Freitag, 10. Mai 2024
Risse im Brockhaus 19

Für Carl Zuckmayer war der österreichische Schriftsteller Ödön von Horváth (1901–38), nach Brecht, »die stärkste dramatische Begabung« seiner Zeit. Die Zeit selber geizte auch nicht mit Dramatik. Die sozialkritischen »Volksstücke« des in Berlin lebenden jungen Österreichers mit dem ungarischen Namen, etwa Geschichten aus dem Wiener Wald, waren zunächst umstritten, dann kamen sie kaum noch zur Aufführung, weil sich das faschistisch verwaltete deutsche Kapital anschickte, alle Bühnen der Welt zu beherrschen. Horváth hielt sich nun vorwiegend in Österreich oder der Schweiz auf, dabei nicht selten bei den Zuckmayers in Henndorf bei Salzburg oder Chardonne am Genfer See. Horváth war ein hübscher, dunkelhaariger, etwas tapsig wirkender Mann. »Wenige Menschen waren so geliebt, von Frauen, Freunden, Kindern, kaum einer hatte so wenig persönliche Feinde«, schreibt Zuckmayer in seinen 1966 veröffentlichten Erinnerungen.*

Am 1. Juni 1938 steigt der erfolgreiche Dramatiker aus Rheinhessen mit seinem Töchterchen Winnetou – es trug wirklich diesen verfehlten Namen – auf den Chardonner Mont Pèlerin, um auf den dortigen Waldwiesen Narzissen zu pflücken, »auch für Ödöns Zimmer«. Plötzlich braust schwarzes Gewölk heran, das sie unter den nächsten Heustadel scheucht, wo sie vor Kälte und Angst zittern. »Dies war der gleiche Sturm, der vom Atlantik her über ganz Frankreich hingegangen war und etwa eine Stunde oder eine halbe Stunde vorher Paris heimgesucht hatte.« Kaum ins Hotel zurückgekehrt, muß Zuckmayer durch den Telefonanruf eines gemeinsamen Freundes erfahren, Ödön von Horváth sei soeben bei dem Unwetter mitten in Paris auf der Straße verunglückt. Im Brockhaus wird dies alles in dem Wort »Unfall« zusammen gezogen.

Später, beim Begräbnis in Paris, erfuhr Zuckmayer Näheres. Dem Freund war ein herabstürzender schwerer Ulmenast zum Verhängnis geworden – erschlagen. Man weihte Zuckmayer auch in die merkwürdige Vorgeschichte dieses Unfalls ein. Gewährsmann aller Informanten dürfte Fritz H. Landshoff, damals Exil-Verleger in den Niederlanden, gewesen sein. Horváth hatte ursprünglich vorgehabt, von Amsterdam aus, wo er mit dem Querido-Verlag über einen neuen Roman verhandelt hatte, geradewegs zum Genfer See zu fahren. Doch dann habe der 36jährige, für alles »Skurrile und Absonderliche« stets besonders aufgeschlossen, einen vielberedeten Hellseher aufgesucht, berichtet Zuckmayer. Offenbar stützte sich jener bei seinen Weissagungen gern auf irgendein Geschenk, das der Klient von einem Freund oder einer Freundin erhalten und nun dem Hellseher vorzulegen hatte. Allein aufgrund dessen habe der Hellseher festgestellt, Horváth müsse sofort nach Paris fahren, weil ihn dort »das entscheidende Ereignis Ihres Lebens« erwarte. Das deckt sich weitgehend mit den Angaben in Landshoffs Erinnerungen, die 25 Jahre nach denen Zuckmayers erschienen.** Der Verleger sagt, er habe Horváth auf den Hellseher aufmerksam gemacht und ihn auch bei der Konsultation begleitet. Die folgenschwere Weissagung zitiert er mit den Worten: »Sie stehen am Vorabend einer Reise, auf der Sie das größte Erlebnis Ihres Lebens haben werden.« Offenbar nahm nun Horváth an, der gute Mann beziehe sich auf den gerade in Paris wirkenden, späteren Hollywood-Regisseur Robert Siodmak, der brieflich Interesse an einer Verfilmung von Horváths jüngster Erzählung Jugend ohne Gott bekundet hatte. Nebenbei handelt es sich dabei um ein meisterhaft geschriebenes eindringliches Prosastück, das möglicherweise sowenig einer Verfilmung bedarf wie ein Klavier einen Heustadel benötigt.

Tatsächlich fuhr Horváth anderntags nach Paris und traf für den Nachmittag des 1. Juni eine Verabredung mit Siodmak und dessen Frau Bertha in einem Kino. Doch dann sei Horváth, so wieder Zuckmayer, schon vom Regen des aufziehenden Sturmes durchnäßt, aufgeregt am Kassenhäuschen erschienen – nur um Entschuldigung zu erheischen: man möge seine Karte bitte zurückgeben, er habe etwas Dringendes vor. Damit sei er wieder im »peitschenden Regen« verschwunden. Die »halb entwurzelte« Ulme*** am Round Point, unter der Horváth Minuten später möglicherweise Schutz gesucht hatte, konnte Zuckmayer am Begräbnistag noch besichtigen. Die Begleitumstände dagegen empfand nicht nur Zuckmayer als ziemlich rätselhaft. Horváth hatte am Unglückstag mehrere Pariser Freunde aufgesucht, denen seine »unerklärliche Unruhe« aufgefallen war. Man hatte Zuckmayer auch bestätigt, Horváth habe seit jeher an einer »Phobie« vor herabfallenden Gegenständen gelitten. »In den Städten schlug er große Bögen um jeden Neubau. Er hatte öfter geäußert, er werde einmal von einem Dachziegel erschlagen werden. Was an alledem zufällig, was ursächlich ist, entzieht sich menschlicher Beurteilung.« Landshoff spricht von einer »makabren Geschichte«, die der erschlagene Autor »hätte selbst erfunden haben können«, und betont im übrigen, was ihn selber angehe, sei er aller Hellseherei stets »mit tiefem Mißtrauen« begegnet.

Klar ist nur eins: Siodmak ließ sein Vorhaben fallen. Dafür drehte er (1943) Draculas Sohn.

* Carl Zuckmayer, Als wärs ein Stück von mir, hier Sonderausgabe Ffm 2006, S. 127 ff
** Fritz H. Landshoff, Amsterdam, Keizersgracht 333, Berlin 1991,
S. 110
*** Die von mir aufgesuchten Internet-Quellen wimmeln von Baum-sorten: Kastanie, Platane und dergleichen mehr. Ich halte mich an Zuckmayer.




Der weltberühmte Entfesselungskünstler, Magier, Muskelmann und Werbetrommler in eigener Sache Erich Weisz alias Harry Houdini (1874–1926) aus den USA wird von Brockhaus geschnitten. Prahlhans war er auch. Er könne jeden von Männerfäusten geführten Schlag in den Unterleib allein durch Anspannung seiner Bauchmuskulatur unbeschadet überstehen, verkündete er einmal öffentlich. Bei einer Vorstellung, die er im Oktober 1926 in Montreal, Kanada, gab, suchten ihn ein paar Studenten in seiner Garderobe im Princess Theatre auf. Dabei versetzte ihm der Student Jocelyn Gordon Whitehead mehrere Hiebe in den Bauch, auf die der 52 Jahre alte Meister wahrscheinlich nicht gefaßt war. Zudem hatte er seit einigen Tagen ohnehin schon an Bauchschmerzen gelitten. Obwohl ein Arzt, den Houdini nun endlich wegen der zunehmenden Schmerzen bemühte, eine Blinddarmentzündung diagnostizierte, sagte er seine nächste Vorstellung im Detroiter Garrick Theater nicht ab. Es wurde die letzte Vorstellung Houdinis. Fünf Tage später, und neun Tage nach den verhängnisvollen Fausthieben, war er in einem Detroiter Krankenhaus einem Blinddarmdurchbruch erlegen. Seine Assistentin und Witwe Bess, eine deutschstämmige frühere Varietétänzerin, konnte die Verdoppelung der Lebensversicherungssumme erwirken, weil man ihren Anwälten in der Meinung beipflichtete, jene Schläge des studentischen »Testers« seien für das Ableben des Künstlers ursächlich gewesen. Es ist freilich nirgends zu lesen, Whitehead sei vor Gericht gezerrt worden. Wahrscheinlich hätte er ohnehin mit Erfolg auf Houdinis großmäulige General-Einladung verwiesen, ihn tüchtig in den Bauch zu boxen. Aber vielleicht hatte Whitehead wenigstens Gewissensbisse? Man besorge sich bitte das nicht weniger großmäulig betitelte Buch Don Bells The Man Who Killed Houdini, das 2004 in Montreal erschienen ist.*

Wie sich versteht, gab es Mordverdächtigungen genug, und in diesem Fall sind sie auch nicht ganz abwegig, weil Houdini in seinen letzten Jahren einen regelrechten »Feldzug gegen den Spiritismus« führte, wie Milbourne Christopher schreibt. Magier Houdini entlarvte dabei zahlreiche sogenannte Medien als BetrügerInnen. Allerdings dürfte ein begründeter Mordverdacht gegen die Studenten deren Wissen um Houdinis Unterleibsbe-schwerden erfordern – unwahrscheinlich. Man hat zudem spekuliert, der todkranke Magier sei in der Klinik von einem spiritistisch gestimmten Arzt vergiftet worden. Es ist immer schöner, wenn ein sogenanntes Genie nicht durch einen dummen Zufall vom Erdboden verschwindet. Sondern eben durch Hexerei.

Ende April 1908 trat Houdini am Kai in Boston auf: im Badetrikot, wenn auch durch einen heimischen Streifenpolizisten ab Gürtellinie mit Handschellen (auf dem Rücken) und verschlossenen Ketten gefesselt. In diesem Aufzug hechtete er sich dann von einer nahen Brücke in den Charles River. Alles schrie auf. Aber schon eine knappe Minute später reckte er Kopf und befreite Arme aus der Brühe und ließ sich feiern.** Sein letzter Abgang nach jenem Blinddarmdurchbruch wurde weltweit von Hunderttausenden betrauert. Als sein Bronzesarg in New York City auf den Schultern von acht Zunftgenossen von der Kapelle zum Leichenwagen getragen wird, soll einer gewitzelt haben: »Erstaunlich leicht, das Ding. Ich wette, er liegt nicht mehr drin.«

* Verlagswerbung: http://www.vehiculepress.com/q.php?EAN=9781550651874
** https://www.bostonmagazine.com/arts-entertainment/2015/04/30/throwback-thursday-houdini-jumps-harvard-bridge/




Hier ist wieder ein bis heute ungeklärter Mordfall, den Brockhaus mangels Prominenz des Opfers übergeht. Man hatte den Realschullehrer aus Sindelfingen Dieter Huber (1957–86) bei Stuttgart in seinem eigenen Auto überfallen und darin zum Bodensee entführt. Bei Engen, Kreis Konstanz, wurde er tot in der Nähe seines Wagens aufgefunden. Offensichtlich war der 29jährige brutal gequält, erstochen und wohl auch beraubt worden. Das Tatmotiv ist undurchsichtig.

Die Behörden der Strafverfolgung erlaubten sich einige »Pannen«, etwa fehlende Akten und Computerdaten betreffend, oder fragwürdige Ermittlungs-Einstellungen, so im Falle eines Diebstahls, der die Justiz selber betraf. Um 1993 verschwanden nämlich einige am Tatort gesicherte Beweismittel aus der Asservatenkammer der Konstanzer Staatsanwaltschaft, an denen »mit hoher Wahrscheinlichkeit« DNA-Spuren des Mörders oder der MörderInnen hafteten.* Wie es aussieht, hatte die »Braut« eines (bereits vorbestraften) Tatverdächtigen in jener Zeit mit einem Bediensteten der Konstanzer Justiz angebändelt. Vielleicht gilt es auch hier – wie im Mordfall Olof Palme, erschossen im selben Jahr 1986 – einen wenn auch ungleich kleineren Justizskandal zu vertuschen? Weshalb alles getan wird, den Mordfall Huber unaufgeklärt zu lassen und nicht vor Gericht zu bringen? Das sollen jedenfalls Verwandte des Opfers und der ehemalige, inzwischen pensionierte Chef-Ermittler Rolf Siebold argwöhnen.** Im übrigen ist es auch die Zeit des »Hammermörders« Norbert → Poehlke, eines schwäbischen Polizisten, bei dessen Verfolgung es gleichfalls zu etlichen »Pannen« kam.

Huber, laut Spiegel*** als Lehrer »engagiert« und »beliebt«, hatte eine Geliebte in Peru, die er demnächst heiraten wollte. Am Tag seiner Entführung befand er sich auf dem Heimweg von Stuttgarter Freunden nach Sindelfingen, 30 Kilometer. Vielleicht hatte er (vermutlich zwei) »AnhalterInnen« mitnehmen wollen, was er bekanntermaßen gelegentlich tat. Gegen den erwähnten Verdächtigen liegen angeblich zu dürre Spuren vor. Wie ich aus der Anzeige mehrerer jüngster, hinter »Bezahl-schranke« verschanzter Zeitungsartikel schließe, geht die schon angedeutete Rechnung, ein vermiedener Prozeß sei ein vermiedener Justizskandal, bis zur Stunde auf.

* Nils Köhler, »30 Jahre alter Mordfall«, Südkurier, 11. Oktober 2016: https://www.suedkurier.de/region/kreis-konstanz/konstanz/30-Jahre-alter-Mordfall-Wer-hat-Dieter-Huber-getoetet;art372448,8945546
** Roland Reck, »Den Fall totmachen«, Wochenzeitung Kontext (Stuttgart), Nr. 266, 4. Mai 2016: https://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/266/den-fall-totmachen-3625.html
*** Bruno Schrep, »Das eine verjährt nie«, 24. März 2013: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-91675477.html




Wahrscheinlich gibt es auf Erden nur wenige Lebewesen, die die Zuverlässigkeit des Huflattichs erreichen – ZweibeinerInnen schon gar nicht. Kaum kündigt sich Frühling an, erscheinen seine leuchtend gelben, auf dickem schuppigem Stengel hockenden Blütenkörbe wieder, wenn auch oft kaum handhoch. So ziert er vieles: Wegränder, Schutthaufen, Steinbrüche. Bei rasch wechselndem Aprilwetter läßt sich sogar die Feinfühligkeit der altbewährten Heilpflanze (gegen Husten) beobachten: Verschwindet die Sonne, schließen sich Huflattichblüten; kommt sie wieder, gehen die Blüten ebenfalls auf.

Wie schon angedeutet, zeigt der Huflattich seine Blütenkörbe vor dem Austrieb der herz- oder eben hufartigen, unterseits weißfilzigen Blätter. Das erwähnt auch Brockhaus. Nur entgeht ihm die Seltsamkeit dieser Reihenfolge. Beträfe sie auch den Menschen, müßten all die Einsichten, die man sich gewöhnlich, mit mancher Mühe und Beschämung verbunden, im Lauf von Jahrzehnten anzueignen hat, bereits in meinem goldig bekrönten Schädel lagern, bevor ich Mama sagen und laufen und mir eigenhändig den Hintern abputzen kann. In der Tat schätzen Wanderer den Huflattich auch als Klopapier – genauer seine weißfilzigen Blätter. Da müssen sie freilich im Frühjahr recht lange warten, bis die eingetroffen sind.



Die anderthalb Spalten über Hunde und insbesondere Haushunde sind zum Weglaufen mangelhaft. Von einer Fragwürdigkeit der Hundehaltung haben die Brockhaus-Redakteure noch nie auch nur ein kurzes Winseln vernommen. Vermutlich halten sie selber alle einen Hund. Sie verkünden, man schätze rund 400 Haushundrassen auf diesem Planeten und kommen einfach nicht auf die Idee, das könnten ungefähr 400 zuviel sein. Wer mich jetzt nicht haßt, schlage bitte Näheres in meinem Blog-Register nach.

Ich will Sie nicht ohne eine lustige Hundegeschichte entlassen. Der US-Komponist John Barnes Chance (1932–72) wurde Opfer sowohl seiner Hundeliebe wie seiner Rücksichtnahme auf denkbare Opfer seiner Hunde. Er bewohnte ein Haus mit Hinterhof oder Garten in Lexington, der größten Stadt Kentuckys, wo er seit 1966 Hochschullehrer war. Chance selber hatte Musik in seinem Heimatstaat Texas studiert, hatte Erfahrungen als Orchesterpauker und als Arrangeur für Orchester der US-Army gesammelt. Offenbar machte er sich dabei auch für Völkerverständigung stark: »While serving in Seoul, South Korea, as a member of the Eighth U.S. Army Band, Chance came across a pentatonic Korean folk song that served as the inspiration for his 1965 composition Variations on a Korean Folk Song, which became his best-known work.«* Demnach hatte der einheimische Folksong den Besuch überseeischer Soldaten im sogenannten Koreakrieg überstanden. Chances Schöpfung wurde ein Jahr darauf mit einem Preis bedacht. Sechs Jahre später, inzwischen 39, stand Chance gewiß im Begriff, sich unter die namhaftesten Komponisten sinfonischer Blasmusik einzureihen. Da entschloß er sich Mitte August 1972, in seinem Hinterhof (»backyard«) oder Garten ein Zelt zu errichten.** Vielleicht stand die übliche Geburtstagsfeier (mit Blasmusik) an, oder Chances Buben wünschten ferienhalber die UreinwohnerInnen des Landes zu spielen, falls er Buben hatte. Bei diesem Geschäft berührte der Komponist mit einer Zeltstange aus Metall versehentlich den Elektrozaun, mit dem er seine Hunde in die Schranken gewiesen hatte. Da der Zaun in Betrieb war, erlitt Chance einen tödlichen elektrischen Schlag.

* William Pugatch im Handbook of Texas, Stand 2024: https://www.tshaonline.org/handbook/entries/chance-john-barnes-barney
** Nach 2015 von mir aufgestöberten Angaben der Ridgewood Concert Band aus New Jersey. Leider sind diese Angaben im Internet nicht mehr greifbar. Offenbar heißt das Orchester inzwischen The New Jersey Wind Symphony [https://njwindsymphony.org/]. Fast alle übrigen Quellen zu Chance sprechen unter rücksichtsvoller Ausklammerung der Hunde von einem Elektrounfall. Ausnahme: https://www.classiccat.net/chance_jb/biography.php, Stand 2023. Betreiber Wim Roffel aus dem niederländischen Leiden erwähnt auch Gattin Linda und zwei Kinder.




Die Schwaben sind für allerlei Streiche gut. Soweit ich weiß, schlug sich ihr Herzog Ulrich, 1519 aus Württemberg verbannt, nur deshalb auf die Seite benachbarter aufständischer »Rotten«, um den Habsburgern (die die Kaiser Maximilian I. und Karl V. stellten) sein Fürstentum wieder abzujagen. Dieser Kampf ging verloren. Der Herzog kehrte erst 1534 siegreich wieder, worauf er flugs die für ihn einträgliche sogenannte Reformation einführte. So konnte er sich beispielsweise einige üppige Klosterschätze unter den Nagel reißen. Aber auch Damen verschmähte er nicht.

Wahrscheinlich war der adlige Schuft unter anderem wegen eines heimtückischen Mordes an einem ihm unbequemen Beamten vertrieben worden. Ulrich hatte im Sommer 1515 seinen ungefähr 35jährigen Stallmeister Hans von Hutten um die Ecke gebracht – zufällig ein Vetter des ungleich bekannteren Ulrich von Hutten, was sich noch rächen sollte. Nur dieser steht im Brockhaus. Sein Bruder Hans hatte den Fehler gemacht, Ursula Thumb von Neuburg zu ehelichen, die komplizierterweise zugleich die heimliche Geliebte des Herzogs war. Als der Stallmeister des Herzogs Ansinnen, ihm bei der Frischangetrauten weiterhin freie Hand zu lassen, empört zurückwies, kam es zum Bruch. Huttens Entlassungs-gesuch erwiderte der Herzog jedoch mit einem Angebot zur Versöhnung, das jener trotz Warnungen von Freunden für bare Münze nahm. So folgte er, nur leicht bewaffnet, des Herzogs Einladung zur Jagd im Schönbuch (südlich von Stuttgart) – und ging ihm in die Falle. Der gutgewappnete Herzog schickte seine Leute voraus und tötete den Querulanten »im finsteren Tann« mit eigener Hand. So übereinstimmend etliche Quellen. 2013 wurde in dem betreffenden Waldwinkel eine Gedenktafel mit Hinweis auf die nahe Hutteneiche aufgestellt.

Der Herzog hatte sich damals bemüht, seine Mordtat mit allerlei Finten als rechtmäßigen Akt der Feme auszugeben. Dennoch konnte er den Anstieg des Grolls gegen ihn nicht verhindern. Der andere Hutten, erklärter Humanist und Patriot, beteiligte sich dann am Kriegszug des (kaisertreuen) Schwäbischen Bundes, der den Herzog im Frühjahr 1519 aus seinem Land jagte. Dieser Verwandte des Gemeuchelten erlag vier Jahre später in der Schweiz mit 35 der Syphilis.



Der muslimische Universalgelehrte Muhammad Ibn al-Jatib (im Brockhaus Chatib, 1313–74) stammte aus wohlhabendem Hause. Zuletzt hatte er es, trotz mancher Intrigen und Regierungswechsel, zum Wesir des Emirs von Granada (in Andalusien, Südspanien) gebracht, war also eine Art Minister des Emirats. Bei der Pest von 1348/49 soll er, als Mediziner, erstmals in unseren Breiten vor der Ansteckungsgefahr gewarnt haben; man möge etwa die Bettwäsche der Erkrankten und Toten verbrennen. 1371 jedoch, inzwischen selber reich geworden und lebenslustig geblieben, fiel er bei Hofe in Ungnade. Das war anscheinend das Werk der üblichen Neider, Konkurrenten und Ränkeschmiede. Ibn al-Jatib zog es schließlich vor, nach Nordafrika zu entweichen, doch die Arme seiner Widersacher waren lang. Habe ich eine spanische Stiftung* richtig verstanden, sorgten sie zunächst dafür, daß er in Fès, Marokko, als »Ketzer« im Kerker landete. Dann sei ein Haufen nächtens zu ihm eingedrungen und hätte ihn erwürgt. Brockhaus spricht kurzerhand von seiner Ermordung. Wahrscheinlich starb er mit 60.

Ibn al-Jatib soll zahlreiche Bände mit philosophischen, historischen und poetischen Werken hinterlassen haben. Ich kenne natürlich kein Wort davon. Übrigens spricht der Übersetzungsroboter des Stiftungstextes nicht von der Ketzerei des Gelehrten, vielmehr seiner »Andersgläubig-keit«. Man hat den Mann also jede Wette dieser oder jener Abweichung bezichtigt, um sich selber, beim Herrscher, in verlockendes Licht zu rücken und so an Ibn al-Jatibs Pfründe heranzukommen. Aber wie man es auch nennen mag, das Verfahren ist in allen Religionen oder Ideologien gleich.

* https://www.ibnal-jatib.org/ibn-al-jatib/el-personaje/, o.J. Die Stiftung sitzt in Loja, Provinz Granada (Andalusien), der Geburtsstadt des Mordopfers.



Als wäre es nicht mehr als eine Schlittenhundehütte, speist Brockhaus das traditionelle kuppelförmige, aus gestapelten Schneeblöcken errichtete Iglu der Eskimo mit vier Zeilen ab. Immerhin gönnt er uns auch ein Farbfoto. Dabei müßte es den Laien schon ins Staunen bringen, wenn wir ihm erzählen, ausgerechnet Schnee eigene sich zur Wärmedämmung. Tut er jedoch, es muß nur ordentlich kalt sein. Herrschen draußen minus 40 Grad, sorgen die menschlichen Körper und meist auch eine Öllampe im Hausinneren für ungefähr minus 6, auf dem Schlafsockel sogar plus 4 Grad. Die Blöcke aus gut abgelagertem, deshalb verdichtetem Schnee, möglichst von einem nahen Hang gewonnen, werden mit Messer oder Säge geschnitten. Der Eingang ist in der Regel tunnel- und schachtförmig gestaltet, als Kältefang. Zuletzt kann man ein oder zwei Fensterhöhlen ausschneiden und Eisplatten in ihnen einsetzen, die etwas Tageslicht ins Haus bringen.

Vom Baummaterial her ist ein Iglu sicherlich die ideale Villa für arme Schlucker. Andererseits sind einige Nachteile nicht zu leugnen. Mir wäre schon das Dämmerlicht im Haus zu lästig. Ich nehme an, die Inuit – wie sich die Eskimo lieber nennen – haben wohl auch in verflossenen Zeiten nicht grundlos selten dauerhaft in Iglus gewohnt. Es waren eher Behelfshütten bei der ausschweifenden Jagd. Gewisse Schwierigkeiten mit Ofenheizung und Rauchabzug konnten die Eskimo aber ohnehin leicht umgehen, weil sie bekanntlich »die Rohes-Fleisch-Esser« waren. Sie aßen so gut wie nie »warm«. Das hinderte meine Tante Elfriede nicht daran, mir ein kurzes Leben vorherzusagen, weil ich entweder nur Schmalzbrote oder nur Müsli in mich hineinstopfte. Ihr Evangelium waren heiße Suppen, durch die man hindurch gucken konnte. Elfriede wurde keine 60.

So oder so, mußten freilich auch die Eskimo hin und wieder aufs Klo. Zu diesem Thema sind die Quellen gewohnt wortkarg. Ich nehme an, die BewohnerInnen hatten zu diesem Zwecke keine Kübel in ihrem Schneehaus, vielmehr Plätze im Freien. Ob die ebenfalls igluhaft überbaut waren, wage ich zu bezweifeln. Man war wohl einfach abgehärtet. Soweit ich weiß, droht frisch »Ausgeschiedenes« auch bei 40 Grad minus nicht in Windeseile am Körper anzufrieren. Aber der Wind selber, so ein richtiger Schneesturm, dürfte an entblößten Körperstellen ziemlich ungemütlich sein.



Brockhaus behandelt das neuerdings heiß umstrittene Impfen an zwei Stellen: in Band 10 nur kurz (Impfpistole, Impfplan, Impfschäden); in Band 19 (von 1992) auf einer ganzen Seite als sogenannte Schutzimpfung. Die grundsätzlichen Bedenken, die ich selber schon andernorts anführte (siehe Register unter »Impfen«), sind ihm allerdings so gut wie unbekannt. Er hält sich an die Schulmedizin, die ihrerseits wieder der Pharmaindustrie hörig ist. Das gilt auch für mögliche Impfschäden. Brockhaus zählt sie zwar auf, verkündet jedoch, sie träten »extrem selten« auf. Das war meines Wissens nie der Fall, schon seit dem »Reichsimpfgesetz« von 1874 nicht. Im übrigen kennt das Lexikon verständlicherweise die neuartigen genmanipulierten, wahrscheinlich geradezu kriminellen Impfstoffe noch nicht, die uns im Zeichen des Coronawahns untergejubelt worden sind. Zumindest war deren Schutzwirkung nie belegt worden, wie uns plötzlich sogar mit dem Siegel des Robert-Koch-Instituts (RKI) bestätigt wird. Und darum geht es mir nun: um die erzwungene Herausgabe der RKI-Protokolle des hauseigenen Coronakrisenstabs 2020/21, somit aus der Hochzeit des Coronawahns.

Nach Uwe Froschauer* umfassen die Protokolle 2.500 Seiten. Das ist schnell überflogen und abgeheftet, zumal 1.000 »Passagen« in ihnen geschwärzt seien. »Allein das von den [beauftragten] Raue-Anwälten erstellte Dokument mit den Begründungen für die Schwärzungen ist 1.059 Seiten lang.« Man sieht, der Wahnsinn hat Methode. Die Rechtsanwälte haben bereits neue Off-Roader oder Segeljachten geordert.

Gleichwohl stellen auch andere Quellen fest, schon der ungeschwärzte Rest lasse das offizielle Corona-Lügengebäude wie manche Geimpfte zusammenbrechen. Froschauer gibt eine Zusammenfassung der schlagenden RKI-Eingeständnisse durch den »Querdenker«-Professor Stefan Hockertz wieder. Ich nenne nur wenige, von mir leicht nachpolierte Glanzpunkte: Mit »Covid-19« wurde ein stinknormales, vergleichweise sogar recht ungefähr-liches Grippe-Virus zum Frankenstein aufgeblasen. Das RKI hielt das Risiko eigentlich für »gering«, beugte sich aber der Weisung (seitens der Regierung?), das Gegenteil zu behaupten. Atemschutzmasken sind Sondermüll. Lockdowns richten mehr Schäden an als das, was sie verhindern sollen, also den Frankenstein. Der amtlich-mediale Feldzug für Tests und »Inzidenzgrenzwerte« hätte einer Karawane aus Taschen- und Hütchenspielern beste Ehre gemacht.

Wohlgemerkt, dies alles kommt nun als unfreiwillige Schützenhilfe für uns Leidtragende, die Impfgeschädigten und Toten eingeschlossen, unmittelbar aus der Höhle des Löwen: der weisungsgebundenen Bundesbehörde RKI. Froschauer stellt unverblümt fest, mit den ganzen Corona-Maßnahmen wurden soundsoviele Bevölkerungen dieses Planeten nicht nur umfassend geschädigt, sondern auch verarscht. Er führt sogar etliche, sich reuig gebende heimische Prominente an, darunter Abgeordnete und Fernsehbosse, die nun unerbittliche, unabhängige, öffentliche »Aufarbeitung« fordern. Am liebsten würde ich meine Impfpistole auf diese Figuren anlegen, um ihnen die scheinheiligen Lippenbekenntnisse ins Gedärm zurück zu blasen. Meine Busenfreundin Sahra Wagenknecht tut das für Reformisten und Kanzlerkandidaten Naheliegendste, das sich seit vielen Jahrzehnten bewährt hat: Sie fordert das Mißerfolgs- und Augenwischermittel Untersuchungsausschuß. Auf die Abschaffung des Kapitalismus‘ und die Auflösung des Mammuts »Bundesrepublik Deutschland« werden frühstens ihre zu erwartenden parteieigenen Jungsozialisten dringen, selbstverständlich vergeblich. Somit wird alles beim alten bleiben. Man wird ein paar untergeordnete Sündenböcke opfern und einige Lackschäden ausbessern. Schlimmsten-falls gibt es »Neuwahlen«. Die wird vor allem Wagenknecht fordern.

Jetzt liegt mir noch ein anderer Gesichtspunkt am Herzen, den Froschauer gerade so übergeht wie alle anderen kritischen Quellen es tun, soweit ich sie kenne. Und zwar frage ich mich nicht zum ersten Mal, ob solchen erzwungenen Veröffentlichungen überhaupt zu trauen ist. Man kennt das ja auch von Pentagon, CIA oder irgendeiner Bananenrepublik-Regierung. Da hauen sie uns plötzlich 1.000 Seiten um die Ohren, von denen die Hälfte »geschwärzt« – und die andere möglicherweise gefälscht ist. Denn wie sollen wir das überprüfen? Ich habe mir einmal über einen Link, den NDS gibt, ein kleines Pdf geöffnet** – na schön. Diese Briefköpfe und Satzspiegel beweisen doch überhaupt nichts. Oder denken Sie, es wäre einfach zu aufwendig, solche umfangreichen Protokolle glaubwürdig zu frisieren? Oder zu gewagt, weil Insider »singen« könnten? Gegen das Argument mit dem Aufwand sprechen vielleicht schon die zahlreichen Schwärzungen. Danach sitzen doch jene Rechtsanwälte beziehungsweise Hiwis vom Verfassungsschutz mit einer führenden RKI-Nase ohnehin wochenlang am Bildschirm, um sich ihre Honorare und Gehälter auch wirklich zu verdienen.

Nebenbei sind bereits die Schwärzungen Grund genug für Mißtrauen – und Beweis der Verachtung unserer angeblichen Demokratie. In der Regel werden sie ja mit »Schutz von Mitarbeitern / Privatsphären / Staatsgeheimnissen« gerechtfertigt. Lächerlich. Damit kann ich alles rechtfertigen, jede Vertuschung, jede Schweinerei. Und parallel dazu kann ich meinerseits, als Staatsminister oder Verfassungsschützer, sämtliche Geheimnisse des Bürgers durch den Dreck ziehen, wenn es mir aus Gründen der berühmten Staatsräson geraten scheint. In der Regel verbirgt sich hinter der Staatsräson sowieso das private Interesse eines Politikers, der zum Beispiel sein Gesicht und sein Geld zu schützen wünscht.

Sollte es im übrigen Paul Schreyer von Multipolar gelingen, auch die Rücknahme der Schwärzungen zu erzwingen – woher weiß ich, ob die dann blanken Protokolle nicht immer noch entstellt sind? Da benötige ich doch ein Hochschulstudium der Syntax und sieben Monate Zeit zum Nachmessen der Balkenlängen und sonstige Recherchen. Wer bezahlt mir das?

Man könnte sicherlich grundsätzlich einwenden, die Protokolle enthielten immerhin etliche peinliche Enthüllungen! Ja, das stimmt, wie wir gesehen haben. Aber ungefälscht wären es vielleicht doppelt soviel Enthüllungen, und noch viel schlimmere. Die naheliegende Annahme, daß zumindest gewisse heikle Aussagen/Wörter entschärft worden sind, halte ich für wenig abenteuerlich. Darauf würde ich sogar wetten. Die Ungewißheit, ob diese Dokumente sauber sind, bleibt aber in jedem Fall. Schließlich kann sie der Bürger wohl kaum mit den Originalen aus dem Server-Panzerschrank des RKI vergleichen – falls das überhaupt jemals »Originale« waren. Kurz und schlecht, für den Bürger dürfte die angebliche Echtheit der Dokumente unüberprüfbar sein. Das gilt erst recht für Dokumente, die erst nach Jahrzehnten »freigegeben« werden. Die Elite ist so nett, uns ein paar Placebos vorzuwerfen.

Ich räume ein, vielleicht sind meine von krankhaftem Argwohn befeuerten Ausführungen fehlerhaft, sodaß ich mich irre. Für entsprechende Hinweise wäre ich dankbar.

* Uwe Froschauer: https://www.manova.news/artikel/die-anschwarzer, 2. April 2024
** Nr. 004 bei https://my.hidrive.com/share/2-hpbu3.3u#$/




Ich fürchte, Brockhaus‘ Ausführungen über Inflation, immerhin 3 ½ Seiten lang, werden ihrem Gegenstand insofern gerecht, als sie wahrlich »aufgeblasen«, dabei aber leider ziemlich fruchtlos sind. Es ist schon viel, wenn er am Rande einräumt, meistens schädige die Geldentwertung »die ärmeren Teile der Bevölkerung«, könne auch zu »Einkommensumverteilungen«, ja sogar »Verteilungskonflikten« führen. Da wird selbst die politökonomische Niete Stefan Zweig deutlicher. Nichts habe das deutsche Volk so erbittert, haßwütig und hitlerreif gemacht wie die Inflation zwischen den beiden Weltkriegen, schreibt er in seinen Erinnerungen, wohl seinem wichtigsten Buch.* »Die Arbeitslosen standen zu Tausenden herum und ballten die Fäuste gegen die Schieber und Ausländer in den Luxusautomobilen, die einen ganzen Straßenzug aufkauften wie eine Zündholzschachtel; jeder, der nur lesen und schreiben konnte, handelte und spekulierte, verdiente und hatte dabei das geheime Gefühl, daß sie alle sich betrogen und betrogen wurden von einer verborgenen Hand, die dieses Chaos sehr wissentlich inszenierte, um den Staat von seinen Schulden und Verpflichtungen zu befreien.«

Die Namen der verborgenen Hand, Oskar Tauschwert, und dessen Enkel, Konrad Kapitalismus, läßt natürlich auch Brockhaus nicht fallen. So kann er den Eindruck erwecken, inflationäre Phänomene kämen schon seit der Altsteinzeit unberechenbar und letztlich unvermeidbar wie Regen und Schnee im April über uns. Zweig erwähnt immerhin den »Großverdiener« Hugo Stinnes. Es war ja keineswegs nur der Staat, der sich (um 1922) gesundstieß. Es war vor allem das von ihm gehätschelte Monpolkapital. Schließlich konnten die Fabrikanten auf ihre »Hardware« und ihr »Know-How« bauen, die Erwerbslosen und Kleinbürger dagegen nicht. Sie verloren ihre Ersparnisse, während die Kapitalisten erfreut ihre Schulden schrumpfen sahen, Spekulationsgewinne einstrichen und »die Reallöhne senkten«, wie lange nicht mehr. Für Marxisten wie Hans Mottek** sind Inflationen ein teils mit Absicht ergriffenes, teils zumindest höchst willkommenes Mittel, Kriegsver-luste und kapitalistische Krisenfolgen auf die werktätigen Massen abzuwälzen. Ich glaube, darin haben sie recht.

An der Postmoderne fällt allerdings der grundsätzliche Hang zur Aufblähung auf. Der Computer erlöst uns nicht etwa von der Bürokratie, er vergrößert sie. Die Häuser werden nicht etwa weniger, vielmehr höher und großkotziger. Das Versprechen von Wundern wird zu einer alltäglichen, klassenlosen Gepflogenheit, der sich niemand mehr entziehen kann. Das entwertet selbstverständlich die Wunder; sie platzen gerade so wie die Spekulationsblasen am laufenden Meter. Daran kann man sich gewöhnen. Gleichwohl sind die GewinnerInnen der ganzen abgeschmackten Veranstaltung die immerselben Superleute, denn die haben das Kapital und den Durchblick. Kürzlich meldeten die Medien, der Bau des Bahn-Wahn-Projektes Stuttgart 21 werde um ungefähr 1,7 Milliarden teurer als nach der vorausgegangenen Fehleinschätzung angenommen. Damit käme er auf rund 11 Milliarden. Dabei hat sich die Bahn auch noch einen »Risikopuffer« von 500 Millionen, also einer halben Milliarde, vorbehalten. Ursprünglich (1995) hatte man mit 2,5 Milliarden Gesamtkosten gerechnet.*** Das wären bereits deftige Steigerungsraten, wenn man nur mit Tausendern in DM zu rechnen hätte. Aber Milliarden? Versuchen Sie einmal, sich eine Milliarde Euro vorzustellen, und möglichst mit allen Konsequenzen. Ein langwieriges und mühsames Geschäft. Bis Sie das bewerkstelligt haben, hat die Panzerknacker Betonbau AG schon wieder ein paar Millionen abgesahnt.

* Stefan Zweig, Die Welt von gestern, 1944, hier Fischer-TB 1989, S. 357–61
** Hans Mottek, Wirtschaftsgeschichte Band III, 3. Auflage Ostberlin 1977, bes. S. 236, 243, 245
*** https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/stuttgart/stuttgart-21-soll-ueber-11-milliarden-kosten-100.html, 20. Dezember 2023




Über Inseln erfahren wir von Brockhaus, Kontinente seien keine. Ansonsten seien Inseln im Völkerrecht definiert. Dagegen scheint man in der Sozialpsychologie keinen Schimmer von ihnen zu haben. Dergestalt genau umrissen, stellt Grönland, mit 2.130.800 Quadratkilo-metern, die größte Insel unseres Planeten dar. Erstaunlich genug: Großbritannien hat, mit 216.777 Quadratkilo-metern, gerade mal 10 Prozent dieser Größe. Dabei haben doch die Angelsachsen, und nicht etwa die Grönländer-Innen, während einiger Jahrhunderte ungefähr die halbe Welt unterjocht! Man denke nur an das riesige Indien und die Besiedelung Nordamerikas. Offenbar kommt es beim Kampf um die Weltherrschaft nicht nur auf Quantitäten an. Man muß vielmehr ganze Rudel solcher Charakter-ruinen haben, wie sie Tim Weiner (2007) in seinem überragenden Werk über die CIA vorführt.

Das Spektrum der Inseln reicht also von Grönland bis zu den Schollen, auf denen in den bekannten Witzen stets ein Schiffbrüchiger mit zerfetzten Hosen und einer Flagge zum Winken Platz hat. Der Sozialpsychologe weiß jedoch, nicht wenige Menschen verzehren sich geradezu nach der eigenen, kleinen Insel. Palisaden oder Elektrozäune gegen Feinde erübrigen sich, weil die Wogen des Meeres oder des Baikalsees die Einmauerung bereits kostenlos liefern. Oft fürchten oder hassen diese EigenbrötlerInnen auch Freunde, nämlich sogenannte Nachbarn. Die stellen in einem fort Ansinnen, die der mönchische Mensch für Schwachsinn hält. Lärm machen sie obendrein, und wenn sich der Mönch mal ein Bein brechen sollte, schicken sie ihm gleich eine Flotte heulender Krankenwagen auf den Hals. Der Held der 50seitigen Erzählung Der Mann, der Inseln liebte flüchtet von einer Insel zur anderen, wobei sie immer kleiner und unzugänglicher werden. »Bald war er fast erschrocken, wenn er den Dampfer am nahen Horizont erblickte, und sein Herz zog sich zusammen vor Angst, er würde halten und ihn stören ..(..).. Er wollte nicht, daß man ihm nahe kam. Er wollte keine Stimmen hören. Er war über den Klang seiner eigenen Stimme erschrocken, wenn er versehentlich mit seiner Katze sprach.«

Die Erzählung stammt vom Briten D. H. Lawrence, der 1930 bereits mit 44 der Tuberkulose erlag. Für diese kurze Lebensspanne verfaßte er eine Unmenge an Romanen (11), Reisebüchern (4), Erzählungen, Essays, Dramen, Gedichten. Davon kenne ich lediglich einige längere Erzählungen, die mir auch wirklich gut gefallen. An der Lektüre des Restes hat mich glücklicherweise Lawrences Landsmann Anthony Burgess gehindert, der 1990 eine Art Biografie über ihn vorlegte. Burgess verehrt den Bergmannssohn aus Nottinghamshire und bringt am laufenden Meter ausführliche Zitate aus dessen Werken. Daraus gewann ich den Eindruck, Lawrence habe überwiegend Mist auf den Markt geworfen. Burgess besitzt die Kunstfertigkeit, in einem Atemzug kritische Anmerkungen zu machen und die kritisierten Mängel zu verharmlosen, weshalb sein Gegenstand im großen und ganzen beachtlich dasteht. Im Schlußkapitel behauptet er: »Lawrence schrieb, um Geld zu verdienen, da er keine andere Wahl hatte.« Beispielsweise habe er nicht wie E. M. Forster von einer Erbschaft oder wie Joyce von einer Mäzenin zehren können. Aber zum Bergmann, Zeitungszusteller oder Zuhälter hätte es doch vielleicht gereicht? Wie ich schon wiederholt bemerkte, wird kein Mensch gezwungen öffentlich zu schreiben, ob für Geld oder nicht. Tut er es trotzdem, hat er das Zeug, das er von sich gibt, auch zu verantworten. Da die erwähnten, zum Teil meisterhaften Novellen beweisen, daß es Lawrence nicht an Begabung und Handwerkszeug fehlte, dürften die vielen Schwächen in seinen übrigen Werken vor allem auf Flüchtigkeit zurückgehen. Die Oberflächlichkeit feiert Triumphe, weil der Rubel rollen soll.

Auch Burgess ist nicht der Mensch, der sich Marktzwängen entzöge. Er findet sie normal. Den Satz »Der Berufstätige tut seine Arbeit, um Geld zu verdienen« stellt er als unbezweifelbare Binsenweisheit hin. Aber nichts daran ist normal. Künstlerisches Schaffen von den schnöden Marktzwängen auszunehmen, wäre freilich nur reformistischer Quark. Vielmehr muß der Markt weg. Denn keine unserer Lebensäußerungen – beispielsweise auch Kochen, Putzen, Schreinern, Züge abfertigen – hat das grausame Schicksal verdient, den Warencharakter übergestülpt zu bekommen und dadurch erstickt zu werden. Man lebt nicht der Lohnarbeit und dem Geld, vielmehr sich selber und seinen Mitmenschen zuliebe. Deshalb stellt man Nahrungsmittel, Schuhe oder Romane her. In meinen anarchistisch gestimmten Zwergrepubliken werden diese Dinge und Dienste nicht verkauft sondern verteilt. Das geschieht freiwilligen Vereinbarungen gemäß. Der Äquivalentgedanke ist ausgerottet. Man muß nicht für ein Grönland 1o Großbritanniens auf den Tisch legen. Genau deshalb gibt es in diesen Republiken auch keine Inflationen. Und selbstverständlich keine BerufskünstlerInnen.

Nein, es war nie die Absicht meines Schreibens gewesen, vielleicht einmal davon leben oder gar steinreich wie Aichinger, Canetti oder Walser werden zu können. Sondern? Leider habe ich mir den Hauptgrund in der letzten Zeit zu wenig vergegenwärtigt. Ohne dieses Versäumnis wäre ich besänftigter und stolzer gewesen. Der Hauptgrund lag immer darin, mich möglichst verbindlich und möglichst vollständig zu erklären. Das betrifft sowohl Politisches wie Psychologisches. Ich leide von Kind auf unter dem Schwarze-Schaf-Syndrom. Man belächelte, schnitt oder beschimpfte mich, weil ich diese radikalen Ansichten, unnormalen Vorlieben, krankhaften Abneigungen und so weiter besaß. Ihre Rechtfertigung liegt nun in meinen gesammelten, sogar durch ein Gesamtregister gut aufschließbaren Texten vor. Das soll nicht unbedingt heißen, ich hätte immer oder auch nur meistens recht. Es heißt vielmehr, für diese Auffassungen und dieses Verhalten gute Gründe zu haben. Es heißt weiter, daß sie nichts kurzerhand und leichtfertig Ange-nommenes sind. Selbst das Geschäft, meine Erklärung möglichst klar und dann auch noch unterhaltsam vorzubringen, ist nicht einfach. Für Geld hätte ich mir diese ganze Mühe nicht gemacht.



Zum Staatsrechtslehrer Hans Peter Ipsen (1907–98) teilt uns Brockhaus im wesentlichen mit, 1939–73 sei er Professor in Hamburg gewesen. Aber nun überlegen Sie einmal: gut 30 Jahre lückenlos in zwei Regimen! Nach Klee und weiteren Quellen war Ipsen auch SA-Scharführer, Parteimitglied, Staatsrat, Kommissar an »Kolonial-universitäten« im besetzten Belgien, hanseatischer Oberlandesgerichtsrat sowie Referatsleiter im Reichs-justizministerium. Nach dem Krieg habe er als »Doyen des Europarechts« gegolten. Aha – jetzt wollte er also ein schönes Europa ohne die Schützenhilfe von SA- oder SS-Rabauken herbeiführen, zu denen er selber gezählt hatte. Die Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer machte ihn zum Ehrenvorsitzenden. Von einer »Entnazifizierung« lese ich nichts. Der karge Eintrag auf der Webseite der Hamburger Uni gibt in Ipsens »aktiver Dienstzeit« allerdings eine zweijährige Lücke 1945–47 an. Vielleicht eine Anstandsfrist. Ipsen wird noch 90 Jahre alt. Kritik an ihm scheint selten zu sein. Wahrscheinlich steht sie am ehsten bei Norman Peach/Ulrich Krampe 1991.

Bei soviel Nachsicht mit charakterlosen Karrieristen droht man hin und wieder wirklich ins Kotzen zu kommen. Aber ich will gerecht sein: die angelsächsischen Demokraten waren nicht unbedingt liebenswerter als die germanischen. Bei den Inseln erwähnte ich ja gerade Weiners Geschichte der CIA. Danach stürzte sich der abgedankte, rundum zerrüttete US-»Verteidigungsminister« James Forrestal 1949 aus dem 16. Stockwerk einer Psychoklinik der Marine, anscheinend nachts. Zuvor hatte er antike Verse abgeschrieben, in denen eine Nachtigall vorkommt. Mitten im Wort nightingale hatte er sich unterbrochen, um mehr oder weniger spontan aus dem Fenster zu springen. Weiner teilt mit*, nightingale sei der Codename einer ukrainischen Widerstandsgruppe gewesen, die just von Forrestal ermächtigt worden war, »einen Geheimkrieg gegen Stalin zu führen. An ihrer Spitze standen Nazi-Kollaborateure, die im Zweiten Weltkrieg hinter den deutschen Linien Tausende von Menschen umgebracht hatten.« Nun waren sie von der CIA mit viel Geld und ein paar Fallschirmen versorgt worden. Allgemeiner versichert Weiner in seiner gekonnten, belegreichen und sogar preisgekrönten Darstellung, im sogenannten »Kalten Krieg« habe die CIA bedenkenlos Faschisten gegen das kommunistische Lager eingesetzt. Vom Rechtsanwalt Allan Dulles, 1953–61 CIA-Chef, führt er die, vermutlich aufs »Rollback« gemünzte Bemerkung an, man könne den Zug nicht ins Rollen bringen, »ohne ein paar NSDAP-Mitglieder mitzunehmen.«

Das kam bekanntlich auch unserem Nazispion General Reinhard Gehlen zugute, der später unseren demokratischen Bundesnachrichtendienst (BND) aufbauen durfte. Nebenbei hatte der BND auch deshalb alle Hände voll zu tun, weil er irgendwann den Chef von Gehlens Spionageabwehr enttarnen mußte, der langjährig als Moskaus Maulwurf gewirkt hatte. Den legendären ukrainischen Nationalhelden Stepan Bandera (s. Folge 4) erwähnt Weiner nicht, dafür jedoch eine rechte Hand von diesem, Mykola Lebed. Der hatte sich nach Mordtaten in Polen mit den dort einrückenden deutschen Faschisten angefreundet. Dann übernahm er das Kommando über ukrainische Terrorbanden, darunter just jene »Nachtigallen«. Nach Kriegsende rettete er sich vor den siegreichen Rotarmisten nach München, wo er, laut Weiner, als selbsternannter Außenminister der Ukraine residierte und der CIA weiterhin seine Partisanen für den Kampf gegen Moskau andiente. 1949 zog er es aber vor, US-Bürger zu werden. Dazu erläutert Weiner, das Justizministerium sei zunächst dagegen gewesen. Der Mann sei ein Kriegsverbrecher, der zahlreiche Ukrainer, Polen und Juden umgebracht hätte. Das aber habe Allan Dulles persönlich mit einem Schreiben an den Chef der Einwanderungsbehörde bereinigt. Danach war Lebed »von unschätzbarem Wert für die Agency« und wirke an »Operationen von allerhöchster Wichtigkeit« mit.

Daraus können wir heute, während der sogenannte Präsident Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj mit Hilfe westlicher Gelder und Waffen die letzten jungen Leute seines Landes im »Krieg gegen Moskau« verheizt, eigentlich nur den Schluß ziehen, die gute Zusammen-arbeit zwischen Angelsachsen und Faschisten habe nie aufgehört. Im übrigen verhehlt Weiner nicht, daß auch die CIA das Verheizen beherrschte. Allein in den 1950er Jahren wurden die eigenen Agenten oder verbündete Kräfte immer wieder dutzendweise ins absehbare Ver-derben geschickt, weil sich dieser nahezu unkontrollier-bare Verein vor allem durch Selbstüberschätzung und Selbstbetrug, Fehler und Unbelehrbarkeit auszeichnete. Ich nehme an, auch dabei ist es bis zur Stunde geblieben.

* Tim Weiner, CIA. Die ganze Geschichte, deutsche Ausgabe Ffm 2008, S. 71–83



Von der brasilianischen, im Bundesland Minas Gerais gelegenen Bergbaustadt Itabira, 1970 schon über 50.000 EinwohnerInnen, teilt uns Brockhaus vor allem mit, sie sei »katholischer Bischofssitz« und habe von 1944–48 [wohl eher nur 47] Presidente Vargas geheißen. Das ist doch eine erstaunlich kurze Dauer für eine Namensträgerschaft, die die Volkswirtsschaft unter Umständen mehr kostet, als der Erzbergbau einbringt. Bei dem Namenspatron handelt es sich laut Internet um den langjährigen, autoritären Staatspräsidenten Getúlio Vargas (1882–1954). Er hatte in diesem Winkel 1942 höchstpersönlich das staatliche Bergbauunternehmen Companhia Vale do Rio Doce (CVRD) ins Leben gerufen. Ob er selber oder ein städtischer Schmeichler für die Taufe auf seinen werten Namen sorgte, ist mir unklar geblieben. Er machte es sowieso nicht mehr lange. Als ihm hohe Militärs 1954 die Gefolgschaft aufkündigten, erschoß er sich. Jetzt warte ich darauf, daß sich Gladbeck in Habeck und Wittstock in Baerbock umbenennt.

Nebenbei gibt es (auf derselben Lexikonseite) ein von Brasilien und Paraguay gemeinsam erstelltes Kraftwerk am Staudamm Itaipu. Brockhaus behauptet, um den erforderlichen Stausee zu schaffen, »mußten« über 20.000 Menschen umgesiedelt werden, hauptsächlich Guaranie-Indianer. Das ist wieder so eine verheerende Ungenauig-keit. Von Müssen im Sinne eines unvermeidlichen Wirbelsturms kann natürlich keine Rede sein. Man hat die IndianerInnen vertrieben, weil man es wollte und die Macht dazu besaß. Damals, um 1975, herrschten in beiden Staaten sogenannte Militärdiktaturen. Um 2007 machte sich dann der beliebte »linke« Präsident Lula da Silva für eine Erweiterung der Stromerzeugung am Itaipu-Staudamm stark. Lula ist, soweit ich weiß, von Hause aus kein Militär, vielmehr Metallfacharbeiter. Er steht ja derzeit erneut am Ruder des riesigen Landes.



Das wahrscheinlich berühmteste Rätsel der irdischen Kriminalgeschichte auszusparen, ist schon ein starkes Stück: Jack the Ripper. Brockhaus schafft es. 1888 wurde die halbe zivilisierte Welt von dem nie identifizierten und gefaßten »Aufschlitzer« in Atem gehalten, der in London mutmaßlich mindestens fünf Prostituierte ermordete und verstümmelte. Auch die Identitäten seiner Opfer sind zumindest teilweise ungeklärt oder umstritten. Wahrscheinlich waren die betreffenden Frauen vorwiegend über 40. Für Rippers fünftes (und möglicherweise letztes) Opfer halten viele BeobachterInnen die 25jährige Mary Jane Kelly. Die Irin oder Waliserin hatte sich gerade von ihrem jüngsten Geliebten Joseph Barnett getrennt, einem Fischträger aus dem Londoner Hafen. Als sie selber an ihrem Todestag gegen Mitternacht auf Fischzug ging, nämlich nach Freiern, habe sie das Lied »A Violet from Mother's Grave« (Ein Veilchen vom Grab der Mutter) geträllert, versicherte ihre Kollegin Mary Ann Cox später aller Welt – vor allem den professionellen Klatschtanten und Märchenonkeln, nehme ich einmal an. Scotland Yard fand Kellys übel zugerichteten Leichnam in ihrem Bett. Verschiedene innere Organe Kellys lagen im Zimmer verstreut. Ihr Herz fehlte.

Etliche BeobachterInnen glauben, der gefürchtete Serienmörder aus dem verrufenen Stadtviertel Whitechapel müsse einige chirurgische, zumindest aber anatomische Kenntnisse besessen haben – eine Annahme, die von einem Teil der unzähligen Theorien über Jack the Ripper, die bis heute ins Kraut schossen, berücksichtigt wird. Weiter gilt es, den untypischen jähen Abbruch der Mordserie nach dem Ende Kellys zu erklären. Ich führe hier nur die Theorie des US-Journalisten Leonard Matters an, weil sie eine reizvolle und aufschlußreiche Dramatik besitzt, die sicherlich schon so manchen Psychiater oder Bühnendichter beeindruckt hat. Im übrigen hielten die von Matters sogar in Buchform* vorgebrachten Argumente und »Beweise« näheren Nachprüfungen nicht stand. Für ihn war der Mörder ein gewisser Dr. Stanley gewesen – ich zitiere im folgenden Colin Wilson** – »ein Witwer, der seinen einzigen Sohn abgöttisch liebte. Dieser Sohn war an Syphilis gestorben, die er sich bei Mary Kelly geholt hatte, und Dr. Stanley hatte sein Leben der Suche nach dieser Frau gewidmet. Er fragte alle seine späteren Opfer nach ihr aus und brachte sie dann um, um sie für alle Zeiten mundtot zu machen. Als er dann endlich Mary Kelly gefunden hatte, hörte er auf, das East End unsicher zu machen.«

Auch Wilson versichert seinen LeserInnen, es sei »so gut wie unmöglich, ein Bild von der allgemeinen Erschütterung zu vermitteln, die die Morde auslösten. Die Presse berichtete damals ausführlicher darüber als die Journalisten heute über eine Hochzeit der königlichen Familie.« Das war 1960. Von Greueltaten des Empires in Asien, der Franzosen und Yankees in Indochina, von allen zusammen in Afrika und Nahost, waren anscheinend nur wenig BürgerInnen entsetzt.

* The Mystery of Jack the Ripper, 1929
** »My Search for Jack the Ripper«, wohl ursprünglich (August 1960) Artikelserie im Londoner Evening Standard, deutsch im Sammelband Aufgeklärt! Ungesühnt!, Augsburg 1999, S. 385–405




Die Jakuten sind möglicherweise ein paar leidenschaft-lichen Kreuzwort-Enträtslern bekannt. Laut Brockhaus handelt es sich um ein nordostsibirisches Turkvolk, Eigenbezeichnung Sacha. Man höre aber und staune: nach anderen Quellen bewohnen sie die größte Republik Rußlands! Allerdings auch die kälteste. Die meist dämmrigen Winter bescheren bis minus 60, die Sommer dagegen bis plus 40 Grad. Die vielen Gewässer, dazu Taiga, Tundra und Wälder, luden die Jakuten ursprünglich zum Fischen, Jagen, Sammeln und Züchten von Rindern, Rentieren oder Pferden ein. Noch im 20. Jahrhundert sind im Sommer hier und dort die kegelförmigen Stangenzelte zu sehen. Inzwischen leben sie eher, wie wir, in ein paar größeren Städten, darunter der Regierungssitz Jakutsk mit 270.000 Einwohnern, somit in ziemlich normalen Häusern, die sie morgens zu den üblichen Berufstätig-keiten verlassen, etwa in einem Kaufhaus oder in der Leitzentrale eines Energieunternehmens. An bestimmten Feiertagen schlüpfen sie in ihre überlieferten farbenfrohen Trachten. Laut Brockhaus galten sie dereinst auch als »Meister in der Herstellung von Silberschmuck und Töpferwaren«. Seit spätestens 1800 waren sie »weitge-hend christianisiert«, jubelt der Fan von Bischöfen Brockhaus, räumt allerdings ehrlicherweise ein, Reste ihrer überkommenen religiösen Vorstellungen (»Schama-nismus, Bärenkult, Geisterglaube«) hätten sich erhalten. Russia Beyond versichert sogar, die meisten Leute (von rund einer Million RepublikanerInnen) verstünden sich nach wie vor als Heiden.* Aus verschiedenen Fotos schließe ich freilich, dem Gott Handy hängen sie auch schon an.

Was mich neben der drohenden klimatischen Zerreißprobe davon abhält, einen Aufnahmeantrag bei der Republik Sacha zu stellen, sind die Mücken. Sie sollen im Sommer »eine echte Plage« darstellen. Natürlich wehren sich die Leute so gut sie können. Beide Geschlechter führten im Sommer »ein ungewöhnliches Accessoire«, nämlich einen Stab mit langer Quaste aus Pferdehaar mit sich, lese ich bei Russia Beyond. Es gebe diese Dinger »in verschiedenen Größen und Formen, ihr Griff kann sogar mit Silber verziert sein.« Mit ihnen ließen sich Mücken vertreiben …

Nennen wir sie mangels Internet-Auskunft behelfsmäßig Wedel. Sie erinnern sicherlich nicht nur mich an Fächer von viktorianischen Damen und an Pferde. Da sie nicht mit dem jakutischen Bürger verwachsen sind, mögen sie eine ganz gute Abwehrwaffe sein – solange er die Hände frei hat. Was stellt er aber an, wenn er einen Zaun streichen oder das Internet per Smartphone nach dem korrekten Wort für den Wedel befragen will? Dann schlagen die Quälgeister zu.

* https://de.rbth.com/lifestyle/86538-jakuten-wie-lebt-groesste-heidnische-volk-russlands-heute, 29. Juli 2022



In den anderthalb Spalten über den fränkischen Schriftsteller Jean Paul erwähnt Brockhaus sogar den »Tod seines einzigen Sohnes (1821)«. Für Näheres, den Namen des Sprößlings eingeschlossen, verweist er auf mein Nasen-Lexikon, Stichwort »Richter, Max Emanuel«.



Zum russischen Lyriker Sergei Alexandrowitsch Jessenin (1895–1925) erfahren wir (in Klammern): Selbstmord. Möglicherweise war der Titel seines ersten Gedichtbandes, veröffentlicht 1916, bereits wegweisend: Radunitsa, das bedeutet wohl ungefähr »Totensonntag« und bezeichnet einen Fest- und Gedenktag der osteuropäischen orthodoxen Kirche um Ostern. Jessenin wuchs südöstlich von Moskau bei Rjasan auf. Wegen seiner bäuerlichen Herkunft gab er sich gern als Dorfpoet aus, trank entsprechend viel, randalierte öfter in Hotelzimmern und heiratete im Laufe eines nur 30jährigen Lebens viermal, wobei er es selten unter Isadora Duncan (berühmte Tänzerin, deutlich älter als er) oder Sofia Tolstaja tat (Enkelin von Leo Tolstoi). Nebenbei haßte er den gleichfalls bekannten, oft auch provokanten Versschmied der russischen Oktoberrevolution Wladimir Majakowski – der zur Strafe ein wohlwollendes und gutgelauntes Gedicht auf den Kollegen verfaßte, nachdem sich dieser am 28. Dezember 1925 in einem Zimmer des Hotels Angleterre in Leningrad die Pulsadern aufgeschnitten und anschließend an den Heizungsrohren der Zimmerdecke erhängt hatte.

Laut den Erinnerungen des Schriftstellers Ilja Ehrenburg war der blondgelockte »ruhmessüchtige« Bohemien, der sich nur halbherzig für den »Aufbau des Sozialismus in einem Lande« erwärmen konnte, mehr als einmal dem Wahnsinn nahe gewesen, sodaß es wenig verblüfft, wenn ihn die Tolstaja einmal in eine Moskauer psychiatrische Klinik einweisen ließ. Auch Victor Serge, ein angeblich »trotzkistisch« gestimmter Berufskollege Ehrenburgs, erwähnt ihn in seinen Erinnerungen. Jessenin sei ihm schon unsympathisch gewesen, bevor er auf dem Kneipenpodium den Mund aufgemacht hätte – aber dann hätte ihn, wie jeden anderen, der Zauber in dieser ruinierten Säuferstimme ergriffen; der Zauber einer Poesie, die zutiefst aus dem Inneren des Menschen und des Zeitalters gesprochen habe.* Was den unmittelbaren Auslöser von Jessenins plakativem Abgang betrifft, gibt es tausend fruchtlose Spekulationen. Als letzten Knalleffekt hatte er ein kurzes Abschiedsgedicht mit seinem eigenen Blut geschrieben. Darauf bezog sich Majakowski, indem er zunächst den offensichtlichen Mangel von Schreibzeug in den Hotels des revolutionären Rußland beklagte. »Gleich sind da Nachahmer, rufen: 'noch einmal!' / Kompanieweis suchen sie den Freitod. Ist das schön: / daß die Selbstmordziffer steigt? Sinnlose Zahl! / Besser wärs, die Produktion von Schreibzeug zu erhöhn!«

Was den wortmächtigen Hünen Wladimir Majakowski (1893–1930) selber angeht, verbat er sich in einem Abschiedsbrief die Erörterung seines »erledigten Falles«: »Gebt niemandem die Schuld, daß ich sterbe, und bitte kein Gerede.« Der 36jährige hatte sich im April 1930 in Moskau erschossen. Er war ohne Zweifel »der sowjetische Vorzeigedichter schlechthin« gewesen, wie zuweilen gespottet wird, weshalb er zum Beispiel auch in die USA reisen durfte. Gleichwohl hatte er sich zunehmend an autoritären Tendenzen im Sowjetstaat gestoßen. Serge behauptet: »Ich weiß, daß er den Abend zuvor damit verbracht hat, sich vor Freunden zu rechtfertigen, die ihm immer wieder sagten: 'Du bist fertig, du kannst nichts weiter mehr als Gedichte für die [staatstreuen] Zeitungen pissen …'« Hinzu kam wahrscheinlich Gram in amourösen Belangen – wobei sich Majakowski, beispielsweise mit buckeligen Kollegen wie Lichtenberg oder Randolph Bourne verglichen, vor ihn begehrenden Frauen kaum hatte retten können. Eben wie Jessenin. Aber bekanntlich sind die Glückspilze immer die unersättlichsten und undankbarsten Spießgesellen.

* Erinnerungen eines Revolutionärs, Paris 1951, hier deutsche Aus-gabe Hamburg 1991, S. 102 + 299
°
°