Samstag, 7. Oktober 2023
Düster 3 Frisch gestrichen

Auf dem Polizeipräsidium war eine Vergewaltigung angezeigt worden. Der Staatsanwalt schickte das Protokoll mit der Bitte um Einschätzung an die Kriminalrätin. Lilli gab es aber gleich an Düster weiter, der sich auf solche Sachen, nach ihrer Ansicht, besser als sie selber verstand. Sie hatte ohnehin viel zu tun. Nun litt auch Düster nicht gerade an Langweile, denn Ohl befand sich den Vormittag über in Kassel bei einer Unterweisung in der Sparte Spurensicherung. Düster sagte sich allerdings, eine Vergewaltigung sei wohl dringender als die wertvollen Gemälde, die EinbrecherInnen bei Nacht und Nebel in einer Villa der Schloßgasse abgehängt hatten. Traf nämlich der Tatbestand »Vergewaltigung« zu, sollte man den Täter vielleicht daran hindern, sich das nächste Opfer auszugucken, während Düster im Grunde nichts dagegen hätte, wenn die Räuber auch noch die anderen Villen in der Schloßgasse heimsuchten. Kurz, er las das Protokoll.

Danach war eine 33jährige türkische Reinemachefrau, die regelmäßig im Gymnasium putzte, am zurückliegenden Dienstagabend im Kellergeschoß des alten Backsteinge-bäudes überfallen worden. Frau Karaböcek sprach nur mangelhaft deutsch, doch ihr Ehemann, Betriebselektriker in einer Zuckerfabrik in Wabern, glaubte ihr und begleitete sie aufs Präsidium. Ein ihr unbekannter Mann mit schwarzer Augenmaske (»wie beim Fasching«) habe sich im Flur angeschlichen, seiner Frau den Mund zugehalten und sie in den Heizungskeller gedrängt. Der besitze eine dicke Brandschutztür und sei folglich stark schallge-dämpft. Überdies mache der alte Heizölbrenner fast so viel Lärm wie ein Schlepper auf dem Acker. So habe sich der Täter an seiner Frau vergangen. Als sie, schockiert und benommen, mitbekam, der flüchtende Täter hatte in seiner Aufregung Mühe mit dem innen steckenden Schlüssel der Heizkellertür, habe sie eine Art schweren Schürhaken ergriffen und den Mann bedroht. Da sprang die Tür jedoch endlich auf, und er rannte zur Treppe. Sie schrie um Hilfe, verfolgte ihn und traf ihn am Fuß der Treppe mit dem Eisen immerhin so kräftig an einer Wade, daß er vorübergehend ans Geländer taumelte. Aber er fing sich und entkam. Wenig später eilten von oben zwei Kolleginnen der türkischen Putzfrau herbei, freilich zu spät. Sie hatten den Täter nicht gesehen.

Düster brauchte nicht lange nachzudenken. Schon der Ehemann, der ihr Glauben geschenkt und sie begleitet hatte, war die halbe Garantie dafür, daß die Geschichte der Putzfrau stimmte. Warum sollte sie sich wichtig machen? Was hätte sie von einer Lügengeschichte? Vor den Kolleginnen, die herbeieilten, dürfte sie sich eher geschämt haben. Und diese Kolleginnen wiederum waren zwar keine Augenzeuginnen, aber immerhin vorhanden, was ja hieß, die Polizei konnte diese Frauen befragen, falls sie es für nötig hielt.

Düster erhob sich und steckte seinen Kopf bei Lilli in die Tür. »Man muß der Sache nachgehen, Lilli. Kannst du dem Staatsanwalt mitteilen, wir kümmern uns um den Fall? Na prima.«

Die Rätin hatte nur genickt. Dann kam freilich Mach Männchen angeschossen, um diese Chance, von Düster gekrault zu werden, nicht ungenutzt zu lassen. Düster tat dem Hündchen den Gefallen, ehe er Lillis Tür wieder ins Schloß zog. Es war jetzt kurz nach 10. Er rief von seinem Schreibtisch aus auf gut Glück bei der Nummer des türkischen Ehepaars an. Der Mann nahm ab. Sie waren beide zu Hause, weil er, der Betriebselektriker, für die Nachmittagsschicht eingeteilt war. Seine Frau koche gerade, meinte er. Man hörte es und roch es auch beinahe. Sie hatten nichts dagegen, wenn der Herr Kommissar gleich einmal vorbeikäme.





2



Düster fuhr zwei Stationen mit der Straßenbahn gen Osten und ging dann noch rund 150 Meter bis zum Haus Kasseler Straße 112. Er hatte den Mantelkragen hochgestellt, da es, für Ende März, recht kühl und windig war. Aber unmittelbar an einer ziemlich »belebten« Durchgangstraße zu wohnen, war vermutlich auch kein Vergnügen. Er stieg ins Dachgeschoß.

Der schnauzbärtige, fast hagere Ehemann empfing ihn und stellte ihn seiner kleinen, schwarzhaarigen Frau vor. Sie war recht hübsch. Kinder gab es nicht. Im Wohnzimmer hing Kohlgeruch.

Düster verzichtete darauf, all das noch einmal durchzukauen, was bereits im Protokoll stand. Er ließ sich nur die dürftige Täterbeschreibung bestätigen: mittelgroß, nicht dick, wenn auch, von den entblößten Oberschenkeln her, »etwas wie Pudding«, hatte das Opfer schon dem Anzeigenaufnehmer berichtet. Dazu nickte Frau Karaböcek jetzt. Ihre Gefühle ließ sie nicht erkennen. Selbst ihr Mann zeigte kein verbittertes oder gar haßerfülltes Gesicht. Der Täter hatte irgendeinen dunklen, »guten« Anzug getragen. Eine Kopfbedeckung hatte er anscheinend für überflüssig gehalten. Leider habe er braunes Haar gehabt, wie so viele. Wahrscheinlich sei er um 40 Jahre alt.

Düster nickte. Man konnte natürlich nicht wissen, ob sich der Täter gründlich vorbereitet oder aber, von einer Gelegenheit her, spontan gehandelt hatte. Die Gesichts-maske sprach gegen beides nicht. Schließlich konnte er sie »für alle Fälle« stets in der Anzugjacke stecken haben.

Dann ergriff der Ehemann von sich aus das Wort. Er habe zunächst vermutet, der Täter sei einer der Anstreicher gewesen. Die seien jedoch, nach seinen Erkundigungen, schon mittags fertig gewesen und abgezogen. Vielleicht sei es doch eher einer von den Lehrern gewesen.

»Sie haben sich eigens erkundigt? Bei wem, wenn ich fragen darf?«

»Beim Hausmeister der Schule.«

»Der war es also nicht?«

»Auf keinen Fall! Den kennt ja meine Frau.«

»Und wie kommen Sie auf die Anstreicher?«

»Ach so … Also, die hatten gerade im ganzen Treppenhaus das Geländer neu lackiert.«

Frau Karaböcek bestätigte es. Überall hätten die Schilder gehangen: Achtung frisch gestrichen.

Diesen Spruch radbrechte sie so komisch, das Düster Mühe hatte, sich ein Schmunzeln zu verkneifen. Stattdessen nickte er und murmelte: »Sehr interessant …«

Er wollte jetzt nicht mehr viel wissen. Außerdem drängten die Kohlschwaden. Nach insgesamt 17 Minuten dankte er dem Ehepaar herzlich, versicherte ihm, von den Ermittlungen Nachricht zu geben, und verschwand.





3



Düster ging zu Fuß zum Gymnasium. Das kostete ihn keine 10 Minuten. Das ehrwürdige alte Gebäude aus rotem Backstein lag unweit des Polizeipräsidiums am Fuß des Schloßbergs. Es zeigte noch echte wilhelminische Züge, darunter den Adler ganz oben und zwei fette Säulen am Ende des Treppenaufgangs. Der Hausmeister residierte gleich in einem reichlich verglasten Zimmer an der Flurkreuzung; es gab nämlich auch noch einen hinteren Eingang. Nur war der Mann im Augenblick nicht da. Eine vorbeieilende Lehrerin sagte Düster, sie habe Herrn Follmann an der Turnhalle gesehen. Aber von der wollte Düster um Gottes willen nichts wissen – von der Turnhalle, meinen wir. Deshalb schüttelte er seinen Kopf. Da erklärte sich die Lehrerin bereit, Follmann suchen und herbeischaffen zu lassen. Düster dankte ihr.

Die Wanduhr in Follmanns Glasbude ging gegen 11. Düster setzte sich auf eine Bank, die neben der Tür stand. Er dachte mit Schaudern an seine eigenen Unterrichts- und Turnstunden, die er um 1935 in einer vergleichbaren Kasseler Zuchtanstalt genossen hatte. Sein Direktor war ein geronnener Alptraum aus Eiche gewesen. Schon möglich, der hiesige Schulleiter war etwas angenehmer, aber Düster sah zur Stunde keine Gründe, ihn dem Hausmeister vorzuziehen. Ohnehin stand zu befürchten, dem Schulleiter liege mehr daran, den Ruf seiner Bildungseinrichtung als das Opfer der nächsten Vergewaltigung zu schützen. Hausmeister wußten alles. Das war schon um 1935 so gewesen. Dieser hier mußte ja zumindest über die Sache mit dem neuen Geländer-Anstrich Bescheid wissen. Der war tiefblau. Düster sah ihn schräg gegenüber aufschimmern, wo die breiten Treppen in den Keller und in den ersten Stock führten. Die Warnschilder hatte Follmann anscheinend schon wieder entfernt.

Der hochgewachsene, leicht gebeugt gehende Glatzkopf erschien bereits nach wenigen Minuten. Düster schätzte ihn auf Mitte 50. Er zeigte und erklärte dem Kriminalkommissar alles bereitwillig und vergleichsweise ungeschwätzig: den Heizkeller, ein auf Vorrat behaltenes Blecheimerchen mit der tiefblauen Farbe, den Dienstplan der Putzfrauen und so weiter. Dann machten sie es sich in der Glasbude, wo der Putzplan ohnehin hing, bequem. Auf Düsters Frage, wie denn eine Lehrkraft, die das wünsche, klammheimlich in den Heizraum gelange, wenn dieser doch stets abgeschlossen sei, nickte Follmann auf ein ausgedehntes Schlüsselbrett. Die Lehrkräfte hätten alle einen Generalschlüssel. Der passe zwar nicht überall, so beim Direktor und bei einigen Wirtschaftsräumen, doch für das Hausmeisterzimmer schon, und in dem hinge eben auch ein Heizkellerschlüssel. Er selber habe diesen natürlich an seinem Bund. Der am Schlüsselbrett war noch oder wieder da. Das könne Follmann leider nicht genauer sagen.

Düster nickte. Der folgende Plan hatte sich bereits beim Warten auf Follmann in dem Kommissar geformt. Er deutete dem Hausmeister zunächst an, leider sei nicht auszuschließen, der gesuchte Täter stamme aus dem Kollegium. Dann hob er den Finger und fuhr fort:

»Vielleicht könnten Sie mir und der Öffentlichkeit einen nicht unbeträchtlichen Gefallen tun. Morgen ist Freitag. Besorgen sie sich im Sekretariat eine Liste aller männlichen Lehrkräfte, die morgen normalerweise zum Dienst erscheinen müßten. Tragen sie jeweils den Dienstbeginn ein. Führen Sie aber auch die Lehrer an, die vielleicht beurlaubt oder krankgeschrieben sind. Und nun passen Sie auf: Morgen ab Sieben sitze ich hier unauffällig im Hintergrund, um Ihnen Gesellschaft zu leisten. Es könnte also sein, Sie müssen ein paar Arbeiten verschieben, weil Sie beispielsweise bis 10 oder 11 hier gebunden sind. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es nämlich, den morgigen Einzug der Lehrer zu beobachten und zu registrieren. Die Lehrer können das Schulgebäude ja wohl nur durch den Haupteingang oder, vom Parkplatz her, durch den hinteren Eingang betreten, ist das richtig? Na also. Keiner darf uns durch die Lappen gehen, aber es darf auch keiner etwas merken. Grüßen Sie freundlich wie immer. Was halten Sie von diesem Plan?«

Follmann kratzte sich auf der Glatze und hob leicht die Hände. »Warum nicht, Herr Kommissar. Für die Kripo kann man schon mal was riskieren …« Dann erstrahlte er beinahe und ergänzte: »Ich habe einen Sohn, Herr Kommissar, der hat Ihnen auch schon mal geholfen. Wußten Sie das?«

»Nein«, erwiderte Düster verwundert.

»Er ist in Kassel bei den Grenzschützern und war neulich in Karlskirchen bei der Suche nach dem Schützen vom Amtsgericht eingesetzt.«

Ja, da staunte der Kommissar in der Tat. Er stand auf, klopfte Follmann die Schulter, griff nach dem Farbeimer-chen, das er Düster leihweise überlassen hatte, und sagte:

»Also dann bis morgen früh, Herr Follmann. Ich verlasse mich auf Sie.«





4



Als Ohl am Nachmittag wieder im Büro auftauchte, setzte ihn Düster über den neuen Fall ins Bild und unterbreitete ihm auch seine Theorie. Was er davon halte? Um es gleich zu sagen: Ohl fand sie keineswegs abwegig – nur, wo sie denn bliebe, die schöne Theorie, wenn der Täter ein eisenharter Bursche sei und sich von seiner Kampfverlet-zung gar nichts anmerken lasse, während er an der mit Düster und Follmann besetzten Glasbude vorbeizöge? Oder wenn er im Hauptfach Logik und Scharfsinn unterrichte und seinen dunklen Anzug deshalb im Unterholz am Mader Stein sofort nach seiner Heimkehr verbrannt habe?

Düsters Theorie ging folgendermaßen. Das Opfer schlug dem Täter einen Schürhaken so kräftig ans Bein, daß er beim Fliehen ins Taumeln geriet und das frisch gestrichene Treppengländer zumindest streifte. Von daher sollte man hoffen, er hinke wegen dieses Treffers auch am Freitagmorgen noch. Ferner: Der frische Anstrich dürfte auf seinem dunklen Anzug gewisse Spuren hinterlassen haben. Daher das Blecheimerchen, das Düster aus der Schule mitgebracht hatte. Es stand jetzt auf Ohls Schreibtisch. Somit habe Düster am kommenden Vormittag nur nach solchen braunhaarigen, mittelgroßen, nicht zu dicken Lehrern um 40 Ausschau zu halten, die einen zumindest etwas schleppenden Gang aufwiesen. Soviele Braunhaarige mittleren Alters könne es ja im Lehrkörper des Gymnasiums nicht geben. Und ob einer vielleicht von Natur aus hinke, das müsse Follmann ja wohl wissen. Ergo sei die Einkreisung der Kandidaten für die Täterschaft im Grunde ein Kinderspiel. Sehr wahrscheinlich bleibe am Freitag gegen Mittag nur noch ein Kandidat übrig, den er und Follmann auf der Liste nicht abhaken beziehungsweise streichen könnten. Das sei dann ihr Mann.

Offen blieb an diesem Nachmittag, wie eigentlich mit dem Mann zu verfahren sei, falls sie ihn von Hausmeister Follmann, sozusagen, serviert bekämen. Möglicherweise würde diese Frage auf dem Kommissar allein lasten, denn es war wirklich heikles Terrain. Was hatte die Gesellschaft zum Beispiel davon, einen überführten »Sexualstraftäter« in eine Zelle zu sperren, wenn solche Übeltäter draußen, im gleichen biederen Milieu, wie die Pilze nachsprössen? Nur Kosten, dafür wohl kaum Gesundung. Für Düster saß das Problem so tief, daß man mit keiner noch so langen Spitzhacke an es rankam.

Nach Dienstschluß fuhren sie noch gemeinsam zum wöchentlichen Abschlußtraining bei der Borussia, das diesmal vorgezogen worden war. Ihr Trainer feierte nämlich am Freitag seine »Silberne Hochzeit«.





5



Der Mann hieß Öhmel. Zwar hatte Follmann zwei Lehrkräfte als »fehlend« verbucht, aber das waren ein blonder Lehrer und eine Lehrerin. Öhmel wohnte im Nachbardorf Maden, das im Süden lag, zwischen Schloßberg und Ems. Das Flüßchen Ems mündete etwas weiter östlich in die Eder. Das Mündungsgebiet wies ein Vogelschutzgebiet auf, von dem Ohl zuweilen schwärmte.

Am Freitag fuhr Düster gleich nach der Mittagspause nach Maden. Öhmel wohnte im Obergeschoß eines ehemaligen Bauernhauses. Verheiratet war er nicht. Es hieß, er lebe allein. Als Düster geklingelt hatte, steckte der Mathematik- und Physiklehrer sein etwas teigiges Gesicht aus einem Fenster und fragte mit heller Stimme nach Düsters Anliegen. »Nur eine kleine Umfrage der Sportabteilung des Landratsamtes«, erwiderte Düster. »Wenn ich für zwei Minütchen heraufkommen könnte, Herr Öhmel ..?« Der zuckte die Achseln und erklärte: »Die Haustür ist offen.« Vielleicht konnte er sich gar nicht vorstellen, ein Strafverfolger stecke in einem ziemlich zerbeulten, schwarzroten Trainingsanzug. Das waren die Farben von Borussia Karlskirchen.

Öhmel war ein blasser, im Gesicht recht profillos wirkender Mensch, und auch seine wenig geschmeidige Bewegungsweise kam dem »Pudding« nahe, von dem die Putzfrau gesprochen hatte. Er trug inzwischen eine Cordhose und ein kariertes Flanellhemd. Vermutlich hatte auch er schon zu Mittag gegessen, wie Düster aus benutztem Geschirr auf der Spüle schloß. Öhmel stand jetzt fast gelangweilt an seinem Küchentisch, bot dem Besucher einen Stuhl an und sagte: »Schießen Sie los.«

Düster hatte schon wieder ein Schmunzeln zu unterdrücken. Gleichzeitig entschied er sich blitzschnell zur Offensive. »Ich wollte mich einmal bei Ihnen erkundigen, Herr Öhmel, was Sie vor einigen Tagen dazu trieb, im Keller ihres Schulgebäudes eine Reinemachefrau anzufallen und zu mißbrauchen ..?«

Jetzt wurde der Lehrer, der ebenfalls Platz genommen hatte, noch blasser, als er sowieso schon war, keine Frage. Er fing sich jedoch rasch und zischte: »Ach so … Ach so einer sind Sie. Friedlichen Mitbürgern die Mittagsruhe verderben! Können Sie sich wenigstens ordentlich ausweisen?«

Düster hielt ihm seinen Polizeiausweis unter die Nase. Er wartete gar nicht ab, bis Öhmel »die Pappe« gemustert und vielleicht verhöhnt hätte. Er sagte: »Wir können es kurz machen, Herr Öhmel, falls Sie vernünftig sind. Rollen Sie bitte einmal ihr rechtes Hosenbein hoch.«

Öhmel riß die Brauen hoch. »Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? In meiner eigenen Wohnung wollen Sie mich zwingen, die Hosen hoch zu rollen? Wissen Sie überhaupt, wer ich bin? Der Direktor unseres Gymnasiums wird Ihrem Polizeichef gehörig Dampf machen, wenn Sie nicht sofort verschwinden. Raus, aber dalli!«

Düster lächelte und streifte die Ärmel seiner Trainings-jacke ein wenig hoch. Er versicherte dem Lehrer: »Man hat mich auf der Kasseler Polizeischule in mehreren Kampfsportarten ausgebildet, Herr Öhmel. Ich mache auch viel Gymnastik. Also bitte schön: Hosenbein hoch! Andernfalls werde ich gezwungen sein, sie zu Kleinholz zu machen und in Ihre Kohlenkiste zu werfen.«

Öhmel dachte mit verkniffenen Augen eine Weile nach. Dann beschloß er wohl, erst einmal Zeit zu gewinnen. Er stellte das recht Bein aus und zog die Hose übers Knie. Die Wunde war wenig fachmännisch verbunden. Vielleicht hatte er einen Arztbesuch gescheut.

»Danke, Herr Öhmel. Wie haben Sie sich diese Verletzung zugezogen?«

Er rollte die Hose wieder hinunter und erklärte mit frechem Achselzucken, dummerweise sei ihm beim Brennholzmachen ein Scheit gegen das Bein geprallt. Darauf hatte ihn womöglich Düster selber mit seiner Drohung gebracht.

»Verstehe«, nickte Düster und winkte ab. »Jetzt würde ich mir aber noch ganz gerne alle dunklen Anzüge anschauen, die Sie in diesem Haus aufbewahren, Herr Öhmel. Fangen wir mit Ihrem Kleiderschrank an? Gehen Sie bitte vor.«

Während Öhmel erneut scharf nachdachte, betete Düster darum, der Physiklehrer habe in seinem Kleiderschrank nicht etwa eine selbstgebastelte Bombe oder zumindest eine Pistole verstaut.

Er schien sich jedoch den Gewaltverhältnissen zu beugen. Er stand auf und schob sich in sein Schlafzimmer, ohne den verdammt großen, durchtrainierten Kommissar, der ihm folgte, aus den Augen zu lassen. Düster ging plötzlich auf: Das ist ein Feigling. Der markiert bloß den überlegenen Mann. Er setzt darauf, aufgrund seiner Bildung und seiner Geistesschärfe jeder Bedrängnis oder Falle letztlich zu entkommen.

Düster sah schräg in den Schrank, fingerte die Reihe der Anzüge ab – und stellte erleichtert fest, er hatte Glück. Unter den drei dunklen Anzügen gab es einen Anzug, der an einer Seite kleinere, dünne, möglicherweise tiefblaue Farbspuren zeigte, die nicht sonderlich alt sein konnten. Vielleicht war Öhmel zu geizig oder zu unvorsichtig und hatte sich gedacht, den Anzug könne er später einmal, vielleicht im Urlaub, in eine chemische Reinigung geben. Jetzt wies Düster ihn an, den Anzug aus dem Schrank zu nehmen und in irgendeine Tragetasche zu packen. Öhmel gehorchte, wenn auch offensichtlich zähneknirschend.

Als sie wieder am Küchentisch standen, wurde Düster geradezu übermütig. Er schnüffelte in die Tasche hinein und erklärte Öhmel: »Die ärgerlichen Schrammen auf dem Anzug riechen nach Farbe, und zwar nach der vom Treppengeländer Ihrer Schule, Herr Öhmel. Gott sei Dank haben wir von der Kripo ein eigenes Labor, in dem sich diese Angelegenheit genauer untersuchen läßt.«

Düster legte seine Karte auf den Tisch, nahm die Tasche und sagte schon im Gehen: »Selbstverständlich stehen wir Ihnen zur Verfügung, falls Sie noch Aussagen oder Fragen für uns haben. Bedenken Sie: Kooperationsbereitschaft pflegt Richter in der Regel milder zu stimmen. Und vor einen Richter kommen Sie ja, davon bin ich überzeugt.«

Düster verließ das Haus grußlos und fuhr so zügig, wie es die Straßenverkehrsordnung zuließ, in die Bahnhofstraße. Dort gab er Ohl einen kurzen Bericht. Er überreichte ihm die Tasche und bat ihn, sich unverzüglich an seinen Labortisch zu begeben. Das tat Ohl. Dann erstattete Düster auch Lilli Bericht und erörterte den Fall noch ein wenig mit ihr. Nach einer halben Stunde gesellte sich Ohl zu ihnen. Er hob den Daumen und verkündete: »Die Übereinstimmung zwischen Anzug und Farbeimer ist ziemlich wahrscheinlich. Natürlich müssen wir das am Montag noch von Fritzlar bestätigen lassen.«

Düster nickte befriedigt. Er sah zur Wanduhr: 16 Uhr 3. Für 18 Uhr hatte sich Ilona am Obermarkt angesagt. Er hatte ihr versprochen, zu kochen, genauer ein überbak-kenes Nudelgericht zu servieren. Er wandte sich an die Chefin:

»Jetzt besteht natürlich eine gewisse Fluchtgefahr, Lilli. Könntest du Ollenhauer freundlicherweise bitten, für eine Beschattung übers Wochenende zu sorgen? Einen Haftbefehl bekommen wir ja nicht so schnell.«

Lilli konnte.

Ohl schloß den Anzug in den Safe und bot Düster an, ihn zu Hause abzusetzen. Ohl wohnte ja in Deute, sodaß er so gut wie keinen Umweg hatte. Düster nahm dankbar an.





6



Ilona stand jetzt noch kurzhaariger vor Düsters Tür. Ihr braunes Haar war von Natur aus etwas kraus, und so ähnelte sie nun vom Kopf her tatsächlich einem »Bubi«, einem frechen Schuljungen also. Aber das Restliche! Düster hatte Mühe, sein vom Backofen her duftendes Nudelgericht nicht anbrennen zu lassen.

Beim Essen erzählte er von dem Mißbrauchsfall. Selbstverständlich mied er Namen und verschiedene Einzelheiten. Kaum jedoch hatten sie sich einen selbstgebrauten Espresso genehmigt, der Ilona fast die Schuhe auszog, schritten sie selber zur Gewalt: Sie fielen übereinander her und verwandelten Düsters 1 Meter 40 breites Bett in ein Trampolin.

Man darf es nicht verschweigen: Ilona war von Natur aus nicht nur etwas kraus, sondern auch etwas wild. Sie liebte das Zubeißen und Zerdrücken und sparte dabei nicht mit anfeuernden, für manche Ohren geradezu säuischen Rufen, die ihre Zierenberger Wohngenossin anfänglich fast verleitet hätten, mitten in der Nacht die Polizei anzurufen, weil in ihrem Nachbarzimmer eine wüste Schlacht tobe. Düster freilich, selber Polizist, ging auf diese Neigung Ilonas nur zu gerne ein. Wie oft hatte er seine jeweils jüngste Geliebte schon insgeheim verwünscht, weil auch sie sich wieder nur als zahmes Pflänzchen erwies! Da konnte er seine Freizeit genauso gut mit Topflappenhäkeln oder Schlüsselblumenpflücken vergeuden, das war nicht weniger langweilig. Er meinte auch einen unheilvollen Einfluß der neuen, aus Nordamerika übergeschwappten Hippiebewegung auf das bundesdeutsche Geschlechts-leben zu beobachten. Die Hippies, ob Mann oder Frau, hatten Sanftmütigkeit an den Tag zu legen, nicht Wildheit. Die Hirschkuh vom Zierenberger Stadtsiegel durfte auf keinen Fall bis aufs Blut gereizt werden, sonst mißriet ihr die Nachkommenschaft und Förster Pahl guckte in die Röhre.

Als sie später friedfertig an der mit Kissen gepolsterten Zimmerwand lehnten und durch das fast bis zum Fuß-boden reichende Dachgaubenfester auf die glitzernde Stadt schauten, erörterten sie dieses Thema sogar. Schließlich hing es ersichtlich mit dem Fall zusammen, von dem Düster beim Essen erzählt hatte. »Auch wir sind GewalttäterInnen«, sagte Ilona anklagend. »Ich bin eher eine Verschlingerin, und du bist ein Zertrümmerer. Und da reden diese Hippies von Frieden! Das steckt doch bis in die Wurzeln in uns, wie willst du das ausreißen? Jeder Mensch freut sich, wenn er über sich hinauswachsen kann – und in der Regel geht das auf Kosten eines oder vieler Mitmen-schen. Unser Planet lebt vom Kampf um die Macht.«

Düster hob die Hände. »Schon möglich. Aber es ist doch offensichtlich auch möglich, die Grenze zwischen Spiel und Ernst, oder sagen wir: zwischen Wohlwollen und Krieg einzuhalten. Oder findest du nicht, mein dunkelbraunes Goldstück ..?«

Er zwinkerte zur Seite und küßte sie erst einmal behutsam aufs linke Ohr. Ilona kicherte nur. Dann blickten sie wieder einträchtig über die erleuchteten Karlskirchener Straßen und Plätze. Durch einige Lücken der Bebauung sah man sogar ein schmuckes Leuchtband laufen, das war die einzige Karlskirchener Straßenbahnlinie.

Ilona hatte nachgedacht. »Eurem tatverdächtigen Lehrer war es nicht möglich. Ist das nun seine Schuld?«

Düster hob die Brauen und verstülpte seine zerbissenen Lippen. »Das ist eine heikle Frage. Ein Staatsanwalt würde sie glatt verbieten. Aber ich habe mich selber schon mehr als einmal gefragt, womit ich eigentlich meinen vergleichsweise starken Geschlechtstrieb verdient hätte. Schließlich erweist er sich oft als wahre Geißel, auch für einen selber. Bat ich etwa einst darum? Pflegt sich einer vor der Geburt bei uns zu erkundigen: Möchtest du lieber einen starken oder einen schwachen oder gar keinen Geschlechtstrieb? Dasselbe gilt natürlich für den vieldiskutierten Willen. Ich bestimme weder seinen Stärkegrad noch den sogenannten Spielraum, den er uns, vielleicht, gewährt. Also ist Strafe grundsätzlich abzulehnen, sage ich zum Entsetzen des Staatsanwalts. Wir ‚können ja nichts dazu‘ … Jedenfalls ist ‚Schuld‘ ein äußerst fragwürdiger Begriff. Er wird mindestens so häufig mißbraucht wie Frauen.«

Düster unterbrach diesen Gedankengang, um seinen Blick aufgrund veränderter Atemgeräusche erneut zur Seite zu wenden. Tatsächlich! Ilona war eingeschlafen.





7



Die Dienst- und Bürozeit der Karlskirchener Kripo ging offiziell von 8 Uhr bis 17 Uhr, abzüglich einer Stunde Mittagspause. Selbstverständlich wurde sie öfter über den Haufen geworfen. Fiel es dem Bäckergesellen X ein, seine Schwiegermutter erst um 16 Uhr 30 mit einer hinreichend schweren Backform zu erschlagen, war der Feierabend im Eimer. Dafür kam man dann hin und wieder zu freien Vormittagen oder ganzen Tagen.

Am Montagmorgen saßen Ohl und Düster brav an ihren Schreibtischen. Düster verfaßte einen Bericht über seinen Besuch bei dem Lehrer Öhmel. Den wollten sie dann zu dritt in Lillis Büro erörtern, um die nächsten Schritte einleiten zu können. Vermutlich lief das darauf hinaus, sich umgehend einen richterlichen Haftbefehl zu besorgen.

Um 20 nach Neun klingelte jedoch das Telefon. Düster und Ohl hatten eine separate Nummer. Ohl gab den Hörer weiter. »Ja, grüß dich, Kollege Ruhnfeld«, sagte Düster, ohne die rechte Hand von seiner Schreibmaschine zu nehmen, »wie ist die Lage?«

»Beschissen.«

Düster lehnte sich alarmiert zurück. Ruhnfeld war einer von Öhmels Beschattern, oder vereinfacht gesagt: Bewachern. Da bedurfte es keiner ausgebildeten Spürhunde von der Kripo. Ruhnfeld meldete nun, der Lehrer sei in der Frühe nicht aus dem Haus gekommen. Dessen Dienstzeiten hatte ihnen Düster ja mitgeteilt.

»Er schwänzte also, Düster, und als er sich auf unser Klingeln auch um neun Uhr noch nicht rührte, baten wir seine Vermieterin, uns in seine Wohnung einzulassen. Dort war er aber nicht. Von Kampfspuren kein Hauch. Also durchsuchten wir das ganze Gebäude, und auf dem Speicher schaukelte er dann an einem Dachsparren …«

»Hm«, machte Düster. »Selbstmord also? Er hatte sich erhängt? Und in der Wohnung auch kein Zettel?«

Ruhnfeld zögerte etwas. »Tja, wenn du es so nennen willst, Düster, dann war es vermutlich Selbstmord …«

Düster steckte die Anspielung widerspruchslos ein, dankte dem Kollegen und versicherte ihm, es käme gleich jemand von der Kripo vorbei. Damit legte er auf und blickte seinem Mitstreiter Ohl lauernd ins Gesicht.

Ohl gab sich keine Blöße. Den Tatbestand hatte er ja hinreichend mitbekommen. Er sagte nur, damit habe sich die Angelegenheit mit dem Haftbefehl wohl erübrigt.

Düster nickte, erhob sich und griff nach seinem Mantel. »Ich fahre mal eben hin, Reimut. Setze bitte Lilli ins Bild. Ich habe im Moment keine Lust, von Mach Männchen abgeschleckt zu werden.«
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