Freitag, 6. Oktober 2023
Düster 2 Ein Freundschaftsdienst

Inzwischen war es Herbst geworden. Lillis Büro ging nach hinten heraus, wo immerhin ein paar alte Obstbäume mit verfärbten Blättern zu sehen waren, von Gelb bis Rot. Dafür hatten die beiden Kollegen aus dem vorderen Büro zur Stunde allerdings keinen Blick. Lilli hatte zur Konfe-renz getrommelt, obwohl die Wanduhr schon fast auf 17 Uhr stand. Sie nickte wütend auf ihr Telefon und knurrte fast wie Mach Männchen, falls ein Gauner vor Lillis Schreibtisch trat. Im Augenblick döste ihr Schoßhündchen in seinem Korb.

»Ollenhauer hat mir die Ehre eines sehr dringenden Tele-fongesprächs gegeben. Seine Leute – er meint die hiesige Schutzpolizei eingeschlossen ein Rudel Grenzsoldaten aus Kassel – hätten seit 10 Uhr 30 oder jedenfalls 11 Uhr den 1.000-Meter-Bezirk ums Amtsgericht – er meint den Durchmesser des Gebiets – nahezu ununterbrochen durchkämmt, ohne auch nur eine Stecknadel zu finden, geschweige denn ein Scharfschützengewehr. Es gäbe anscheinend nicht die geringsten Spuren. Aber das sei doch haarsträubend, fuhr er dann fort. Diesmal meinte er offensichtlich den Zwillingsmord von 10 Uhr 7. So etwas gäbe es gar nicht; so eine peinliche Sache könne nur in Karlskirchen geschehen. Was ich nun vorschlüge?«

Sie sah ihre Untergebenen fragend an.

Düster rieb sich das etwas stopplige Kinn. »Ich hätte ihm erst einmal gesagt, daß seine Leute, die Grenzer eingeschlossen, Trottel sind. Von ihm höchstpersönlich wollen wir ja gar nicht reden. Aber Spott beiseite, der Befund ist schon interessant. Am Amtsgericht selber haben wir ja heute über Mittag auch nichts gefunden. Dito in Metzdorfers Wohnung. Die Pleite deutet darauf hin, dem Fall ist wohl eher durch Nachdenken als durch Nachspüren beizukommen.«

Ohl nickte. »Wir haben den Nachmittag dazu genutzt, die spärlichen Informationen zusammen zu kratzen, die über Emil Metzdorfer und Ilse Docht vorliegen. Das meiste stammt naturgemäß von den Heimatkundlichen Blättern; manches auch wieder von Stubenrauch und der Mandel. Ein gewisses Bild gibt das schon.«

Mit der Mandel war Georg Mandel gemeint, der dicke Repräsentant der Kasseler Post in ihrem Städtchen.

»Du sagst es«, übernahm Düster den Ball. »Ich schlage vor, wir fassen das Zeug jetzt noch in einer internen Memo zusammen, die wir mit nach Hause nehmen, um erst einmal gut darüber zu schlafen. Morgen vormittag werden wir dann sehen, was wohl die geeigneten nächsten Schritte wären. Was sagst du dazu, Lilli?«

Die dicke kastanienrote Kriminalrätin lächelte griesgrämig. »Ich sage, mein Schwesterherz hat heute Geburtstag, und wenn ich nicht bald auftauche, wirft sie mich mitsamt meiner Möbel hinaus.«

Ohl grinste. Die Kriminalrätin wohnte in Kassel-Oberzwehren im Haus ihrer Schwester, die im Vergleich zu Lilli ein Grashalm war. »Du brauchst nicht auf das Memo zu warten, Lilli. Wenn Bernd es unter das Kopfkissen legt, das Ilona gelegentlich benutzt, fällt ihm die Lösung des Falles sozusagen im Schlaf in den Schoß …«





2



Emil Metzdorfer, zum Zeitpunkt des erwähnten »Zwil-lingsmordes« 57, redigierte seit Jahren die vierteljährlich in Karlskirchen erscheinenden Heimatkundlichen Blätter. Stubenrauch lobte die Zeitschrift über den Klee. Auch die HerausgeberInnen, darunter ein Kasseler Geschichts-professor, schätzten sowohl die Arbeit wie die Person des Redakteurs. Der Posten erfüllte Metzdorfer jedenfalls. Das magere Gehalt störte ihn nicht. Er war alleinstehend und anspruchslos. Zwar neigte er nach wie vor zur Melancholie; seinen Ehrgeiz hatte er jedoch überwunden. Düster kannte ihn flüchtig vom Sehen, weil der Redakteur im Eckhaus der Buchhandlung Rinninsland am Beginn der zum Obermarkt ansteigenden Seilergasse wohnte. Düster hatte sich aber nie Gedanken über den unscheinbar wirkenden, mittelgroßen Mann gemacht, der noch nicht einmal durch seine Baskenmütze auffiel. Sie war braun wie sein kurzgeschnittenes Haar. Laut Mandel hielt sich Metzdorfer weitgehend von Geselligkeit oder gar Liebschaften fern. Er habe ihm, dem Kollegen von der Tageszeitung, einmal bei einem Glas Bier im Hessischen Hof gesagt, er habe keine Lust mehr, zum Spielball meist zufälliger und unberechenbarer und fast immer schmerzhafter Zu- und Abneigungen zu werden. Das fand Mandel keineswegs verrückt. Er konnte selber ein Lied davon singen. Aber sie spannen dieses Thema nicht weiter aus.

Da trat plötzlich Ilse in Metzdorfers Leben. Das war erst in diesem Sommer gewesen, vor drei oder vier Monaten. Von Ilse Docht war kaum etwas bekannt. Sie war deutlich jünger als der Heimatkunde-Redakteur gewesen, fast 20 Jahre. Laut Stubenrauch wohnte sie in Ermetheis, einem Dörfchen bei Niedenstein, in einer Art Hippie-Kommune. Sie habe sich anscheinend mit Korb- und Stuhlflecht-arbeiten an der Gemeinsamen Kasse beteiligt. Der Antiquar hatte sie aber nie gesehen. Metzdorfer dagegen erschien natürlich öfter bei ihm. Ilse war dem Redakteur auf dem Städtischen Friedhof über den Weg gelaufen, als sie sich nach dem Winkel für anonym Bestattete erkundigte. In den folgenden Monaten sei der etwas blasse Metzdorfer offensichtlich geradezu aufgeblüht. Die beiden müßten sehr glücklich miteinander gewesen sein. »Und dann dies!«

Stubenrauch meinte den Unfall. Ilse war mit ihrem Fahrrad plus Anhänger aus Kirchberg gekommen. Sie hatte zwei Stühle im Anhänger, die sie instandsetzen sollte. Die K 79 macht eine Kurve, ehe sie, kurz vor Wichdorf, in die L 3220 mündet. Diese Landstraße heißt ironischer-weise auch noch Deutsche Märchenstraße. Ein betrunkener Pkw-Fahrer kam und fuhr Ilse um. Die Stühle waren nur noch Kleinholz. Ilse Docht sei, so Mandel, wenig später im hiesigen Krankenhaus gestorben. Zu allem Überfluß begeht der Täter, ein 37 Jahre alter Karlskirche-ner Versicherungsagent, auch noch Fahrerflucht. Er wird jedoch bald gestellt und dann angeklagt.

Metzdorfer sei verständlicherweise untröstlich gewesen – »wie am Boden zerstört«, versicherte uns der alte Spanienkämpfer Stubenrauch. Als er von dem bevorste-henden Prozeß erfuhr, entschloß er sich anscheinend, den Mörder seiner Geliebten zu töten.

Mit dem Prozeßort, eben unserem Amtsgericht, hatte Metzdorfer Glück im Unglück, sogar ein mehrfaches. Bekanntlich wird die Behörde zum Jahresende aufgelöst. Das Gebäude bleibt jedoch stehen. Die Stadt hofft es früher oder später einem betuchten Menschen anzudrehen, der unbedingt einmal in seinem Leben in einer aus bunten Sandsteinen gemauerten, klobigen Justizburg zu residieren wünscht, über deren Portal unübersehbar Amtsgericht steht – in eindrucksvollen, altmodischen Buchstaben, die regelmäßig frisch vergoldet werden. Schließlich ist das Gebäude aus der Kaiserzeit denkmal-geschützt. Vielleicht erwirbt es ja unser Polizeipräsident Ollenhauer selber.

Nun hatte es aber gerade ein Unwetter gegeben, das einen größeren Schaden am Schindeldach des auf der Nordseite angeklatschten Portalhauses verursachte. Mandel findet jedenfalls, es wirke dem schönen Giebelhaus, aus dem das Amtsgericht ungefähr zur Hälfte besteht, wie angeklatscht. Im ersten Stock des Giebelhauses liegt bekanntlich der von fünf schmalen, hohen Fenstern erhellte Verhandlungssaal. Aber in diesen gelangt man eben nur durch das Portalhäuschen. Wegen der Dacharbeiten war das Portalhäuschen eingerüstet worden. Die schöne, eicherne Flügeltür blieb natürlich frei. Auf den Bohlen hatten die Handwerker hier und dort die Pakete mit den neuen Schindeln abgelegt. Aber sie selber, die zwei oder drei Dachdecker, wollten am Tattag erst nachmittags anrücken, weil ihr Chef sie vorübergehend zu einem anderen Sturmschaden an unserem Gymnasium beordert hatte. Sie hatten die Löcher im Dach nur behelfsmäßig mit Planen abgedeckt.

So lagen im ganzen drei Begünstigungen des Täters Metzdorfer vor. Der Prozeß gegen den Autofahrer M. war für 10 Uhr angesetzt. Das konnte jeder, der wollte, dem Schwarzen Brett im Inneren des Portalhäuschens entnehmen. Wir vermuten nun, Metzdorfer schlich sich am Vorabend, bei Dunkelheit, aufs Gerüst, um mehrere Pakete mit Schindeln in zwei Lagen genau über der Flügeltür zu postieren. Ob er mit dem Fernbleiben der Dachdecker rechnen konnte, wissen wir noch nicht. Vielleicht hatte er sich ja eine List ausgedacht, um seine Anwesenheit auf dem Gerüst notfalls einleuchtend zu rechtfertigen. In der Tat steckte er in einem grauen Kittel, wie ihn beispielsweise Tischlermeister tragen, als er ebenfalls tot unten auf dem Bürgersteig lag. Der Kittel zeigte in der Herzgegend zwei Einschußlöcher und feuchte Flecken von Blut.

Metzdorfers Anschlag ist bekannt. Es gibt sogar einen halben Augenzeugen, nämlich den Fahrer des Polizeibuses, mit dem der Angeklagte M. aus dem Polizeigefängnis in unserem Präsidium zum Amtsgericht beförderte worden war. Man hatte M. vor allem wegen der Fahrerflucht vorsichtshalber eingesperrt. Nun schickte er sich an, handgefesselt und von zwei Beamten eingerahmt, die zwei Treppenstufen unter dem Gerüst vor der Flügeltür zu betreten. Da fielen ihm unversehens die Pakete mit den Schindeln auf Kopf und Schultern. Er starb, anders als sein Opfer Ilse Docht, noch am Tatort.

Die Gefahr, auch die beiden Polizisten könnten erschlagen werden, hatte Metzdorfer wohl in Kauf genommen. Stubenrauch sagte dazu hinter vorgehaltener Hand: »Schließlich hatte er die Polizei und den entsprechenden Berufswunsch nicht erfunden.« Die Kollegen kamen jedoch mit geringen Verletzungen und einem Riesenschrecken davon.

Und jetzt, wenige Sekunden nach dem Anschlag, geschah das Merkwürdige. Polizeibusfahrer Rolf Hüls sah es mit an. Metzdorfer in seinem grauen Kittel habe sich auf den Gerüstbohlen aufgerichtet und beide Arme, ungefähr wie ein Stürmer der Borussia nach Erzielen des Siegtreffers, gen Himmel gereckt. Diese Pose hielt er ebenfalls wieder mehrere Sekunden. Er war also nicht etwa geflohen. Vielmehr zuckte Hüls, der Polizeibusfahrer, der im Begriff war, zu seinen Kollegen zu stürzen, plötzlich erschrocken zusammen, weil kurz hintereinander zwei Gewehrschüsse krachten. Hüls und seine beiden Kollegen wußten ja recht gut, wie Gewehrschüsse klingen.

Daraufhin fiel Metzdorfer, von den zwei Schüssen anscheinend gut getroffen, vom Gerüst. Er schlug auf die Steinplatten. Seine beiden Wächter hatten sich sozusagen unter das Gerüst gehechtet. Hüls dagegen, nur wenige Meter entfernt, rappelte sich trotz der Gefahrenlage auf und beugte sich über Metzdorfer: der Täter des Anschlages war tot. Daher die Rede vom Zwillingsmord. Weitere Schüsse blieben erfreulicherweise aus.

Kurz darauf war natürlich die Hölle los. In den fünf Kirchenfenstern oben lagen die Richter und Zuschauer und schrien vor Entsetzen oder Empörung; die drei Polizisten sahen sich wild in der nächsten Umgebung um; aus dem Portalhäuschen stürzte ein Gerichtsdiener, um vielleicht Erste Hilfe zu leisten.

Nun ja. Metzdorfer hatte sich selbst geholfen. Wie weitgehend, wird vielleicht noch zu klären sein.





3



Da Lilli sich wegen des Geburtstages für den Vormittag freigenommen hatte, mußte einer von ihren beiden Untergebenen im Büro bleiben, die Stellung halten. Die Wahl fiel auf Hauptmeister Ohl. Er hatte ohnehin für den Staatsanwalt noch einen dringenden Bericht in einer Abschiebesache zu verfassen. Düster fuhr mit dem Pkw der Kripo nach Ermetheis. Er nahm just jene über Metze führende Deutsche Märchenstraße, die neulich eine Fahrerflucht gesehen hatte.

Düster staunte wieder über deutsche Ortsnamen. Warum das am Langenberg gelegene hübsche Dörfchen Ermetheis Ermetheis heiße und was das wohl bedeuten mochte, wußte er leider nicht. Hederich und Metzdorfer hätten es bestimmt gewußt. Immerhin äußerte sich Hederich in seiner jüngst erschienen Stadtgeschichte von Zierenberg (1962) mit etlichen Sätzen zum Namen dieses Städtchens, in dem Ilona Velberting wohnte. Der Laie nimmt oft an: Naja, das ist ein reizvolles Städtchen, das an oder auf einem Berg liegt, eine wahre Zierde des Warmetals, und da heißt es eben Zierenberg. Pustekuchen! Auf einem Stadtsiegel von 1357 heißt es Tyrberch. Hederich bietet aufgrund von Urkunden jenes 14. Jahrhunderts ferner an: Czirenberk, Cyrinberg, Direnberg, Terrenberg, Derberg und dergleichen mehr. Da das alte Stadtwappen eine auf einem Berg äsende Hirschkuh zeigt, mag der Ortsname also durchaus etwas mit Tieren zu tun haben. Mit Zierden jedenfalls nicht. Er könne freilich auch mit den germanischen, ungleich älteren Götternamen Ziu oder Tyr zusammen hängen. Kurz, gesichert sei hier gar nichts.

Ermetheis stieg beiderseits eines Baches gegen den Waldrand an. Das war für Leute, die meistens Fahrrad fuhren, insofern wenig hübsch, als es schieben hieß. Die Landkommune hatte eine alte Wassermühle gepachtet, die es, wohl gegen Preisnachlaß, zu sanieren galt. Soweit Düster sah, war die Sanierung aber noch nicht sonderlich weit fortgeschritten. Er wurde in die große Wohnküche gebeten, wo sich alle Kommunarden bald einfanden, sofern sie nicht unterwegs waren. Nicht unterwegs wie Ilse Docht.

Selbstverständlich trauerte man um die Stuhlflechterin. Neben der langen Eckbank war sogar so etwas wie ein Altar aufgebaut, mit frischen Herbstblumen und Zweigen von Hagebutte und Pfaffenhütchen, und mit mehreren Fotos, die Ilse zeigten. Die schlanke Frau hatte lange dunkle Locken. Ohne Zweifel taugte sie kaum für das Titelblatt einer Illustrierten. Ihre Nase etwa war auffallend groß geraten, dazu nach vorn ausgebeult, dachte Düster, der den Altar still mustern durfte. Aber Lippen zum Küssen, lockende Hängebrüste und einen beinahe herzzereißenden ernsten Blick. Später versicherten ihm mehrere Leute, darunter DorfbewohnerInnen aus der Nachbarschaft, Ilse hätte durch ein schlichtes und gradliniges Wesen für sich eingenommen. Auf der Eckbank an einem gut gehobelten ausgedehnten, hellen, aus Birke geschreinerten Küchentisch sitzend, hörte Düster die Überzeugung eines langgelockten blonden Kommunarden, für Metzdorfer habe ein Leben ohne Ilse schon gar keinen Sinn mehr gehabt. Er sei ja sowieso Melancholiker gewesen. »Da konnte er sich genauso gut ins Zuchthaus katapultieren«, sagte der junge Mann achselzuckend und bekümmert. »Ich verstehe ihn.«

Düster erkundigte sich ausdrücklich nach möglichen Feinden Metzdorfers, aber davon war nichts bekannt. Die Schüsse auf ihn waren allen ein Rätsel. Dagegen waren die Meinungen über Metzdorfers vorausgehenden Anschlag durchaus geteilt. Die einen verurteilten ihn, weil sie Vergeltung ablehnten oder ohnehin Pazifisten waren. Die anderen verteidigten ihn. Wo man denn mit solch einem schmerzhaften Riesenverlust hin solle? Da helfe keine Kommune. Da müsse man sich empören, sonst platze man doch!

»Ja, schon«, gab Düster zu bedenken. »Aber ein bestimmter betrunkener Kerl mit Führerschein ist wohl kaum der Hauptschuldige. Meine Chefin, immerhin Kriminalrätin, fährt in ihrem Kleinwagen, hin und zurück, Tag für Tag bedenkenlos 25 Kilometer, weil sie nichts anderes kennt. Das große Übel liegt in dem eingeschlif-fenen, wahnsinnigen System des Straßenverkehrs, das Straftaten geradezu herausfordert. Das heißt – die einflußreichen Leute, die es erfunden haben und in Gang halten, sind noch schlimmer. Das jedoch wird emsig vertuscht. Die Autoindustrie wälzt die Schuld auf die berühmte ‚Verantwortung‘ der FührerscheininhaberInnen ab, obwohl doch sie es ist, die die Mordwerkzeuge so einträglich herstellt und so durchtrieben bewirbt. Die Staatsanwälte wälzen die Schuld auf ‚den Gesetzgeber‘ ab – und den hat noch niemand jemals gesehen. Also, Leutchen, ich sage euch, es ist zum Kotzen! Aber ich danke euch für eure bereitwilligen Auskünfte.«

Der blonde Lockenkopf begleitete den Kommissar nach draußen, weil er »wieder in die Kastanien« wollte.

»In die Kastanien ..?«

Der Blonde lachte und nickte auf einen Handwagen, auf dem zwei pralle Säcke standen. Düster linste hinein. Es waren tatsächlich Kastanien.

»Jeder Sack bringt uns bei Pahl fünf Mark ein. Das kommt Ihnen vielleicht mager vor, außerdem mühsam, aber für uns ist es jetzt, im Herbst, ein netter Zuverdienst. Pahl holt die Säcke hin und wieder ab, für die Wildfütterung, wissen Sie? Er zahlt immer bar auf die Hand. Er ist auch sonst ganz nett.«

»Wer ist denn Pahl?«

»Na, Ihr Förster. Der aus Karlskirchen!«

»Ach so«, erwiderte Düster. »Mit dem hatte ich noch nie zu tun. Und wie seid ihr an ihn gekommen?«

Der Blonde zuckte die Achseln und griff nach der Deichsel des Handwagens. Vielleicht wollte er die Säcke im Stallgebäude verstauen, um wieder Ladeplatz zu haben. »Durch Metzdorfer! Er tauchte mal in Begleitung von Pahl hier auf, als er Ilse bereits kannte. Ich glaube, er war mit dem Förster eng befreundet, vom Schachclub her.«

Der Blonde grüßte mit einer Hand und zog mit der anderen an.

Düster wünschte ihm viel Erfolg beim Sammeln und machte noch einen Streifzug durchs Dorf.

Es klingelte erst in ihm, als er auf der Rückfahrt in Metze an einem stattlichen Haus mit Hirschgeweih am Giebel vorbeifuhr. Die Metzer hatten also auch einen Förster. Einen, der immer die äsenden Hirschkühe erlegt.





4



Gegen 12 traf er wieder bei seinem Kollegen Ohl ein. Wie sich herausstellte, war dessen Papier für den Staatsanwalt noch längst nicht fertig. »Wie auch!« raufte sich Ohl die blonden Haare. »Alle 20 Minuten klingelt das Telefon, weil sich irgendein Idiot erkundigt, ob wir den Schützen schon aufgetrieben hätten. Die spinnen alle!«

Düster lächelte und nahm Platz. »Dann gebe ich dir jetzt nur eine kurze Zusammenfassung aus Ermetheis, lieber Reimut. Anschließend mache ich Mittag und ziehe in der Stadt noch ein paar Erkundigungen ein. Unterdessen ist Lilli wieder da, und du kannst dich vollen Herzens dem verdammten Papier widmen. Bist du einverstanden?«

Ohl nickt gequält. Düster gab seine Zusammenfassung, ließ freilich den Förster Pahl lieber draußen. Er schloß sie, indem er betonte: »Man weiß also auch in Dochts Kommune nichts von Feinden Metzdorfers. Es wäre ja auch ziemlich verwunderlich. Selbst wenn er einen Todfeind gehabt haben sollte – warum sollte der ausgerechnet zum Schlag ausholen, wenn Metzdorfer den Autofahrer fertigmacht? Woher sollte der Feind überhaupt von dem geplanten Anschlag wissen ..? Na also. Und Verwechslungen sind ja wohl ziemlich ausgeschlossen. Der Schütze war geübt und traf den Mann im grauen Kittel, der auf dem Gerüst die Arme reckte, zweimal genau ins Herz. Kannst du mir noch folgen?«

Ohl drehte seinen Bleistift und dachte nach. Schließlich erhellte sich seine geqälte Miene. »Ich glaube, schon. Offenbar nimmst du an, sie waren verabredet. Das Recken war ein Zeichen. Metzdorfer und der Schütze – oder die Schützin – waren keine Feinde, vielmehr Freunde. Habe ich recht?«

Düster nickte erfreut. »Unter dieser Voraussetzung ist es ja für einen erfahrenen Schützen kein Problem, sich unauffällig ein nahes Mietshaus auszugucken, wo er sich am Tatmorgen auf den Dachboden schleichen kann. Gibt der Freund das Zeichen, schießt er kaltblütig. Dann beeilt er sich selbstverständlich, seine Waffe abzuwischen, gut im Gerümpel zu verstecken und selber wieder unbemerkt aus dem Mietshaus zu verschwinden. Die Waffe kann er übermorgen oder nächste Woche bergen, sobald sich der Fahndungstumult gelegt hat. Selbstverständlich hinterläßt er auch sonst keine Spur. Er muß aus unserer Branche sein. So einen Täter stellst du nie!«

»Wahrscheinlich hast du recht. Diese Sorte ist kaum zu fassen. Aber kannst du mir einmal verraten, warum der eine Freund den anderen Freund ins Jenseits befördern soll?«

Düster lächelte, beugte sich über seine Schreibtischplatte und erwiderte vorwurfsvoll: »Na, ich bitte dich, Reimut! Warum wohl? Weil der andere Freund es nicht selber erledigen kann. Ein Sturz aus wenigen Metern Höhe kommt ihm zurecht viel zu unsicher vor. An ein äußerst schnell wirkendes Gift, das ihn vorm Zusammenschlagen durch zwei oder drei gedemütigte Polizisten bewahrt, kommt er nicht heran. Schießen hat er aber nie gelernt, weil er immer Geistesarbeiter werden wollte. Wo sollte er auch die Pistole hernehmen? Also muß er jemanden anders darum bitten. Du verstehst?«

»Ah ja …« sagte Ohl langsam. »Du meinst, es war eine Art Selbstmord?«

Düster erhob sich, griff nach Trenchcoat und Regenschirm und sagte achselzuckend: »Na, das trifft es vielleicht nicht ganz. Es war ein Freundschaftsdienst, Reimut. Grüß Lilli von mir.«





5



Nach einer Pizza bei Toni, dem Italiener neben der Post, und einem Stehkaffee im Eduscho Ecke Seiler-gasse/Schwimmbadstraße wandte sich Düster gen Osten. Er ließ Polizeipräsidium und Gymnasium hinter sich und nahm den Lamsberg in Angriff. Das Forsthaus lag ganz oben unmittelbar am Waldrand.

Er hatte Glück. Als er den halbwüchsigen Bengel, der ihm öffnete, nach dem Förster fragte, kam dieser schon aus einer Zimmertür. Der Mann hieß Horst-Jürgen Pahl, wie Düster inzwischen einem Telefonbuch entnommen hatte. Er war nicht kleiner als Düster, schätzungsweise um 60 und bereits leicht ergraut. Düster wies seinen Ausweis vor und erklärte, er hätte ein paar eher nebensächliche Fragen. Der Mann lächelte leise und nickte. Ein Schreck war nicht erkennbar. Pahl bat den Kommissar ins Wohnzimmer, bot ihm das altmodische Sofa mit Blick auf die Stadt an und nahm selber auf einem ungewöhnlich großen Schaukel-pferd Platz, von dem bereits die Farben abblätterten. Der Sitz war anscheinend mit Roßhaar gepolstert, denn von diesem lugte an einer Seite, wo ein paar Ziernägel fehlten, einige Kringel unter dem braunen, rissigen Lederbezug hervor. Dies alles fand Düster bereits recht witzig.

Es gehe um Emil Metzdorfer, hob Düster an. Der Förster nickte; er hatte es sich schon gedacht. »Soweit ich weiß, waren sie gut miteinander befreundet, von der gemein-samen Liebe zum Schachspiel und der Heimatkunde her, Herr Pahl?«

»So könnte man es wohl ausdrücken«, erwiderte Pahl lächelnd. Er sprach bedächtig, mit tiefer, klangvoller Stimme.

»Aber genügen denn solche gemeinsamen Interessen für eine tragfähige Freundschaft?«

Pahl wog sein Haupt. »Sie haben nicht unrecht. Er gefiel mir auch wegen seiner ganzen Lebenshaltung. Sie werden wissen, er war ungefähr das Gegenteil eines Optimisten. Er verherrlichte nichts – noch nicht einmal seine neue Freundin, die ihm dann so brutal geraubt worden ist. Besonders beeindruckte mich allerdings seine Abkehr vom Ehrgeiz. Ich fand sie ziemlich überzeugend. Wissen Sie schon, daß er einst mit einer literarischen Laufbahn geliebäugelt hatte? Ja, er wollte ein großer Dichter werden. Dann holte er sich aber einige Körbe und entsprechende Beulen, bis er in den Essais des Schloßherrn Michel de Montaigne auf die Bemerkung stieß, Ruhm und Ruhe wohnten selten unter einem Dach. Das fand er treffend, und er dachte tiefer darüber nach. Bald darauf bewarb er sich um den Posten als Redakteur der Heimatblätter.«

Düster staunte. Der Mann schien sich nicht darüber zu wundern, daß sie jetzt nicht die Liebschaft und den Anschlag durchkauten – und stattdessen führte er den Kommissar aufs Feld der Philosophie!

»Sie sagten, er hätte tiefer über das Ruhmstreben nachgedacht. Das ist doch interessant. Könnte Sie das etwas ausführen?«

Pahl dachte nach und hob leicht die Hände. »Im Grunde suchte er eine schlagende Waffe gegen Geltungssucht, Eitelkeit, Gekränktsein, könnte man vielleicht sagen. Und er fand sie in der folgenden Überlegung: Niemand hat sich seine Geburt ausgesucht. Sollte es einem also an Begabung oder Durchsetzungsvermögen fehlen, um mit ‚großen Leistungen‘ aufzuwarten, kann er nichts dafür. Vielmehr ist er nach allem, was wir wissen, ein Opfer jenes haarsträubenden Zufalls, der die Geburten und Anlagen vergibt. Den kann keiner beeinflussen. Folglich ist es keineswegs Duckmäusertum, wenn sich der ‚Gescheiterte‘ mit seinem Schattendasein abfindet und versucht, das Beste daraus zu machen. Es kommt lediglich darauf an, es nicht als Makel zu empfinden, sagte sich Emil, und die meisten Mitmenschen, die zählen, tun das auch nicht. Es sei denn, der Betreffende glänzt mit Selbstüberschätzung, dann messen sie ihn natürlich daran. Da verbannte Emil sie endlich. Die Selbstüberschätzung, meine ich. So wurde er Heimatkunde-Redakteur und ein bescheidener Mann.«

Düster nickte leicht und sah aus den Fenstern auf die Stadt. Starke Sätze, dachte er. Die müßte Pahl vielleicht mal aufschreiben, falls er es noch nicht getan hat. Aber was wäre jetzt zu tun? Der Mann gefällt mir, den kann ich unmöglich bedrängen oder gar ausliefern. Es ist doch sowieso schwachsinnig, sich in solche Freundschafts-dienste einzumischen. Aber sie sind verboten. Das Gesetz duldet es nicht. Das Gesetz! So ein Schmarren von der Deutschen Märchenstraße. Der Staatsanwalt soll uns mal am Arsch lecken!

Es nieselte inzwischen zwar leicht, aber die Aussicht war noch leidlich gut. Unten ragte das Polizeipräsidium, rechts daneben sogar ein Teil des Schieferdachs vom baumumstandenen Amtsgericht empor. Dessen Giebel war allerdings nicht zu sehen. Er zeigte, wie Düster wußte, weder ein Hirschgeweih noch einen Adler, dafür zwei Knaben, die ein senkrecht stehendes Schwert umklam-merten. Es war Kunst am Bau, ein aus Sandstein gehauenes Relief.

»Sie kümmern sich im Herbst auch um Wildfütterung«, wandte sich Düster an Pahl. »Das hörte ich in Ermetheis, bei den Landkommunarden. Jagen Sie auch?«

Pahl verkniff die blauen Augen, dann lächelte er. »Jetzt nicht mehr. Man wird ja nicht jünger, Herr Kommissar. Wenn Sie ein Wild schlecht treffen und waidwund schießen, ist es verdammt unangenehm. Es geht gegen die Ehre.«

Düster nickte. Damit weiß er jedenfalls, ich weiß, er versteht sich auf Gewehre, dachte Düster und sah wieder nach draußen … Gut, daß ich den Regenschirm dabei habe. Auf dem Fußmarsch zur Bahnhofstraße kann ich mir überlegen, welches Märchen ich Lilli und Reimut vorsetze.

Düster erhob sich mit einem Ruck. Pahl sah ihm dabei fast belustigt zu, von seinem Schaukelpferdsattel aus. Düster verbeugte sich leicht und sagte:

»Ich habe für das anregende Gespräch zu danken, Herr Pahl. Ich möchte Sie nicht mehr weiter belästigen.«

Der Förster verstülpte jetzt doch erstaunt die Lippen. Schließlich nickte er dem Kommissar fast warm zu und geleitete ihn hinaus. Zwei ähnlich gesinnte Staatsdiener hatten sich verständigt.
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