Sonntag, 8. Oktober 2023
Düster 4 Sanierungshilfe
ziegen, 19:33h
Dieser Fall fing mit Brandgeruch an. Das war Ende Mai. Mitten in der Nacht von Sirenengeheul aufgeschreckt, öffnete Düster schlaftrunken sein großes Dachgauben-fenster – und hatte den Geruch auch schon in der Nase. Offenbar blies der Wind aus Norden. Neben den Sirenen hatten bereits ein Dutzend Altstadtköter ihre Stimmen erhoben. Wie trotz des Qualmes kaum zu übersehen war, brannte es in der Nähe des Untermarkts. Nun ja, dachte Düster, das würde er wohl, dank der vielen Feuerwehrleute und Polizisten, die sich jetzt da unten tummeln mußten, überleben. Er kroch wieder in sein Bett.
Anderntags war Düster nicht der einzige Karlskirchener, der zu der Brandstätte pilgerte. Für Düster lag sie freilich günstig auf seinem Fußmarsch ins Büro. Sie qualmte noch leise vor sich hin, jedoch unter strenger Kontrolle der Skat spielenden dreiköpfigen Besatzung eines roten Personenwagens der Feuerwehr. Wie schon früher skizziert, schloß sich auf der Ostseite des Untermarktes, übereck zum Rathaus, ein ausgedehnter und stattlicher alter Gutshof an, der noch bewirtschaftet wurde, das Gut Gleim. Auf diesen wiederum folgte ein eher gewöhnlicher, zudem schon ziemlich heruntergekommener Bauernhof, der Hof Wegener. In Wegeners Scheune, hart am Gutshof, war der Brand ausgebrochen, wie Düster von den Skatbrüdern erfuhr. Die Sache war glimpflich abgegangen. Es war der Feuerwehr gelungen, Wegeners Stallvieh, Wegeners im Zwinger tobenden Schäferhund und sogar das ganze Wohnhaus zu retten sowie ein Übergreifen der Flammen auf Nachbargrundstücke zu verhindern. Menschen kamen nicht zu Schaden.
Düster setzte seinen Weg zur Bahnhofstraße fort, in der das Hauptquartier der dreiköpfigen Karlskirchener Kripo lag. Um zu verstehen, warum sowohl er und sein Mitstreiter Ohl als auch skeptische Einheimische wie Stubenrauch sofort Brandstiftung witterten, muß man von jenen Plänen wissen, über die damals lediglich gemunkelt beziehungsweise an reservierten Ratskellertischen oder in sogenannten Ausschüssen des Stadtrats gefeilscht wurde. Im Ergebnis hatte sich der ganze zentral gelegene Streifen zwischen Untergasse und Kasseler Straße, der vom Markt bis fast zum Amtsgericht reichte, schon zwei Jahre darauf in eine Baugrube verwandelt. Darin waren auch das gerettete Wohnhaus der Wegeners und das vollständige Gut Gleim untergegangen, das zur Brandzeit noch mit einem halben Dutzend prächtiger Acker- und Kutschgäule bestückt war. Und warum hatte dieser alte Plunder zu weichen? Weil auch dem Provinzstädtchen Karlskirchen der jüngste, aus Bonn bereits gesetzlich untermauerte städtebauliche Schrei ins Haus stand, nämlich eine sogenannte »Flächensanierung«. Herzstück dieser Maßnahme, die die Verabschiedung eines neuen »Bebauungsplanes« durch den Stadtrat voraussetzte, sollte eben der Streifen zwischen Untergasse und Kasseler Straße sein. Und im Laufe der 1960er Jahre rotteten sich genug Kräfte zusammen, die dafür auch öffentlich die Werbetrommeln rührten.
Was den Brand betrifft, kam der Staatsanwalt nicht umhin, die Kripo »einzuschalten«, und diese nahm, in Gestalt von Düster und Ohl, im Lauf des Vormittags Ermittlungen auf. »Selbstverständlich lügen sie dem Bürger und der Bürgerin die Hucke voll«, sagte Stubenrauch, als Düster vor der Mittagspause beim ihm vorbeischaute. Der Kellerladen des Antiquars lag ja in der Gasse Hinter dem Amtsgericht, damit unweit der abgebrannten Scheune. »Sie faseln von Modernisierung, Begegnungsstätten, Fußgängerparadiesen, aber sie meinen Parkplätze, Konsumräusche und fette Mieten«, höhnte der weißhaarige, hagere Mann. Wobei ein gehöriger Batzen des großen Geldes schon gleich zu Anfang durch die beteiligten Planungs- und Baufirmen gemacht werde, eben durch Entwürfe, Abbrüche und Neubauten. »Und nun dürfen Sie dreimal raten, Herr Kommissar, wer sich bei der Nachricht von dem bedauerlichen Brand bei Wegener als erster die Hände gerieben hat, daß nur so die Funken stieben ..?«
Düster verkniff die Augen. »Doch nicht etwa ein bedeutender einheimischer Baulöwe ..?«
»Richtig«, sagte Stubenrauch befriedigt und prostete Düster mit der Kaffeetasse zu: »Zülpmann.«
Das größte Bauunternehmen der Gegend war südlich des Schloßberges in einem neuen sogenannten Gewerbegebiet angesiedelt. Diese Firma durfte denn auch das neue achtstöckige Waschbeton-Verwaltungsgebäude der durch sogenannte »Eingemeindungen« kräftig aufgeblähten Kleinstadt errichten. Nebenbei zogen sich dadurch auch die Wege der Dörfler zur lieben Verwaltung kräftig in die Länge. Der hohe Klotz erwuchs ziemlich genau auf dem Flecken, wo einst Wegeners Wohnhaus stand. Er war zukünftig das Karlskirchener »Rathaus«, und er war die uneinnehmbare Trutzburg all jener Kriminellen, die diese Kahlschlagpolitik betrieben, gefördert oder zumindest geduldet hatten. Die Bezeichnung »Kriminelle« stammte selbstverständlich nicht von Düster, sondern von Stubenrauch.
Leider gelang es Düster und Ohl nicht, Beweise für die Brandstiftung, geschweige denn einen Täter oder eine Täterin zu finden. Die betreffende Person war nicht so dumm gewesen, einen Benzinkanister zurückzulassen oder auch nur einzusetzen. Die mit Stroh und Heu gut gefüllte Scheune brannte auch ohnedem prima ab. Landwirt Wegener räumte ein, die Elektrik in der Scheune sei streckenweise »improvisiert«, möglicherweise sogar schadhaft gewesen; folglich konnte auch sie der Übeltäter gewesen sein. Es gab sogar Schwierigkeiten mit der Versicherung. Dafür strich Wegener später eine nette Entschädigung »der öffentlichen Hand« für sein Wohnhaus ein. Gleichwohl gab es niemanden der glaubte, Wegener selber habe für den Brand gesorgt. Wegener war mit Leib und Seele Bauer und Naturfreund und lehnte die »neumodischen« Pläne der Mafia ab. Seine Frau hatte hinter dem Wohnhaus einen üppigen Garten betreut, der vielen Alteingesessenen als ungleich größere Zierde der Altstadt galt als der lächerliche »Stadtpark«, der jenseits der Kasseler Straße neben dem Altenheim lag.
Gewiß hatten sich ein paar verdächtige Gegenstände am mutmaßlichen Tatort gefunden; irgendetwas findet man immer, und sei es eine leere Flasche Qualitätswein, obwohl der Grundstückseigentümer bekanntermaßen ausschließlich Bier trinkt. Der größte Gegenstand war eine gut erhaltene, grau in grau karierte Schiebermütze aus Schurwolle. Die Wegeners wußten nichts von ihr. Die Mütze hatte unweit der Scheune innen am Zaun zur Untergasse im Gras gelegen. Gewiß konnte sie auch einem Betrunkenen entfallen sein, der bei Dunkelheit von außen an den Zaun pinkelte, ohne sich vom wütenden Gebell des Hofhundes beeindrucken zu lassen. Ohl, der sie auch entdeckt hatte, tütete die Mütze behutsam ein und nahm später Fingerabdrücke von ihr ab. Die meisten Abdrücke stammten von derselben Person, vermutlich dem Träger der Mütze. In den einschlägigen Karteien fanden sie sich leider nicht. So wurde die Mütze nach kaum einer Woche mit dem ganzen Fall zu den Akten gelegt. Schließlich war keine Fabrikantenvilla abgebrannt.
Als Ohl und Düster den Fall am frühen Abend im Biergarten des Hessischen Hofes noch einmal in Ruhe erörterten, nämlich nach dem Fußballtraining, sprachen sie auch über Wegeners Hofhund. Und in diesem Zusammenhang fiel dem Hauptmeister plötzlich Gutsherr Gleim ein, denn dessen Sprößling trank zwei Tische weiter mit ein paar Gymnasiasten Bier. Ohl wußte, Vater Gleim fürchtete die drohende Automobilisierungswelle nicht weniger als sein Nachbar Wegener. Er wußte es, weil seine Frau – Ohls Gattin also – bei Gleims regelmäßig Honig kaufte. Ohl sagte:
»Schau doch einfach mal auf deinem Arbeitsweg bei Gleim herein, Bernd. Vielleicht hat er einen Fingerzeig. Daran hätten wir eigentlich schon früher denken können. Der Mann ist nicht übel. Aber du bist der Kommissar. Vielleicht fühlt er sich geehrt und plaudert dir das Notizbuch voll.«
2
Gleim war ein bartloser, stattlicher Mann um 50, der meist mit ernster Miene über seinen Hof oder durch die Unter-gasse schritt, die demnächst »Fußgängerzone« sein sollte. Er bat Düster in den Salon seines gepflegten Fachwerk-Gutshauses und machte keinen Hehl aus seiner Besorgnis wegen des Brands. »Sie wollen uns ausräuchern!« zwinkerte er grimmig. Er war also keineswegs völlig humorlos. Als ihm Düster die folgende Überlegung vortrug, verstülpte er seine wulstigen Lippen und schnalzte anerkennend wie im Angesicht prächtiger Kutschpferde. Der Zwinger vom Schäferhund seines Nachbarn Wegener stieß unweit der Einfahrt ans Wohnhaus, wie Gleim natürlich wußte; die Scheune lag keine 30 Meter entfernt auf der anderen Hofseite. Brandstiftung vorausgesetzt, sagte Düster, müsse das Werkzeug der Mafia somit ein Mensch gewesen sein, den Wegeners Schäferhund kannte. Andernfalls hätte das Tier nämlich angeschlagen und damit die ganze Aktion vereitelt.
Gleim dachte eine Weile nach. Ein Fenster stand offen, und Düster hörte die Rauchschwalben zwitschern, die über den Gutshof strichen. Plötzlich hellte sich Gleims Gesicht auf. »Henner Schlohs, jawohl! Das könnte eine Fährte sein.«
Wie sich herausstellte, meinte er einen Knecht, der vor einigen Jahren bei Wegener »abgeheuert« hatte, um eine vergleichsweise gutbezahlte Stelle als Bauarbeiter bei Zülpmann anzutreten. Schlohs sei damals wohl kaum 30 gewesen. Man müsse nachforschen, ob er noch bei Zülpmann beschäftigt sei, und wo er jetzt wohne. Düster nickte erfreut, trug den Namen gleich in sein Notizbuch ein und ließ sich von dem Gutsherrn bestätigen, der Name sei richtig geschrieben. Dann erhob er sich und dankte Gleim herzlich. Der ließ es sich aber nicht nehmen, den Kommissar noch ein wenig durchs Gehöft zu führen, ihn den Pferden vorzustellen – und ihm beim Abschied an der Hofeinfahrt ein Glas Honig in die Hand zu drücken.
3
Schlohs hatte eine ähnlich gute Aussicht auf die Altstadt wie Düster. Die Schloßgasse, die in beträchtlichem Anstieg vom Obermarkt zum Gefängnisturm führte, war nur auf der Bergseite mit einigen sehenswerten, meist älteren Villen bestückt. Auf der Talseite standen eher gewöhnliche, kleinere ehemalige Ackerbürgerhäuser, die immerhin Hintergärten und eben die erwähnte Aussicht besaßen. Schlohs konnte das durchbrochene Uhren- und Glockentürmchen des alten Rathauses beinahe in Augenhöhe betrachten. Er hatte hier ein ziemlich schäbiges eingeschossiges Häuschen gemietet, als er sich, nach seinem Wechsel zu Zülpmann, mit einer Niedensteiner Landwirtstochter verheiratet hatte, die ihm freilich bald darauf schon wieder weggelaufen war. Ja, Düster wußte viel, hatte er doch seine Gewährsleute, die noch mehr als er selber wußten, darunter »die Mandel«, den dicken Karlskirchener Arm der Kasseler Post.
Als er am frühen Abend bei Schlohs klingelte, tat er es vergeblich. Es gab jedoch einen seitlichen Durchgang zum abschüssigen Garten. Dort stand unter einem recht stattlichen Pflaumenbaum sogar ein vom Wetter gegerbter Liegestuhl, aber der Bauarbeiter, der ihm eigens eine kleine waagrechte Standfläche aus dem Hang gehauen hatte, lag nicht darin. Dafür ruhte ein leeres Trinkglas im Stuhl. Ein paar verunkrautete terrassierte Beete deuteten noch auf die entflohene Landwirtstochter hin. Überall lag Müll. Düster tat, als besichtige er diese herrliche Wohnlage, wollte freilich in Wahrheit sicher gehen, nicht beobachtet zu werden. Leider wurde er jedoch beobachtet, wie er aus dem Augenwinkel heraus bemerkte.
Es handelte sich um eine vielleicht 17jährige in kurzen Hosen, dafür mit schulterlangen blonden Locken. Sie steckte in einem blauweiß gestreiften Fischerhemd. Mit ihren verblüffend steilen Brüsten hätte sie in der Tat angeln können. Sie stand jedoch mit einem Flitzebogen in der Hand eins tiefer im Gras, wo sie offensichtlich ihr Vergnügen darin fand, auf eine geflochtene Zielscheibe zu schießen, die an ihrem Pflaumenbaum hing. Im Augenblick schoß sie natürlich nicht. Sie verfolgte vielmehr etwas mißmutig, was er wohl weiter tun würde.
Er ging die 10 Meter hinunter zum Staketenzaun. Dort sagte er: »Hallo! Das Wetter ist ja wie geschaffen zum Bogenschießen. Aber doch recht warm!«
Prompt zog Düster seine leichte, helle Leinenjacke aus und hängte sie an den Zaun. Seine dazu passende lange Hose behielt er an. Er krempelte seine Hemdsärmel auf und war nun seinerseits gespannt, was sie wohl sagen oder unternehmen würde.
Sie entschloß sich, jäh zu knurren, soweit das ihre helle Stimme zuließ. »Mich kannst du nicht verarschen! Ich kenne dich, aus der Hessenschau. Du bist ein Kriminaler. Ein Scheißbulle.«
Nach dem ersten Schock erwiderte Düster »Na, na, na« und strich sich die schwarze Mähne zurück. »Ich bin mindestens so schlank wie du, mein Kind, da hinkt dein Vergleich mit Bullen aber mächtig! Verrate mir lieber, wo Schlohs steckt. Du hast ihn doch sicherlich heute schon gesehen.«
Düsters Standhaftigkeit schien sie etwas milder zu stimmen. »Das läßt sich ja wohl kaum verhindern, wenn man Zaun an Zaun wohnt. Er ist vor einer halben Stunde weggefahren, mit seinem Scheißmoped. Das ist ja nicht zu überhören.«
»Verstehe … Und wohin ist er gefahren?«
Sie riß die Brauen hoch. »Bist du vom Wilden Watz gebissen? Bin ich sein Kindermädchen?«
»Na na na«, rügte Düster erneut und zwinkerte. »Ich könnte dein Vater sein!«
»Das fehlte mir noch!« wandte sie sich verächtlich ab. Dann nahm sie ihr Schießtraining wieder auf.
Düster kicherte und griff sich, nach seiner Jacke, endlich auch das Trinkglas vom Liegestuhl. Die Jacke in der Hand schirmte ihn dabei von der Ziege im Fischerhemd ab. Er schlug seine Beute vorsichtig in sein Taschentuch und versenkte das Ganze in der Jacke. Daraufhin verließ er den ungastlichen Garten des Bauarbeiters.
4
Der unerfreuliche Ausgang dieses Falls verdankte sich einem Knäuel aus ungünstigen Zufällen, das Gutsherr Gleim später nicht zu unrecht »saublöd« nannte. Damit war jedoch kein Vorwurf an den Kommissar verbunden. Der hatte zunächst am folgenden frühen Abend – es war ein Mittwoch – erneut eine Niete an Schlohs Haustür gezogen. Nichts regte sich. Das Moped war auch nicht da. Vielleicht hockte der Bauarbeiter bereits in irgendeiner Kneipe mit ein paar Zechkumpanen beim Würfeln und hielt die halbe Kneipe frei, weil er gerade eine fette Prämie ergattert hatte. Vermutlich hatte er dabei alle Mühe, seine Prahlgelüste wegen des Brandes bei Wegener in Schach zu halten. Düster hatte nämlich das Trinkglas unverzüglich an Ohl weitergegeben, und dieser stellte in seinem kleinen Labor fest: die Fingerabdrücke auf dem Glas stimmten mit jenen überein, die sich zuhauf auf der Schiebermütze vom Hofzaun gefunden hatten. Daraufhin hatte Düster am Nachmittag eine kleine unverfänglich wirkende Umfrage in der Schloßgasse durchgeführt: ob Mopedfahrer Schlohs zufällig begeisterter Schiebermützenträger sei, am Ende sogar einer grau in grau karierten Schiebermütze? Das war ihm bestätigt worden. Die blonde Ziege im Fischerhemd schloß sich dieser Aussage später widerwillig an.
Düster blieb an jenem erfolglosen Mittwochabend einen Moment unschlüssig vor Schlohs Haustür stehen, und das hätte ihm ein Besserwisser im Nachhinein sogar als Fehler ankreiden können. Denn dadurch konnte sich »Bauamt-Becker« Düsters Position vor Schlohs Haustür nähern. Ohnedem wären sich die beiden Herren vielleicht schon am Obermarkt begegnet. Aber eins nach dem anderen. Düster überlegte also, ob er wenigstens noch in ein paar Altstadtkneipen schauen sollte, um Schlohs vielleicht dort zu erspähen und an einen unbelauschten Tisch zu lotsen. Vielleicht ließ er sich dann mit Hinweis auf die Mütze überrumpeln, einschüchtern oder gar zu einem mutigen Geständnis verleiten.
Tatsächlich entschied sich Düster zu dem Kneipenbummel – aber zu spät! Becker erblickte ihn. Möglicherweise hatte er Düster sogar schon erblickt, als dieser mehrmals Schlohs Klingelknopf drückte. Becker kam gerade auf der Bergseite die Gasse herauf, zu Fuß. Vielleicht wollte er jemanden in einer der Villen besuchen.
Düster kannte ihn flüchtig, hatte er doch vor einigen Monaten auf dem Bauamt um eine Auskunft über die verwaiste Emsmühle bei Niedervorschütz gebeten, für die sich Ilona interessierte. Becker – mit e, wie er betont hatte – gab ihm die Auskunft bereitwillig. Der Eigentümer wolle die Mühle nicht verkaufen, und dazu zwingen könne man ihn ja leider auch nicht. Das war alles gewesen. Im übrigen wußte Bauamt-Becker jede Wette noch so einiges, auch über gewisse Karlskirchener Sanierungspläne oder gar -hilfen … Nun erblickte er den Schnüffler von der Kripo also vor Schlohs Haustür. Becker hielt kurz inne, grüßte höflich über die Straße und scherzte:
»Na, Herr Kommissar, wieder einmal keinen Feierabend in der Verbrecherjagd ..?«
»Was wollen Sie machen, Herr Becker! Die Stadt wimmelt ja von Verbrechern.«
Beide Herren schmunzelten geübt, verabschiedeten sich mit Handzeichen und entfernten sich jeder in seine Richtung.
Nun machte sich Düster doppelt beflissen daran, die Karlskirchener Kneipen abzuklappern. Lief es nämlich ganz dumm, hatte er soeben unfreiwillig nicht nur das Bauamt, sondern die ganze örtliche Mafia alarmiert, Firma Zülpmann eingeschlossen. Aber er trieb Schlohs nicht auf. Er ging sogar noch einmal nach Mitternacht zu Schlohs Häuschen hinauf – kein Moped, kein Licht, kein Echo auf sein Klingeln. So zuckte er leise fluchend die Achseln und trollte sich müde nach Hause, ins Bett. Vielleicht sollte er sich morgen vormittag erst einmal ein Päuschen gönnen, auswärtige dicke Zeitungen lesen und um den Schloßberg spazieren. Gegen Abend mußte er ja erneut zu Schlohs.
Am Donnerstag wiederholte sich die Pleite: der Bauarbeiter und sein Moped waren nicht da und trafen auch nicht ein, während Düster das Häuschen am frühen Abend aus gehörigem Abstand beobachtete. Er fluchte in sich hinein. Im Lande war Schlohs jedenfalls noch, wie ein getarnter Anruf von Lilli bei Zülpmann ergeben hatte. Die Kriminalrätin hatte sich als Verwandte Schlohs ausgegeben. Ohl meinte, vielleicht habe der Ex-Knecht auf irgendeinem Dorf eine neue Flamme aufgetrieben und räkle sich jetzt in deren Federbett. Aber dem war nicht so. Kurz nach 20 Uhr klingelte Düsters Telefon. Er war zwischenzeitlich nach Hause gegangen, um etwas zu essen.
»Da bist du ja endlich!« schimpfte Ohl. »Setz dich mal sicher zurecht, gerade ist nämlich der Hammer passiert.«
»Na, sag schon.«
»Schlohs ist tot.«
Düster hörte zu kauen auf. »Mach keine Witze. So eine Scheiße!«
»Wie es im Moment aussieht, hatte er mit ein paar Kollegen nahe Felsberg bei einer Straßenausbesserung zu tun. Als er nach Feierabend auf der Landstraße Böddiger–Deute nach Hause fahren wollte, muß ihn in der scharfen Kurve auf der Anhöhe irgendein Mistkerl mit irgendeinem Lastwagen angefahren haben. Das war gegen 17 Uhr. Schlohs stürzte mitsamt seinem Moped über die Leitplanke und den Steilhang hinunter. Er brach sich den Hals. Der Täter suchte natürlich das Weite. Zwar merkte sich ein Zeuge sogar das Nummernschild, aber wie die Kollegen bereits feststellten, war es gefälscht. Das ist im Augenblick alles.«
5
Bis zum nächsten Mittag hatten sie ein vollständigeres Bild – wenn es ihnen auch nicht weiterhalf. Die Felsberger Geschichte war der letzte Faden in jenem »saublöden« Knäuel ungünstiger Zufälle. Schlohs Kolonne war für zwei Tage bei den Felsberger Ausbesserungsarbeiten eingeteilt, für Mittwoch und Donnerstag. Deshalb hatte er sich praktischerweise schon am Dienstag, bald nach Feierabend, in Felsberg bei einem guten Kumpel einquartiert, mit dem er vermutlich eifrig zu zechen oder »Bräute aufzureißen« gedachte. Und deshalb hatte ihn Düster nicht zu Hause angetroffen. Nach dem zweiten Arbeitstag wollte Schlohs aber wieder nach Karlskirchen zurückfahren. Dabei erwischte es ihn.
Am späten Nachmittag versuchten sich Düster und Ohl noch vor dem Abschlußtraining bei der Borussia an einer Rekonstruktion der mutmaßlichen Hintergründe. Die Alarmmeldung seitens des Bauamtes, Kommissar Dühser sei Henner Schlohs auf den Fersen, erreicht noch am Dienstagabend die Chefetage von Zülpmann. Morgens überzeugt sich Chef X unverfänglich von Schlohs Aufenthalt in Felsberg und erfährt, mit dem Ende des Einsatzes am Donnerstag werde Schlohs wohl wieder nach Hause fahren. X organisiert Helfeshelfer Z, der einen Lastwagen fährt, welchen auch immer. Zülpmann Karlskirchen steht jedenfalls nicht daran. Am verhängnis-vollen Donnerstag bezieht Z ab 15 Uhr eine verdeckte Position. Erst dort wechselt er die Nummernschilder. Als er Schlohs sich der Anhöhe nahen sieht (Fernglas), startet er seinen Lkw.
Ohl kratzte sich hinterm Ohr. »Man könnte allerdings einwenden, was hätte Z gemacht, wenn Schlohs sein Moped feierabends kurzerhand auf den Pritschenwagen der Kolonne geschoben hätte – Benzin sparen. Hätte Z dann den ganzen Pritschenwagen auf die Hörner nehmen sollen?«
»Stimmt«, räumte Düster ein. »Sowas kommt vor. Da hätte Z ein langes Gesicht gemacht … Möglicherweise wußte X jedoch, daß an diesem Tage auf dem Pritschen-wagen gar kein Platz mehr für ein Moped war. Oder die Chefetage hatte solche kollegiale Transporthilfe ohnehin grundsätzlich untersagt. Versicherungsgründe oder so.«
»Ja«, grinste der blonde Hauptmeister säuerlich. »Wegen Brandgefahr … Jedenfalls ist der mutmaßliche Brandstifter Schlohs jetzt tot, und das ist in jeder Hinsicht eine Riesenschweinerei … Leider dürfte sie aber unaufklärbar sein, sehe ich das richtig?«
Düster nickte bitter. »Ohne handfeste Beweise kommen wir gegen diese Mafia nicht an. Selbst wenn wir den Lkw-Fahrer aufspüren sollten, kann er sich immer noch auf einen betrüblichen Zufall herausreden und seine panische Fahrerflucht zutiefst bereuen. Forscht man dann weiter, um seine Version zu widerlegen, ist man am Ende auch selber eine Leiche. Da wird Frau Ohl ihre sämtlichen sieben Schürzen vollzuweinen haben.«
»Ilona etwa nicht?« erwiderte Ohl lauernd.
Düster machte eine unwirsche Handbewegung und stieß sich bereits vom Schreibtisch ab. »Wir haben etwas Entspannung verdient, Reimut. Laß uns auf den Platz fahren und die Lederkugel malträtieren. Wir sagen Lilli noch nichts; aber am Montag werden wir ihr wohl empfehlen müssen, ihrerseits dem Staatsanwalt die Einstellung der Ermittlungen nahezulegen. Der wird sich die Hände reiben, nehme ich an. Oder etwa nicht?«
Ohl nickte und stand ebenfalls auf. »Darauf kannst du wetten.«
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