Dienstag, 24. Oktober 2023
Düster 8 Der Mückenschuster

Roths Mückenschutztür schlug wie eine Bombe ein. Im Rahmen aus leichten, verstellbaren Aluminiumschienen gefertigt, dazwischen mit feinstem Fliegengitter bespannt, konnte sie selbst von Laien recht mühelos vor jeder gewöhnlichen Haustür in deren Leibung eingepaßt werden. Herribert Roth, genannt Mückenschuster, erprobte sie selbstverständlich zuerst an sich selber – genauer an seinem von Stechmücken berannten, heruntergekommenen Häuschen am Goldbach, das wir unlängst schon erwähnt haben. Sie erwies sich als nahezu narrensicher. Prompt kam Roth im Verein mit dem Ex-Tischler Stubenrauch, seinem Kumpel, auf die kühne Idee, sie einem Unternehmen aus der neuartigen Baumarkt-Branche anzubieten. Das war Anfang Mai, genau zur rechten Mückenzeit. Das Unternehmen griff sofort zu und ließ die Erfindung von einer Metallfabrik, als Bausatz, in Serie anfertigen. So wurde sie binnen weniger Wochen zum Verkaufsschlager, und der knapp 50 Jahre alte, eher untersetzte kraushaarige Schuster konnte sich seine derben Hände reiben. Jetzt hatte er vor den blutrünstigen Viechern Ruhe – und von den Kapitalisten säckeweise Geld. Roth bekam von jeder verkauften Tür Prozente.

Damit konnte sich der verwitwete Schuster den Traum vom Eigenheim erfüllen, wohnte er doch am Goldbach nur zur Miete. Es drängte ihn allerdings aufs Land. Rund fünf Kilometer nördlich von Karlskirchen, zwischen den Dörfern Gleichen und Kirchberg, erhob sich der 306 Meter hohe Wartberg. Gen Norden nur von einer Bürste aus Mischwald bestanden, auf der Kuppe felsig, gewährte der Südhang einen Blick über den halben Chattengau bis zum Fritzlarer Dom. Hier erwarb der Mückenschuster ein kleines Grundstück und setzte sein durchaus bescheidenes, eingeschossiges Häuschen mit Souterrain und Walmdach darauf. Nebenbei erhielt Roth die Baugenehmigung als letzter Bürger überhaupt, denn der ganze Wartberg wurde bald darauf naturgeschützt. Er hatte Silberdisteln, verschiedene Nelken und Enziane, Neuntöter als Brutvögel und manche Seltenheit mehr zu bieten – nur kaum noch Mücken. Darin lag eine der Ironien dieser Geschichte. Die Mücken verschmähten das Rinnsal, das von der Kuppe sprudelte und auch Roths Grundstück versorgte, weil ihnen der ganze Berg vielleicht zu hoch und im Durchschnitt zu kühl war. Dafür drohte Roth aber weitaus Schlimmeres als Mückenstiche, was er freilich noch nicht ahnte. Er wärmte sich auf seiner sonnigen Terrasse die dunkle Drahtwolle, die seinen Schädel krönte, und erfreute sich hin und wieder der Lobeshymnen seiner Tochter Ruth, um 20, die vor allem in den Semesterferien öfter für länger auf dem Wartberg Erholung suchte. Sie studierte Bibliothekswissenschaft in Marburg an der Lahn.

Der Vater selber hatte jetzt Geld und Muße genug, um seiner noch recht jungen Lese- und Schreibwut zu frönen. Vom Herzen her war er längst Anarchist gewesen. Er hatte sich auch schon in Karlskirchen, wie Stubenrauch, gegen die dortige städtebauliche Kahlschlagpolitik stark gemacht. Das endete bekanntlich in einer Niederlage, konnte ihn jedoch nicht entmutigen. Jetzt verfaßte Roth eine Menge Artikel oder Geschichten, die teils in der Frankfurter Rundschau, teils im Korbacher Monatsblatt Eder-Itter-Bote (EIB) erschienen. Dieses Blatt galt als ziemlich aufmüpfiger Widersacher der Waldeckischen Landes-zeitung (WLZ). Von Karlskirchen über Korbach bis Arolsen gab es kaum einen Mißstand, den der »Mückenschuster« – so unterzeichnete er auch – nicht anprangerte oder glossierte. Damit machte er sich selbstverständlich nicht nur Freunde, sondern eher immer mehr Feinde.

Zu Roths »größten« Zielscheiben zählte Josias Erbprinz zu Waldeck und Pyrmont, genauer das befremdliche Gedenken an ihn. Der Fürst aus dem Barockschloß in Arolsen war nämlich Ende 1967 in Frieden gestorben. Die WLZ rief ihm damals, mit Gewährsleuten, unverfroren nach: »Nie habe er Ungerechtigkeit und Korruption in seiner Umgebung geduldet. Sauber in seiner Haltung, untadelig in seinem Leben und Wirken, so bleibt er im Gedächtnis der vielen, die ihn kannten und verehrten.« Die Gewährsleute und das führende Regionalblatt hatten gut reden, hatten doch alle staatstragenden Parteien des Nachkriegsdeutschlands nichts Wichtigeres zu tun gehabt, als den stinkenden braunen Dreck unter den Wirtschafts-wunderteppich zu kehren. Dabei war der »Höhere SS- und Polizeiführer« des sogenannten Dritten Reiches – das im ganzen vier Dutzend dieser Sorte aufwies – noch 1947 wegen seines »untadeligen« Lebenswandels von einem US-Militärgericht zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Das hatte sich freilich schon 1950 zu »Hausarrest« verdünnt – auf seinem Schloß. Sein riesiges Vermögen blieb nahezu unangetastet. Schließlich war Sprößling Prinz Wittekind da, der solide erzogen und ausgebildet werden mußte. Dessen Taufpaten hießen sicherlich nur aus Versehen Heinrich Himmler und Adolf Hitler. Mit SS-Chef Himmler, der hin und wieder in Arolsen weilte, hatte sich Fürst Josias geduzt. Hätte er seinen späteren Kritiker Herribert Roth gekannt, hätte er ihn wahrscheinlich seinen Dänischen Doggen vorgeworfen. Roth dürfte überhaupt der erste »Publizist« gewesen sein, der den Sockel des Fürsten Josias wieder anzupinkeln und anzukratzen wagte. Anke Schmelings bahnbrechende Josias-Studie erschien erst 1993. Da gab es längst keinen »Mückenschuster« mehr.





2



Die aus dunklem Gestein gewachsenen, genarbt wirkenden Felsnasen der Wartberg-Kuppe blickten auf einen Rundweg, den hin und wieder Land- oder Forstwirte mit ihren Fahrzeugen benutzten. Zwischen diesem Ring und der Landstraße, die den Bergfuß berührte, lag Roths Grundstück ungefähr auf halber Höhe. Neben Schafwiesen zeigte der Südhang viel Gestrüpp. Roth hatte sein Anwesen gleich zu Anfang durch einen hohen, auf der Krone mit Stacheln bewehrten Maschendrahtzaun geschützt. Als er sich offensichtlich immer mehr Unmut, wenn nicht Haß zuzog, rieten ihm die Korbacher Freunde zusätzlich zu einem scharfen Wachhund. Das scheiterte freilich – ausnahmsweise nicht am Geld, vielmehr an Roths anarchistischer Gesinnung. Er lehnte Hundehaltung grundsätzlich ab. Hunde seien drei ekelhafte S, bemerkte er immer gern: Schoßkissen, Sklaven, Söldner. So knüpfte der gelernte Schuster und frischgebackene Türen-Erfinder an seiner – möglicherweise auch nicht lupenrein anarchistischen – Ader für technische Lösungen an. Er durchflocht seinen Zaun mit einer elektrischen Alarmanlage. Sie sprach lediglich auf kräftige Berührungen an, also nicht etwa auf durchschlüpfende Wiesel oder vorbeistreichende Eulen. Sie bewährte sich auch über etliche Wochen hinweg, ohne daß Roth nennenswert aus dem Schlaf gerissen worden wäre.

Im September brachte Ruth eine junge Frau mit, die nicht nur ihre Studienfreundin war. Dieser Einfall von Lesben sprach sich in Windeseile herum, denn damals, am Ende der 1960er Jahre, war so etwas, vor allem auf dem platten Land, keineswegs salonfähig. Roth jedoch hatte sein Wohlgefallen an den beiden und hämmerte unverdrossen in die Schreibmaschine, um sich mit Gott und der Welt anzulegen. Auch seine Darstellungs- und Ausdruckskünste steigerten sich beachtlich. Kein geringer Verdienst daran kam Ilona Velberting zu, die den Wartberg nur zu gern wiederholt besuchte, weil er doch etwas ganz anderes als der Dörnberg war. Auf diesem Zierenberger Hausberg, der durchaus mit verschiedenen Orchideen und viel Wach-holder aufwarten konnte, wurde »Segelsport« betrieben. Auch das hatte NS-Tradition. Ilona ging mit Roth Manuskripte durch, machte ihn auf manche Schwächen aufmerksam und schärfte seinen selbstkritischen Blick.

Zu gemeinsamen Besuchen in Begleitung Düsters war es einstweilen nicht gekommen. Düster kannte die »Landvilla« des Mückenschusters deshalb nur von Ilonas Erzählungen und einigen Fotografien her. Das änderte sich am 27. September in der Frühe schlagartig. Der Kommissar rasierte sich gerade, als das Telefon klingelte. Es war der wachhabende Kollege des Karlskirchener Polizeipräsidiums.

Von Amts wegen lag Roths Häuschen auf Kirchberger Gemeindegebiet. Deshalb hielt sich Düsters Schock zunächst in Grenzen. Der Kollege teilte ihm mit, in Kirchberg sei an diesem Morgen ein Häuschen abgebrannt. Ob er die Sirenen nicht schon gehört hätte?

»Nein. Zuweilen schlafe ich Gott sei Dank wie ein Murmeltier … Sind Menschen zu Schaden gekommen?«

»Es steht zu fürchten, Dühser. Auch aus Karlskirchen sind jedenfalls Rettungsfahrzeuge ausgerückt. Die Hanglage erschwert die Rettungsmaßnahmen wohl. Die Feuerwehr meint, eine Brandstiftung sei nicht ganz auszuschließen, da der Hausbesitzer erfahrener Handwerker gewesen sei. Es kamen ja gleich DorfbewohnerInnen dazu. Die Feuerwehr-leute stöbern gerade in dem Brandherd herum. Der Mann wird noch vermißt.«

In Düster stieg eine böse Ahnung auf. »Von was für einer Hanglage sprichst du eigentlich?«

»Das Häuschen beziehungsweise der Brandherd liegt ohne Nachbarschaft auf halber Höhe des Wartbergs. Es gehört dem sogenannten Mückenschuster, den wir ja hier in unserem Städtchen recht gut kennen, nicht wahr?«

»Ach du meine Güte!« fluchte der Kommissar. »Ich fahre sofort hinaus.«

Etwas später, nach einer Stunde, traf auch Hauptmeister und Spurenfachmann Ohl am Brandherd ein. Er war mit dem Bulli der Kripo gekommen. In dieser kurzen Zeit hatte sich der Schaden des Unglücks gewaltig erhöht. Die Feuerwehrleute hatten im Verein mit Sanitätern und Notärzten die verkohlten Überreste von drei Personen geborgen, anscheinend ein Mann, wohl der Schuster, und zwei jüngere Frauen. Die DorfbewohnerInnen nahmen an: die Tochter des Schusters und deren Freundin.

Um ihre Fassung wieder zu gewinnen, hatten sich Ohl und Düster vorübergehend auf einen Baumstamm sinken lassen, der oberhalb des qualmenden Grundstücks lag. Ohl hatte wohlweislich eine winzige Flasche mit Kräuterlikör eingesteckt. Sie teilten sie sich brüderlich. Der Himmel war bedeckt, verschonte sie aber mit Regen. Der Maschendrahtzaun des Grundstücks zeigte keine Schäden. Nur der Strom, der auch den Alarmdraht gespeist hatte, war inzwischen ausgefallen. Die Hauswände standen noch, wenn sich auch in der nördlichen Wand, wo der Hauseingang lag, eine seltsame Bresche bemerkbar machte. An den Dachstuhl erinnerte im wesentlichen nur noch Asche. Aus dieser hatte ein Feuerwehrmann soeben ein ungefähr Handball großes Stück einer schmiede-eisernen Welle sichergestellt, die anscheinend zerteilt worden war. Möglicherweise ein Erinnerungsstück von Roth, oder ein Bestandteil seines Schusterwerkzeuges. Für die anliegenden DorfbewohnerInnen hatte Roth noch gelegentlich Schuhe repariert. Das waren natürlich nur solche Leute gewesen, denen Roths Gesinnung und sein publizistisches Wirken nicht zu sehr gegen den Strich ging.

Die beiden Kriminalbeamten erhoben sich von ihrem Baumstamm, um die nähere Umgebung des Grundstücks zu erforschen. Mit Fahrzeugen war es nur über einen Schotterweg von Gleichen aus zu erreichen. Zu dem deutlich höher gelegenen Rundweg führte lediglich eine abenteuerlich anmutende lange Treppe aus unregelmäßig gesetzten Feldsteinen. Sie war ungefähr 40 Meter lang. Da die zahlreichen Rettungsfahrzeuge nicht umhin gekommen waren, beide Fahrwege zu benutzen, waren die Aussichten, dort brauchbare Spuren zu finden, ziemlich gering. Am Vortag hatte es noch geregnet. Der Rundweg hatte keinen Schotter und glich deshalb den aufgeweichten Exemplaren jener Mondkarten, die man etwa aus Universallexika kennt. Bei den vielen Helfern und Einheimischen, die sich am Grundstück tummelten, war es leider auch eher unwahrscheinlich, brauchbare Gegenstände zu finden, die vielleicht auf Täter oder mehrere TäterInnen gedeutet hätten. Denn für Brandstiftung, und zwar durch Dritte und nicht etwa die Opfer selbst, sprach im Laufe des Vormittags immer mehr. Fahrlässigkeit war unwahrscheinlich.





3



Als sie am Nachmittag in Lilli Lilienthals Büro Konferenz machten, zeigte sich die Chefin berührt und empört. Den Tod des Mückenschusters hätte sie ja vielleicht noch verkraftet, aber zwei blutjungen Frauen das Leben zu nehmen, möglicherweise für nichts und wieder nichts, das gehe entschieden über ihre Hutschnur. Dann einigten sich die drei Kriminalbeamten darauf, in der mutmaßlichen Brandstiftung bis zum Beweis des Gegenteils einen politischen Anschlag zu sehen. Eine Brandversicherung durch Roth schloß Stubenrauch später aus. Freilich könnten trotz der Anschlag-Theorie, die sie bevorzugten, »moralische« Motive mitschwingen, gab Düster zu bedenken. Mandel habe ihm erzählt, in der Leserbriefspalte der Kasseler Post sei bereits vor zwei Wochen von einem »Lesbennest« auf dem Wartberg die Rede gewesen. Nur war bis zur Stunde völlig unklar, in welchem Maße die TäterInnen über die persönlichen Umstände des Mückenschusters im Bilde gewesen sein mögen. Jedenfalls blieb der Kripo jetzt nichts anderes übrig, als Herribert Roths Bekannten- und Wirkungskreis nach Fingerzeigen abzugrasen. Das konnte wohl einstweilen hauptsächlich per Telefon geschehen.

Schon am nächsten Mittag traf ein erster schriftlicher Bericht der Feuerwehr ein. Darin wurde eine schadhafte Elektrik als Brandursache mit einiger Sicherheit ausgeschlossen. Man habe freilich auch keine Hinweise auf Fernzündung gefunden, etwa durch die weltweit beliebten Molotow-Cocktails, oder durch Brandpfeile, wie Bogenschützen sie kennen. Dafür gäben die sichergestellten Eisenstücke noch Rätsel auf. Es waren inzwischen zwei. Anscheinend aus derselben Welle geschnitten, hatten beide ungefähr die erwähnte Handballgröße. Sie wogen jeweils knapp 60 Kilogramm. Daneben hatten sich auch etliche gewölbte Tonscherben gefunden, die nicht unbedingt nach Trink- oder Kochgeschirr aussahen, zumal sie durchweg Rußspuren auf der Innenseite aufwiesen. Die Objekte lägen jetzt bei einem Experten der Kasseler Bundeswehrfachschule. Der Mann habe bislang nur gescherzt, man könne vielleicht mit Kanonen auf Spatzen schießen, aber wohl kaum mit Schrott auf ein Haus.

Außerdem war inzwischen ein Hilfsangebot von Kriminaloberrat Triesch aus Fritzlar erfolgt. Er hatte Lilli Lilienthal von sich aus angerufen. Sie habe ihm natürlich gedankt, teilte sie ihren beiden Untergebenen mit, das freundliche Angebot jedoch ausgeschlagen, da sie gegenwärtig keineswegs überlastet seien. Das war nicht unbedingt gelogen. Eingeweihte wußten allerdings, in der Karlskirchener Bahnhofstraße war man auf die Fritzlaer Kripo und insbesonderen auf deren Boß Triesch nicht gerade glänzend zu sprechen. Düster pflegte ihn unverblümt als alten Militaristen zu bezeichnen. Triesch hatte schon mehrmals versucht, die Karlskirchener Filiale abzusägen, selbstverständlich hinten herum.

Die große Überraschung war ein Besucher, der am Nachmittag unangemeldet bei der Karlskirchener Kripo klingelte. Es war Förster Pahl. Düster bat ihn behelfsmäßig ins Labor, da er annahm, Pahl wünsche etwas zum Fall Metzdorfer nachzutragen, das nicht unbedingt für Hauptmeister Ohls Ohren geeignet sei. Als Düster dies andeutete, lächelte der silberhaarige, hochgewachsene Mann aber nur leise und schüttelte seinen Kopf. Er drückte zunächst seine Abscheu vor dem mutmaßlichen Anschlag auf dem Wartberg aus. Dann fuhr er fort:

»Ich habe heute mehrere Zeitungsberichte über die Sache studiert, Herr Kommissar. Da fiel mir plötzlich ein Kollege aus Wolfhagen ein. Er erzählte mir vor rund drei Wochen bei einer Jubiläumsfeier eher nebenbei, dem Heimatmuseum auf der ehemaligen Burg Wolfhagen seien gerade zwei Paradepferde geklaut worden. Sie waren aber kaum größer als Shetland-Ponys. Die Museumsleute hatten sie im Freien, vor der Burgmauer, aufgestellt. Wer denkt schon, so etwas werde gestohlen? Es handelte sich um zwei mittelalterliche Katapulte, Herr Kommissar, allerdings nur Nachbauten. Es waren also nicht etwa sündhaft teure Antiquitäten.«

Düster hatte alarmiert die Augen verkniffen. »Zwei mittelalterliche Katapulte, sagen Sie? Solche Wurfmaschinen, mit denen man bei Belagerungen mitunter beträchtliche Schäden anrichten konnte?«

»Sie sagen es, Herr Kommissar. Die Gestelle der Nachbauten waren aus Eiche – viel mehr wußte mein Kollege nicht, typisch. Ihn hatte das Holz interessiert!«

Düster nickte lächelnd und dachte einen Augenblick über Pahls Eröffnung nach. Dann hieb er mit der Faust auf Ohls Doppel-Spüle aus Edelstahl, an der er zufällig saß. »Das ist ja ein Ding! Haben Sie vielen Dank für den Fingerzeig, Herr Pahl. Was haben wir heute? Mittwoch. Ich werde gleich im Museum anrufen und um einen raschen Termin bitten.«

Pahl erhob sich lächelnd und reichte Düster die Hand. »Ich habe nichts anderes erwartet, Herr Kommissar. Ich wünsche Ihnen und Ihren Kollegen viel Erfolg. Sie müssen mich jetzt entschuldigen, die Sparkasse schließt in einer halben Stunde. Ich muß fällige Überweisungen tätigen.«





4



Museumsleiter Sechtling war ein Mann um 50 mit runder Nickelbrille und blonder Künstlermähne. Er zeigte und erklärte dem Kommissar alles persönlich, wozu er streckenweise einen Katalog mit Abbildungen zur Hilfe nahm, da die fraglichen Objekte ja leider abhanden gekommen waren. Der Burghof diente auch als kleines Freilichtmuseum. Er konnte von jedem Bürger betreten oder gar befahren werden, da es kein Tor mehr gab. Die beiden Mangonels – so hieß diese Art der Katapulte – waren, bis zu dem Diebstahl, in Wurfrichtung zur Stadt hin unweit der Burgmauer aufgestellt. Ihr Prinzip war schnell erkannt. Der an einer abgefederten Welle angebrachte Wurfarm mit dem »Löffel« am Ende konnte mit einer Zahnrad-Kurbelseilwinde bis auf das Hofpflaster gebeugt und so gespannt werden. Nun ließ sich der Löffel (eine Schale) mit dem Wurgeschoß laden. Dann klinkte man die Seilwinde aus und schickte das Geschoß so ins feindliche Lager. Die Munition hatte teils aus Eisenkugeln, teils aus Hohlkörpern bestanden, die mit leicht entzündlichem Brenn- oder Sprengstoff gefüllt waren. »Ein geübter Schütze konnte auf 40 bis 80 Meter ein bestimmtes Strohdach treffen, das dann die ganze Stadt in Brand setzte«, stellte Sechtling fachmännisch fest.

Düster grinste und nickte über die Burgmauer: »Oder das Tchibo-Stehcafe in der Wolfhagener Fußgängerzone ..?«

»Nein, nein!« wehrte Sechtling beflissen ab. »Wir besitzen zwar ein paar echte Geschosse, doch sie waren und sind natürlich stets im Museum in einem Glasschrank eingeschlossen. Wir holen sie nur bei Mittelalterfesten hervor, wenn ein Experte auf dem Fußballplatz schießt – zur Demonstration, Sie verstehen? Da wird das Ziel streng abgeschirmt und bewacht. Wollen Sie die Geschosse einmal sehen?«

»Die wurden nicht gestohlen?«

»Richtig. Sie sind noch da.«

»Dann erübrigt sich die Besichtigung«, winkte Düster ab. »Wir haben ja jetzt selber welche, sofern unsere Theorie stimmt.«

Zum mutmaßlichen Täterkreis befragt, erwiderte der Museumsleiter, wenn es weder Brennholzklau noch ein »Dummjungenstreich« gewesen sei, kämen wohl am ehsten LiebhaberInnen mittelalterlicher Kriegs- und Waffenkunst in Betracht. Da gebe es aber leider gar nicht so wenige, oft sogar in Vereinen oder Clubs organisiert, und die örtliche Polizei habe sicherlich Dringlicheres zu tun, als diese Klientel nach den Dieben von zwei vergleichsweise schnöden Nachbauten abzuklopfen. Bislang sei jedenfalls auf seine Anzeige hin keine Nachricht an sein Ohr gedrungen.

Sechtling war so freundlich, dem Kommissar zum Abschied den Katalog mit den Abbildungen und Beschreibungen der Mangonels zu schenken. Düster fand den Kerl recht angenehm, weil er nicht im mindesten darauf gedrungen hatte, die Gründe für die Nachforschungen der Karlskirchener Kripo zu erfahren.

Das Städtchen Wolfhagen lag kaum weiter von Karlskirchen entfernt als Zierenberg, rund 25 Kilometer, nur etwas weiter westlich. Düster fuhr sofort ins Büro zurück, um noch vor der Mittagspausenzeit telefonische Rücksprachen mit Feuerwehr und Bundeswehr zu nehmen. Danach hielt man die neue Theorie der Kripo für nicht ganz unwahrscheinlich. Der Kasseler Experte nahm an, die Flugbahn werde durch die nicht kreisrunde Form der gefundenen Eisenstücke wohl nicht nennenswert gestört. Man müßte freilich vorsichtshalber entsprechende Versuche durchführen. Die Treffsicherheit hielt er, auf rund 50 Meter, für ziemlich groß, sofern die TäterInnen nur tüchtig trainierten. Aber auch das ließe sich ja im Feldversuch überprüfen.

»Na sehen Sie«, pflichtete ihm Düster schmunzelnd bei. »Da winkt Ihnen von Amts wegen, im Rahmen eines Gerichtsverfahrens, schon wieder ein fettes Gutachten. Sie haben doch in Kassel-West mit der Dönche einen idealen Truppenübungsplatz, soweit ich weiß. Da ballern Sie mit neuen Nachbauten zwei Wochen herum, und schon sind 2.000 Mark im Sack. Der Nachbauer bekommt natürlich auch noch was.«

Das fand der Experte nicht ganz so witzig wie der Kommissar. Düster erkundigte sich deshalb rasch: »Was glauben Sie denn, wie schnell so ein Mangonel ist. In welchen Abständen kann gefeuert werden?«

»Bei zwei Mann Bedienung dürften 30 bis 45 Sekunden ausreichen, nehme ich an.«

Düster dankte dem Mann herzlich und ging mit Ohl dessen Notizen über die Nachforschungen im Freundes- und Wirkungskreis Roths durch. Bislang hatte sein Mitstreiter leider nur Nieten gezogen. Selbst die EIB-Leute und Stubenrauch hatten keinen heißen Tip. Selbstverständlich habe der Mückenschuster jede Menge Feinde gehabt; von einem herausragenden Erzfeind wüßten sie aber nichts.

Am Nachmittag machten sie wieder Konferenz. Lilli fand die jüngste Theorie ihrer Untergebenen sogar »ganz apart«, wie sie ihnen nach Düsters kurzem Vortrag eröffnete. Vielleicht hatte die dicke Kriminalrätin ebenfalls eine Mittelalter-Meise, die sie bislang verheimlicht hatte. Ihr bevorzugter Platz wäre vermutlich ein Fürstenthron gewesen. Jetzt führte sie aus:

»Irgend so ein waffennärrischer Club bekommt mit, in Wolfhagen auf der Burg stehen so zwei Dinger, die man lässig klauen kann. Wir klauen sie also und üben uns in irgendeinem stillgelegten Basaltbruch im Gebrauch und im Zielschießen. Unterdessen spionieren andere Clubmitglieder den Wartberg aus, denn dieser schwarzrote Mückenschuster hat dringend einen Denkzettel verdient. Weilen die beiden geilen jungen Weiber auch noch im Haus, umso besser. Ist die geeignete Nacht gekommen, fahren wir mit den Dingern hinaus und machen die Sache perfekt. Vielleicht schießen wir gleichzeitig, vielleicht aber auch nacheinander, wegen dem hurtigen Nachladen. Schnelligkeit ist jedenfalls Trumpf, damit sich die schlaftrunkenen Bewohner nicht etwa ins Freie retten können. Zuerst werden die Wellenteile abgefeuert, um das Dach zu zertrümmern. Dann folgen die Brandbomben … Sehe ich das ungefähr richtig?«

Bei diesen Ausführungen schimmerte noch die Werkzeugmacher-Lehre durch, die Lilli Lilienthal einst vor ihrer Bewerbung bei der Polizei mit gutem Erfolg absolviert hatte. Damals war sie die einzige Gesellin dieser Art in ganz Hessen gewesen. Trotzdem hakte Düster nach:

»Wie fahren Sie denn?«

Ohl winkte ab. »Kein Problem: mit einem Lastwagen. Die beiden Katapulte passen ja leicht auf einen Laster, der sonst Kies oder eben Schrott fährt, wie der Bundeswehrexperte zu scherzen beliebte. Möglicherweise haben die gleich einen Fuhrunternehmer in ihrem Club. Die Katapulte werden selbstverständlich verzurrt und für die Anfahrt abgedeckt.«

»Stimmt«, nickte Lilli. »Und wie sind sie zu ihrer Munition gekommen?«

»Ich habe mich erkundigt«, erwiderte Düster. »Die Volleisenstücke wurden sehr wahrscheinlich mit einem Schneidbrenner aus der Welle geschnitten. Da ist wohl jemand von den ‚Narren‘ Schlosser oder Schweißer. Die Tongefäße für die Brandsätze kann ja sogar jede Volkshochschullehrerin besorgen, die Keramik-Kurse anbietet.«

Auf diese Fassung der Theorie einigten sie sich. Jetzt kamen sie also nicht umhin, die Gegend zwischen Korbach und Felsberg, Kassel sogar eingeschlossen, nach den ein-schlägigen Narren beziehungsweise närrischen Gruppen zu durchforsten, ohne dabei Argwohn zu erwecken. Da hieß es zunächst, mit Hilfe diverser Museums- und Kulturamts-leiter eine möglichst vollständige Kanditatenliste aufzustellen. Lief es schlecht, ging dafür und die Nachforschungen eine ganze Woche drauf.





5



Gott sei Dank – oder wem auch immer – wurde ihnen bereits am Freitagmittag eine Menge Mühe erspart. Düster wollte gerade Essen gehen. Plötzlich sprach ihn auf der Bahnhofstraße eine ihm unbekannte, brünett gelockte Frau um 30 an, die sich zunächst auch nicht vorstellte. Sie steckte in ziemlich neuem, modischem, weinrotem Lederzeug, das ihre sogenannten Formen nicht übel zur Geltung brachte. Sie habe die Schnauze voll, sagte sie in merkwürdigem Gegensatz zu ihren schicken Klamotten. Es paßte allerdings zu ihrer kräftigen Nase. Sie wirkte keineswegs wie ein Püppchen. Es gehe um den Brand auf dem Wartberg, fügte sie ohne Umschweife hinzu. Ob sie hier irgendwo unbeobachtet miteinander sprechen könnten.

Düster pfiff unhörbar durch die Zähne und überschlug blitzschnell, ob ihm womöglich gerade eine Falle drohe. Er sah sich auch schon entsprechend um. Dann erwiderte er:

»Woher weiß ich denn, daß Sie mich nicht aufs Glatteis führen? Sind Sie bewaffnet? Haben Sie Leibwächter?«

Sie dachte mindestens eine Minute lang nach, während sie abwechselnd die wenigen Passanten und Düsters leichten, zeitgemäß gegürteten olivgrünen Regenmantel musterte. Es regnete übrigens nicht. Dann gab sie sich einen Ruck, seufzte »Na gut!« und griff in ihre Jacke. Erfreulicherweise zog sie kein Schießeisen. Düster hatte sich bereits über den nahen Vorgartenzaun hechten gesehen. Es war ihr Führerschein. Das Foto zeigte mit hoher Wahrscheinlich-keit die Unbekannte. Das Dokument war auf Gerlinde Gellerkind aus Korbach ausgestellt.

»Ok«, sagte Düster und nickte Richtung Untermarkt. »Ich wollte gerade Mittag machen, Frau Gellerkind. Gehen wir zu Mehrgardt, die kochen nicht schlecht. Sie sind eingeladen. Das Gasthaus liegt ein Stück um die Ecke in der Fritzlaer Straße. Dort bin ich nicht so oft. Man wird uns also kaum auflauern.«

Sie lächelte dünn, nickte und paßte sich recht mühelos den langen Schritten des schwarzmähnigen Kriminalkommis-sars an. Gleichzeitig behielt sie weiterhin den Fußgänger- und Autoverkehr im Auge. Nach allenfalls drei Minuten hatten sie den Gasthof erreicht.





6



Wie sich rasch herausstellte, war Gellerkind hauptsächlich oder gar ausschließlich wegen der beiden umgekommenen jungen Frauen wütend. Den Mückenschuster streifte sie nur am Rande, ohne jedes Bedauern. Die beiden Frauen dagegen hätten diese Trottel doch wirklich verschonen können. Gellerkind gehörte dem Korbacher Club Ritter Kunibert an, der die Mittelalter-Meise mit der Gesinnung preußischer Landjunker und dem zeitgenössischen Rockertum zu verbinden schien. Alle fuhren schwere Motorräder, liebten alte Vorderlader, übten sich im Weitwurf mit nachgebauten Morgensternen und so weiter. Die einzige Frau in dem Laden war Gellerkind, wegen ihrem Ex-Geliebten Max Deyß, dem Häuptling des Clubs. Inzwischen haßte sie offenbar die gesamte Männerwelt. Sie erklärte dem Kommissar, sie wolle aussteigen. Insbeson-dere schien sie aber Erik Zülpmann, den Juniorchef der bekannten mafiösen Karlskirchener Baufirma, zu hassen, der enorm scharf auf sie sei. An dieser Stelle bekam Düster doch ziemlich große Augen und Ohren.

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Düster stirnrunzelnd. »Erik Zülpmann hat mit dem Anschlag auf dem Wartberg zu tun ..?«

»Und ob!« giftete sie. »Er gab Max zu verstehen, dieser schreibende Schuster hätte allmählich wirklich einen Denkzettel verdient, und er, Erik, hätte auch gerade bei einem Museumsbesuch in Wolfhagen die idealen Waffen dafür gesehen. Alles Weitere haben Sie sich ja vermutlich schon zusammengereimt, wie ich aus Ihren Bemerkungen schließe. Wissen Sie aber auch, wo die Jungs mit den beiden Katapulten trainierten? In einem stillgelegten Steinbruch im Upland, mitten im Wald. Sie stellten natürlich Wachen auf. Der liebe Erik hatte ihnen einen Lkw zur Verfügung gestellt, er hat ja genug von der Sorte. Dieses Schwein ist ein echter Geldsack. Nicht, daß ich etwas dagegen hätte, gut Geld zu verdienen, aber er verhurt alles.«

»Aber er steht auf Ihnen?«

»Ja, leider. Unlängst hat er sogar von Heirat gefaselt, aber ich habe ihm die kalte Schulter gezeigt.«

»Und woher wissen Sie, wenn ich das mal einwerfen darf, daß er Ihnen heute nicht zufällig über den Weg laufen wird? Hier in Karlskirchen? Vielleicht sogar an meiner holden Seite?«

»Nee, nee«, grinste sie. »Er hat heute geschäftlich in Gießen zu tun. Ich bin ja nicht von gestern.«

Düster nickte und dachte kurz nach. Sie waren inzwischen beim Nachtisch angelangt. Düster erhob sich und bat Gellerkind, ihn für ein paar Minuten zu entschuldigen. Er bleibe in ihrer Sichtweite.

Sie zuckte mit den Achseln und verfolgte, wie er in die abgeschirmte Telefonecke des Lokals ging. Sie sah ihn sprechen. Dann hängte er ein und wartete. Nach drei oder vier Minuten kam der Anruf für ihn. Nun hörte sie deutlich: »Prima, Lilli. Nein, mehr nicht. Ich komme übrigens etwas später ins Büro, da mir eine sehr interessante Zeugin über den Weg gelaufen ist.«

»Vielen Dank für Ihre Geduld«, sagte Düster, als er wieder vor seinem Nachtisch saß. »Ich habe Ihre Angabe mit Gießen nur mal eben vorsichtshalber von einer Freundin überprüfen lassen, die so etwas ganz unverdächtig zu bewerkstelligen pflegt. Sie sagt, Ihre Angabe entspräche der Wahrheit. Zülpmann sei auch noch nicht aus Gießen zurück.«

»Ach …«, erwiderte sie teils belustigt, teils bewundernd. »Sie sind ja schwer auf Draht, Herr Kommissar.«

Düster hob kokett die Augenbrauen und bestellte bei der Wirtin ein Kännchen Kaffee. Gellerkind hatte ihm erzählt, sie sei gelernte technische Zeichnerin. Das glaubte er gern. Schließlich war auch sie nicht schafdumm. In moralischer Hinsicht freilich hätte er sie noch nicht einmal Georg Mandel, dem Reporter der Kasseler Post, empfohlen, der trotz seiner rundlichen Figur ein echter Schürzenjäger war.

Der Kaffee kam. »Das tut gut!«, stellte Düster schlürfend fest. »Jetzt wüßte ich eigentlich nur noch gern, was von Ihrer Geschichte mit Zülpmanns auf Sie gerichteten Begierde zu halten ist. Immerhin sind Sie ja ohne Zweifel eine Dame, die mindestens jeden zweiten Mann betört. Aber Herrn Erik Zülpmann ganz besonders ..?«

Sie fühlte sich sichtlich leicht geschmeichelt, ohne etwas zu erwidern. Stattdessen stand sie ebenfalls auf. Sie ging zur ihrem flotten Lederjäckchen, das am Garderobenständer hing, und erschien mit einem unbeschrifteten Briefumschlag wieder. Daraus zog sie einen Zettel, den sie neben Düsters Kaffeetasse legte. Auf ihm standen nur wenige von Hand geschriebenen Sätze, ohne Datum, jedoch mit halber Unterschrift.

»Liebstes Gerlindchen, natürlich war die Unternehmung auf dem Berg ein wenig überzogen. Das werde ich M. auch deutlich sagen. Ist das aber ein Grund, mir noch immer zu grollen? Ich vergehe schon vor Sehnsucht nach dir. Hast du nicht neulich von einem Karmann-Ghia geschwärmt? Das ist doch kein Problem, den kaufen wir. Aber nur im Rahmen eines schönen Zusammenseins! Wann hast du Zeit? Rufe mich bitte umgehend an. Dein braver Knappe E.«

Düster sah nachdenklich zwischen dem inbrünstigen Zettel und der Dame Gerlinde hin und her. »Unter Umständen müßte ich diesen Zettel ebenfalls überprüfen, Frau Gellerkind, wegen der Handschrift. Wahrscheinlich könnte ich ihn auf Dauer auch nicht geheimhalten. Er stellt ja unter Umständen ein wichtiges Beweisstück dar. Allerdings nehme ich Ihnen diese Geschichte auch ohne Überpüfung schon jetzt ab. Und ich hätte da so eine Idee, Frau Gellerkind. Haben Sie noch ein Viertelstündchen Zeit?«

Sie nickte etwas schnippisch, stieß ihr Päckchen Overstolz auf die Handkante und angelte sich mit den Lippen eine Zigarette heraus. Düster gab ihr Feuer. Darin lag allerdings ein gewisser Stilbruch, wie ihm erst mit der Jacke am Garderobenständer aufgefallen war. Die kräftig orangefarbene Zigarettenpackung biß sich nämlich unangenehm mit Frau Gellerkinds weinroter Lederkluft. So empfand er es jedenfalls.





7



Am Samstagvormittag war die gesamte Karlskirchener Kripo mit dem Taunus nach Korbach unterwegs. Lilli hatte darauf bestanden, bei dieser Aktion zur Ehrenrettung ermordeter Frauen dürfe sie nicht fehlen. Also war auch Mach Männchen mit von der Partie. Er saß standesgemäß auf ihrem Schoß und beobachtete wachsam die Bundesstraße. Ohl lenkte, Düster saß hinten und ging zum x-ten Male seine abenteuerlichen Pläne durch.

Gellerkind bewohnte ein winziges Kellerapartment, das gleichsam im Schatten der mächtigen Kilianskirche mitten in der Korbacher Altstadt lag. Beamte der dortigen Polizei beobachteten das mehrgeschossige Mietshaus bereits. Man wollte zum Beispiel keine schüffelnden Kumpels vom Club Ritter Konrad dort haben. Um Schlag 12 wäre diese Gefahr allerdings sowieso gebannt, weil Lilli Haftbefehle gegen mehrere Clubmitglieder erwirkt hatte, darunter Max Deyß.

Mit Erik Zülpmann hatte sich Gellerkind telefonisch für 14 Uhr verabredet. Er würde Ohl und Düster, so stand zu hoffen, in dem Kellerapartment in die Falle gehen. Mit diesem Plan hatte sich die weinrote Rockerlady nach einigem Hin und Her gegen die Zusage, ihr beim »Ausstieg« behilflich zu sein, einverstanden erklärt. Lilli hatte nun doch mit Kriminaloberrat Triesch aus Fritzlar verhandelt. Der wiederum erwirkte die Genehmigung, Gellerkind nach dem Strafverfahren gegen den Club eine neue Identität und auch etwas Startgeld zu verschaffen. Es drängte sie nach Bayern, wo sie vom Urlaub her eine Bauernfamilie kannte. Man mußte sie, als »Verräterin« und Kronzeugin, selbstverständlich vor Vergeltung schützen. Schon bei der Verabredung mit Zülpmann zeigte sie die erstaunliche Kaltblütigkeit, die sie dann auch bei der Aktion selber erwies. Sie erinnerte Düster ein bißchen an den Germanisten Bernhard Fuhr, obwohl sie gar keinen Doktor-Titel besaß. Sie war Spielerin. Der Einsatz beim Spielen war immer sie selbst; schließlich ging es auch immer um ihren Eigennutz. In einer Landkommune wie der von Ermetheis wäre sie ungefähr so fehl am Platze gewesen wie ein schön gekringeltes Häufchen von Mach Männchen auf einem Snookertisch.

Das Mietshaus wurde nur durch die schmale Kilianstraße von der eindrucksvollen Stadtkirche getrennt, die als Juwel gotischer Baukunst galt. Hier wollte Lilli, als Tourist getarnt, den Ausgang der Aktion abwarten. Sie hoffte, ihr Hündchen werde nicht gerade von einem Küster der Kirchenschändung bezichtigt. Ab 14 Uhr hielt sie sich vorsichtshalber unweit einer schmalen Seitentür, durch die sie notfalls auf die Kilianstraße spähen konnte, die eigentlich nur eine kaum belebte Gasse war. Neben ihrem Schoßhündchen hatte sie selbstverständlich ihr Umhängetäschchen aus echtem Känguruh-Leder dabei. Darin ruhte, für alle Fälle, ihre Pistole.

Düster und Ohl näherten sich der Kiliangasse möglichst unverfänglich gegen 13 Uhr 30. Auf der Rückseite des Mietshauses lag der Garten eines Kinderhortes, der Samstags verwaist war. Er war nur durch einen schmalen Weg und einen Maschendrahtzaun vom Mietshaus getrennt. Dort gab es auch eine Hintertür, die zunächst ins Kellergeschoß führte. Sie wurde so gut wie nie benutzt. Düster und Ohl trafen dort ein, um sich zwischen den beiden niedrigen Fenstern von Gellerkinds Souterrain-Wohnstube unter den Balkon einer Erdgeschoß-Wohnung zu kauern. Sie steckten in blauen Overalls und hatten ein paar Werkzeuge dabei, durch die sie notfalls Kanalarbeiten vortäuschen konnten.

Ein vergleichsweise mildes Oktoberwetter spielte mit. Gellerkind hatte ihre zwei Fenster verständlicherweise gekippt. Es ging nämlich darum, ihr Gespräch mit dem Besucher Erik Zülpmann zu belauschen. Falls er denn käme. Somit ging es zunächst darum, Beweismaterial vor Ohrenzeugen zu ergattern, ehe man Zülpmann vielleicht festnehmen konnte.

Der Bauunternehmer war pünktlich wie die Maurer. Er klingelte um 13 Uhr 58 an Gellerkinds Tür. Er war ein stattlicher, keineswegs dicker Mann um 40 mit Elvis-Presley-Haartolle, selbstverständlich tadellos rasiert. Gellerkind hatte vermutet, er käme unbewaffnet; für so etwas hatte er schließlich seine Freunde, die »Ritter« mit den Vorderladern. Zülpmanns Parfüms konnten Ohl und Düster geradezu durch die Fensterspalte riechen. Es fehlte nicht viel, und er hätte Gellerkind gleich aufs Bett gedrängt, aber sie wehrte seine Brunstbeweise geschickt mit dem Verlangen ab, erst müsse er ihr einmal erklären, warum Deyß und Spießgesellen die beiden Wartberg-Weiber nicht verschont hätten. Das hätte ihnen sicherlich mehr Sympathie im Land eingebracht.

Sie hörten Zülpmann buchstäblich die Hände wringen. »Es ging nicht anders, mein Schatz; leider, leider, leider. Du stellst dir ja gar nicht vor, wie generalstabsmäßig eine solche Aktion geplant und vorbereitet werden muß. Das kann man nicht alles urplötzlich über den Haufen werfen, weil da so zwei lesbische Zicken aufgetaucht sind. Ich hoffe, du verstehst das. Schließlich bist du doch mit viel Grips und nicht nur mit so schönen strammen Titten ausgerüstet!«

Offenbar wollte er schon wieder an sie, doch Ohl und Düster hatten genug gehört. Sie klopften, noch ungesehen, an eine Fensterscheibe. Auf dieses vereinbarte Zeichen hin machte sich Gellerkind los, sprang zu den Fenstern und schloß sie, um sie beide auf der Stelle wieder aufzureißen. Darauf sprangen die beiden Männer im blauen Overall mit gezogenen Pistolen ins Zimmer und baten den Bauunternehmer, nun auch seinerseits »keine Zicken« zu machen.

Wie es sich für scharfe Stelldicheins gehört, hatte Gellerkind ihre Wohnungstür nach Zülpmanns Eintritt von innen versperrt und sogar den Schlüssel unauffällig in ihre lange Lederhose gesteckt. Aber der Bauunternehmer kannte diese Kellerwohnung und besaß jene enorme Geistesgegenwart, mit der man auch Chancen zum Geldverdienen nutzt. Er griff sich Gellerkind sofort, um sie als Deckung hinter sich her zu zerren. Er stürzte aus dem Wohnzimmer ins Bad, das schließlich ebenfalls ein Fenster besaß. Während er seiner enttäuschenden Liebsten eine scheuerte, daß sie in die Badewann flog, entwich er durch dieses Fenster und rannte auf die Hausecke zu, ehe die Monteure ihn durch die beiden Zimmerfenster vielleicht aufs Korn nehmen konnten. Er hatte unstreitig die Überraschung auf seiner Seite. Schon rannte er auf die Gasse und mit erneuter unfehlbarer Sicherheit auf die Seitentür der Kilianskirche zu. Zwar waren in Sichtweite zwei Zivile der Korbacher Kripo auf der Gasse postiert, doch auch sie ließen sich übertölpeln und fragten sich noch, ob jetzt ein Waffengebrauch angemessen sei, als der Flüchtende bereits in der Kirche verschwunden war.

Dort hatten sich freilich schon die dicke Kriminalrätin und ihr Wachhund Mach Männchen verborgen. »Bleiben Sie stehen, Zülpmann, ich bin bewaffnet!« rief Lilli, während der Bauunternehmer durch die Bankreihen auf das Südportal zurannte, das übrigens, von außen, ähnlich üppig gestaltet war wie die Kriminalrätin selber. Wie sich versteht, dachte Zülpmann gar nicht daran. Aber Mach Männchen war auf Draht. Er stürzte kläffend hinter dem Flüchtigen her und biß ihn herzhaft in die Wade. Prompt stolperte Zülpmann und glitt an einer dicken, blaßrot gestrichenen Säule hinab, an der er Halt gesucht hatte. Bevor er sich aber hinter dieser Säule verbergen konnte, schoß ihn Lilli aus rund fünf Meter Entfernung in die andere Wade.

Lillis verblüffende Kaltschnäuzigkeit ging daraus hervor, daß sie dabei nicht etwa ihr treues Hündchen erlegte. Mach Männchen lief sofort erschrocken zu ihr zurück und ließ sich erst einmal liebkosend beruhigen. Dann trafen Ohl und Düster in der Seitentür ein. »Er ist an den Beinen verletzt, Jungs«, keuchte sie und ließ sich auf die nächstgelegene Kirchenbank sinken. »Legt ihm bitte Handfesseln an und holt unseren Verbandskasten aus dem Wagen. Es wäre zu übel, wenn er vor Gottes Augen verbluten würde.«

Ohl und Düster grinsten sich an und gehorchten.
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