indem er sie abschritt, und blickte schließlich zur Rathausuhr. Es war inzwischen 12 Uhr 23.

Gewiß haßte Düster Uhren. Gleichwohl besaß er notgedrungen eine schlichte Armbanduhr. Er vermied es aber stets, sie in den Fällen zu benutzen, wo in seinem Blickfeld auch eine Wand-, Stand- oder Turmuhr lag. Damit schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen demütigte er dadurch seine Armbanduhr, sowieso eine unmögliche Erfindung; zum anderen stahl er auf diese Weise anderen Leuten oder gar der rastlosen Gesellschaft im allgemeinen die Zeit, ohne dafür von einem Staatsanwalt belangt werden zu können.

Düster beschloß, Mittag zu machen. Vorher ging er jedoch in die Konditorei zurück, wo er aus naheliegenden Gründen immer gern gelitten war. Er bat eine Angstellte von Frau Josipovic, telefonieren zu dürfen, und rief Lilli an. Mithörsicher am Tresen angelehnt, erklärte er seiner Chefin, möglicherweise sei der Unglücks- ein Tatort; es sei etwas faul. Ob Ohl schon zurück sei? Nein, erwiderte sie, der Kollege müsse jedoch in Kürze eintreffen, wie er am Telefon verhießen hatte. »Na gut. Dann mache ich erst einmal Mittag, im Ratskeller. Sollte Reimut in der nächsten Dreiviertelstunde auftauchen, schicke ihn bitte mit dem Bulli zu mir, damit wir Spuren sichern und diesen verdammten Rollstuhl fortschaffen können. Andernfalls komme ich zurück ins Büro. Reimut soll aber die Bahnhofstraße und den Untermarkt nehmen, damit wir uns nicht etwa verfehlen.« Das leuchtete Lilli ein.

Der Ratskeller, ebenerdig gelegen, ging auf den Untermarkt. Düster hielt auf ihn zu. Der säulenbewehrte Haupteingang des Rathauses lag auf der Vorderseite, zum Schloßberg hin. Düster war keineswegs Stammgast des Ratskellers, aber heute konnte er von einem Fensterplatz aus die Polsterei Rühmling im Auge behalten. Er wollte nicht, daß jemand den Rollstuhl anrührte. Immerhin war das Gulasch mit Nudeln und Spargel, das er dann verzehrte, leidlich genießbar, dabei sogar preiswert. Zu Hause kochte er selten. Im Grunde hatte er immer nur bei sogenanntem Damenbesuch gekocht, und dieser hatte in den letzten Jahren doch stark nachgelassen.

Düster hatte eine kleine Mietwohnung im Mansardendach der traditionsreichen Apotheke Röder am unteren Ausgang des Obermarkts. Es war ein stattliches Eckgebäude im Barockstil. Er wohnte nach hinten hinaus. Sein Ausblick ging über die halbe Stadt und an klaren Tagen fast bis Niedenstein. Diese Wohnung hatte ihm ein Freund des betagten Apothekers Hartmut Röder vermittelt, der ehemalige Tischler und Spanienkämpfer Stubenrauch, der jetzt Antiquar war. Der hatte ihm auch das Robin-Hood-Buch ans Herz gelegt. Düster hatte es vor rund zwei Stunden in weiser Voraussicht mitsamt seiner Kamera in seiner Jacke verstaut. Jetzt zog er es hervor, um seine Lektüre wieder aufzunehmen, während er seinen Cappuccino schlürfte. Der wäre allerdings in der Konditorei überzeugender gewesen. Pech.





4



»Du hast recht«, sagte Ohl, nachdem er einige Blicke zwischen dem Rollstuhl und Frau Rühmlings geländer-losem Balkon gewechselt hatte, »die Sache stinkt.«

Dann dachte er wieder nach, wobei er sich mit beiden Händen sachte unter dem Anflug von Bauch kratzte, den eine knallgrüne Windjacke verbarg. Ohl liebte diese Jacke – eine gewagte Zusammenstellung, war er selber doch knallblond. Soweit Düster wußte, war der Kriminalhaupt-meister glücklich mit einer diplomierten Maschinenbau-ingeneurin verheiratet, mit der er schon einen Schlag Kinder hatte. Mit Düster spielte er Fußball: er rackerte bei den Alten Herren der Borussia im Mittelfeld, während Düster das Tor zu hüten hatte. Jetzt fuhr Ohl fort:

»Gewiß – wenn man so kühn ist, als Greisin im Rollstuhl auf einen Balkon ohne Geländer zu fahren, ist man sicherlich gut beraten, die Bremsen des Rollstuhls festzustellen, ehe man vor lauter lauer Mailuft einnickt. Hätte die alte Dame jedoch geplant, sich in selbstmörderischer Absicht aus ihrem abgebremsten Rollstuhl in ihren Hof zu stürzen, wäre der Stuhl wohl kaum hinter ihr hergefallen. Somit müßten wir hier vor einem Rollstuhl mit gelösten Bremsen stehen – was ersichtlich nicht der Fall ist. Was schließen wir daraus?«

Düster grinste. »Sie hat beim Kippen hinter sich gegriffen, um ihren abgebremsten Rollstuhl mit ins Verderben ziehen zu können. Vielleicht dachte sie, dann bewilligt die Versicherung wenigstens einen neuen Rollstuhl, den mein Enkel benutzen kann, wenn es so weit ist.«

Damit brachte er Familienvater Ohl sogar zu einem gutmütigen Lachen. Ohl schlug neckisch nach ihm und sagte:

»Wir sind uns also einig. Das Opfer wurde möglicherweise oder sogar wahrscheinlich von einer anderen Person mitsamt ihres abgebremsten Rollstuhles in den Hof gestürzt. Bei dem schmalen Balkon und dieser dürren Greisin ist das ein Kinderspiel, würde ich doch sagen. Hatte sie überhaupt Kinder?«

»Keine Ahnung. Mir wäre schon geholfen, wenn ich ihren Neffen auftriebe. Das ist der Polsterer aus dem Erdgeschoß. Ich werde mich nach ihm auf die Socken machen, sobald wir unsere kleine Konferenz beendet haben.«

»Gut«, sagte Ohl und faßte wieder den Rollstuhl ins Auge. »Bliebe nur noch zu klären, ob sich die Bremsen durch einen Aufprall womöglich von selbst feststellen können. Das wäre für unsere Theorie ziemlich peinlich.«

»Glaubst du an diese Möglichkeit?«

Ohl wog sein Haupt, um es schließlich zu schütteln. »Kaum. Umgekehrt wäre es einleuchtender: wenn sich die Bremsen durch den Aufprall lösten. Aber man muß es untersuchen. Das heißt, Experten fragen, zum Beispiel die Ingenieure des Herstellers oder die von der Zulassungsstelle.«

»In Ordnung«, sagte Düster und nickte auf ihren weiß lackierten »Bulli«, der in seinen Einbauschränken zahlreiche Werkzeuge und Materialien enthielt, die man beim Sichern von Spuren gut gebrauchen kann. »Nimm die Gurke mit, Reimut, und mach dich bitte schlau.«

»Bulli« war in jener Zeit, um 1965, der verbreitete Kosename für den Kleinbus von VW. Sie hoben den Rollstuhl gemeinsam durch die Hecktür hinein, wo ihn Ohl mit Spanngurten verzurrte. Als er wieder im Hof stand, nickte er zu Frau Rühmlings Balkon hinauf:

»Soll ich jetzt mal da oben nachsehen?«

Düster nickte und griff in seine Jacke. »Ja, sei so gut, Reimut. Vielleicht findest du ja Spuren von einem Einbruch, oder Fingerabdrücke von Jack the Ripper oder sonst was Aufregendes.«

Er drückte Ohl das Schlüsselbund in die Hand und ergänzte überflüssigerweise: »Wenn du fertig bist, schließ wieder schön ab und versiegele die Bude. Vergiß die Balkontür nicht. Ich verschwinde jetzt.«

Ohl schenkte ihm einen mit den Augen wringenden Abschiedsblick, nahm seinen Instrumentenkoffer aus dem Wagen, verschloß diesen und ging zur Hoftür, an der er auf Anhieb den richtigen Schlüssel erwischte.

Düster dagegen tauchte in die Durchfahrt, um seinen Spaziergang wieder aufzunehmen. Das heißt, wegen der unumgänglichen Erkundung steckte er seinen Kopf zunächst in ein paar Nachbarhäuser. Dabei zog er freilich erwartungsgemäß nur Nieten: niemand wollte etwas gehört oder gar gesehen haben. Dann schritt er kräftig Richtung Bahnhof aus. Der Himmel war nach wie vor wolkenlos. Von den Dächern und Straßenbäumen pfiffen sich etliche Amseln gegenseitig aus. Düster fiel der saublöde Schiedsrichter ein, der ihn kürzlich bei einem Auswärtsspiel in Obervorschütz um ein Haar vom Platz gestellt hätte. Wegen einer angeblichen »Tätlichkeit« gegen den Obervorschützer Rechtsaußen, eine selten freche Bohnenstange! Jetzt war allerdings die Frage, wem Oma Rühmling ein Dorn im Auge gewesen war.





5



Am Hauptquartier der Kripo hatte Düster seinen Weg nur kurz unterbrochen, um seine Chefin ins Bild zu setzen. Der ehemalige Karlskirchener Bahnhof lag keine 150 Meter weiter. Das zweigeschossige Gebäude verriegelte die Bahnhofstraße, die sich vor ihm zu einem kleinen Wende-platz ausbuchtete. Die neuen EigentümerInnen hatten die gemauerten Geschoßbänder und Fenstereinfassungen blaßbraun, den Rest hellrosa gestrichen – naja … Die schwarzen Lettern Karlskirchen waren ausgelöscht. Dafür ließ sich jetzt einer Schreib- und Leuchtschrift, die über der Flügeltür des vorspringenden Eingangshäuschens saß, entnehmen, man könne hier den Zugball betreten. Bei Dunkelheit glühte der Namenszug in Pink – die Farbe der Snookerkugel, die sechs Punkte einbrachte. Das Ehepaar Lunken, früher in Kassel wohnend, hatte sich für die in Deutschland noch wenig verbreitete Billardvariante Snooker erwärmt, weil Reanne Lunken aus England stammte. Gatte Ottmar Lunken war von Hause aus Architekt. Das Paar bewohnte den Oberstock. Im Erdgeschoß luden die vier ungewöhnlich großen, mit grünem Tuch bespannten Billardtische zum Gefecht ein. Im Anbau der ehemaligen Güterabfertigung lagen die Toiletten und der Heizraum. Dem Eingang gegenüber umschloß die halbkreisförmige Bar eine schmale Küche.

Düster hatte sich an der Bar des Snookersalons hin und wieder ein Herkules-Pils vom Faß gestattet. Flüchtig in die Stoßtechnik eingeweiht, mußte er auch einräumen: die Taufe auf Zugball war durchaus geistreich, und das Snookerspiel selber entbehrte nicht einer gewissen Eleganz, die eher in Ballsälen als in Turnhallen zu Hause war. Gleichwohl wäre ihm das Gebäude als Bahnhof lieber gewesen. Früher war er vermittels der nach Grifte führenden Stichstrecke mal nach Kassel, mal nach Wabern oder gar Marburg gefahren. Jetzt blieb ihm nur sein klappriger VW-Käfer – denkste, Puppe! Da verreiste er lieber gar nicht mehr. Ähnlich hielt er es mit seinem privaten Boykott des Snookersalons. Seine letzte Stippvisite lag sicherlich schon ein halbes Jahr zurück. Düster blieb also dem Fußball und der Borussia treu.

Düster ging hinein. Für die Mittagszeit war der Salon recht gut besucht. Täuschte ihn seine Spürnase nicht, wurde Düster gleich an der erwähnten Bar fündig. Zu den drei Personen, die dort auf Barhockern thronten, gehörte ein etwas stiernackiger Hüne um 40, der möglicherweise Angst vor den Verfolgungen seitens seiner Schwieger-mutter hatte, denn genau so sah er Düster an. Immerhin steckte er aber in einer geblümten Weste, die ganz erheiternd wirkte.

Wie sich versteht, ließ sich der Kommissar nichts anmerken. Er machte zunächst einen kleinen Erkundungsgang durch die gediegen wirkende Sportstätte. An einem Schwarzen Brett klopfte er sich in Gedanken auf die Schulter. Neben verschiedenen Ranglisten und Ermahnungen hing dort ein Ausschnitt aus einer jüngeren Nummer der Kasseler Post. Unter der flotten Schlagzeile des Artikels (»Zugball Karlskirchen nimmt Fahrt auf«) wurde die Verstärkung des bislang in der Landesliga mitmischenden Snookerclubs gewürdigt. Es handelte sich sogar um eine Frau. Vera Klapp, 29, hatte witzigerweise ähnlich kastanienrotes Haar wie Düsters Chefin, wenn auch zum Bubikopf frisiert. Ansonsten glich sie jedoch einer Gerte. In den heimischen Snookerkreisen werde sie bereits »das Klappmesser« genannt, verriet der Karlskirchener Korrespondent den zahlreichen Lesern der Kasseler Post. Tatsächlich beugte sich die scharfe Dame auf dem abgedruckten Mannschaftsfoto gerade tief über die Bande und ihr Queue (den Billardstock), um womöglich genau jenen Stoß mit Unterschnitt anzusetzen, der in England meist »Backspin«, in Deutschland dagegen »Rückzieher« oder eben »Zugball« genannt wurde. Klapps drei Kameraden stützten sich neben ihr nur leicht auf eine andere Bande des Snookertisches, dabei siegesgewiß in die Kamera grinsend. Der Hüne, der im Augenblick von der Bar aus unauffällig Düsters Spaziergang durch den Salon verfolgte, zählte offensichtlich dazu. Er hieß Benno Rühmling.

Düster suchte zunächst die Toiletten auf, sagte sich »Frechheit siegt« und schob sich anschließend an der Bar neben Rühmling auf einen freien Hocker. Er bat den jungen Mann hinter dem Tresen um einen Espresso. Nachdem er das Getränk gekostet und für gut befunden hatte, wandte sich Düster an seinen Nachbarn:

»Entschuldigen Sie bitte – ich nehme an, Sie sind der Polsterer Benno Rühmling vom Untermarkt?«

Der Hüne zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, das ist richtig.«

Düster hatte nicht den Eindruck, der zumindest körperlich große Spieler werde ihm sogleich ein Autogramm geben. Sein kantiger Schädel wurde von einem dunklen, nach hinten gekämmten Bürstenschnitt gekrönt, der unter der Beleuchtung eines Snookertisches wahrscheinlich, vor lauter Pomade, wie der Edersee in Mittagsglut aufblinkte. Er war tadellos rasiert. Düster nickte hinter ihn zum Ende des Bartresens, wo ein paar runde Cafehaustischchen standen, und fuhr fort:

»Mein Name ist Bernd Dühser. Würden Sie sich für einen Moment mit mir an einen Tisch setzen? Ich hätte etwas Familiäres mit Ihnen zu besprechen.«

»Warum nicht?« erwiderte Rühmling mit einem etwas verlegenen Lächeln – vielleicht, weil der Barkeeper guckte.

Nachdem sie am Tisch saßen, erklärte Düster, er hätte leider eine schlimme Nachricht für den Polsterer, wobei er ihm seinen Polizeiausweis unter die kräftige Nase hielt. Rühmling verkniff seine tiefliegenden Schweinsäuglein und nickte zum Zeichen dafür, Düsters Autorität anzuerkennen. So ergänzte dieser:

»Ihre Tante Hertha hat sich umgebracht, Herr Rühmling.«

Wahrscheinlich lagen seine Stärken eher im Stellungsspiel auf dem grünen Tischtuch, nicht im Schauspielern. Düster war ziemlich sicher, er wußte es bereits. Trotzdem stammelte der Polsterer:

»Tante Hertha? Sie hat sich umgebracht? Ja, wo denn, wie denn?«

Düster erklärte es ihm. Dann schob er die naheliegende Frage nach dem Warum nach. Aber dazu trug Rühmling nur vor, was vermutlich für 1.000 andere gebrechliche alte BewohnerInnen Nordhessens genauso gut galt: Seit einem Schlaganfall an den Rollstuhl gefesselt, in letzter Zeit auch zunehmende Sehschwäche der 79jährigen, ihre Hilfsbedürftigkeit und entsprechende Abhängigkeit und so weiter. Als ihm nichts mehr einfiel, kippte sich Rühmling mit einem Ruck den Rest seines Mineralwassers in den Rachen und sagte, während er bereits Anstalten zum Aufstehen machte:

»Ja, dann will ich doch gleich einmal zu ihr gehen!«

Düster nötigte ihn jedoch mit einem Klaps auf die Schulter wieder auf seinen Stuhl und erklärte ihm, seine Tante befinde sich bereits im Leichenhaus und ihre Wohnung sei amtlich versiegelt worden.

Jetzt schien er aufrichtig erschrocken. »Warum denn
das ..?«

»Reine Routine«, winkte Düster ab. »Da in solchen Todesfällen Fremdeinwirkungen nicht immer völlig auszuschließen sind, müssen wir die möglichen Spuren am Unglücksort entsprechend sichern … Apropos, Herr Rühmling – aus demselben Grund bitte ich Sie auch, mir die Frage zu verzeihen, wo Sie sich heute vormittag zwischen 9 und 12 Uhr aufgehalten haben.«

»Hier!« nickte er durch den Salon und sah den Kommissar fast belustigt an.

Seine Antwort klang verdammt selbstsicher. Wie Düster den Kleiderschrank einschätzte, war er eher im Ungleichgewicht, aber was sein Alibi anging, schien er sich sicher zu sein, ein As aus dem Ärmel gezogen zu haben.

»Wüßten Sie ein paar Anwesende, die Ihre Angabe bestätigen könnten?«

Rühmling sah sich situationsgerecht um und nannte ihm im ganzen drei Personen. Düster bat ihn zu warten und befragte die Zeugen sogleich. Sie bestätigten seine Angabe. Der Barkeeper erklärte, Benno stelle sich seit seinem Unfall häufig schon morgens zum Training ein, wenn der Salon aufmache, das war um Neun, und so auch heute. Vorübergehend abwesend sei Benno auch nicht gewesen, das wäre ihm bestimmt aufgefallen. Was denn los sei?

Der Kommissar beschwichtigte ihn wie er es schon mit Rühmling selber gehalten hatte. Der hatte die Umfrage mit gespielter Gleichgültigkeit verfolgt. Zu ihm zurückgekehrt, verzichtete Düster darauf, wieder Platz zu nehmen. Er sagte:

»Da Sie Ihre Tante sowieso sehen wollten, Herr Rühmling, werden wir das jetzt organisieren. Um jeden Irrtum auszuschließen, muß sie nämlich von einer Person, die sie gut kannte, identifiziert werden. Wenn Sie mich jetzt in unser nahes Büro begleiten würden, besorge ich uns einen Wagen, dann fahren wir ins Leichenhaus. Anschließend bringe ich Sie selbstverständlich wieder hierher oder auch nach Hause, ganz wie Sie wünschen.«

Er nickte nur und erhob sich sofort. Im Vorübergehen versicherte er dem Barkeeper: »Bin gleich wieder da, Boris, falls jemand fragt.«

Düster zahlte seinen Espresso und folgte Rühmling, der ihm sogar einen Türflügel aufhielt. So ganz ungehobelt war er also nicht.





6



Düster war nicht der einzige Kriminalbeamte, der Verhöre eher zu vermeiden sucht. Im Sinne des Gesetzes sind nur solche Veranstaltungen Verhöre, an deren Beginn eine Rechtsmittelbelehrung des Zeugen oder Verdächtigen steht. Außerdem muß das Verhör protokolliert werden. Der Verhörte kann sogar darauf bestehen, nur im Beisein eines Rechtsbeistandes vernommen zu werden. Und so weiter. All diese Zeremonien, die sicherlich nicht dazu angetan sind, den Verhörten aufs Glatteis zu locken, lassen sich umgehen, wenn man ihn beispielsweise in einem Snookersalon oder auf einer Spazierfahrt zum Leichenhaus aushorcht. Das ist nicht verboten. Er muß ja nicht antworten. Freilich ist ihm das selten klar, und so plaudert er halt mit. Das Verhör empfiehlt sich eigentlich nur dann, wenn es gilt, den Zeugen oder Verdächtigen einzuschüch-tern. Man kann ihn auf diese Weise mitunter sogar zu einem Geständnis bewegen oder in den Selbstmord treiben.

Die Leichenhalle lag nicht unpassend jenseits des Schloßberges zwischen dem Städtischen Friedhof und dem postmodernen Stadtkrankenhaus, das einen schon vom bloßen Anblick her reif für den Sarg machte. Die Fahrt dort hin vermittelte Düster ein recht gutes Bild sowohl von Rühmling wie von dessen Tante. Es kam ihm ziemlich schlüssig und somit wahrheitsgemäß vor. Immerhin verzichtete der Polsterer darauf, große Betrübnis wegen des Todes seiner Tante zu heucheln. Wahrscheinlich hatte ihn »die Kratzbürste« – um die er sich ja, neben einer Pflegekraft und einer Putzfrau, Tag für Tag mit gekümmert hatte – oft genug geärgert. Rühmling war kein verschlagener Mensch; er neigte, seiner grobschlächtigen Statur zum Trotze, im Gegenteil zur Einfalt. Er erregte sich sogar jetzt über den Argwohn der Alten – in Gegenwart eines Kriminalkommissars! Er erklärte freimütig, zur Entschädigung für seine Mühen habe ihm Frau Rühmling einen »Riesenrabatt« auf die Mieten für seine Werkstatt und seine Wohnung gewährt. Anders hätte er sich, als Polsterer, kaum selbständig machen können, und schon gar nicht auf dem teuren Pflaster des Untermarkts. Freilich, nun sehe die Sache schon wieder anders aus, seit diesem Arbeitsunfall. Dabei deutete er auf sein linkes Handgelenk, während sie an einer Ampel auf Grün warteten.

Da sein Handgelenk normal wirkte, fragte Düster: »Wann war denn das?«

»Vor rund drei Monaten.«

»Lag der Arm in Gips?«

»Ja, sicher.«

Düster nickte, wollte jedoch wissen: »Waren Sie durch den Handbruch nicht auch als Snookerspieler lahmgelegt?«

»Gottseidank nicht!« rief sein Fahrgast mit der erwähnten Einfalt aus und strahlte ihn beinahe triumphierend an. »Ich bin Rechtshänder. Die Linke benötige ich natürlich als Bock, also als Auflage für das Queue, meine ich, aber das ließ sich einrichten, nachdem wir den Gips im Winkel zwischen Daumen und Zeigefinger ein wenig beschnitten hatten. Ich sage Ihnen, meine Gegner staunten nicht schlecht!«

Darüber konnte Düster erst später richtig lachen. Im Moment sprang die Ampel auf Grün, sodaß er sich dem Verkehr zu widmen hatte. Später weidete er sich an der Vorstellung, Rühmling habe seine Gegner mit der Gipshand eingeschüchtert, bedroht, verprügelt, ja er habe sogar einen Schiedsrichter mit ihr erschlagen.

Nach der Identifizierung, auf der Rückfahrt, versuchte Düster den deutlich blasser wirkenden Neffen durch die Frage aufzumuntern, wo er eigentlich das fehlende Balkongeländer versteckt habe, und vor allem, warum er es versteckt habe. Dazu rang sich Rühmling sogar ein halbes Grinsen ab. Natürlich verhielt es sich – angeblich – genau so, wie von der Karlskirchener Polizei bereits vermutet: Das Geländer, an dem Frau Rühmlings Herz gehangen habe, stand zwecks Restaurierung bei einem örtlichen Schlossermeister. Düster notierte sich später die Adresse für die unumgängliche Überprüfung dieser Aussage. Dann sprach er beiläufig die interessante Frage der Erbschaftslage an. Rühmling behauptete jedoch, von möglichen testamentarischen Verfügungen nichts zu wissen. Es gebe noch eine Schwester ihres längst verstorbenen Ehemanns, in Kassel, und in Felsberg eine Nichte, die bei der Betreuung gelegentlich für Rühmling eingesprungen sei. Düster schrieb sich auch diese Adressen auf.

Als er sich vor dem Zugball mit Handschlag vom Zeugen Benno Rühmling verabschiedete, war es kurz nach Drei. Er fuhr den Wagen in die Doppelgarage der Kripo und ging in sein Büro hinauf. Die Chefin hatte ihm bereits den schriftliche Bericht von den beiden Schutzpolizisten auf den Schreibtisch gelegt. Sie hatte draufgekritzelt, der Arzt hätte sich inzwischen auf einen Todeszeitpunkt zwischen 9 und 10 Uhr festgelegt. Düster rief bei Frau Rühmling an. Ohl war noch da. Er habe bislang keine nennenswerten Spuren gefunden – aber außen am Haus sei ihm etwas aufgefallen. Düster mußte schon vorher lachen, denn nun erzählte ihm sein Kollege etwas von einer verrosteten Feuerleiter, die offensichtlich frisch benutzt worden sei. Er habe Fingerabdrücke abgenommen …

Ohl hatte vom Tatort aus auch schon Nachforschungen wegen der Rollstuhlbremsen eingeleitet, aber selbstverständlich noch keine Ergebnisse vorliegen. Düster bat ihn abschließend, noch einmal gezielt nach einem Testament Ausschau zu halten. Er werde jetzt Feierabend machen, damit seine Überstunden nicht bis zur Höhe des Gefangenenturms anwüchsen. Dieses denkmalgeschützte Bauwerk markierte am Ende der steil ansteigenden Schloßgasse den Aufstieg zur Burgruine. Die Schloßgasse begann am Obermarkt, wo Düster ja wohnte. Er hatte aber vor, auf dem Nachhauseweg noch einen kleinen Umweg zu machen, nämlich über das Amtsgericht, wo Stubenrauchs Antiquariat lag. Eine Plauderei mit dem alten Kämpfer war immer erholsam, sofern er nicht aufbrauste und Gott und die Welt verdammte.

Wie es der Zufall so wollte, lief ihm am Untermarkt der dicke Mandel über den Weg, genannt die dicke Mandel. Das war der hiesige Repräsentant der Kasseler Post, der jenen Artikel über das »Klappmesser« geschrieben hatte. Jetzt bestürmte er den Kommissar mit Fragen nach dem tödlichen Sturz in Haus Nummer 17. Düster speiste ihn mühsam mit der Formel vom wahrscheinlichen, tragischen Unfall ab. Dann erkundigte er sich seinerseits nach Vera Klapp. Wie sie denn ausgerechnet, von Frankfurt am Main aus, in dieses Kaff geraten sei?

Mandel lächelte genüßlich. »Na, die ist doch die neue Flamme des Spielers Benno Rühmling, Herr Kommissar. Alles wissen Sie also auch nicht. Die beiden haben sich bei einem Turnier in Südhessen kennengelernt. Die Frau ist ein As – übrigens auch ein Multitalent.«

»Wieso?«

»So jung, wie sie ist, mischt sie bereits in der hessischen Landespolitik mit. Sie gehört der FDP an und soll nun in Karlskirchen eine Fraktion aufbauen. Das neue Parteibüro liegt in der Schwimmbadstraße, über dem Porzellan-geschäft Korf, falls Sie es noch nicht mitbekommen haben. Und diese scharfe Lady ist die Bürochefin. Dabei war sie noch vor wenigen Jahren nur eine schnöde Friseuse. Aber ehrgeizig, sage ich Ihnen, ehrgeiziger als Ollenhauer!«

Düster nickte mit dünnem Lächeln, dankte dem heimischen Pressezar und bog zwischen Gut Gleim und Rathaus in die Untergasse ein.

Von dem Zeitungsfoto her fand er »die Lady« eigentlich nicht sonderlich umwerfend. Hüften fast knabenhaft, Brüstchen wie angespitzte Tischtennisbälle. Wahrschein-lich ging sie ihrem neuen Hünen kaum bis zu den Schlüsselbeinen. Aber vielleicht hatte sie »Temperament«, wie man heute dazu sagte. Eine gewisse Energie strahlte sie durchaus aus.





7



Die Untergasse ging mit einem Knick in den Holzweg über. Kurz vorm Amtsgericht zweigte rechterhand, in spitzem Winkel, das Gässchen »Hinter dem Amtsgericht« ab. Dort stand die heruntergekommene Jugendstilvilla, dessen Kellergeschoß sowohl Stubenrauchs Antiquariat wie seine Junggesellenhöhle beherbergte. Ob ihm die Villa gehörte, entzog sich Düsters Kenntnis. Im ersten Stock tobten die Mitglieder eines sogenannten Kinderladens; im zweiten wohnten langhaarige Kommunarden mit kurzhaarigen Kommunardinnen. Vom Plattenweg aus, der zu Stubenrauchs Kellerladentreppe führte, konnte man das Schieferdach des Amtsgerichtes zwischen den Bäumen schimmern sehen. Das war nicht unpassend, war doch Stubenrauch mehr als einmal vor die Schranken der Justiz bestellt worden. Nebenbei hatte man seinen Laden auch schon einmal mit Pflastersteinen beworfen, worauf er vor der Tür und den Fenstern notgedrungen Rollgitter anbringen ließ. Erst in Düsters Alter nach Spanien zu den anarchistischen Truppen gegangen, war der hagere Weißhaarige inzwischen um 70. Vermutlich bezog er, wenn nicht Miete, dann irgendeine schmale Rente, denn von dem Laden konnte sich kein Siebenschläfer ernähren. Stubenrauch war unverbesserlicher Antiautoritärer. Dem Kasseler SDS diente er als Vorposten, und den wenigen Gleichgesinnten in Karlskirchen als Auskunfts- und Schreibbüro. Selbst Mandel ging zu Stubenrauch, wenn er am Ende seines Lateins war. Dafür vermied er es, den alten Aufmucker in die Pfanne zu hauen.

Stubenrauch freute sich über Düsters Erscheinen und bot ihm gleich einen ächzenden alten Korbsessel und Kaffee an. Der war bei Stubenrauch stets so kräftig, daß der Teelöffel fast wie eine Kokospalme in ihm stand. Düster erzählte von seinem Ausflug in die Welt des heimischen Snookersportes. Das führte selbstverständlich zu einer Brandrede Stubenrauchs gegen die besoldeten VerbrecherInnen, die jetzt überall Bahnstrecken erwürgten. Er hatte auch neue Nachrichten von der drohenden Karlskirchener sogenannten Altstadt- oder Flächensanierung, die für Stubenrauch nichts anderes als ein Kahlschlagunternehmen der örtlichen Auto-, Bau- und Kaufhausmafia war. Eingeweihte hätten durchblicken lassen, den ganzen Streifen zwischen Untermarkt und Holzweg, der von der Straßenbahn und der Untergasse begrenzt wurde, wünsche der Magistrat platt zu machen und in eine riesige Baugrube zu verwandeln. Der Streifen war immerhin mehrere Fußballplätze groß.

Düster fragte sich gerade, ob die neue heimische FDP-Aktivistin auch schon an diesem Ding mitdrehte, und ob er diese Frage dem Antiquar vorlegen sollte. Da verhieß ein neckisches Klopfen an Stubenrauchs zum Teil verglaster Ladentür tatsächlich Damenkundschaft! Die Frau trat ein. Auch sie trug Bubikopffrisur, wenn auch diesmal eine braune. Im Gegensatz zu Klapp war sie offensichtlich kein Strich in der Landschaft, was man trotz des Halbdunkels im Laden deutlich erkennen konnte. Stubenrauch sprang sofort begeistert oder beflissen auf, während sie den beiden Kaffeetrinkern lächelnd entgegenkam.

»Na, das ist ja eine schöne Überraschung, Frau Velberting!« flötete Stubenrauch. »Sie waren bestimmt seit sechs Wochen nicht mehr bei mir. Nehmen Sie bitte Platz, ich hole eine saubere Tasse.«

Sie dankte ihm und nickte dem Kunden mit der schwarzen Mähne freundlich zu, als sie neben ihm in ihrem Korbsessel saß.

»Bernd Dühser«, stellte sich der Kommissar artig vor. Dann runzelte er aber seine Stirn. »Sagte er ‚Frau Velberting‘ ..? Die Autorin Ilona Velberting aus Kassel vielleicht?«

»Ja und nein«, erwiderte sie lächelnd. »Ich wohne seit Jahren in Zierenberg. In Kassel unterrichte ich nur.«

Düster nickte und schwieg. Er musterte das mutmaßliche Sinnenbündel, das den altersschwachen Korbsessel veredelte, so unauffällig, wie es außerdienstlich noch möglich war. Sie steckte in einem hautnahen, lindgrünen Kostüm. Sie konnte ungefähr in seinem Alter sein. Und das Städtchen Zierenberg, nur halb so groß wie Karlskirchen, lag rund 30 Kilometer weiter nördlich am Ein- oder Ausgang des hübschen Warmetals, je nach dem, von wo man kam: Kassel oder Liebenau. Düster kannte das Tal von ein paar Wanderungen her – und neuerdings natürlich durch das Buch, das von seiner kastanienroten Chefin um ein Haar angeschwärzt worden wäre, obwohl sie nur ein paar Zeilen daraus kannte. Er hatte es im Büro gut versteckt, damit sie nicht etwa unerlaubterweise nachsah, wie die Geschichte ausgehe.

Während Stubenrauch ein- und nachschenkte, verriet Düster der flotten Lehrerin: »Ich lese gegenwärtig Ihr Robin-Hood-Buch, Frau Velberting. Es gefällt mir ausgezeichnet. Die Geschichte von der Rebellin und dem unglücklich in sie verliebten Kammerherrn Ernst von der Malsburg ist bemerkenswert, und Sie legen sie keineswegs so holprig dar, wie damals die Landstraßen waren. Neigen Sie selber gleichfalls zur Aufmüpfigkeit ..?«

Sie verwischte den Anflug von Röte, für den Düsters Schmeichelei gesorgt hatte, mit einem unschlüssigen Wiegen ihres braunen Bubikopfes. »Naja … Frech war ich wohl schon immer, aber dem Anpassungsdruck, der vom deutschen Verzeihungs- und Wirtschaftswunder ausgeübt wird, bin ich nicht gerade vorbildlich gewachsen. Sonst hätte ich irgendeinem Kasseler Kultusbürokraten sicherlich längst eine geknallt und wäre nach Kuba geflohen … Was machen Sie denn so beruflich, wenn ich fragen darf ..?«

Stubenrauch kicherte, hustete und keuchte: »Ersparen Sie ihr diesen Schock, Düster! Am Ende kommt sie nie wieder hierher!«

Aber Düster dachte gar nicht daran. Er faßte sie scharf ins Auge und sagte langsam und beinahe unheilschwanger: »Ich bin Kriminalbeamter, Frau Velberting … Rebellinnen nehme ich sogar stets am liebsten fest …«





8



Da Ilona Velberting im Laufe des Abends die Lust verlor, sich in ihren geduckten, gleichwohl formschönen Karmann-Ghia zu zwängen und nach Zierenberg zurück zu fahren, kam Düster nicht umhin, ihr ein Plätzchen in seiner engen Dachwohnung anzubieten. Den Rest kann sich jeder denken. Aber beide Beteiligte hatten ihre Pflichten im Dienste des Staates, und so mußten sie sich schon am Donnerstag in der Frühe recht schlaftrunken wieder voneinander trennen.

Düster sah ihrem hauptsächlich schwarz, an Verdeck und Reifen weiß lackiertem Sportwagen mit durchaus gemischten Gefühlen nach. Der Kommissar ging wie meistens zu Fuß zum Kripo-Hauptquartier. Der Himmel war etwas bedeckt. Die Frau hatte ihn ziemlich aufgewühlt, nur leider dabei auch die Befürchtungen aufgescheucht, die sich immer rasch bei ihm einzustellen pflegten. Nun ja, so war die Liebe eben.

»Du hast es gut!« sagte Düster zu Mach Männchen, als ihn der kleine kurzhaarige Hund im Büro der Chefin wie üblich erfreut ansprang. Düster schüttelte ihm die Pfote. Daraufhin trabte das Hündchen zu seinem Körbchen zurück und rollte sich befriedigt darin ein. Das Fell von Mach Männchen war überwiegend weiß gefärbt, mit nur wenigen schwarzen Flecken. Es verhielt sich hier also genau umgekehrt wie bei Frau Velbertings schickem Wagen. Ansonsten konnte Mach Männchen mit einem steilen Stummelschwanz glänzen, der bei freudigen Anlässen fast wie ein Metronom ging.

Ohl hockte bereits rittlings auf einem Besucherstuhl und plauderte mit Lilli, die hinter ihrem unaufgeräumten Schreibtisch thronte, über die kommende Lindenblüte und den entsprechenden Tee. Düster nahm ebenfalls Platz. Lilli verkündete zunächst, die Mutmaßung ihrer Spürhunde im Fall Hertha Rühmling leuchte ihr ein – und da Karlskirchen weißgott nicht mit Mordfällen überhäuft werde, sollten sie die Aufklärung dieses Falls wohl ab sofort als ihre Hauptaufgabe begreifen. Dagegen gab es keine Einwände. Damit kam »das Motiv?« auf den Tisch. Schließlich war bei allen undurchsichtigen Mordtaten die brennendste Frage, wer gute Gründe gehabt haben könnte, sie zu verüben. In dieser Hinsicht konnte Reimut Ohl bereits mit einem Trumpf aufwarten, den er betont lässig in Gestalt eines vermutlich einst gefalteten Papieres aus einem Fach seines Diplomatenköfferchens zog. Er glättete es aufreizend langsam auf dem geschlossenen Kofferdeckel und faßte seinen Inhalt mit den Worten zusammen, Haupt- und Alleinerbe der Verstorbenen sei deren Neffe Benno. Er halte das Testament – das vor rund drei Jahren mit der Hand verfaßt worden war – für echt, habe er doch in der Wohnung noch eine Menge andere Schriftstücke mit der Handschrift der Verstorbenen vorgefunden. Wie sich verstehe, müsse das noch überprüft werden.

Damit war die Marschroute klar. Sie lösten die Konferenz auf. Ohl übernahm die Nachforschungen zum Rollstuhl und den beiden Verwandten der Frau Rühmling. Nach einigen Telefongesprächen brach er nach Felsberg auf, wo die Nichte Kindergärtnerin war.

Düster hatte das Balkongeländer und zwei Damen bekommen, nämlich die Mitarbeiterin eines privaten Pflegedienstes, die am gestrigen Vormittag bei der alten Frau kurzzeitig Dienst gehabt hatte, und Rühmlings Geliebte, das »Klappmesser«.

Es gelang ihm, noch für den Vormittag zwei Gesprächs-termine bei den beiden Frauen zu erwirken. Das »Klappmesser« tat natürlich sehr erstaunt von seinem Wunsch, außerdem sehr beschäftigt … Sie gab ihm einen Termin für 12 Uhr 15. Daraufhin rief er die Schlosserei Brede in der Hoffnung an, die telefonische Befragung genüge einstweilen. So war es auch. Meister Alois Brede bestätigte den Auftrag des Polsterers. Das Geländer sei sogar eine recht hübsche Schmiedearbeit, nur eben baufällig. Er werde einige Teile neu anfertigen und einsetzen müssen. Zuletzt sei ein neuer Anstrich in Türkisblau vorgesehen.

»Es ist noch nicht fertig?«

»Ach woher!« stöhnte Brede. »Wir ertrinken in Aufträgen.«

»Aber sagten Sie nicht, das Ding liege schon seit fünf Wochen bei Ihnen?«

»Na und? Ich hatte nicht den Eindruck, es sei Rühmling brennend eilig damit. Eine Frist setzte er nicht.«

Düster dankte dem Meister und dachte eine Weile nach. Er sah auf die Wanduhr: 9 Uhr 32. Er schlug Benno Rühmlings Privatnummer in seinem Notizbuch nach und griff zum Telefon.

Düster hatte Glück. Der Polsterer kaute gerade. Düster entschuldigte sich wortreich und vergewisserte sich, nicht etwa zu stören. Rühmling beruhigte ihn – wenn auch mit leicht belegter Stimme. Entweder war das der Frühstückschinken oder seine Angst.

»Die Sache mit dem Balkongeländer ist korrekt!« teilte ihm der Kommissar mit. »Ich habe mit Alois Brede telefoniert. Nur sagte er, er habe noch keinen Handschlag daran getan – seit fünf Wochen nicht. Sie hätten auch nicht auf Eile gedrungen. Vielleicht nahm er einfach an, Sie hätten für die Übergangszeit eine hinreichend sichere Notbrüstung angebracht. Schließlich sind Sie ja selber Handwerker …«

Düster hatte sich um einen lauernden Unterton bemüht, der Rühmling womöglich zum Aufbrausen bringe – und genau so trat es ein.

»Ach hören Sie doch auf mit diesem alten Eisenkopf! Handwerker vertrösten einen immer, das werde ich ja wohl wissen. Und jetzt ist dank seiner Schlamperei dieser entsetzliche Unfall passiert – und ich soll daran schuld sein? Man sollte ihn direkt verklagen!« schloß der Polsterer schnaubend.

Ohl rühmte später die Geistesgegenwart seines Sportskameraden. »Machen Sie das, Herr Rühmling«, erwiderte Düster. »Das Geld für einen guten Rechtsanwalt haben Sie ja jetzt.«

Er wurde sofort unsicher. »Wie meinen Sie das?«

»Wußten Sie nicht, daß Ihre Tante Sie testamentarisch als Alleinerben eingesetzt hat?«

Kurz Stille. Dann: »Nein, das wußte ich nicht.«

»Aber Sie und Notar Struwe haben das Testament doch mitunterzeichnet!«

»Nein, das haben wir nicht!«

Jetzt war die Stille noch größer. Rühmling schwieg. Düster meinte freilich deutlich zu hören, wie er sich auf die Zunge biß.

Nach einigen Sekunden sagte Düster: »Gut, Herr Rühmling, jetzt brauche ich Sie wirklich nicht länger aufzuhalten. Ich lasse wieder von mir hören.«

Er legte auf und blickte schmunzelnd aus seinem Fenster, das auf die Bahnhofstraße ging. Rühmling schien ja tatsächlich so einfältig zu sein, wie er es ihm bereits unterstellt hatte. Im Grunde hatte ihn Düster aufs Glatteis geführt. Denn Rühmling hatte völlig recht, das Testament war lediglich von seiner Tante unterzeichnet.





9



Zum Pflegedienst fuhr Düster zwei Stationen mit der Straßenbahn. Das führte ihn zu einer alten Villa unweit der Borussia-Kampfbahn. Die Villa war kaum weniger schäbig als die von Stubenrauch. Düster hielt trotzdem in gehobener Stimmung auf sie zu. Gewiß hatte er für Rühmlings indirektes Eingeständnis, das Testament zu kennen, keine Zeugen. Aber das war nicht zu ändern. Von der Gerichtsfestigkeit waren sie ohnehin noch weit entfernt. Das etwas wackelige Eingeständnis kam auch noch lange nicht einer automatischen Erhärtung des Tatverdachtes gleich. Wer wußte, die Alte wird mir ihr Moos beziehungsweise ihre Immobilie vermachen, mußte nicht zwangsläufig ihr Mörder sein. Sehr zu denken gab ihm die Angelegenheit mit dem Balkongeländer. Man konnte nicht wissen, ob das Geländer dem Mordplan zu weichen hatte oder ob sich dieser erst durch die sich hinziehende Abwesenheit des Geländers aufgedrängt hatte. Wobei es womöglich gar kein Mord gewesen war, sondern »nur« ein Totschlag im Affekt, weil Rühmling von der lieben Tante wieder einmal gepiesakt worden war. Sie keifen sich im Wohnzimmer an, was ja ein Dritter nicht unbedingt mitkriegen muß; dann denkt sich der liebe Neffe: na warte, Alte, jetzt fahren wir dich einmal an die frische Luft, damit dein Zorn wieder verraucht! Er schiebt sie durch die Tür, stellt gewohnheitsgemäß die Bremsen fest, sieht sich dann freilich blitzschnell um – und zack! liegt sie mitsamt ihrem Rollstuhl unten. Die Sache hat nur den Haken, daß er ein ziemlich hieb- und stichfestes Alibi hat. Also war er es entweder doch nicht, oder aber, er hatte einen Mordhelfer.

Rita Gönnersdorf, eine stämmige, sommersprossige Strohblonde um 30, erwartete den Kommissar bereits. Sie saß im Vorgarten des Pflegedienst-Hauptquartiers auf einer Bank und rauchte. Wie sie erläuterte, waren sie oder eine Kollegin von ihr stets morgens und abends bei Frau Rühmling gewesen, je eine Stunde, ab 8 und ab 18 Uhr. In dieser Woche hatte sie den Morgendienst gehabt. Gestern sei sie erst um Viertel nach Neun aus dem Haus Untermarkt 17 gekommen, weil Frau Rühmling lautstark darauf bestanden hatte, nach dem Durchlüften der Wohnung – und vor dem Frühstück, das ihr der Neffe bereiten würde – noch einmal frisiert zu werden. Dadurch sei ihr der ganze gestrige Dienstplan ins Rutschen gekommen. Ritas Chefin, in deren Büro er wenig später vorsprach, bestätigte diese Darstellung. Demnach hatte Frau Rühmling gestern um 9 Uhr 15 noch gelebt. Düster fürchtete sehr, diese Erkenntnis, für die er sich einigen Zigarettenrauch um die Ohren blasen ließ, würde die Auflösung des Falles nicht gerade stürmisch beschleu-nigen. Rita konnte auch sonst nicht mit Fingerzeigen dienen. Ihre Kundin war garstig wie immer gewesen, und im Haus hatte sie keine dritten Personen bemerkt.

»Wie sind Sie in das Haus gekommen, Frau Gönners-dorf?« Schließlich wußte Düster, die Haustür war verschlossen gewesen, jedenfalls am Mittag.

Sie zuckte mit den Achseln und bohrte ihre Zigaretten-kippe in einen mit Sand gefüllten Waschbetonkübel: »Ich habe einen Schlüssel.«

Diese Antwort ließ Düster innerlich fluchen. Denn jetzt würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als auch die Arbeitsorte abzuklappern, die für die Stunde bis 10 Uhr auf Ritas Dienstplan standen.

Doch zum Glück hatte er dramatisiert. Es war nur ein Arbeitsort, und wie ihm Ritas Chefin versicherte, hatte ihn ihre Angestellte bestimmt nicht verlassen, hatte doch die Ehefrau des zu pflegenden Herren gegen 10 hier in der Firma angerufen, um sich über eine Bagatelle aufzuregen, die Rita unterlaufen sei.

Düster hatte sich von Rita den Hausschlüssel aushändigen lassen. Nun stellte er der Chefin eine Quittung dafür aus, bedankte sich bei ihr für alles und trollte sich Richtung Hospitalgarten. Er hatte bis zu dem Termin bei der zukünftigen FDP-Fraktionschefin noch eine knappe halbe Stunde Zeit.

Verständlicherweise setzte er sich im Hospitalgarten nicht weit von der Rühmlingschen Hinterhofmauer auf eine Bank. Bislang hatte er nur einen Rentner getroffen, der seinen schwarzen Spitz ausführte. In Düsters Rücken standen die Bäume so dicht, daß vom Hospital selber – inzwischen Pflegeheim für schwere Fälle – so gut wie nichts zu sehen war. Dafür sah er den geländerlosen Balkon einwandfrei. Er fragte sich zum x-ten Male in seinem Berufsleben, wie es ein Mensch übers Herz bringen könne, einen anderen Menschen zu töten. Aber wenn einen die Verzweiflung, der Rachedurst oder auch nur die Habgier packt ..? Das erste kannte er sogar von sich selber. Bei einer Frau, die ihn zum wiederholten Mal eiskalt hinhielt, hatte er einmal mitten in der Nacht die Wohnungstür derart heftig hinter sich zugeworfen, daß im Treppenhaus die Beleuchtung anging. Da brauchte er immerhin keinen Knopf mehr zu drücken. Von oben brüllte eine Männerstimme: »Sind denn hier nur Irre im Haus?!« Wäre das Gebrüll zufällig von unten gekommen, hätte Düster beim Abstieg möglicherweise diesen Kerl erwürgt, statt der Dame, die ihn so gern gedemütigt
hatte …

Ilona schien recht gradlinig zu sein, trotz ihrer aufregenden Kuven, kein verschlagenes Biest also. Sie war geschieden und teilte sich in Zierenberg unweit des Bahnhofs eine Wohnung mit einer Kollegin. Über ihren Verflossenen hatte sie nicht schlecht gesprochen. Er sei wenigstens kein Rechthaber gewesen, nur auf die Dauer ein bißchen zu langweilig. Zwei Kinder, fünf und sieben Jahre alt, hatte er mitgenommen. Sie hatte nichts dagegen gehabt.

Düster sah auf seine ungeliebte Armbanduhr und erhob sich. Zu seiner Überraschung entdeckte er einen Nebenausgang, den er noch gar nicht kannte. Eine schmale Gittertür führte auf einen nicht minder schmalen Fußweg, der anscheinend geradewegs zur Schwimmbadstraße führte. Das heißt, auf halber Höhe beschrieb er eine sanfte Kurve. Er wurde links von Hofmauern, rechts von Kleingartenhecken gesäumt. Der Rentner mit dem Spitz kannte ihn auch, denn diesen überholte Düster nun. Aber ansonsten war hier kein Betrieb. Auf der Straße eingetroffen, sah er, das Haus mit dem Porzellangeschäft Korf im Erdgeschoß lag nur noch einen Steinwurf entfernt. Es lag auf der anderen Straßenseite, zum Schloßberg hin.





10



Das neue Parteibüro lag über dem Porzellangeschäft. Auch dieses Gebäude hatte eine Durchfahrt. Von ihr aus kam man ins Treppenhaus, und im ersten Stock stand man gleich im Hauptzimmer des Büros, falls einen einer eigenhändig oder per Summer einließ. Düster nickte einem schnauzbärtigen Mann in seinem Alter zu und stellte sich vor. Der blasse Kerl blieb teilnahmslos an seinem Rechner sitzen, von wo aus er auch das Telefon bedienen konnte. Nach einer Kunstpause erschien Frau Klapp und bat den Kommissar in einen Nebenraum, der an einem kleinen Flur lag. Dieser Raum hatte einen runden Konferenztisch zu bieten. Die Fenster gingen auf die Schwimmbadstraße. Jenseits des Flures schien freilich noch ein Büroraum zu liegen, zudem eine schmale, offene Küche. Auf seine entsprechende Frage erklärte ihm das rote Klappmesser, das Zimmer neben der Küche sei ihr »Chefbüro«, wo sie weniger abgelenkt sei. Ob sie dem Herrn Kommissar einen Kaffee anbieten könne? Er lehnte dankend ab. Sie ging trotzdem zur Küche, um sich selbst eine Tasse zu holen. Hübsch war sie ja, und ihrem Gang entnahm Düster, sie war auch drahtig. Man konnte sich gut vorstellen, wie sie auf dem Kleiderschrank Rühmling hockte und ungehalten an seinem Schlips ruckelte, weil er sich wieder einmal zu störrisch zeigte. Sie kam zurück und schloß die Tür zum Flur hinter sich. Als sie Düster dann mit ihrer dampfenden Tasse am Konferenztisch gegenübersaß, sträubte sich ihr roter Schopf wirkungsvoll vor der Rauhfasertapete des Zimmers, die in dem Gelb gestrichen war, das man von der Parteifahne her kannte. Sie lächelte herausfordernd.

»Sie müssen entschuldigen, Frau Klapp: die Polizei kommt nicht umhin, alle Personen zu befragen, die mit der verunglückten Frau Rühmling näher zu tun hatten. Wie gut kannten Sie sie?«

»So gut wie gar nicht, nimmt man Bennos Erzählungen einmal aus. Aber sie war immer nett zu mir, wenn ich hin und wieder einmal oben war, um ihr Haar zu richten.«

»Ihr Haar zu richten?«

»Ich bin von Hause aus Frisöse.«

Düster nickte. »Und sonst waren sie unten, also bei ihrem Freund?«

Sie sah ihn mitleidig an. »Sind Sie nicht öfter bei Ihrer Freundin?«

Düster lächelte und legte seinen Zeigefinger an die Lippen: »Dienstgeheimnis!«

Sie trommelte mit ihren gut gepflegten Fingernägeln auf die Tischplatte, Nußbaum furniert, schätzte Düster.

»Und am Mittwoch, dem Unglückstag, waren Sie nicht oben bei Frau Rühmling?«

»Richtig.«

»Und wo waren Sie stattdessen?«

Sie zog unwirsch ihr Stupsnäschen kraus. »Was soll das heißen? Leben wir hier in Ostberlin?«

Düster hob bedauernd die Hände. »Ich kenne Sie ja nicht, Frau Klapp, muß mich folglich vergewissern, daß Ihre Angaben der Wahrheit entsprechen. Wo waren Sie also?«

Sie nickte hinter sich, wo nach Düsters Berechnungen der Schnauzbart an seinem Computer saß, um die Kosten für einen neuen, vollklimatisierten Wahlkampfbus zu überschlagen. »Hier. Dafür werde ich schließlich bezahlt.«

»Wüßten Sie jemanden, der das bestätigen könnte?«

Sie wiederholte ihr Nicken. »Na, Ciril vielleicht. Er war ja gleichfalls hier.«

Düster erhob sich prompt, bat sie um einen Moment Geduld und ging nach nebenan. Er mußte warten, bis Ciril einem jungen Mann mit Rucksack eine bestimmte Broschüre herausgesucht hatte. Nach dem Verschwinden des Jungwählers erklärte Düster:

»Wir haben in Frau Klapp eine wichtige Zeugin in einem Kriminalfall, den wir uns gerade zu lösen bemühen. Deshalb müßten wir wissen, wo sie sich am Dienstag zwischen 9 und 10 Uhr vormittags aufgehalten hat.«

»Na – hier!«

Er gab dem Kommissar arglos, wenn auch etwas gelangweilt, nähere Auskunft. Das Büro öffne ja um neun. Vera habe erst mittags Termine außer Haus gehabt. Sie habe sogar schon vor neun in ihrem Zimmer am Schreibtisch gesessen, weil sie einen wichtigen Vertrag mit einer Marketingfirma zu prüfen hatte. Ach ja, und um 9.30 habe es die Sitzung des Altstadtausschusses gegeben, im Konferenzzimmer. Der Herr Kommissar wüßte ja sicher-lich: die kommende Sanierung … Die Ausschußmitglieder hätten natürlich Vera ebenfalls gesehen.

»Aber Frau Klapp nahm nicht an der Sitzung teil?«

»Richtig.«

»Und Sie selbst?«

»Ich schon.« Er nickte auf die Eingangstür und erklärte: »Wir haben vorübergehend die Klingel abgestellt. Das Telefon ging ja noch.«

Düster nickte. »Und die anderen Türen – die vom Konferenzzimmer und von Frau Klapps Büro – standen die auf?«

Jetzt wurde er doch ein wenig ungehalten, wie Düster dem Wackeln seines Schnauzbartes entnahm. »Ja, wenn das so wichtig ist … Sie waren natürlich zu. Man will ja in Ruhe arbeiten.«

»Wann wurde die Sitzung beendet, wenn ich das noch fragen darf?«

Er überlegte. »20 nach 10, würde ich sagen. Jochen mußte ins Krankenhaus, weil seine Frau gerade ein Kind bekommen hatte. Ja, richtig: Vera trug ihm noch Grüße an seine Frau auf.«

»Das heißt, als der Ausschuß auseinanderging, war Frau Klapp nicht mehr in ihrem Zimmer?«

»Richtig.« Er nickte auf einen Stahlschrank: »Sie stand hier, weil sie bestimmte Unterlagen suchte.«

Düster dankte Ciril und zog sich aus dem Hauptraum zurück. Mein Gott! seufzte er dabei innerlich: Wenn es hart auf hart kommt, mußt du jedes Ausschußmitglied einzeln vorladen und 50 Minuten Gewäsch mit ihm durchkauen! Er betrat das Konferenzzimmer. Da er die Tür nicht geschlossen hatte, erübrigte es sich, Frau Klapp solidarische Grüße von ihrem Parteigenossen auszurichten. Sie stand am Fenster, wandte sich bei seinem Eintreten um und schenkte ihm einen giftigen Blick. Man läßt Chefinnen nicht warten. Es war umso schlimmer, als Düster gar nichts mehr von ihr wollte.

»Ich glaube, daß ich Sie vorläufig nicht mehr weiter belästigen muß, Frau Klapp. Nur das eine noch. Ich muß Sie bitten, uns zu benachrichtigen, falls Sie in der nächsten Zeit beabsichtigen, zu verreisen oder umzuziehen. Hier ist meine Karte.«

Er legte sie auf den Tisch. Klapp hatte ihr Wut gezähmt. Sie sagte fast kokett: »Glauben Sie wirklich im Ernst daran, ich könnte mit dem bedauerlichen Sturz von Frau Rühmling etwas zu tun haben?«

Schon verdarb er es sich wieder mit ihr. Er lächelte und erwiderte: »Ja – warum denn nicht?«

Sie raffte seine Karte vom Tisch, pflügte über den Flur und warf die Tür ihres Zimmers hinter sich zu.

Düster lugte um die Flurecke in den Hauptraum. Ciril sah ihn jetzt doch etwas ungnädig an, weil Düster seine Chefin verärgert hatte, die er wahrscheinlich nicht nur wegen ihres schwungvollen Einsatzes für Lokalpolitik und Lokalsport bewunderte. Davon, worum es im einzelnen ging, hatte er nach Düsters Eindruck keine Ahnung. Es interessierte ihn auch nicht. Wenn diesem Langweiler eins abging, dann Neugier. Düster sagte:

»Dürfte ich eben noch einmal Ihre Toilette benutzen, Ciril, ehe ich mich dünn mache?«

»Selbstverständlich«, sagte er und starrte wieder auf seinen Bildschirm. »Hinten links.«

Das hatte sich Düster bereits gedacht. Günstigerweise lag die Toilette – die sich in einem schönen Duschbad befand – der schmalen, offenen Küche gegenüber. Die Küche zeigte, statt eines Fensters, eine verglaste Tür, die auf einen Balkon hinauszuführen schien. Düster sah Blumenkästen mit Pflanzen, die tatsächlich ausschließlich in Gelb und Blau zu blühen schienen, den Parteifarben also. Er betätigte die Toilettenspülung und wandte sich wieder zum Hauptraum. Doch in Höhe des Konferenz-zimmers tauchte er blitzschnell zu dem runden Tisch, schlug Klapps Kaffeetasse, die gottseidank immer noch auf ihm stand, möglichst behutsam in ein Papiertaschentuch ein und ließ sie in eine Außentasche seiner hellen Leinenjacke gleiten. Schon kreuzte er wieder vor dem Empfangstresen des Büros auf.

»Könnten Sie mir bitte die Namen und Anschriften der Ausschußmitglieder heraussuchen, Ciril, die von Ihnen selber eingeschlossen?«

Er tat es, und dann ließ ihn der lange Bulle mit der dunklen Mähne endlich in Ruhe.





11



Um einen Verdächtigten erkennungsdienstlich behandeln zu können – also auch seine Fingerabdrücke abzunehmen – bedarf es in der Regel der Einleitung eines Ermittlungs-verfahrens, wozu es wiederum unumgänglich ist, ihn in den Status des Beschuldigten zu erheben. Durch dies alles riecht er natürlich Lunte. Man könnte einwenden, Klapp sei ja sowieso klar gewesen, daß die Kripo sie auf dem Kieker hatte, aber die zeitraubende Umständlichkeit der ganzen Prozedur kam noch hinzu. Man muß die Beschuldigte erst vorladen, womöglich mit Judogriffen zu Boden werfen und so weiter. Es war einfacher, die Tasse mitzunehmen. Ohl hatte schon Fingerabdrücke von der Fahrertür eines Porsches abgenommen, während Düster auf der anderen Wagenseite mit dem Besitzer des Porsches stand, um ihn mit Fragen nach seinem Alibi zu nerven. Keine Woche später konnten sie nachweisen: die Fingerabdrücke von der Porschetür stimmten mit denen auf der Tatwaffe überein. Es waren natürlich die Fingerabdrücke des Porschebesitzers.

Die Schaufenster des Porzellangeschäfts nahmen auch noch einen Teil der Hausdurchfahrt ein. Als Düster nun dort wieder aus dem Treppenhaus hervorkam, begab er sich zum Ende der Durchfahrt, um einen Blick in den Hinterhof zu werfen. Dieser hatte neben einigen geparkten Autos sogar einen Grünstreifen mit Gartenstühlen zu bieten. Außerdem gab es am Haus eine schmale Holztreppe, die zu den Blumenkästen mit den Parteifarben hinaufführte: auf die Galerie des FDP-Büros also. Bekanntlich war diese Galerie von oben her durch die verglaste Küchentür zu betreten. Das Porzellangeschäft dagegen hatte nur eine Tür zum Hof aus Stahl, und die beiderseits gelegenen vergitterten Fenster sahen nach Lagerraum, Toilette und so weiter aus. Düster ließ die Szenerie einen Augenblick auf sich wirken. Dann sah er auf seine Armbanduhr: es war schon nach Eins. So wandte er sich kurzentschlossen zum nahen Untermarkt, um in der dortigen Konditorei eine verkürzte Mittagspause einzulegen.

Düster behalf sich mit einem großen Stück Streuselkuchen zum Kaffee. Die Kasseler Post hatte den »tragischen Unfall« der alten Frau Rühmling bereits in ihrem Karlskirchener Teil erwähnt. Düster hängte das Blatt umgehend und nicht ohne Überdruß wieder an seinen Haken, weil es ihn zu sehr an Frau Klapp und den verlogenen Politzirkus überhaupt erinnerte. Er dachte lieber an Frau Velberting, während er die letzten losen Streusel wie Murmeln auf seiner Zunge hin- und herschob. Aber bald darauf lenkte ihn ein blauer Kastenwagen ab, den er aus dem Augenwinkel im Hof des Hauses Nr. 17 verschwinden sah. Vielleicht war das eine günstige Gelegenheit, die er nicht verstreichen lassen durfte. Das Schlüsselbund hatte er bei sich. Er ging mit seinem Kaffeegeschirr zum Ladentresen, rühmte den Streuselkuchen, zahlte und überquerte den Platz.

Er klingelte zunächst bei Benno Rühmling. Eingelassen, erklärte er dem Polsterer auf dem Treppenabsatz im ersten Stock, er wolle sich noch einmal am Unfallort umsehen, aber vielleicht könne ihn Herr Rühmling etwas später noch für einige Minuten dabei unterstützen. Darauf ließ sich Rühmling wohl oder übel ein. Er bestätigte auch Düsters Vermutung, er verwalte die Bankunterlagen der Verunglückten. Ja, die lägen in seiner Wohnung. Düster bat ihn, sie mitzubringen. In einer halben Stunde wollte der Neffe sich im zweiten Stock einstellen.

Düster nahm zunächst am Wohnzimmertisch Platz, um sich die Pflegesituation zu vergegenwärtigen, mit der Greisin, ihrem Neffen, der Pflegekraft Rita und so weiter, und auch, um zu überlegen, was er hier eigentlich noch suchen sollte. Es war 14 Uhr 30. In dem langgestreckten Hof zeterte eine Amsel am laufenden Meter. Vermutlich schnürte eine Katze um die Badewanne. Die Katze konnte sich immer auf das Argument zurückziehen, sie bewache lediglich die noch viel zu kleinen und grünen Tomaten. Für junge Amseln habe sie sich noch nie interessiert. Der Strauß mit den Ausreden blüht und gedeiht.

Warum sollten sie ausgerechnet einer Pflegekraft über den Weg trauen, wo doch die Welt unter Verbrechen ächzt, die im Namen der Nächstenliebe, des Weltfriedens und der Wiederaufbauhilfe verübt werden? Selbst, wenn man die vom Arzt angesetzte Todesfrist »zwischen 9 und 10 Uhr« für bare Münze nahm, hätte Rita immer noch fünf oder 10 Minuten Zeit gehabt, ihre Nervensäge in jähem Überdruß vom Balkon zu werfen – oder auch deshalb, weil sie hinter der Likörflasche im Vertiko zufällig auf ein Bündel Banknoten gestoßen war. Schließlich hatte sie das Haus erst um 9.15 (falls dies zutraf!) in Richtung ihrer nächsten Arbeitsstelle verlassen. Diese wiederum, so behauptete ihre Chefin, habe sie garantiert nicht vor 10 Uhr verlassen, denn die Kundin habe es ja bezeugt. Woher weiß ich aber, knurrte Düster im Stillen, daß Rita mit dieser Kundin nicht unter einer Decke steckt? Wieviele Minuten hätte Rita, vom Haus der Kundin aus, für eine erneute Fahrt zum Untermarkt benötigt? Welche Motive, außer ihrem Verdruß oder der Kohle im Vertiko, könnte sie außerdem haben? Dies alles hätte die Kripo also, streng genommen, zu überprüfen.

Wie sich versteht, arbeitete die Kripo trotzdem nach Wahrscheinlichkeit. Es ging nur darum, die Unwahr-scheinlichkeiten niemals vorschnell von der Liste zu streichen. Selbst ein Einbruch hätte die Kripo nicht verblüfft, aber Ohl hätte in diesem Fall jede Wette irgendeine Spur gefunden, von dem Witz mit der Feuerleiter einmal abgesehen. Der Einbrecher (oder die Räuberin) gerät in Panik, weil sich der silberne Mop in der Ecke als im Rollstuhl hockende Greisin entpuppt, die sich womöglich seine Haarfarbe oder seine Stimme merkt, und schon ab mit ihr, in den Hof! Selbstverständlich wäre es den wenigsten Einbrechern eingefallen, wegen knapp 150 Mark am hellichten Vormittag auf der Feuerleiter anzurücken. Aber auch das hat es schon gegeben: er verkleidet sich als Schornsteinfeger, und niemand schert sich um ihn. Die genannte Summe war als jüngstes Guthaben in einem Haushaltsbuch verzeichnet, das Ohl in der Küche gefunden hatte, während er selber, der Geldbetrag, fehlte. Wer dafür eine alte Frau tötete, mußte schon ein wahrer Kinderschreck sein.

Mit solchen Erwägungen vertrieb sich Düster inzwischen die Zeit, während er mit einem angespitzten Streichholz in seinen Zahnlücken stocherte, in der Küche ein Glas Wasser trank, die Wohnzimmertischdecke auf dem nach wie vor geländerlosen Balkon ausschüttelte und überhaupt den ganzen Tat- oder Unglücksort noch einmal auf sich wirken ließ. Dabei merkte er sich auch, nach was er Rühmling noch zu fragen hätte.

Kurz vor 15 Uhr klingelte es. Düster ließ Rühmling ein, obwohl dieser selbstverständlich einen Wohnungsschlüssel gehabt hätte. Das Siegel hatte Düster ja erbrochen. Er drückte Rühmling gleich den Hausschlüssel in die Hand, den er dem Pflegedienst abgeluchst hatte. Rühmling dankte ihm für diesen kleinen Gefallen. Als sie im Wohnzimmer standen, sagte Düster:

»Sehen Sie sich doch bitte einmal genau um, Herr Rühmling, und überlegen Sie, ob etwas fehlen könnte oder sonst etwas nicht in Ordnung sein könnte. Gucken Sie bitte auch in die Schränke. Sie kennen sich ja sicherlich hier aus.«

Düsters Rede schien ihn peinlich an die Erörterung des Testamentes zu erinnern, überzog sich sein Stiernacken doch mit leichter Röte. Aber er nickte und machte sich an die Arbeit. Wie sich versteht, beobachtete Düster ihn dabei. Das mußte er als Turnierspieler ja gewohnt sein. Im Schlafzimmer ließ es sich Rühmling nicht nehmen, pietätvoll die vermutlich von Ohl zurückgeschlagene Daunendecke wieder auszubreiten und sogar mit den Händen zu glätten. Düster sah keinen Grund dafür, ihn daran zu hindern. In der Küche schien Rühmling beim Blick in eine Schublade des Geschirrschrankes zu stutzen, die etwa in Höhe seiner Hüfte eingelassen war. Er durchsuchte sie und die Hefte, die in ihr lagen, brummelte auch, sagte aber nichts. Die Besichtigung einer Gästekammer und des großen Wohnzimmers verschlang noch einmal 20 Minuten. Dann blieb er neben der gehäkelten Tischdecke stehen, wandte sich zu Düster, hob die Arme an und sagte grimmig:

»Das einzige wäre, in der Küche fehlt das Geld.«

»Das Geld?«

»Ich tat das Haushaltsgeld, das ich jeden Monat von Tante Herthas Konto abhob, immer in die mittlere Schublade des Geschirrschrankes. Davon abgesehen, bewahrte sie dort ihre eiserne Reserve auf, das war so ein Fimmel von ihr, 800 Mark in einem zugeklebten Briefumschlag. Im ganzen müßten derzeit fast 1.000 Mark in der Schublade liegen. Die Ein- und Ausgaben an Haushaltsgeld stehen im Buch, wie Sie nachsehen können. Aber das ganze Geld ist weg.«

»Donnerwetter!« sagte Düster. »Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen.«

»Nein.«

Düster nickte, zog sein Notizbuch aus der Jacke und kritzelte irgendetwas hinein, was Rühmling ja ohnehin nicht sehen konnte. Dann nutzte er die Gelegenheit, um ihm eine Kopie des Testamentes zu überreichen, die Düster, gefaltet, in eine Innentasche seiner Jacke gesteckt hatte.

»Es ist nur eine Kopie, Herr Rühmling. Das Original müssen wir noch ein paar Tage behalten. Aber da die Kopie beglaubigt ist, können Sie damit ruhig schon zum Gericht oder zu ihrem Rechtsanwalt marschieren.«

Der Neffe schaffte es nicht, nicht schon wieder rot zu werden. Er schob das gefaltete Papier unbesichtigt in die Gesäßtasche seiner nagelneuen Jeans. Düster steckte sein Notizbuch wieder ein und fuhr fort:

»Wenn Sie mir jetzt nur noch einen gewissen Einblick in die Kontosituation Ihrer Tante geben könnten, Herr Rühmling, wäre ich zufrieden und verschwände wieder.«

Der Polsterer nickte und zog seine Unterlagen heran, die bereits auf dem Tisch lagen. Das war nicht weiter spannend.





12



Düsters Knüller für Ohl war selbstverständlich die Tasse. Er bat ihn, die Fingerabdrücke auf ihr gleich am nächsten Morgen zu sichern. Sie saßen zur gegenseitigen Bericht-erstattung in ihrem Büro. Die Chefin war unterwegs. Düster beschloß seinen Tagesbericht mit den 800 Mark in dem zugeklebten Briefumschlag. »Möglicherweise handelt es sich um eine Erdichtung aus Rühmlings Hand, um eine etwas plumpe Trugspur also. Aber das dürfte ja eher unerheblich sein. Wesentlich ist, Rühmling und seine Braut haben jetzt das Haus. Stimmst du mir zu? Na prima. Dann lege doch einmal deine Erkenntnisse von heute auf den Tisch, mein lieber Hauptmeister. Anschließend könnten wir mit unseren Schießeisen ins Präsidium fahren, weil unsere diesbezüglichen Künste sowieso einzurosten drohen. Lilli sagt, auf dem Schießstand hält ein As aus Kassel eine Unterweisung, die wir uns nicht entgehen lassen sollten.«

Ohl nickte zu dem Plan und fing mit Frau Rühmlings hochbetagter Schwägerin an, die in einem Kasseler Pflegeheim lebte – falls man diesen Ausdruck benutzen darf. Ein junger Kasseler Kollege hatte sie auf Ohls telefonische Bitte hin besucht. Er habe Ohl versichert, jetzt wisse er, warum man im Mittelalter von »Siechenheimen« gesprochen habe. Diese bedauernswerte Greisin könne Ohl getrost von der Liste der Verdächtigen streichen.

Die Nichte aus Felsberg sei erst um 30, erzählte Ohl weiter. Die etwas dürre, jedoch freundliche Frau hätte auch keinen Hehl aus den tyrannischen Zügen ihrer Tante gemacht. »Nur dürfte Frau Susanne Schölchs Alibi hieb- und stichfest sein, weil sie im Kindergarten zur Tatzeit von ungefähr 40 Gören und fünf Kollegen umzingelt war. Ihren Cousin scheint sie nicht gerade zu verehren. Von Mord- wußte sie allerdings so wenig wie von Selbstmordplänen. Das habe ich ihr eigentlich abgenommen, ohne nun meine Folterwerkzeuge auszupacken.«

Was Frau Rühmlings Rollstuhl anging, hatte Ohl, per Telefon, mehrere Sachverständige befragt. Sie alle hielten es für ziemlich unwahrscheinlich, die Bremsen hätten sich durch den Aufprall festgestellt. Ging es hart auf hart, also um einen Indizienbeweis, mußte freilich ein offizielles Gutachten in dieser Frage her, wie sich die beiden Kollegen übereinstimmend sagten. Das hieße vermutlich, mindestens ein TH-Professor aus Hannover oder Köln würde zwei Wochen lang Rollstühle aus seinem Laborfenster werfen und sich anschließend die Hände reiben, weil sein nächster sechswöchiger Urlaub in Miami Beach gesichert sei. Die Hersteller dieser Test-Rollstühle wären sicherlich auch nicht sauer. Wahrscheinlich stockten sie den Urlaub des Professors gleich um noch einmal sechs Wochen auf.

Unter solchen Scherzen schlossen Düster und Ohl die heutige Bestandsaufnahme und kramten ihre Pistolen aus dem Safe hervor. Bis zu der Unterweisung um 17 Uhr waren es nämlich nur noch knapp 10 Minuten. Sie fuhren in Ohls Auto zum Präsidium. Während der Fahrt kamen sie überein, einen Teil des kommenden Freitagvormittags im Hof der Rühmlings und im angrenzenden Hospitalgar-ten zu verbringen. Sie hofften auf neue, hilfreiche Spuren.

Das Präsidium erhob sich übrigens nicht weit von Stuben-rauchs Villa am Fuß des Schloßbergs. Ohl wohnte mit seiner Familie etwas weiter östlich im Nachbardorf Deute. Düster hatte den Antiquar schon einmal danach befragt, ob er vom Polizeipräsidium her unter Lärmbelästigung leide. »Nur Sirenen«, hatte Stubenrauch achselzuckend erwidert. Er wußte also noch nicht einmal, daß sich im Keller des Präsidiums ein Schießstand befand, so gut war dieser schallgedämpft. Alles auf Kosten der SteuerzahlerInnen.

Die Unterweisung können wir uns ersparen. Nur soviel sei bemerkt: Für viele Kriminalbeamte ist die Vorstellung, ihre Dienstwaffe versehentlich oder durch Diebstahl zu verlieren, ein wahrer Alptraum. Es würde ihr Gewissen erschüttern; überdies hätten sie eine schwere Rüge von der Polizeiführung einzustecken. Deshalb liegen ihre Pistolen in der Regel im Safe. Sie holen sie nur gelegentlich, meist auf Anweisung ihrer Vorgesetzten – oder eben zum Schießtraining hervor.





13



Der weiße Bulli des einköpfigen Erkennungsdienstes der Karlskirchener Kripo stand hinter dem blauen Kastenwagen halb im Schatten der südlichen Hofmauer. Sollte Rühmling sie vom Haus aus heimlich beobachten, schwante ihm vermutlich nichts Gutes. Düster und Ohl hatten sich längst gesagt, in diesem Mauerschatten könne sich eine weniger große Person als Rühmling oder Düster vergleichsweise bequem vom Hospitalgarten bis zur Hintertür des gelben Backsteingebäudes schleichen, ohne dabei gesehen zu werden. Jenseits der Badewanne stand sogar eine halbwegs gesunde Kiefer, die das Überwinden der rückwärtigen Mauer erleichterte. So nahm sich Ohl jetzt unter anderem das entsprechende Stück der mit leicht geneigten, gelben, dazu recht glatten Klinkersteinen gedeckten Mauerkrone nebst Badewannenrand vor, um vielleicht nützliche Fingerspuren zu finden. Das gelang ihm auch mit etwas Geduld. Später suchte er zusätzlich den mutmaßlichen Schleichweg zur Hintertür nach Fundstücken ab.

Düster tat zunächst Ähnliches auf der anderen Seite der rückwärtigen Hofmauer, im Hospitalgarten. Eine verrostete Bierdose war aber schon der Gipfel. Ein Baumwolltaschentuch mit eingesticktem Monogramm fand sich leider nicht. Schließlich erkundigte er sich, über die Mauer rufend, bei Ohl, wie lange er noch brauche.

»Keine Viertelstunde.«

»Gut, dann wandre ich jetzt mal etwas hurtig außen rum, die Anmarschzeit messen. Ich bin gleich bei dir.«

Ohl nickte und brummte nur, während er mit spitzen Fingern eine durch Katzenkot verunreinigte Zigarettenschachtel in den Bulli legte.

Düster nahm den Weg längs der Kleingärten, um schließlich, wie am Vortag, in die Durchfahrt neben dem Porzellangeschäft zu tauchen. Dort drückte er die Stoppuhr, die zum Bestand der Bulli-Schränke gehörte. Das Ergebnis: Knapp zwei Minuten. Doppelt genommen, waren das vier. Das Wirken im gelben Backsteinhaus dazu gezählt, waren es vielleicht sechs oder acht. Im ganzen somit acht Minuten – acht Minuten Abwesenheit.

Das gefiel Düster. Seiner Schätzung nach konnte man bei dieser Zeitspanne hoffen, auf einer Ausschußsitzung zur Stadtsanierung keinen nennenswerten Argwohn zu erwecken, falls mal einer nach der Bürochefin gucken sollte. Schließlich konnte Klapp auf dem Klo oder im Hinterhof auf einem Gartenstuhl sitzen. Etwas Glück hätte sie natürlich haben müssen. Aber das gilt grundsätzlich für alle ZweibeinerInnen und für alle Lebenslagen. Man konnte bei Sturm auch durchaus von einem Baumast überrascht und erschlagen werden – falls man kein Glück hatte. Dem Schriftsteller Horvath war es einst so in Paris ergangen.

Außerdem bedurfte es ohne Zweifel einer gehörigen Portion Selbstvertrauen und einer gewissen Klugheit, um nicht zu sagen, Durchtriebenheit. Die Klapp wollte das Haus. Ihr Hüne wußte, er würde es erben, aber genauso sicher konnte er sein, dies würden sich auch andere sagen. So einfältig war er ja nun auch wieder nicht. Der erste Verdacht würde auf ihn fallen. Deshalb benötigte er ein echtes Alibi – und er hatte es ja auch. Daran war nicht zu rütteln. Blieb also eigentlich nur Klapp, deren Alibi sie im Augenblick zu durchlöchern suchten. Ihre Beweggründe lagen sicherlich noch zum Teil im Dunkeln. Vielleicht träumte sie davon, in Frau Rühmlings Haus, anstelle der Polsterei, eine schicke Nachtbar oder das neue FDP-Kreisbüro einzurichten. Jedenfalls hatte sie keineswegs die Gewähr, von Kleiderschrank Rühmling ewig auf Händen getragen zu werden. Vielleicht gelang es ihr, dem Polsterer das Haus juristisch unanfechtbar abzuluchsen, aber dann würde er auspacken. Da hätte sie schon wieder jemanden zu beseitigen. Bedachte es Düster genau, war sie zwar durchaus kaltschnäuzig, aber keine große Strategin. So schätzte er sie ein. Sie handelte impulsiv, immer aus den jeweiligen Erfordernissen heraus. Sie tat es, weil sie sich selber – ihre Fähigkeiten, ihre Schlauheit, ihre Schlagfertigkeit – maßlos überschätzte. Sie war noch eitler als Polizeichef Ollenhauer.

Dies alles ging Düster durch den Kopf, während er zum Untermarkt ging, um sich Ohl wieder anzuschließen. Und so ähnlich trugen sie es dann nachmittags, als Ohl die Fingerspuren von der Mauerkrone entwickelt und mit denen von der Kaffeetasse verglichen hatte, auch ihrer Chefin vor. Sämtliche Fingerspuren stammten von Klapp. Jetzt dachte die Chefin eine Weile nach, bevor sie wissen wollte:

»Demnach haltet ihr die Fluchtgefahr für gering? Rühmling will die blaugelbe Maus nicht im Stich lassen, und diese selber ist viel zu klug, aber vor allem viel zu selbstgefällig, um sich durch Abhauen eine Blöße zu geben und Hohn und Spott zuzuziehen. Ist es so?«

Ohl und Düster sahen sich verblüfft an. Dann nickten sie im Chor: »Ganz genau, Frau Lilienthal.«

Sie lächelte erfreut. »Gut, meine Lieben. Den Staatsanwalt kann ich bis Anfang der Woche hinhalten. Spätestens am Mittwoch besorgen wir uns einen Haftbefehl und werfen die blaugelbe Maus in den Gefangenenturm. Jetzt erholen wir uns erst einmal über das Wochenende. Oder etwa nicht?«

»Jawohl, Frau Lilienthal.«

Auch dies im Chor. Doppelt hält besser.





14



Ab 17 Uhr unterzogen sich Ohl und Düster auf einem Nebenplatz des Borussia-Geländes begeistert dem üblichen wöchentlichen Abschlußtraining der »Alten Herren« des Clubs. Für Sonntagvormittag lag ein Heim-spiel gegen Besse an, den gegenwärtigen Spitzenreiter. Den gleichfalls üblichen Umtrunk nach dem Training schlug Düster diesmal aus. Er ging früh zu Bett, weil er am Samstag zeitig nach Zierenberg aufbrechen wollte. Das hatte er telefonisch mit Ilona verabredet.

Das Telefongespräch hatte fast 40 Minuten gedauert – auch nicht gerade billig. Frau Velberting, auf deren Kosten das Gespräch ging, hatte gleich unverblümt eingestanden, sie vermisse ihren frischen Liebhaber bereits. Um diesen alarmierenden Umstand wieder etwas zu verwischen, benötigten sie also mehr als eine halbe Stunde. Jetzt hockte Düster in seinem fast schrottreifen, einst grau lackierten Käfer und fieberte dem Stelldichein entgegen. Das Maiwetter meinte es gut: warm und sonnig. Die Landstraßenfahrt gen Norden, über Niedenstein und Schauenburg, dauerte sogar weniger als eine halbe Stunde.

Sie fielen sich um den Hals und kühlten sich bei einem kleinen Stadtrundgang ab. Auf dem vielgerühmten Marktplatz wäre die schwarzgelockte Räuberin und angebliche Hexe Ulrike Dessau um ein Haar verbrannt worden. Beim Volk genaß sie auch als Heilundige einen guten Ruf. Die wuchtige Stadtkirche hätte es ungerührt mit angesehen. Das war 1821. Ihre Leute befreiten die knapp 30jährige jedoch, als sie aus dem Kerker im Scharten-berger Torturm zu einem Verhör im Amtsgericht gezerrt wurde, und verhalfen ihr zur Flucht Richtung Holland. Sie hatten an der Fluchtstrecke erstklassige, ausgeruhte Pferde nach Art eines Staffellaufes postiert. In Holland soll es Dessau noch zu einer angesehenen, sogar amtlich gesalbten Ärztin gebracht haben. Dies alles sei für die Zeit recht erstaunlich gewesen, meinte Buchautorin Velberting.

»Naja«, rieb sich Düster das frisch rasierte Kinn. »Die Liebschaften zwischen dem Klappmesser und dem Kleiderschrank in Karlskirchen sowie zwischen dir und mir sind ja auch nicht gerade stinknormal. Jede Zeit hat ihre Farben, um nicht zu sagen: ihre Glanzlichter …«

Ilona schmunzelte und fuhr ihm durch die Mähne. »Aber im ganzen siehst du furchtbar schwarz, ist es nicht so?«

»Na sicher! Der Mensch ist eine völlig mißlungene Erfindung, von wem auch immer. Er ist komplizierter, anfälliger und unberechenbarer als ein Kernkraftwerk, aber wenns ihm ans Eingemachte oder an die sogenannte Ehre geht, explodiert er unweigerlich.«

Nach dem Mittagessen wanderten sie quer über die Anhöhen nach Escheberg. Das einzige, was dabei nennenswert störte, war der Anblick der Hochbaustelle der Autobahn Kassel–Dortmund, die damals noch nicht eröffnet war. Schloß und Gut Escheberg selber lagen von Wäldern abgeschirmt in einer nahezu verträumt anmutenden Senke. Der Schloßpark mit seinen prächtigen Bäumen und sangesfreudigen Vögeln war »der Öffentlichkeit« leider nur in dem Winkel am Teich »zugänglich«. Der Teich wurde von einem schloßeigenen Rinnsal gespeist, das sich dann hügelabwärts zur Warme begab. Sie folgten ihm auf der parallel verlaufenden, kaum befahrenen schmalen Straße, die das Anwesen mit der Umgegend verband.

Hier waren Ernst von der Malsburg nach Ulrikes Flucht nur noch drei Jahre beschieden. Angeblich erlag er, mit 38, einem »Nervenfieber«, wie man damals zu vielem sagte, das irgendwie tödlich war. Ilona meinte und schrieb, er sei jede Wette seinem Gram erlegen. Der kurhessische »Kammerherr« vergötterte Ulrike, konnte sich aber nie dazu überwinden, sich zu ihr zu bekennen oder gar ihr vogelfreies Los zu teilen. So hatte sich zum Gram vermutlich die Scham gesellt. Ohne das »Nervenfieber« hätte er sich sowieso erhängt, nahm Ilone an.

Der Malsburg-Clan hielt seinen Stammsitz und jede Menge Wald nach wie vor als unantastbares Privateigentum. Ilona erzählte Düster auf der schmalen Straße zum Warmetal hin auch von jüngsten Gerüchten, der Clan spiele mit dem Gedanken, die sanften Hänge oberhalb des Schloßparkes in einen 18-Loch-Golfplatz zu verwandeln. Das leuchtete Düster sofort ein.

»Na sicher«, spottete er. »Dann gleiten hier die Mercedesse, Maseratis und Porsches der bekanntlich sehr naturliebenden nordhessischen Elite hin und her … Oder die Karmann-Ghias«, fügte er mit lauerndem Seitenblick hinzu. Das hätte um ein Haar zu einer Schlägerei geführt.

Gegen Abend fuhren sie freilich gemeinsam nur in Düsters Käfer nach Karlskirchen, wo sie übernachten wollten. Düster hatte sich bereit erklärt, sie am Montag in der Frühe zum Schuldienst in Kassel zu fahren. Von dort konnte man Zierenberg mit dem roten »Schienenbus« erreichen, also der Eisenbahn.





15



Die Kampfbahn der Borussia, an der Fritzlaer Straße gelegen, war von hohen Pappeln umsäumt. An der südlichen Längsseite gab es sogar eine niedrige, abgestufte Böschung, die als Tribüne galt. Ilona hatte sich aber bald hinter dem Tor postiert, das ihr neuer Geliebter hütete. Sie lachte sich wiederholt über ihn schief. Nicht, daß er eine schlechte Figur gemacht hätte. Vielmehr erinnerten die Anweisungen, die er seinen Vorderleuten gab, doch ziemlich offensichtlich an den Kriminalkommissar, der in dem roten Pullover des heimischen Torwarts steckte. Er gab sie unaufgeregt, knapp, bestimmt, aber nie zurecht-weisend. Allerdings hatte er am Ende zwei »Dinger« durchgelassen, die Hans Tilkowski wahrscheinlich gehalten hätte. Vielleicht war Düster doch ein wenig unkonzentriert. Gleichwohl wurde Spitzenreiter Besse mit 4:2 abgefertigt. Die rund 30 Borussia-Getreuen auf der Tribüne, meistens Opas, jubelten.

Als Düster, wieder in lockeres, elegantes Weiß gekleidet, aus der Vereinsbaracke kam, beglückwünschte ihn Ilona. »Ja, vielen Dank«, erwiderte er. »Aber mir ist etwas mulmig zumute.«

»Was denn«, sagte sie stirnrunzelnd, »etwa wegen mir?«

»Ach woher!«

»Oder wegen der beiden Gegentore?«

Düster winkte ab. »Nein, nein. Wegen dem Klappmesser. Wegen dieser blaugelben Ziege hat mich doch eine gewisse Unruhe gepackt. Ich mache mir Sorgen, verstehst du?«

Das tat sie nicht. Düster erklärte ihr also die Sache mit der Fluchtgefahr. Inzwischen sei er unsicher geworden, ob sich Klapp nicht vielleicht doch aus dem Staub machen würde. Das wäre ein schwerer Schlag für Lillis Karriere, versicherte er.

»Für deine nicht?«

»Ach woher! Die ist mir egal. Ich will ja sowieso seit Jahren mehrmals jährlich aussteigen.«

»Und was hälst du jetzt für angebracht?«

»Na, man müßte die Klapp vielleicht doch beschatten. Oder wenigstens mal nachsehen, wo sie gerade steckt – falls sie noch nicht über alle Berge ist.«

Sie standen inzwischen neben Ilonas flottem Wagen. Sie dachte nicht lange nach. »Das können wir ja tun. Steig ein! Wo sollen wir denn zuerst nachsehen?«

Düster machte große Augen. »Aber möchtest du nicht erst einmal zu Mittag essen, mein Schatz?«

Sie winkte ab und öffnete die Fahrertür. »Das hat Zeit.«





16



Sie fuhren zuerst zum Parteibüro in der Schwimmbad-straße, weil das am nächsten lag. Alles tot. Dann dirigierte Düster seine Fahrerin gen Süden um den halben Schloßberg zu einem neuerbauten Mehrfamilienhaus, in dem Klapps Privatwohnung lag. Auch hier war das Klingeln vergeblich. Da auch Klapps Auto, ein schicker, weinroter Ford Taunus 17 m, nicht zu entdecken war, hoffte Düster, sie sei vielleicht zu Rühmling gefahren – und nicht etwa ins Kino nach Kassel oder gleich zur Autobahn nach Hamburg. Aber auch am Untermarkt 17 bemerkten sie keine Anzeichen von Leben in dem ganzen gelben Backsteinhaus. Rühmlings Kastenwagen stand allerdings unter dem Dach im Hof. Hoffentlich hatte sie ihn nicht schon umgebracht – den Polsterer.

Sie fuhren in die nahe Bahnhofstraße. Düsters mulmiges Gefühl wurde immer unangenehmer. Er sagte es Ilona auch. Vor der Kripo schob er plötzlich hastig nach: »Parke bitte hier, Ilona. Ich will ohnehin kurz hinauf ins Büro, meinen Zaubertrank aus dem Kühlschrank holen. Ich muß mich beruhigen.«

Schon eilte er über die Straße und verschwand im Hauseingang.

Zaubertrank ..? Ob er vielleicht vor lauter Besorgnis schon eine Meise bekommen hatte? Ilona stieg aus und verschloß ihren Wagen.

Als Düster nach wenigen Minuten zurückkam und sie unterhakte, schnupperte sie unauffälig an ihm, ob er sich vielleicht ein Glas Cognac hinter die Binde gekippt hätte. Aber sie roch nichts dergleichen. Sie hielten jetzt auf den Zugball zu. Düsters Besorgnis mochte ja der berüchtigte »Siebte Sinn« sein, der angeblich alle guten Kriminal-beamten hin und wieder befiel, sagte sie sich. Sie wittern die Gefahr, bevor sie ein normaler Bürger überhaupt nur in Erwägung zieht. So ganz falsch war das tatsächlich nicht. Düsters »Zaubertrank« war die Pistole, die jetzt unter seiner lässigen, weißen Leinenjacke im Schulterholster steckte. Der »Kühlschrank« war also der Safe gewesen.

Als sie den Snookersalon im ehemaligen Bahnhof fast erreicht hatten, bat Düster seine Begleiterin, ihm erst in ungefähr zwei Minuten zu folgen und dann so zu tun, als kenne sie Düster nicht. Die Fenster im Erdgeschoß waren ja ohnehin durch Innenjalousinen bedeckt. »Setz dich einfach an die Bar«, sagte Düster, »und guck dem Spielgeschehen zu. Falls Klapp drin ist, möchte ich nämlich nicht, daß sie dir eine runterhaut, weil du offensichtlich meine Mieze bist. Du verstehst?«

Das war dieses Mal sogar der Fall. Sie lehnte sich am Beginn des Bahnofsplatzes an einen Vorgartenzaun und blickte Düster nur noch aus dem Augenwinkel nach.

Kaum hatte Düster den Salon betreten, leuchtete an Tisch 4 Klapps roter Schopf auf. Sie war allein. Demnach besaß sie die Unverfrorenheit, zu trainieren wie vermutlich fast jeden Tag. Sie scherte sich einen Dreck um Düsters Verfolgungswahn.

Im Salon hielten sich schätzungsweise zwei Dutzend Personen auf. Tisch 4 war nicht weit von der Bar entfernt. Zur Stunde hatte Architekt Lunken höchstpersönlich Dienst. Er trug eine schwarzweiß karierte Weste, die ihm gemäß seiner Rundlichkeit wie angegossen saß. Sie kannten sich nur ganz flüchtig. Da Düsters Magen trotz aller Mulmigkeit knurrte, bat er Lunken um ein heißes Baguette und schob sich auf einen freien Hocker. Kurz darauf erschien Ilona und lehnte sich an der anderen Seite an die Bar. Dann tat sie es, still zum grauen Teppichboden grinsend, Düster nach und bat den Barmann gleichfalls um ein heißes Baguette.

Klapp übte die klassische Ausgangssituation des Endspiels, wie Düster bald erkannte. Diese Situation bestand lediglich in einem Stoß, den das Club-As zigmal wiederholte, während der Kommissar sein Baguette verzehrte. Es kommt dabei darauf an, nach dem Verschwinden der letzten Roten die Schwarze zu versenken – aber so, daß die Weiße, der Spielball, anschließend möglichst günstig auf Gelb steht. In der Regel geht dieser Stoß über die Längsbande und den halben Tisch. Er ist natürlich um so schwieriger, je ungünstiger die Schwarze liegt. Klapp änderte die Positionen von Schwarz und Weiß ständig, kam aber immer im Bereich von Grün und Braun gut auf Gelb zu stehen. Düster wollte bereits insgeheim eine Ode auf ihr bestechendes Ball- und Tempogefühl anstimmen, als sie sich plötzlich umwandte und ihn über rund fünf Meter und eine andere Tischecke hinweg in spöttischem Tonfall ansprach.

»Sie gucken so kritisch, Herr Kommissar … Meinen Sie, es ginge noch besser? Wir können es gerne im Wettstreit versuchen. Ich gebe Ihnen 50 Punkte vor.«

Das war allerhand. Düster hatte Mühe, seine Verblüffung zu überspielen, indem er sich die Baguettekrümel von Kinn und Jackenärmel strich. Schon ihre Kühnheit oder Frechheit war allerhand; sodann waren 50 Punkte Vorgabe enorm, denn mit ungefähr 70 Punkten hatte man oft schon den ganzen Frame gewonnen; und schließlich war es auch ein starkes Stück, Düster über die Tische und SpielerInnen hinweg als Herrn Kommissar bloß zu stellen.

»Lassen Sie mal, Frau Klapp«, winkte er mit der Hand ab, die er für die Krümel benutzt hatte, »ich bleibe beim Freizeit-Fußball. Ärgerlicherweise leide ich heute auch noch an einer Formkrise; der Borussia habe ich vor zwei Stunden, als Torwart, zwei gegnerische Treffer eingebrockt.« Dabei äugte er zu Ilona, die natürlich schon wieder grinste.

Etwas Besseres war Düster so rasch nicht eingefallen. Klapp machte prompt »Pah!« und wandte sich wieder ihren Kugeln zu. Ein paar Leute starrten Düster bereits an. In seiner Verlegenheit glitt er vom Hocker und steuerte die Toiletten an, wo er sich vielleicht mit kaltem Wasser wieder in Form bringen konnte. Das Dumme war nur, dieser Weg führte genau an Tisch 4 vorbei. Kaum hatte er ihn erreicht, blickte sie von der Bande auf und höhnte mit unterdrückter Stimme:

»Und eine schwache Blase haben wir auch ..?!«

Düster hielt inne, faßte sie stirnrunzelnd ins Auge und beging in seiner Wut die nächste Dummheit. Er sagte leise und drohend:

»Ich denke doch, Sie sollten die Lage etwas ernster nehmen, Frau Klapp. Was soll man beispielsweise von der Leiterin eines Parteibüros halten, die sich am hellichten Tage eine Kaffeetasse stehlen läßt?«

Sie war noch immer über die Bande gebeugt. Sie blickte mit verkniffenen Augen zu ihrem Widersacher. Sie ahnte, gleich kommt eine Bombe, aber sie faßte das Unheil noch nicht so ganz.

»Ich meine die Kaffeetasse auf dem Konferenztisch, Frau Klapp. Vielleicht haben Sie sie schon vermißt?«

»Und was soll damit sein?« sagte sie in bemüht harmlosem Ton.

»Wir fanden darauf Ihre Fingerabdrücke.«

Sie bekam wieder Oberwasser und höhnte: »Was Sie nicht sagen – das ist ja sensationell!«

»Ja, Frau Klapp. Denn die gleichen Fingerabdrücke fanden wir auch auf den gelben Klinkern einer Hinterhofmauer, vor der eine weiße Badewanne mit Tomaten drin steht.«

Jetzt verengten sich ihre Augen geradezu. Düster meinte, ihre lieblichen Zähnchen knirschen zu hören. Aber sie sagte nichts. Sie brachte sich in Bewegung, indem sie die Weiße erbost mit der Hand gegen die Bande stieß, hieb die Kreide über die Kuppe ihres Queues und nahm ihr Training wieder auf.

Düster sputete sich, auf die Toilette zu kommen und sich ein paar Hände Wasser ins Gesicht zu schütten. Schließlich hatte er sie in seiner Gekränktheit, törichterweise vielleicht, provoziert, und wer konnte wissen, ob sie nicht schleunigst den Saal verließ oder sonst eine Dummheit machte.

Aber als er aus der Toilette trat, war sie unverändert mit ihren Übungen beschäftigt. Düster nahm wieder an der Bar Platz und bat Lunken um einen Espresso. Der grauhaarige Lockenkopf mied inzwischen Düsters Blick. Offensichtlich war ihm die dicke Luft zwischen dem Polizisten und seinem besten Pferd im Stall nicht entgangen.

Während sich Düster fast fieberhaft fragte, wie er sich jetzt am geschicktesten – am günstigsten für die Ermittlungen! – aus der Affäre zöge, wurde ihm die Entscheidung von Benno Rühmling abgenommen: er betrat den Salon.

Nicht zu glauben, murmelte Düster in sich hinein und äugte erneut zu Ilona. Sie war wohl ebenfalls verblüfft. Sie kam ihm jetzt immer spannungsgeladener vor.

Der Kleiderschrank vom Untermarkt trug eine braune Weste zum zitronengelben kurzärmligen Hemd und war wieder glänzend frisiert. Als er zur Bar kam, bedachte er Düster allerdings mit einem ähnlich begeisterten Blick, wie ihn dieser bereits an Barmann Lunken festgestellt hatte. Es fehlte nicht viel, und Rühmling hätte wieder kehrtgemacht. Aber er ließ sich seinen Queue-Koffer geben und ging zu Tisch 4.

Seine Geliebte begrüßte ihn nur durch ein Nicken. Sie bauten die Kugeln auf und spielten. Und Düster sah zu.

Nach einigen Spielzügen sagte sich Düster zerknirscht, jetzt sei er so klug wie zuvor. Alle ermittlungstaktischen Fragen, die er sich gestellt hatte, hingen noch im Raum. Aber auch jene »dicke Luft« hing noch im Raum. Rühm-ling verpaßte eine Stellung auf Schwarz – und plötzlich fauchte Klapp, sowas haue man doch mit Unterschnitt rein! Sie meinte natürlich die vorausgegangene Rote. Rühmling widersprach ihr jedoch maulend. Daraus entspann sich binnen von Sekunden ein Wortgefecht, das den halben Salon aufhorchen ließ. Klapp beschimpfte Rühmling als trübe Tasse, Rühmling verbat sich ihren Schwiegermutterton, Klapp fluchte, er wälze ja die Verantwortung nur zu gern auf die Frauen ab, Rühmling schleuderte die Weiße auf den Teppichboden und nannte Klapp eine rothaarige Zimtzicke, was sie mit der gellenden Feststellung vergalt, er sei ein Lämmerschwanz!

Rühmling zuckte zusammen, warf sein Queue beiseite, trat die auf dem Boden liegende Weiße mit der Schuhspitze unter den Nachbartisch und ging bedrohlich langsam auf Klapp zu. Seine Arme hingen herab. Die Finger seiner Hände kneteten sich.

»Was hast du da gesagt ..?«

»Ein Lämmerschwanz!« wiederholte sie schreiend. »Ein Lämmerschwanz!«

Da ihr Queue an der Fußbande lag, griff sie in ihrer Raserei in die Ablage an der Kopfbande, zerrte die »Brücke« hervor, umfaßte den Stiel dieses Hilfsgerätes mit beiden Händen, holte aus und hieb ihm dessen Kopf aus Metall mit aller Kraft ins Gesicht.

Verdammt, dachte Düster und sprang von seinem Hocker, das war zu viel! Während sich Klapp sofort mit merkwürdig festem Schritt zum Ausgang wandte und Rühmling vor Schmerzen wimmerte und rücklings gegen die Bande eines Nachbartisches sank, rannte Düster, einen störenden Tische umrundend und mehrere überwiegend gelähmte Leute anrempelnd, hinter Klapp her und rief:

»Bleiben Sie stehen!«

Sie hielt tatsächlich inne, griff unvermutet zu einem Tablett mit Snookerkugeln, das gerade neben ihr auf einem Tisch stand, drehte sich um, brüllte Du Drecksbulle und warf ihm das gefüllte Tablett mit Wucht in die Fresse, um es einmal unverblümt zu sagen.

Immerhin konnte Düster einen Teil der Kugeln und der Tablettkanten abdämpfen, weil er instinktiv die Arme hochgerissen hatte. Der Rest brachte seinen Schädel zum Dröhnen und seine Füße ins Straucheln. Aber nun war er natürlich ebenfalls zornig. Er fing sich und erreichte die aufstehende Salontür.

Klapp hatte bereits die zwei zu ihr führenden Sandstein-stufen übersprungen und flitzte auf ein am Platz stehendes mehrgeschossiges Doppelhaus zu, um sich darin irgendwie dünne zu machen. Düster brüllte erneut, sie möge stehen bleiben, fügte aber dieses Mal hinzu: »Ich bin bewaffnet!«

Natürlich hustete sie ihm etwas. Unweit der Treppenstufen hing ein Papierkorb an einem hüfthohen Pfahl. Düster kniete sich blitzschnell hinter ihn, zog seine Pistole aus der Jacke und benutzte den Papierkorb als Auflage für seine Handfeuerwaffe. Er bemühte sich ausdrücklich, auf Klapps Beine zu zielen.

Sie kippte kurz vor dem ersten Hauseingang gegen den Vorgartenzaun und versuchte sich an den Eisenstäben festzuhalten – vergeblich. Sie glitt auf den Bürgersteig.

Düster erhob sich, wischte etwas Blut, das von seiner Schläfe getropft war, von seinem Handrücken und wandte sich zur Salontür. Das erste, was er in seiner Benom-menheit sah, waren die schwarzweißen Karos auf Lunkens gewölbter Weste. Düster sagte:

»Sofort den Krankenwagen, bitte!«

Die Weste verschwand, dafür drängten sich andere Leute in die Tür. Ilona war auch darunter. Sie erblickte Klapp an dem Vorgartenzaun, faßte sich erschrocken ans Kinn und fragte Düster: »Hast du sie erschossen ..?«

»Unfug«, knurrte Düster. »Sie ist nur am Bein verwundet. So schlecht schieße ich nun auch wieder nicht. Ich muß nach ihr sehen.«

Er wandte sich wieder zum Platz und überquerte ihn mit zügigen Schritten. Vom Schloßberg her erschollen die ersten Sirenen.
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