Montag, 16. Oktober 2023
Düster 6 Favoritensterben
ziegen, 14:20h
Nach dem Dienstagtraining retteten sich Ohl und Düster vor dem Treiben dicker, nasser Schneeflocken in den Hessischen Hof. Kaum hatten sie ihr wohlverdientes Pils vor sich stehen, schob sich Georg Mandel mit seinem eigenen Glas an ihren Tisch. »Na, ihr Ärmsten«, grinste er. »Fußball im Winter ist kein Vergnügen, was?«
»Sie sagen es«, erwiderte Düster und prostete dem dicken Vorposten der Kasseler Post zu. »Man müßte im Schachclub sein, wie Ihr Kollege Metzdorfer, der leider vor einiger Zeit erschossen worden ist.«
Über diese Pietätlosigkeit schüttelte Mandel leise lächelnd seinen Kopf. Dann fiel ihm ein: »Oder Billard! Wißt ihr das überhaupt schon? Ist euch klar, daß wir ab Donnerstag-abend ein Snooker-Weltranglistenturnier der Profis in unserem unbedeutenden Städtchen haben?«
Jetzt mußte er natürlich erzählen. Er tat es umso lieber, als er sich im Fahrwasser jener Salonschlacht, die »das Klappmesser« ins Gefängnis führen sollte, selber zunehmend für das Snookerspiel erwärmt hatte. Er war schon bald ein wandelndes Lexikon des internationalen Turniergeschehens, und was den Zugball im ehemaligen Karlskirchener Bahnhof anging, schwang er inzwischen mehrmals wöchentlich selber den Billardstock und träumte bereits von einer Alte-Herren-Mannschaft, mit ihm als Spielführer, wie sich versteht. Normalerweise war der Zugball mit seinen vier Tischen natürlich zu klein für ein Weltranglistenturnier. Der in England residierende Verband hatte aber, so Mandel, ein Auge zugedrückt, weil das anstehende Turnier über Ostern und damit über gut vier Tage gestreckt werden konnte. In diesem Jahr lag Ostern früh, auf Ende März. Allerdings dürfte der Verband auch deshalb ein Auge zugedrückt haben, weil Ottmar Lunkens Gattin Reanne ja ebenfalls von der britischen Insel stammte. Ohne »gute Beziehungen« läuft eben so gut wie nichts auf diesem Planeten.
»Was streicht denn der Sieger so ein?« wollte Ohl wissen.
»Umgerechnet knapp 42.000 Mark. Macht er auch noch das höchste Turnierbreak, hat er schon fast 50.000.«
Düster hakte gleich nach. »Und wer wird das Turnier gewinnen? Ein Germane ja wohl nicht?«
Mandel winkte höhnisch ab. »Die Germanen können Keulen schwingen, sonst nichts. Im Teilnehmerfeld ist lediglich ein Deutscher, aus Wuppertal, und wenn der auch nur die erste Runde überstehen sollte, fresse ich ein Queue … Als Favoriten werden vor allem der smarte Kevin Slighton aus Wales, der blutjunge angebliche Chinese Xu Yupeng und der baumlange Schwede Dag Atterberg gehandelt. Der letztgenannte wäre mir persönlich am liebsten. Stellen Sie sich vor: Während Slighton 27 ist, hat der blonde Schwede kürzlich schon seinen 51. Geburtstag gefeiert. Er legte in diesen 1960er Jahren ein erstaunliches Comback vor. Bei den letztjährigen Weltmeisterschaften erreichte er das Viertelfinale, für dieses Alter enorm. Slighton, selber schon mehrmals Weltmeister, hat Atterberg bei Turnierbegegnungen erst zweimal schlagen können, und auch das nur mit viel Glück. Von der Leistung jedoch abgesehen: Dieser hochgewachsene Schwede ist ein überaus sympathischer Mann. Er tritt stets ruhig und bescheiden auf, ganz im Gegensatz zu dem Waliser. Atterberg soll sogar ohne Manager auskommen, habe ich neulich in einem Hintergrundartikel gelesen, und zwar ganz bewußt. Snooker sei weder Sport noch Showgeschäft, vielmehr Meditation, soll er laut Artikel versichert haben … Na, wir wissen ja, wie solche hübschen und griffigen Aussagen zustande kommen, nicht wahr, meine Herren von der Polizei ..? Also Prost darauf!«
2
Zwei Tage darauf traf Ilona Velberting in Karlskirchen ein. Auf dem Kirchhof am Obermarkt lag noch Schnee, wenn er auch wieder in der Sonne gleißte. Düster verstand sich nach wie vor ausgezeichnet mit Ilona. Er hätte es deshalb genossen, ganz Ostern mit ihr zu verbummeln beziehungs-weise zu verwildern, aber sie hatte für Sonntag/Montag ihre Teilnahme an einer GEW-Tagung in Bremen zugesagt, wo sie sogar einen Vortrag über »schreibende Lehrer-Innen« halten sollte. Einen Vorgeschmack davon bekam Düster bereits am Samstagmittag, als sie in Stubenrauchs Kellerladen hereinschauten.
Stubenrauch hockte gerade mit dem Mückenschuster in seiner Besucherecke. Er machte natürlich sofort zwei weitere Korbsessel frei, die meistens unter Stapeln noch unsortierter gebrauchter Bücher ächzten. Er schenkte auch Kaffee ein, während er dem Mückenschuster erläuterte, welcher hohe Damenbesuch sein bescheidenes Antiquariat soeben beehre.
Deutlich jünger als der weißhaarige Antiquar, war der stämmige Schuster, dem eine Art dunkler Drahtwolle aus der Schädeldecke sprießte, doch ein enger Kumpel von Stubenrauch. Schließlich waren sie beide aufmüpfige Handwerker – Stubenrauch jedenfalls von Hause aus. Von Amts wegen hieß der Schuster Herribert Roth. Den Spitznamen »Mückenschuster« hängte man ihm an, weil er sich in dem heruntergekommenen Häuschen am Goldbach, wo er werkelte und wohnte, vornehmlich von den besagten stechenden, blutsaugenden Viechern berannt sah. Seine in die Fensterleibungen eingesetzten Rahmen mit Fliegengitter schienen nur bedingt zu helfen. So ergriff er alle paar Wochen neue, vielversprechende Abwehrmaßnahmen – die erneut versagten. Sein jüngster, selbst erfundener Schrei war eine Mückenschutztür, von der bislang aber nur Eingeweihte wußten, also vor allem Stubenrauch, bekanntlich sowieso gelernter Tischler.
Jetzt waren sie allerdings gerade auf Michael Hederichs Zierenberger Stadtgeschichte gekommen, bevor Düster und Velberting zu der Gesprächsrunde stießen. Roth hatte sie gerade von seinem Kumpel erworben. Er hatte sich in jüngster Zeit recht jäh auf Heimatkunde und politische Literatur geworfen, weil seine Frau gestorben war. Damit verfügte er über mehr Zeit. Die gedachte er nun für Bildung, ja vielleicht sogar für Schriftstellerei zu nutzen. Stubenrauch und Korbacher Freunde hätten ihn ermuntert.
Ilona nahm Hederichs großformatiges Buch, das unlängst, 1962, im Kasseler Bärenreiter-Verlag erschienen war, zur Hand. Sie kannte es selbstverständlich. »Gediegen gemacht ist es ja«, meinte die Kunst- und Deutschlehrerin, während sie über den blauen Leineneinband strich, bevor sie das Werk aufschlug. »Gutes Aufschlagverhalten wegen der echten Fadenheftung … Aber sehen Sie mal hier: Die Satzstege sind viel zu fett, das ist Platzverschwendung. Dafür hätte Bärenreiter glatt eine zwei Punkte größere Schrift wählen können, damit man sich nicht schon mit 40 die Augen verdirbt. Und sehen Sie hier: Alle Absätze ohne Einzüge. Das erschwert grundsätzlich die Orientierung, und in den Fällen, wo die letzte Absatzzeile bis oder nahezu bis zum Rand geht, sorgt es geradezu für Matsch. Oder denken Sie nicht, Herr Stubenrauch?«
Er hatte schon große Augen gemacht. Jetzt rieb er sich sein weißes Stoppelkinn. »So ganz aus der Luft gegriffen sind Ihre Bedenken wohl nicht«, meinte er in dem salonfähigsten Ausdruck, der ihm zu Gebote stand.
»Immerhin«, räumte Ilona blätternd ein, »die Bären-SetzerInnen haben Hurenkinder und Schusterjungen streng vermieden. Dieser Mühe unterziehen sich postmoderne Großverlage immer seltener, wie man auch an meinem eigenen Buch über Ulrike Dessau sieht.«
Roth sah die Lehrerin stirnrunzelnd an. »Hurenkinder und Schusterjungen ..? Ist das Ihr Ernst?«
Sie lachte und erklärte dem Schuster, unter Schriftsetzern würden so Abschlüsse oder Anfänge von Buchseiten genannt, die lediglich einzeilige, somit gräßliche Stummel-Absätze zeigten.
»Was man hier alles lernt ..!« warf Düster genüßlich ein.
Ilona winkte jedoch schon wieder ab. »Ansonsten, nämlich über Typografisches hinaus, ist Stadtchronist Hederich leider keine riesige Leuchte. Seine politökonomischen Einsichten sind ungefähr so tief wie der Goldbach, den mir Bernd gestern gezeigt hat. In stilistischer Hinsicht kann man ihn, statt Schuster, nur Umstandskrämer nennen. Die Konjunktion daß setzt er so geballt ein, als gelte es, die Burg des Mainzer Erzbischofs zu zertrümmern. Dabei hat man dieses Bindewort vor wenigen Jahrhunderten noch gar nicht gehabt, wie Sie vielleicht schon wissen, Herr Stubenrauch. Man hat kurzerhand gesagt, das brauchen wir nicht. Hederich jedoch krämert und tautologisiert: ‚… daß man das nicht benötige.‘ Also, was ist nun eleganter?«
Die drei Männer tauschten kopfkratzend lange Blicke. Stubenrauch ließ vor lauter Verlegenheit sein Zigarrenkästchen herumgehen. Düster wehrte dankend ab.
Frau Velberting gab sich jäh einen Ruck. Sie drückte dem Mückenschuster das Buch wieder in den Schoß und versicherte ihm warm: »Aber zum Schließen heimatkund-licher Bildungslücken ist es ohne Zweifel unersetzlich!«
3
Am Sonntagvormittag hatten die Alten Herren der Borussia in Fritzlar anzutreten. Auf das Mützenschild Düsters, der wie immer »zwischen den Pfosten« stand, trudelten Schneeflocken. Sie rangen den Fritzlaern ein 2:2 ab. Das verdankten sie möglicherweise Düster, der einen schlecht geschossenen Elfmeter gehalten hatte. Mittelläufer Ohl schwang sich nach dem Duschen in sein Auto, weil er seine Frau in Paderborn abholen wollte, wo sie auf Verwandtenbesuch weilte. Torschütze Ledderhose – er hieß wirklich so – setzte Düster am Obermarkt ab. Röder junior hatte vor der Apotheke sogar Schnee gefegt.
Kaum hatte Düster seine Wohnung im Mansardendach betreten, klingelte das Telefon. Ilona! dachte er. Aber von wegen. Es war die Polizei.
»Da bist du ja endlich!« sagte Kollege Mösta von der Schutzpolizei. »Bei Ohl nimmt auch niemand ab. Wir brauchen aber dringend einen Schnüffler, halte dich gut fest!«
»Was denn – ein Gewaltverbrechen an Ostern?«
»Du sagst es. Wir haben die Leiche bislang im Hospitalgarten liegen gelassen, weil ihr vielleicht noch wichtige Spuren entdeckt. Wir haben sie überhaupt nicht angerührt, nur fotografiert.«
»Ein Toter im Hospitalgarten? Im Schnee?«
»Jawohl. Ein Mann mittleren Alters. Der Arzt vermutet, er kam schon gestern abend um.«
»Wie denn?«
»Wahrscheinlich erstochen.«
»Na, so eine Schweinerei!« schimpfte Düster. »Ich bin in 10 Minuten da.«
4
Der Tote war vom Dackel einer Witwe gefunden worden, die da öfter spazieren ging. Jetzt standen noch drei Schutzpolizisten um ihn herum. Er lag bäuchlings, übrigens nicht weit von der Hinterhofmauer des Hauses Untermarkt 17, vor einem Gebüsch. Klapp und Rühmling konnten es aber kaum gewesen sein, denn sie saßen gut bewacht im Kittchen.
Der Tote lag also nicht etwa gut versteckt im Gebüsch. Allerdings hatte sich jemand, vielleicht der Mörder, die Mühe gemacht, die Fußspuren im Schnee zu verwischen, wohl mit Hilfe einer Tasche oder eines Mantels etwa. Die Hauptwege waren ohnehin schon schneefrei. Der hochgewachsene Tote hatte seinen Mantel noch an. Eine Kopfbedeckung hatte er vielleicht für überflüssig gehalten: er war blond. Sein sandfarbener Mantel mit Pelzkragen war am Rücken von Blut durchtränkt. Von daher hatte der Arzt auf Stichverletzung getippt. Eine entsprechende Waffe hatte sich aber bislang nicht gefunden. Anscheinend war der Mann schlank, gleichwohl kräftig. Sie drehten ihn vorsichtig auf den Rücken. Sein etwas bäuerlich-derbes Gesicht zeigte kein Erschrecken. Es wirkte eher offen, freundlich. Die Uniformierten machten erneut Fotos. Düster überlegte, ob es jetzt angebracht sei, den Toten nach Papieren zu durchsuchen. Da stutzte er plötzlich: das Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor. Hatte er es vielleicht in der Zeitung gesehen, auf einem Pressefoto? Nun fielen ihm ziemlich heiß Georg Mandel und das Turnier im Zugball ein.
Düster erhob sich rasch. »Harrt bitte noch ein Viertelstündchen aus, Kollegen. Ich laufe mal eben zum Bahnhof, wo der Mann womöglich nicht unbekannt ist.« Schon nahm er seine Beine in die Hand.
Die drei Schutzpolizisten sahen Düster verdutzt nach. »Naja«, meinte der vollbärtige Krug, »etwas eigensinnig war er schon immer.«
Düster benötigte keine fünf Minuten. Im Snookersalon herrschte bereits helle, wenn auch mühsam unterdrückte Aufregung. Zwar wurde an Tisch 3 das Halbfinalmatch zwischen Kevin Slighton und dem Belgier Haan ausgetragen, doch an Tisch 1 hatten Xu Yupeng und die Schiedsrichterin vergeblich auf Dag Atterberg gewartet, der mit dem jungen Asiaten das andere Halbfinalspiel absolvieren sollte. Xu hockte recht verstört an der Bar. Man hatte seinen Gegner auch im Hotel zur Post nicht aufgetrieben, wo der Schwede mit einigen anderen auswärtigen Spielern abgestiegen war. Die Schieds-richterin tuschelte hinter der Bar mit Reanne Lunken, der Veranstalterin und Turnierleiterin – und mit Georg Mandel, wie Düster erleichtert bemerkte. Der Kommissar gesellte sich sofort zu diesen drei Offiziellen.
»Sind Sie mit dem Wagen da?« wollte er ohne Begrüßung von dem dicken Reporter und Stadtlexikon wissen. Als Mandel verblüfft nickte, fuhr er fort:
»Fahren Sie mich bitte unverzüglich zum Hospitalgarten. Ich brauche Sie für eine mutmaßliche Identifizierung. Man hat da einen Toten gefunden – so einen baumlangen Blonden, der möglicherweise aus Schweden stammt.«
Mandel tastete unwillkürlich Halt suchend nach der Theke, wobei ihn Düster freilich schon fortzog: »Machen Sie keine Witze! Tot?«
Düster nickte nur gramvoll und hielt Mandel die Salontür auf. Im Wagen erwähnte Düster lediglich den Verdacht auf Mord durch Erstechen. Mandel schwieg erschüttert. Dann eilten sie von der Fritzlaer Straße aus, wo Mandel geparkt hatte, über die vom Schnee befreiten Gartenwege. Die drei Schutzleute wirkten jetzt nicht weniger verdutzt als 10 Minuten früher. Den Vertreter der Kasseler Post kannten sie selbstverständlich. Man nickte sich zu. Mandel machte keuchend vor der Leiche Halt. Er benötigte etliche Sekunden, um sich zu fassen.
»Sie haben recht, Herr Kommissar. Das ist Dag Atterberg. Das heißt, er war es. Und so einen sympathischen Sportler erdolcht nun einer? Ausgerechnet in unserer Stadt ..?«
Das letzte sollten Düster und seine beiden Mitstreiter-Innen in den nächsten Tagen noch öfter hören – natürlich auch von Herrn Ollenhauer, dem Karlskirchener Polizeichef.
5
Düster setzte zunächst telefonisch die Kriminalrätin ins Bild. Vielleicht genüge es aber, wenn man sich am Dienstag bespreche. Dafür konnte er Ohl schon am Sonntagnachmittag erreichen und auf Anhieb für die ersten Ermittlungsarbeiten gewinnen. Sie trafen sich im Büro und riefen umgehend den Gerichtsmediziner an. Der legte sich nun auf Samstag 21 bis 23 Uhr als Todeszeit-punkt fest. Dann machten sie »Stein-Schere-Papier« um den Zugball und das Hotel zur Post. Wie man sich denken kann, ging es um Nachforschungen, wer den Schweden wann und wo zuletzt gesehen habe, ob Mißhelligkeiten, Feindschaften oder zumindest Ausflugspläne bekannt seien, was nun aus dem Turnier werde und dergleichen mehr. Ohl gewann und wählte den Zugball. Somit marschierte Düster in Atterbergs Hotel. Es lag beinahe um die Ecke in der Kasseler Straße, nebenbei genau der Seiteneinfahrt des ehemaligen Guts Gleim gegenüber, das inzwischen dem Erdboden gleichgemacht worden war.
Das Personal war natürlich entsetzt. Im Zimmer des Schweden fand Düster nicht die geringsten Anhaltspunkte für das Verbrechen. Zwar fand sich auch kein Geld, aber das hatte er möglicherweise in seiner Brieftasche verwahrt, die sie bei der Leiche schmerzlich vermißt hatten. Immerhin war Atterberg am Vorabend noch gegen 19 Uhr gesehen worden. Er habe sich, freundlich wie immer, ohne Gepäck auf die Kasseler Straße begeben und den Untermarkt angesteuert. Eine Kellnerin sah ihn ausdrücklich noch auf den Platz einbiegen, bis ihn die Erdwälle und der Baukran verbargen, die nun die Konditorei ersetzt hatten. Sie hatte ihm also hinterher geblickt. Na, das war doch kein Wunder, bei diesem baumlangen blonden Frauenschwarm. Düster dankte den Leuten und begab sich auf die Spur.
Karlskirchens Hauptgeschäftsstraße berührte den Untermarkt am alten Rathaus. In diesem klingelten inzwischen die Telefone und Alarmanlagen der sogenannten Sparkasse, freilich nicht an christlichen Feiertagen. Nach Osten hieß die Straße Fürstenlob, gen Westen Schwimmbadstraße. Die Spaltung im Namen setzte am Abzweig der Seilergasse ein. Die beiden Eckhäuser wurden von der Buchhandlung Rinninsland und einer wahren Goldgrube markiert. Es handelte sich um den Tabak-, Zeitungs- und Totoladen eines alten Sportskameraden namens Helmut »Jossip« Rietze, der einst, als »eisenharter« Abwehrspieler, den Strafraum der Borussia nahezu sauber gehalten hatte. Gott sei Dank hatte der Schlaumeier sogar die Sondergenehmigung erwirkt, auch an Sonn- und Feiertagen je zwei Stunden (10 bis 12 und 18 bis 20 Uhr) verkaufen zu dürfen, da es ja, nach der Schließung des Bahnhofs, keine vergleichbare wichtige Informations- und Genußbörse mehr im Städtchen gebe. Jossip teilte sich die wöchentlichen Schichten mit seiner Frau und deren Schwester. Kinder hatte er nicht.
Düster sah auf die Rathausuhr: 18 Uhr 11. Schon betrat er Jossips Goldgrube, die wegen des miesen Wetters sogar gelb erleuchtet war. Der alte Haudegen stand höchstpersönlich hinter dem Tresen und knöpfte gerade einigen Gymnasiasten das Geld für Overstolz-Zigaretten ab. Das waren die orangerot eingewickelten Stengel, die in jenen Jahren vorzugsweise der Schauspieler Heinz Engelmann qualmte.
Während er noch zwei weitere Kunden abkassierte, die Zeitungen kauften, warf Jossip dem Torhüter der Alten Herren vielsagende und belustigte Blicke zu. Dann stemmte er die Fäuste in die Seiten:
»Mußt du Proberauchen, weil irgendein Einbrecher am Tatort einen Stumpen verloren hat, mein lieber Bernd – wie gehts?«
Düster erwiderte »Danke!« und schüttelte ihm die Hand. Den Spruch hatte er sich ja gar nicht schlecht überlegt. Jossip wußte, wie man potentielle Kunden bei Laune hält. Allerdings hatte sich Düster die fette Osterausgabe der Frankfurter Rundschau schon am Vortag gekauft, nachdem sich Ilona verabschiedet hatte. Dazu, sie restlos zu studieren, würde er natürlich nicht mehr kommen.
»Folgendes, Jossip«, sagte Düster und griff in seinen Mantel. »Ich bin in der Tat im Dienst. Ich suche gerade diesen Mann. Kennst du ihn zufällig?«
Damit legte er ihm ein Foto vor, das Atterberg in dunkelgrauerWeste zeigte.
Jossip lachte. »Wenn Mandel ihn kennt, werde ja wohl auch ich ihn kennen. Ich hoffe, Atterberg gewinnt das Turnier.«
Düster nickte. »Und hast du ihn auch gestern Abend gesehen?«
»Ja, sicher«, erwiderte er wie aus der Pistole geschossen.
Aber im nächsten Augenblick mußte er wieder einen Kunden bedienen, der die Neue Zürcher Zeitung erwarb. Als der Mann draußen war, hakte Düster nach:
»Warum sagst du ‚Ja, sicher‘?«
»Na, weil er diese rassige Mieze dabei hatte! Die übersehe ich doch nicht!«
Düster verkniff seine Augen. »Sag das nochmal, Jossip, bitte …«
»Er war in Begleitung einer bemerkenswerten Dame, wenn dir das lieber ist. Sie hatten sich sogar untergehakt. Sie gingen Richtung Schwimmbad. Aber du wirst nicht das Geständnis von mir erwarten, ich sei sofort mit dem Fernglas hinaus gestürzt, um ihre Badefreuden oder ihren weiteren Lebensweg zu verfolgen, weil mir Kommissar Dühser später Löcher in den gar nicht vorhandenen Bauch fragen wird.«
Er grinste über seinen gelungenen Scherz, begrüßte eine Kundin, die ausgerechnet jetzt ein »richtiges, gutes« Feuerzeug erwerben wollte und führte der älteren Dame vor, was er in dieser Hinsicht zu bieten hatte. Düster stand wie auf glühenden Kohlen. Schließlich entschied sich die Kundin und warf Jossip für ein geschmackloses Tischfeuerzeug nahezu 15 Mark in den Rachen. Als sie verschwunden war, sagte Düster:
»Wann war das, als du das Paar gesehen hast?«
Er dachte nach. »Na, ungefähr um 19 Uhr 30. Da kam nämlich Dora herein, weil sie den Wagenschlüssel brauchte.«
»Gut. Und könntest du Atterbergs Begleiterin näher beschreiben?«
Jossip sah mit verkniffenen Augen auf das nur mäßig erleuchtete alte Rathaus. »Ein keckes Hütchen, schwarze Locken bis auf die Schulter, erheblich kleiner als er, vielleicht auch schlanker, aber einen deftigen Busen, soweit man das bei ihrem braunen Pelzmäntelchen beurteilen konnte.«
»Wie alt?«
»Schwer zu sagen. Aber unter 40 bestimmt. Himmel, ich habe sie ja nur ein paar Sekunden gesehen, leider!«
»Hervorragend, Jossip, dankeschön. Ich will dich im Augenblick nicht weiter belästigen.«
Wie sich versteht, kam jetzt die unvermeidliche Frage, warum sich die Kripo plötzlich für einen ausländischen Spitzensportler interessiere. Man solle doch froh sein, wenn solche Leute auch mal Karlskirchen beehrten, dieses Provinznest!
Freilich kam auch der nächste Kunde schon. Düster drückte sich an diesem vorbei und winkte mit schüttelnder Hand zurück: »Reine Vorsicht, Jossip! Man muß solche Gäste ja schützen.«
Etwas weniger Makaberes war ihm auf die Schnelle nicht eingefallen.
6
Normalerweise hätte Düster jetzt gleich weiter Klinkenputzen gehen können. Vielleicht war das Paar in der Schwimmbadstraße oder sonstwo noch von anderen Leuten beobachtet worden. Es gab dort auch zwei oder drei Restaurants. Der Kommissar wollte sich aber erst einmal mit seinem Hauptmeister beraten. Ohl saß bereits im Büro. Er beendete ein Telefongespräch mit seiner Gattin und sah Düster fragend an.
Die kleine Erfolgsmeldung des Kommissars munterte ihn etwas auf. Vielleicht sei es ja doch ein schnöder Raubmord gewesen, meinte Ohl. Er glaubte sowieso fast immer zuerst an Habgier, zumal wenn Frauen im Spiel waren. »Die Mieze hat ihm das Messer verpaßt und hat sich mit seiner fetten Brieftasche über alle Berge gemacht. Oder sie war ‚nur‘ Lockvogel, hatte also einen Spießgesellen, der sich mit dem Messer in dem Gebüsch versteckte. Wir müßten einmal in Erfahrung bringen, wieviel Geld oder sonstige Wertsachen der Schwede bei sich hatte. Eine Armbanduhr trug er ja auch nicht. Hast du in seinem Zimmer keine gefunden?«
Düster schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich glaube, wir sollten Lilli bitten, sich morgen früh außerplanmäßig für ein Stündchen ins Präsidium zu begeben, damit sie Interpol anspitzen kann. Die werden vielleicht herausbekommen, wie gut der Schwede betucht war oder ob er irgendwelche Erzfeinde hatte. Die Verwandten müssen ja sowieso benachrichtigt werden.«
Ohl stimmte ihm zu. Im Polizeipräsidium stand ein Fernschreiber, und Lilli sprach perfekt Französisch. Interpol saß damals in Paris.
Ohl selber hatte im Zugball nur Nieten gezogen. Weder die Spieler noch die Offiziellen wußten etwas von Ärger, Streit oder gar Feinden Atterbergs. Sie lobten sein schlichtes Auftreten über den Klee. Zudem sei er in hervorragender Form gewesen. Die meisten glaubten, er hätte den Chinesen geschlagen und somit das für morgen angesetzte Finale erreicht. Dafür hatte sich, gegen Haan, erwartungsgemäß Kevin Slighton qualifiziert. Nun mußte Xu Yupeng gegen den starken Waliser antreten – als »kampfloser« Bestreiter des anderen, ausgefallenen Halbfinalspiels.
Erstaunlicherweise war es bei der Ansetzung des Finales geblieben, wußte Ohl zu berichten. Man hatte diese Frage ein Viertelstündchen im großen Kreis, sogar mit den rund drei Dutzend Zuschauern, erörtert und dann entschieden, sich dieses Spitzenturnier nicht durch einen üblen Messerstecher durchkreuzen zu lassen. Slighton und Xu erklärten sich sofort bereit, ihr Preisgeld für die Finalteilnahme zu einem Viertel für die Bestattung beziehungsweise die Hinterbliebenen des Ermordeten zu spenden. Dann fand aus dem Stegreif eine Gedenkfeier statt, die über eine Stunde dauerte, weil soundsoviele wichtige Leute unbedingt Ansprachen halten mußten.
»Mandel sprach natürlich ebenfalls«, fuhr Ohl fort. »Es ging aber noch. Er war echt erschüttert. Gott sei Dank ergriff Brucinelli nicht auch noch das Wort.«
»Brucinelli? Muß man den kennen?«
»Slightons Manager. Mit Vornamen heißt er Silvio. Mandel sagt, der etwas windig wirkende, gleichwohl breitschultrige Bursche mit der Boxernase stamme aus Mailand. Er ist um 50. Ich bilde mir ein, beim kollektiven Aufsagen der Schwurformel, den hehren Snookersport vor allem Schmutz und jeglicher Gewalttätigkeit zu schützen, habe Brucinelli etwas spöttisch zu Slighton geblickt, aber der hatte andächtig seine Augen niedergeschlagen. Die anwesenden Turnspieler standen durchweg aufgereiht, mußt du dazu wissen. Sie hatten in den Gängen zwischen den vier Billardtischen eine Art Kreuz gebildet, dabei jeder sein Queue wie einen Hirtenspieß in der Armbeuge. Das war eigentlich gar nicht so übel ausgedacht.«
Düster nickte. »Das Finale findet also morgen wie geplant statt … Nur das der Ermittlungen noch nicht, fürchte ich.«
Er sah auf die Wanduhr. »Es ist schon nach Acht. Ich schlage vor, du machst jetzt Feierabend, Reimut, sonst bewerfen mich deine Kinder mit Ostereiern, weil ich ihnen den Vater so oft raube … Ich selber werde noch einen kleinen Umweg durch die Schwimmbadstraße machen, wegen der Restaurants. Du kannst mich ja vielleicht bei Jossip absetzen.«
»Selbstverständlich. Wann sollen wir uns morgen treffen?«
»Mittags genügt, würde ich sagen. 14 Uhr? Ok. Vielleicht ist dann schon etwas aus Paris beziehungsweise Stockholm eingetroffen.«
Sie riefen Lilli gleich an – sie war einverstanden. Sie legten die Fragen oder Bitten an Interpol fest und beendeten das Gespräch. Dann verließen sie das Büro.
7
Jetzt zog auch Düster nur Nieten: in der Schwimmbad-straße. Keiner hatte das Paar gesehen oder gar bewirtet. Am liebsten hätte Düster selber gespeist, aber ihm war plötzlich dieser Brucinelli wieder eingefallen, von dem Ohl ein spöttisches Lächeln aufgefangen haben wollte. Deshalb ging er zurück zum Fürstenlob, wo ein gewisser Signore Benito Marini residierte, wenn er sich recht erinnerte. In Jossips Goldgrube herrschte längst Schummerlicht. Von Marini wußte Düster nicht viel. Der gelernte Notar galt zwar als leicht anrüchiger Mitbürger, doch bei der Karlskirchener Kripo war er bislang noch nicht angeeckt.
Düster blieb vor einem stattlichen Fachwerkhaus mit steilem Giebel und vorkragenden Geschossen stehen. Da hing das Messingschild: Import Export Marini zuzüglich der Geschäftszeiten. Er wechselte die Straßenseite. In zwei Obergeschossen waren erleuchtete Fenster zu sehen – aber was nützte ihm das? Schließlich konnte er den ungefähr 50 Jahre alten Glatzkopf schlecht fragen, ob Signore Silvio Brucinelli gleichfalls im Hause weile. Da hätte Marini sofort die Rollgitter fallen lassen, einschlägige Gesetz-bücher gewälzt und vielleicht auch ein paar zweibeinige Schläger in Marsch gesetzt.
Düster nahm die steile Hundgasse zum Obermarkt. Er verkniff sich den fälligen Imbiß, weil es schon nach 21 Uhr war. Er suchte die Nummer jenes Kasseler Gerichtsrepor-ters heraus, der ihm neulich bereits im Doppelmordfall Bühnke geholfen hatte – und er hatte Glück. Vielleicht hatte er den Mann in einem Fernsehkrimi aufgestört, denn er klang etwas knittrig. Als Düster den Namen Marini fallen ließ, besserte sich seine Laune jedoch.
»Benito Marini? Selbstverständlich kennen wir den hier. Er macht eine Menge Geld mit überwiegend zwielichtigen Geschäften. Ich glaube, er handelt mit fast allem, kleine Mädchen möglicherweise eingeschlossen. Er ist auch an mehreren nordhessischen Nachtbars beteiligt, mindestens in Korbach, Fritzlar und Kassel. Die Kasseler Bar liegt direkt am Hauptbahnhof, neben dem Hotel Reiss. Wollten Sie da mal reinschauen?«
»Vielen Dank, Herr Rabenau, heute lieber nicht.«
»Verdammt – ich vergaß: Sie müssen ja schwer gebeutelt sein, wegen dem erstochenen Billardspieler. Es kam im HR … Hat Marini mit der Sache zu tun?«
»Auf keinen Fall! Sie wissen von gar nichts, Herr Rabenau!«
»Das ist natürlich Ehrensache. Viel Erfolg, Herr Dühser! Und trotzdem Frohe Ostern.«
Bei Käsebroten und einer Flasche Bier versuchte Düster, den Fall zu überschlagen, obwohl er immer öfter gähnen mußte. Das wurde jedoch erneut vom Telefon vereitelt. Dieses Mal wurde er angerufen, von Ilona. Da vertagte er den Fall.
8
Als sich Ohl und Düster am nächsten Mittag wieder im Büro einfanden, hatte ein Bote vom Polizeipräsidium bereits einen großen und dicken Briefumschlag in den Kasten geworfen. Es waren Unterlagen von Interpol. Eine diensthabende Sekretärin hatte sie sogar schon ins Deutsche übersetzt.
Danach hatte Dag Atterberg, nicht verheiratet, in Lund gewohnt. Dort lag nichts gegen ihn vor. Man wußte freilich auch nichts von Drohungen gegen den Profisportler. Das war dann von Solveig Atterberg bekräftigt worden, seiner Schwester, die gleichfalls in Lund wohnte, jedoch nicht mit ihm zusammen. Sie war Gymnastiklehrerin. Zu Wertsachen befragt, betonte sie, ihr Bruder sei auch in dieser Hinsicht bescheiden gewesen. Entsprechend habe er zu Turnieren nie viel Geld mitgenommen. Zur fehlenden Armbanduhr befragt, habe sie sogar gelacht. Er hätte gar keine besessen, weil er Armbanduhren verabscheute. Es gebe ja einige Fernsehaufzeichnungen von Dags Snooker-Begegnungen – und wer es wünsche, könne Steuergelder dafür verplempern, sich alle anzusehen: er hätte in allen garantiert uhrenfreie Handgelenke. Das sei ja zumindest ein gewisses Indiz für ihre Aussage.
Bei diesem Abschnitt in dem Protokoll schmunzelten Ohl und Düster. Düster wegen der Uhrenfeindschaft, Ohl wegen dem schnippischen »Indiz«. Aber dann kam ein letzter Abschnitt, der nur Düster wirklich aufhorchen ließ. Der schwedische Kollege hatte wissen wollen, ob der Spieler Kevin Slighton mal in Lund gewesen sei. »Keine Ahnung. Ich glaube aber, eher nicht. Doch warten Sie mal … Da fällt mir eine kleine Episode von einem Turnier in Antwerpen ein. Das war im zurückliegenden Sommer. Dort hatte Dag den Waliser aus dem Achtelfinale geworfen. Einige Kommentatoren meinten, er hätte Slighton zunächst zermürbt, dann geradezu zermalmt. Jedenfalls gingen die Kontrahenten nach dem Match im Gänsemarsch zu den Kabinen und wurden dabei, wie üblich, von Autogrammjägern angegangen. Slighton ging voran. Er war jedoch derart schlecht gelaunt, daß er einem Fan fast den Filzstift aus der Hand schlug. Dag bekam es mit, zeigte dem Fan sein Bedauern, bat ihn aber auch sozusagen um Nachsicht, indem er mit einem Nicken auf Slightons Rücken murmelte, er zittere noch zu sehr … Gemeint war ohne Zweifel: vor Angst vor Dag. Da hätten Sie mal Sligthons jähen Blick über die Schulter sehen sollen! Dag hatte es selbstverständlich auf englisch gesagt. Das ist eben die Verkehrssprache unter den Snookerprofis.«
Düster nickte – und schwieg. Ohl dagegen meinte grin-send, ein schlagfertiger Witzbold sei der Schwede offenbar trotz seiner überall gepriesenen Besonnenheit gewesen. Dabei schob er die Papiere aus Paris wieder zusammen. »Und was machen wir nun, Herr Kommissar ..?«
Düster schwieg noch eine Weile weiter. Er verfolgte die spärlich fallenden Schneeflocken, die auf die wenig belebte Bahnhofstraße trudelten. Schließlich wandte er sich Ohl wieder zu.
»Ich habe da so eine Idee, Reimut. Sie muß aber noch etwas ausreifen. Jedenfalls halte ich es vorläufig für ziemlich sinnlos, noch einmal Klinkenputzen zu gehen. Ich schlage vor, wir setzten uns jetzt an unsere Berichte von den bisherigen Ermittlungen und lassen es damit erst einmal gut sein. Das braucht vielleicht zwei Stunden, dann machen wir die Fliege. Ich selber werde morgen früh etwas später kommen, weil ich eine Stippvisite in einem hiesigen Geschäftshaus plane. Du kannst ja unterdessen Lillis Fragen zu den Berichten beantworten. Sobald ich eintreffe, machen wir Konferenz und entscheiden, wie es weitergeht. Bist du mit diesem Vorschlag einverstanden?«
»Selbstverständlich. Du bist der Chef.«
In Wahrheit freute er sich natürlich, auch seinen familären Ostermontagabend gerettet zu sehen.
9
Von Mandel hatte sich Düster die inneren Gegebenheiten von Marinis Fachwerk-Residenz im Fürstenlob sowie dessen Dienstgebaren umreißen lassen. Dort wollte er nämlich vorstellig werden. Marini tauche in der Regel, meist aus dem zweiten Stock, wo er wohne, erst gegen Mittag in der Büroetage auf, zumal nach Feiertagen. Er hatte zwei Sekretärinnen, die den Laden auch ohne ihn schmissen, wenn er nicht da war. So kramte der Kommissar am nächsten Morgen einen einst schicken, schwarzen Ledermantel, den er seit Jahren nicht mehr getragen hatte, aus einem Schrankkoffer hervor. Vorm Flurspiegel schimmerte er sogar, wegen der Deckenleuchte. Er schien noch keine Mottenlöcher zu haben; es blieb jedoch zu hoffen, in einer Viertelstunde bekäme er dafür keine Einschußlöcher. Außerdem klebte sich Düster einen dunklen Schnurrbart jener Sorte an, die Ohl vor seiner Hochzeit geschätzt hatte. Er spähte abschließend durch die Wohnzimmertür – und frohlockte: die Aprilsonne kam eben heraus! Deshalb schob er sich auch noch eine Sonnenbrille auf die Nase.
Als Düster um kurz nach Acht klingelte, ging prompt der Summer. Die beiden Damen, die im ersten Stock hinter einer Art Empfangstresen an ihren Schreibmaschinen hockten, musterten ihn mit einem gewissen Erstaunen.
Düster rieb sich unternehmungslustig die Hände. »Mojn, ihr zwei Täubchen. Eddi Pötter mein werter Name.« Dann blickte er sich stirnrunzelnd in der kleine Halle um und nickte hinter die Damen, wo eine gepolsterte Tür zu sehen war: »Ist Silvio schon drin?«
Sie sahen sich nachdenklich an. »Silvio? Wen meinen Sie genauer gesagt, Mister Pötter?«
»Na hört mal, ihr Süßen, Silvio Brucinelli natürlich, diese alte Sportskanone.«
»Ach so, Brucinelli … Ja, der kommt schon mal … Aber hat er denn für heute morgen eine Verabredung mit dem Chef? Im Kalender ist gar nichts vermerkt.«
»Und ob! Und auch mit mir, ihr Süßen. Eine kleine Konferenz um großes Geld, wenn ich so sagen darf.«
Sie tauschten jetzt einen schon fast belustigten Blick und meinten bedauernd, der Chef sei leider noch gar nicht da. Er komme meistens erst gegen Mittag nach unten.
»Ach so«, äffte Düster die Damen nach und wandte sich bereits zum Gehen. »Na, dann schaue ich eben gegen Mittag noch einmal herein.« Schon schloß sich die Tür hinter ihm.
10
Als er auf der Straße trat, rieb sich Düster nicht nur wegen der Kälte die Hände. Er schritt beschwingt Richtung Bahnhof aus. Die Mühe des Umkleidens ersparte er sich.
Allerdings hatte er nicht mit Mach Männchen gerechnet. Kaum hatte er Lillis Bürotür aufgeklinkt, sprang das überwiegend weiß gefärbte Schoßhündchen aus seinem Korb und kläffte den schwarzen Mann wütend an. Es dachte natürlich, das ist bestimmt ein Gangster. Ohl krümmte sich bereits vor Lachen in seinem Besucherstuhl. Die beleibte Kriminalrätin machte hinter ihrem Schreibtisch lediglich große Augen. Düster warf beflissen seinen Mantel ab, entfernte auch Bart und Sonnenbrille und bückte sich erst einmal, um Mach Männchen versöhnlich zu kraulen. Dann zog er sich ebenfalls einen Stuhl heran.
»Kommst du geradewegs aus der Unterwelt?« wollte Lilli kopfschüttelnd wissen. »Oder hat dir deine liebe Ilona diesen Aufzug verordnet, weil sie von so etwas mehr ‚angeturnt‘ wird, wie die Jugend heutzutage sagt?«
Düster winkte großmütig ab. »Hast du unsere Berichte schon gelesen? Na prima. Ich komme gerade von Benito Marini.«
Nun gab er das Gespräch mit den beiden Damen wieder und schlußfolgerte: »Es ist somit anzunehmen, Marini und Brucinelli kennen sich. Schließlich stammen sie sowieso aus derselben scheinheiligen Nation. Man könnte sogar wetten, sie hätten sich im Zusammenhang mit dem Snookerturnier im Zugball erst kürzlich heimlich besprochen. Wollt ihr meine Theorie hören?«
Ohl hatte sich wieder beruhigt und stimmte in Lillis Nicken ein.
»Also paßt gut auf. In jedem Profisport gibt es das Phänomen des sogenannten Angstgegners. Übrigens hängt es mit dem bekannten Phänomen des Gesichtverlierens zusammen, das uns Tag für Tag auch von Politikern und Justizbeamten demonstriert wird. Für den jungen walisischen Snookerprofi Kevin Slighton hieß der Angstgegner Dag Atterberg. Der vergleichsweise steinalte Schwede hatte Slighton erst kürzlich aus einem Turnier geworfen und dabei auch noch vor Autogrammjägern beleidigt, wie jedenfalls Slighton es empfand. Slighton haßte Atterberg. Und es lag selbstverständlich genauso im Interesse seines Managers Brucinelli, einer erneuten, von Atterberg herbeigeführten Blamage vorzubeugen, zumal einem Scheitern im Finale, das die beiden Widersacher ja im Zugball, nach allen Berechnungen, zu bestreiten hätten. Übrigens hat Slighton es gewonnen, wie mir Mandel brühwarm erzählte. Der Waliser muß gute Nerven haben. Sicherlich geht es hier auch um viel Geld – es nährt den Haß umso besser. Jeder Turniersieg zieht Werbeverträge und andere einträgliche Jobs nach sich. Also bot sich eine noch engere Zusammenarbeit zwischen Slighton und seinem Berater an – eine Verschwörung nämlich. Eine Andeutung davon meint Reimut ja sogar mit eigenen Augen bei der Gedenkfeier für Atterberg beobachtet zu haben. Was unternehmen sie also? Brucinelli spitzt Marini an, und der nutzt seine guten Kontakte in der Unterwelt dazu, einen geübten Messerstecher und einen skrupellosen weiblichen Lockvogel anzuheuern. Das Gangsterpaar täuscht im Hospitalgarten einen Raubmord vor und macht sich dünne. Leider dürften diese TäterInnen nur schwer oder gar nie zu fangen und zu überführen sein, von den Drahtziehern ganz zu schweigen. Das gebe ich zu. Die Streuung von Nachtlokalen in Nordhessen ist einfach zu groß, und Marini ist gelernter Notar.«
Ohl und Lilli sahen sich kopfkratzend an. Sie dachten eine Weile nach. Schließlich meinte die Kriminalrätin mit leicht erhoben Händen: »Deine Theorie ist nicht völlig unwahrscheinlich, Bernd … Aber was Marini angeht: Hast du den durch dein Vorgehen im schwarzen Ledermantel nicht selber noch gewarnt?«
Düster nickte. »Daran dachte ich auch schon, gestern nacht. Ich sagte mir jedoch, von dieser Witzfigur im schwarzen Ledermantel kann er wohl kaum auf die Kripo schließen, und wenn doch, wie könnte er uns denn schaden? Alle Spuren hat er doch sowieso schon vernichtet. Wie gesagt, er ist Notar.«
»Aber vielleicht seine Ausführungsorgane noch nicht, mein lieber Bernd. Was sagst du denn, wenn er sie aus dem Verkehr ziehen läßt?«
Ohl mischte sich ein. »Dann hat er ja auch wieder Mitwisser. Ein Dominoeffekt … Aber selbst wenn er das Gangsterpaar beseitigen läßt, sollte man vielleicht ein Auge zudrücken. Schließlich haben diese Gangster einen friedlich gestimmten Billardspieler heimtückisch ermordet.«
»Ja, das ist ein Argument«, räumte Lilli ein. »Und was tun wir jetzt?«
Düster hob nun seinerseits die Hände an. »Wir verfassen einen schönen Zwischenbericht und liefern ihn noch heute beim Staatsanwalt ab. Damit hätte er den Schwarzen Peter. Befiehlt er uns, die Ermittlungen fortzusetzen – na, dann grasen wir eben sämtliche nordhessischen Laster-höhlen ab. Das ist doch High Life!«
Ohl grinste. Ja, dachte er still für sich, mit Lilli als Lock-vogel und Mach Männchen als Stöberhund …
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