Donnerstag, 12. Oktober 2023
Düster 5 Gefährliche TÜV-Prüfung

Als ihr eine Frauenstimme erklärte, sie spräche mit Maria Schneider aus Bad Wildungen, verdrehte Kriminalrätin Eugenie Lilienthal, genannt Lilli, unwillkürlich ihre geschickt ummalten grünen Augen. Wieviele Maria Schneiders mochte es wohl allein in Nordhessen geben? Hunderte, schätzte sie.

»Na prima«, erwiderte sie. »Womit kann ich Ihnen dienen, Frau Schneider?«

»Der Doppelmordfall Bühnke ist ja wohl noch immer nicht aufgeklärt, nach drei Jahren noch nicht«, stellte die Anruferin fest. Es klang eindeutig vorwurfsvoll. Allerdings hatte sie eine angenehm dunkle, etwas kehlige, möglicherweise auf fränkischen oder böhmischen Höhen gewachsene Stimme; das versöhnt mit vielem. Sie ergänzte: »Ich bin selber im Gesundheitswesen tätig, wie das Opfer. Ich hoffe, Sie sind über den Fall im Bilde?«

Lilli überschlug ihn so hurtig, wie es ihr eine beträchtliche Leibesfülle gestattete. Die Kasseler Krankenschwester Elvira Bühnke, damals Ende 20, war vor drei Jahren mitsamt ihrem achtjährigen unehelichen Sohn Clemens durch Zufall auf einem Campingplatz in Holstein ausgegraben worden. Beide Leichen waren schon recht verwest. Jemand hatte die Bühnkes offensichtlich rund zwei Monate früher erschlagen und erdrosselt.

»Das schon, Frau Schneider. Aber wenn Sie sich beschweren wollen, müßten Sie sich eher an die Kasseler Staatsanwaltschaft wenden, nicht an mich. Ich hatte mit den Ermittlungen nicht das geringste zu tun.«

»Ich will mich nicht beschweren. Ich will, daß Sie den Fall wieder ins Rollen bringen. Ich hätte nämlich einen gewichtigen Hinweis, der zum Täter führen könnte.«

»Ich? Warum denn das? Ich sagte doch, ich bin unzuständig. Außerdem stecken wir hier in Karlskirchen bis über beide Ohren in unerledigtem Kram, dabei sind wir nur drei Leutchen, es ist ein Jammer, Frau Schneider. Gehen Sie also bitte zur Kasseler Polizei. Sie können natürlich auch hinfahren, wenn Sie weiter weg wohnen. Wie sind Sie überhaupt auf mich gekommen?«

»Sie wurden mir empfohlen, Frau Lilienthal. Schon Ihre Geschlechtszugehörigkeit stellt ja eine nicht unwesentliche Empfehlung dar, nicht wahr? Im übrigen bin ich auf die Kasseler Polizei nicht gerade gut zu sprechen. Das sind alles ungehobelte Kerle da, die sollte man einmal über diese idiotische Treppenstraße schieben, auf die Kassel so stolz ist.«

Die Rätin kicherte. Dann hakte sie nach: »Um was für einen Hinweis auf den möglichen Täter handelt es sich denn, Frau Schneider?«

»Na hören Sie mal!« prustete sie. »Das erzähle ich doch nicht am Telefon! Schließlich sitzt hier in jeder zweiten Leitung ein Spion, der die Verfassung schützen soll.«

Lilli schmunzelte. »Ihr Mißtrauen ist nicht völlig abwegig, Frau Schneider … Sie sagten, Sie wohnen in Bad Wildungen? Und sie arbeiten dort als Krankenschwester?«

»Nicht ganz. Ich bin Oberärztin in der Kurklinik.«

Lillis antiautoritäre Haltung war leider nicht so stark ausgeprägt, daß sie nicht um ein Haar durch die Zähne gepfiffen hätte. Mit anderen Worten, der Posten der Gesundheitsarbeiterin machte einen gewissen Eindruck auf sie. Deshalb lenkte sie ein:

»Also gut, Frau Schneider, Wildungen liegt ja nicht im Wilden Westen. Ich schicke Ihnen mal meinen einzigen Kommissar vorbei, Herrn Dühser. Hätten Sie heute noch Zeit, ihn zu empfangen? … Gut. Sollte er verhindert sein, ruft er gleich zurück. Ihre Nummer bitte!«

Düster ging auf Lillis in Bittform gekleidete Anweisung klaglos ein. Vielleicht würde die Fahrt im Pkw der Kripo, bei heruntergekurbeltem Fenster, die Backenzahn-schmerzen verscheuchen, die sich über Nacht bei ihm angeschlichen hatten. Es war sonnig, Anfang Oktober – Altweibersommer. Dazu paßte ja eine Oberärztin. Er bereitete sich auf den Ausflug vor, indem er einen über den Fall gut informierten Kasseler Gerichtsreporter anrief, der ihn wahrscheinlich nicht verpfeifen würde. Streng genommen, durften sie sich ja nicht eigenmächtig in die Ermittlungen einmischen, und wenn sie noch so sehr eingestellt waren. Kanngießer erzählte routiniert, was er wußte – die Kasseler Kripo wisse jede Wette auch nicht mehr. Die hätte damals noch nicht einmal einen dringend Verdächtigen auf die Liste bekommen. Man zog nur Nieten. Der Campingplatz in Holstein war zur Tatzeit nahezu verwaist gewesen; örtliche Zeugen sprachen lediglich verschwommen von einem Paar mit Sohn. Schon die Körpergröße fiel bei jedem Zeugen anders aus. Ein zufälliger Raubmord war nicht völlig auszuschließen, da an der Frauenleiche jeglicher Schmuck fehlte. Das Zelt blieb unauffindbar. In Kassel hatte die als »anständig« und »eher schüchtern« geschilderte zierliche Brünette mit ihrem Sprößling in einem Mehrfamilienhaus unweit des Fuldahafens gewohnt. Nach Aussagen von zwei oder drei Hausbewohnern erhielt sie dort wohl zumindest gelegentlich Männerbesuch, doch dieser muß sich sehr bedeckt gehalten haben. Es gab weder übereinstimmende noch sonst brauchbare Beschreibungen. Im Krankenhaus war nichts von Sorgen oder gar Feinden der Kollegin bekannt. Abgeholt wurde sie nie. Sie hatte einen eigenen Wagen – einen alten Käfer. Zuletzt kündigte sie jedoch ihre Stelle im Krankenhaus und tischte dort und ihrer ausschließlich in Süddeutschland lebenden Verwandtschaft gegenüber freudestrahlend eine für manche etwas fadenscheinig klingende Geschichte auf. Sie werde einen Brieffreund namens Stegmüller heiraten, einen gebürtigen Rheinhessen, und diesem nach Südafrika folgen. Tatsächlich meldete sie auch ihren Sohn in der Schule ab und löste die gemeinsame Wohnung auf. Als es soweit war, fuhr sie aber offensichtlich, wie sich später zeigte, nicht zur Eheschließung nach Frankfurt/Main, sondern umgekehrt in dem einen oder anderen Pkw – auch das blieb ungeklärt – gen Holstein, also nach Norden. Möglicherweise sogar in Begleitung ihres Mörders. Man wisse es nicht.

Düster bedankte sich mit wohlgesetzten Worten. Kanngießer scherzte geistesgegenwärtig: »Sie können mir ja ein paar Tausender von der Belohnung abgeben, falls Ihre neue Spur zu überwältigenden Ergebnissen führt.«

Der Gerichtsreporter erklärte auch dies noch bereitwillig. Die Kasseler Staatsanwaltschaft hatte für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters oder der TäterInnen führten, 12.000 Mark ausgelobt. Düster wußte natürlich, man durfte allerdings kein Polizist sein, wenn man den Batzen einstreichen wollte.





2



Düster verzichtete darauf, seine Verblüffung zu verbergen. »Meine Herren«, sagte er zu der blonden Frau, die ihm öffnete, »sind hier alle Oberärztinnen so jung ..?«

Frau Schneider beschränkte sich auf ein spöttisches Lächeln. Sie deutete auf die geöffnete Wohnzimmertür. »Treten Sie näher, Herr Kommissar. Möchten Sie frischen Kaffee ..? Gut, ich hole ihn.«

Er schätzte sie auf Anfang 30. Das Haar trug sie kurz wie Ilona, nur war sie nicht ganz so üppig gestaltet wie die Zierenberger Lehrerin. Vielleicht machte sie täglich Yoga. Sie war auch schnippischer, wie sich zeigte. Mit einem wogenden Busen konnte sie jedenfalls nicht dienen. Dafür hätte man in ihren postmodernen Sitzmöbeln den DLRG-Leistungsschein für Rettungsschwimmer just wie auf hoher See machen können. Düster versank geradezu in ihnen. Schneiders Hausanzug wirkte übrigens ähnlich flauschig. Die Ärztin bewegte sich völlig ungeziert, auch geschminkt war sie nicht. Kurz, sie war ihm auf Anhieb keineswegs unangenehm. Ihr Wohnzimmer ging nach hinten hinaus, auf einen hübschen, leicht verwilderten Garten. Sie wohnte im Erdgeschoß einer mehrstöckigen Jugendstilvilla, die unweit vom Kurpark in einer stillen Seitenstraße lag. Ohne das Zahnweh hätte sich Düster hier pudelwohl gefühlt.

Frau Schneider kam rasch zur Sache. Sie habe sich kürzlich mit ihrem Wagen beim Korbacher TÜV vorstellen müssen, und dabei sei es ihr plötzlich wieder eingefallen. Dazu müsse er wissen: vor Wildungen war sie im Kasseler Stadtkrankenhaus beschäftigt, und die ermordete Elvira Bühnke sei just eine Arbeitskollegin von ihr gewesen, wenn auch nicht auf derselben Station. Aber sie benutzten denselben Parkplatz; Schneider kannte also Bühnkes Wagen. Die Krankenschwester habe einen gebrauchten Käfer gefahren, einen stahblauen. Eines Tages habe sie zufällig durch ein geöffnetes Flurfenster mitbekommen, wie Bühnke vergeblich versuchte, ihren Käfer, nach Dienstschluß, in Bewegung zu setzen. Er sei nicht angesprungen. Deshalb habe sie der Schwester durch das Fenster vorgeschlagen, sich an den Hausmeister des Krankenhauses zu wenden, vielleicht könne ihr der Mann helfen. Bühnke habe daraufhin jedoch mit einem etwas krampfhaften Lächeln, das wohl sorglos wirken sollte, abgewunken und erwidert: »Danke sehr, Frau Schneider, aber das ist nicht nötig. Ich rufe einfach einen guten Freund von mir an, der ist Ingenieur, wissen Sie, sogar beim TÜV ..!« Frau Schneider legte eine Kunstpause ein, bevor sie vollendete: »Kaum hatte sie das herausgekräht, hätte man fast glauben können, sie hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Damals dachte ich mir dabei allerdings nichts. Ich nickte vielmehr nur beruhigt und wandte mich wieder meiner Arbeit zu.«

Düster kraulte seinen aufsässigen Backenzahn und wog sein Haupt, woraus nicht gerade Begeisterung sprach. »Das ist alles ..?«

»Ja«, erwiderte sie trotzig, »das ist alles. Aber überlegen Sie einmal. Die Frau hat sich nie mit Männern blicken lassen und hielt ihr Privatleben im Kollegenkreis bedeckt wie einen Vogelbauer für eine Eule, die am Tage schlafen muß. Da ist es doch gut möglich, daß der TÜV-Kerl keine reine Erfindung war. Oder finden Sie nicht?«

Düster hob nur leicht die Schultern. Dann hakte er nach: »Und was geschah? Kam der Kerl, um ihren Käfer flott zu machen?«

»Sehr unwahrscheinlich. Als ich selber Feierabend machte, stand ihr Käfer immer noch da. Ich nehme an, sie war mit der Straßenbahn nach Hause gefahren. Oder zu dem Kerl … Am nächsten Tag hatte ich frei, und später fuhr ihr Käfer wieder.«

Düster nickte und dachte eine Weile nach, während er sich dankbar Kaffee nachschenken ließ und beim Schlürfen in den Garten blinzelte. Maria Schneiders etwas kehlige dunkle Stimme vollendete sich zwischen schönen, roten und vollen Lippen, und auch ihr Kaffee war erfreulich kräftig, das mußte er ihr lassen. Ob ihr jedoch zu trauen war?

»Ich nehme an, Sie und andere MitarbeiterInnen sind damals von Polizeibeamten befragt worden, Frau Schneider ..?«

»Pah!« machte sie verächtlich. »Befragt? So ein Hüne mit Bierbauch, ich glaube, er hieß Leder oder so ähnlich, hat sich mir gegenüber Anzüglichkeiten erlaubt! Ich hätte ihm am liebsten eine geknallt.«

»Ach!« sagte Düster zwinkernd. »Kuno Lederer? Den kennen wir sogar in Karlskirchen. Ein Trampel.«

»Na sehen Sie!« zwinkerte sie mit Genugtuung zurück.

»Und dem Trampel haben Sie die Geschichte mit dem TÜV-Kerl nicht erzählt ..?«

»Quatsch!« knurrte sie wie umgewandelt mit blitzenden Augen. »Die war mir doch gar nicht gegenwärtig! Sie ist mir erst beim Korbacher TÜV wieder eingefallen, wie ich Ihnen bereits erklärte.«

»Verstehe«, hob Düster beschwichtigend seine gespreizten Hände. »Dann spricht eigentlich nichts dagegen, daß wir der Sache einmal nachgehen. Es wäre natürlich zu hoffen, jener Kerl, falls vorhanden, ist beim Kasseler TÜV aufzutreiben, und nicht etwa beim TÜV von Korbach oder Wiesbaden. Dann wird es teuer.«

Düster bemühte sich, trotz des Zahnwehs heil und einigermaßen schicklich aus seinem wabernden Sitzmöbel zu kommen und überreichte der Oberärztin seine Karte. »Falls Ihnen noch etwas einfällt, Frau Schneider … Schweigen Sie aber bitte einstweilen über die Angelegen-heit. Ich werde Sie verständigen, sobald wir auf eine Goldader stoßen sollten.«

Sie lächelte, stand ebenfalls auf und begleitete ihn in den Flur. Die »Goldader« brachte ihn allerdings auf eine kühne Idee, sodaß er am Telefontischchen innehielt.

»Ach ja, Frau Schneider … Nach meinen Erkundigungen sind Sie mit einem Wildunger Zahnarzt verheiratet, wenn Sie auch offensichtlich nicht mit ihm in dieser schönen Gartenwohnung zusammenleben ..?«

Prompt verschwand das wohlmeinende Abschiedslächeln aus ihrem Gesicht. »Habe ich richtig gehört? Nach Ihren Erkundigungen? Sie spionieren Ihren potentiellen Unterstützern nach ..?«

Düster hob erneut beschwichtigend die Hände. »Was bleibt mir anderes übrig, Frau Schneider? Ich kenne Sie ja nicht. Sie können mir eine Falle stellen, und schon liege ich mausetot in Ihrem Vorratskeller … Ist er also Zahnarzt oder nicht?«

Sie bejahte es, schon halb versöhnt und leicht belustigt. Darauf erklärte er ihr die Sache mit seinem Backenzahn. Die drei Karlskirchener Zahnärzte seien leider erfahrungsgemäß ständig überlaufen. Ob sie vielleicht ein gutes Wort für ihn einlegen könne, damit ihr Mann ihn umgehend einschiebe und von seinen Qualen erlöse? Dabei nickte er auf ihr Telefon.

Das schien sie fast zu belustigen. Sie dachte nicht lange nach, sprach mit einer Sprechstundenhilfe und beschrieb ihrem Besucher den Weg. Er dankte ihr beinahe überschwenglich , als habe sie ihm das Leben gerettet. Aber soweit sind wir in unserer Geschichte noch nicht.





3



Nachdem er sich, einen blutigen Propfen in die Zahnwunde pressend, in der Praxis von Frau Schneiders Gatten ein Viertelstündchen ausgestreckt und dabei erholt hatte, benutzte Düster die Rückfahrt, um die Argumente auszubrüten, die Lilli für seine Unternehmungslust im Fall Bühnke einnehmen könnten. Dann ging er gleich zum Vortrag in ihr Büro. Hauptmeister Reimut Ohl war ohnehin wegen Fingerzeigen auf eine angebliche Erpresserbande in der Stadt unterwegs. Düsters Vortrag mündete in der folgenden taktischen Überlegung.

»Haben wir Glück, war jener ‚gute Freund‘ der Elvira Bühnke also erstens Ingenieur beim Kasseler TÜV – und zweitens ihr Mörder. Nun steht zwar zu fürchten, beim Kasseler TÜV liefen Dutzende von Prüfern oder Sachverständigen herum, die ein Ingenieur-Studium vorweisen können. Sie stürzen sich ja auch auf Waschmaschinen oder Rollstühle, nicht nur auf Kraftfahrzeuge. Der Kandidatenkreis läßt sich jedoch verkleinern, wenn man sich mit dem durchtriebenen Kommissar Bernd Dühser fragt, warum diese Thusnelda eigentlich so sehr darauf bedacht war, die mutmaßliche Liebschaft zu diesem Kerl zu verheimlichen? Ich will dir die Antwort verraten, Lilli: Weil sie ein anständiges deutsches Mädel ist, das es sich nicht leisten kann, ihr Verhältnis mit einem verheirateten Mann einzugestehen. Das dürfte der Grund sein. Ergo müssen wir uns lediglich nach den verheirateten, vielleicht auch geschiedenen Kasseler TÜV-Ingenieuren aus der Tatzeit erkundigen. Kannst du mir folgen?«

»Was heißt hier wir ..?« knurrte die Kriminalrätin, die es schon ahnte.

»Richtig. Du luchst dem Kasseler TÜV unter irgendeinem Vorwand die gewünschte Liste ab. Darin müssen die Namen, Dienstzeiten und Privatanschriften der Personen stehen, die ich dann in Augenschein zu nehmen hätte. Das können nicht viele sein, Lilli. Vielleicht haben sie beim Kasseler TÜV Früh- und Spätschichten, aber in allenfalls einem Tag müßte das Abgrasen zu schaffen sein. Und dabei wird sich der Täter verraten, so wie ich mich kenne. Nun bedenke unseren Triumph, Lilli, wenn wir dem Polizeichef der Bezirkshauptstadt beiläufig einen Doppelmörder auf den Schreibtisch schieben! Georg Mandel wird uns im Hauptteil der Kasseler Post für eine befördernde Versetzung nach Hamburg oder München – und dich für das Ritterkreuz vorschlagen!«

Lilli verzog ihr fülliges Gesicht mehr säuerlich als süßlich. »Mit Großstädten kannst du mich nicht mehr locken, lieber Bernd. Die stinken hinten und vorne nach Smog und Korruption. Aber wir können es einmal so versuchen, wie du es vorgeschlagen hast. Wir ächzen ja derzeit sowieso nicht unter dem Bären völliger Überlastung, den ich deiner schicken Oberärztin aufgebunden habe.«





4



Am nächsten Tag war es zwar bedeckt, auch in Kassel, doch der Regenschirm blieb ihm erspart. Er haßte Kommissare mit Regenschirmen, Hüten und Bärten. Ohl hatte vor einigen Jahren noch eine keineswegs sonderlich fette »Rotzbremse« getragen. Dann heiratete er, und das erfreulichste Ergebnis dieser Wende im Lebenswandel war der Wegfall dieses Schnurrbärtchens. Es hatte seine Frau zu sehr gekitzelt.

Die Liste, die Lilli besorgt hatte, umfaßte acht Männer und erstaunlicherweise auch eine Frau. Die überging er jedoch einstweilen, weil Bühnke nirgends als lesbisch bezeichnet worden war. Fünf von den männlichen Ingenieuren hatten in dieser Woche Spätschicht. Als er gegen 11 damit anfing, sie mit seinem Besuch zu überraschen, traf er allerdings nur drei von ihnen an. Das war Pech, aber eine andere Vorgehensweise kam schließlich kaum in Frage. Er konnte nur auf Überrumpelung setzen. Somit würde er unter Umständen genötigt sein, anderntags erneut nach Kassel zu fahren.

Seine Methode im engeren Sinne war so primitiv wie alles Geniale. Sobald ihm der betreffende Kandidat, womöglich von seiner Gattin gerufen, in der Wohnungstür mehr oder weniger stirnrunzelnd gegenüberstand, sagte Düster den immerselben kurzen Spruch auf: »Guten Tag, Herr Soundso, darf ich Ihnen einen schönen Gruß von Elvira Bühnke ausrichten ..?«

Auf eine Vorstellung verzichtete er. In der Regel verstärkte sich daraufhin das Stirnrunzeln der Kandidaten, ohne daß ihnen eine Verstörung oder gar ein Erschecken anzusehen war. Dann brummten sie etwas wie, dem Herrn müsse wohl eine Verwechslung unterlaufen sein; sie wüßten nichts von einer Dame dieses Namens; wer er überhaupt sei ..? Darauf bat Düster beflissen stammelnd um Entschuldigung und trollte sich wieder. Wie sich versteht, parkte er den Ford Taunus 17 m der Karlskirchener Kripo nie in Sichtweite des betreffenden Hauses, obwohl dieser schlichte, dazu hell lackierte Wagen durchaus zivil wirkte. Das beschriebene Muster hatte sich in allen drei Vormittagsfällen abgerollt, leider. Er konnte sich also über drei Nieten und zwei Abwesenheiten ärgern, während er in einer Pizzeria unweit des Landgerichts zu Mittag aß.

Auch der erste Kandidat von den Frühschichtlern erwies sich als Niete. Der zweite wohnte im Kasseler Osten in einem modernen Dreifamilienhaus mit dem üblichen, durch Hundehaufen garnierten Kurzgeschorenen vor den Kellerfenstern im mittleren Geschoß. Am Bordstein parkten ein paar hübsche Autos, darunter ein stattlicher weinrot lackierter Opel Kapitän P 2,6, den sich keine Provinz-Kripo leisten konnte. Er hatte 90 PS. Der Mieter im mittleren Geschoß hieß Bechthold. Als Herr Bechthold öffnete, drückte sich im Hintergrund eine Frau an der Badezimmertür herum, wohl seine Gattin. Düster schätzte den schmächtigen Mann aufgrund seines schütteren Kopfhaars auf ungefähr 50. Er wirkte unscheinbar und bieder. Als Düster jedoch seinen Spruch aufgesagt hatte, blieb ihm, dem Fahnder, fast die Spucke weg. In Bechtholds blauen Augen hatte es unzweifelhaft Alarm geflackert. Und die Frau an der Badezimmertür hatte sich, mit geweiteten Augen, unwillkürlich ans Kinn gefaßt.

Selbstverständlich ließen sich beide Herren weiter nichts anmerken. Bechthold grummelte lediglich, der junge Mann müsse sich geirrt haben, und machte ihm die Tür vor der Nase zu.

Düster stieg, nicht nur wegen der Schmeichelei, frohlockend die Treppe hinunter. Gewiß hatte die gewählte Taktik den Nachteil, den Täter, falls man ihn aufspürte, zu warnen. Dagegen war freilich nichts zu machen, und es war wohl auch kein großes Unglück. Alle greifbaren Spuren des drei Jahre zurückliegenden Mordes dürfte der Ingenieur ja ohnehin längst beseitigt haben, und falls er jetzt fliehen sollte, hatte man doch zumindest seinen Namen. Trotzdem empfahl sich rasches Handeln, sonst brachte er am Ende auch noch seine Gattin oder die beiden halbwüchsigen Töchter um, die er laut Liste hatte. Düster nahm sich daher vor, von der nächsten Telefonzelle aus, die er durch die Wagenfenster entdecken würde, Lilli anzurufen, um sich wenigstens kurz mit ihr zu beraten. Er hatte seinen Taunus um die Ecke vor einer Grundschule geparkt. Als er die Ecke erreichte, sah er sich natürlich routinegemäß um, wenn auch nicht unbedingt sehr sorgfältig. Niemand folgte ihm. So ging er zum Wagen und fuhr los.

Die gewünschte Telefonzelle stand schon zwei Seiten-straßen weiter vor einer Gaststätte. An der Kneipentür verkündete ein Schild, »Wir machen Osterurlaub vom … bis ..!«, aber die Telefonzelle schien noch in Betrieb zu sein. Sie war auch frei. Während er am gegenüber liegenden Bordstein ausstieg und auf die siebenfach unterteilte seitliche Glaswand der gelblackierten Zelle zuging, kramte er bereits in seiner Anzugjacke nach Kleingeld.

Mitten auf der Straße hielt er plötzlich erschrocken inne – und schimpfte sich fast im selben Atemzug einen Vollidioten. Ein Motor heulte auf, und schon raste jener weinrote Opel Kapitän auf ihn zu, den er vor Bechtholds Haus bewundert hatte.

Bechthold mußte eine enorme Geistesgegenwart besitzen. Nun schien er entschlossen, den lästigen Schnüffler mit der schwarzen Mähne auf seinen mächtigen Kühlergrill zu nehmen. Düster zog es jedoch vor, sich mit Hechtsprung hinter die einzige Deckung zu werfen, die in der Nähe war, nämlich die Telefonzelle. Bechthold riß das Steuer herum, erwischt aber nicht den Schnüffler auf dem Rasen, sondern streifte nur die Seitenwand der Telefonzelle, die daraufhin zerbarst.

Als sich Düster wieder aufrappelte und sein Widersacher scharf bremste, um den Kapitän zu wenden und einen neuen Anlauf zu nehmen, lagen bereits etliche Leute in den umliegenden Fenstern und gaben zum Teil spitze Schreie von sich. Der weinrote Panzer brauste schon wieder heran, während Düster auf seinem Rasen noch in gebückter Haltung in seine Achselhöhle griff. Dieser Bechthold mußte von Sinnen sein! Düster hatte sich bei dem Hechtsprung lediglich ein Knie an einem eisernen Begrenzungsband zerschunden; seine Arme dagegen waren noch unbeschädigt. So zog er seine wohlweislich eingesteckte Pistole und zerfetzte dem Kapitän den zur Straßenmitte zeigenden Vorderreifen. Darauf brach der Wagen aus und knallte vor eine dickere Linde, die auf der anderen Straßenseite stand. Es folgten Explosionen und Flammen, was der Linde womöglich noch schlechter bekam.

Erfreulicherweise hatte irgendein Bürger die Polizei alarmiert. Düster hörte bereits die Sirenen, während er zu seinem Dienstwagen humpelte, um einmal nachzusehen, ob sie eigentlich den vorgeschriebenen Feuerlöscher an Bord hatten. Doch bald nach der Polizei trafen auch Krankenwagen und Feuerwehr ein. Die Linde konnte gerettet werden, während für Bechthold leider jede Hilfe zu spät kam. Die Polizei bestellte einen Leichenwagen. Dann ließ sie sich Düsters Pistole aushändigen und bat ihn selber darum, sie aufs Revier zu begleiten. Dem gab er, als der Klügere, natürlich nach. Er wollte sich nicht mitten auf der Straße in Debatten einlassen.





5



Als Frau Bechthold, schwer geschockt, wieder vernehmungsfähig war, gab sie ziemlich rasch zu, von ihrer Konkurrentin Bühnke und deren gewaltsamen Ende gewußt zu haben. Offenbar hatte sie ihren etwas blaß wirkenden Gatten, warum auch immer, um jeden Preis halten wollen. Der Bühnke galt ihr ganzer Haß. Die Bühnke hatte ihren Mann verhext. Er war unschuldig. Bühnke setzte ihm zunehmend mit erschlichenen Schwangerschaften, angefangen mit Clemens, sowie der Forderung nach einem neuen gemeinsamen Leben zu, notfalls im Ausland. So erfanden die beiden die Sache mit dem Südafrikaner Stegmüller, planten jenes neue Leben jedoch für Skandinavien, wo sich Bechthold etwas auskannte. Er hatte sich von der Bühnke »belatschern« lassen. So stellte es jedenfalls seine Frau dar. Ob Herr Bechthold tatsächlich bereit gewesen war, seine Gattin zu verlassen oder vielmehr beabsichtigte, Bühnke, mit ihr gen Norden unterwegs, aus dem Verkehr zu ziehen, war kaum zu ermessen. Möglicherweise löste ein Streit einen Totschlag aus. Im anderen Fall kam Bechtholds Frau sogar als Mordbeihelferin in Betracht. Das wäre allerdings niemals nachweisbar gewesen. Deshalb blieb sie von Haft verschont.

Nicht nur Frau Bechthold, auch Düster hatte durch das Kasseler »Road Movie« mit dem weinroten Opel Kapitän eine ziemlich große Presse. Es war wie immer. Die einen Kommentatoren fanden Düsters eigenmächtigen Vorstoß mutig und löblich, die anderen leichtsinnig und verwerflich. Die Staatsorgane hielten die Goldene Mitte. Sie erteilten der Karlskirchener Kripo offiziell einen Verweis; heimlich klopften sie ihr auf die Schulter. Georg Mandel, der beleibte Pressezar des Provinzstädtchens, versicherte jedem, der es hören wollte, die Kasseler Kripo wäre des mutmaßlichen Täters noch im nächsten Jahrhundert nicht habhaft geworden, jede Wette. Er war auf die Karlskirchener Kripo stolz, als hätte er sie selbst gegründet.

Als Düster Frau Schneider telefonisch die Angelegenheit mit der nun fälligen Belohnung von 12.000 Mark mitteilte, die natürlich ihr zustand, staunte sie zunächst. Dann meinte sie trocken: »Na gut. Ich werde das Geld nach Vietnam leiten. Die Yankees haben für die dortigen napalmgeschädigten Kinder keine Zeit; der nächste Kriegsschauplatz wartet schon.«
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