Mittwoch, 18. Oktober 2023
Düster 7 Müllerkoogs BernharDiener

Ende April wurde der Kripo ein mutmaßlicher Unfall am Schloßberg gemeldet. Man möge einmal vorsichtshalber jemanden vorbeischicken, damit man sich später nichts vorwerfen müsse. Der Anruf aus dem Polizeipräsidium wurde von Düster entgegen genommen, weil Lilli mit einem gebrochenen Bein vorübergehend im Kasseler Rotkreuz-Krankenhaus lag. Somit war der Kommissar mit Verwaltungs- und Führungsaufgaben überlastet und hatte für den Absturz einer hirnverbrannten Joggerin keine Zeit. Er schickte Hauptmeister Ohl in den Wald.

Der Schloßberg war ringsum überwiegend mit Laubwald bestanden. Er grünte jetzt schon kräftig und würzte die Luft mit Ozon. Wer ihn kannte, konnte eigentlich trotz verschiedener Steilwände nicht viel falsch machen. Die Abgestürzte, eine 34jährige Lehrerin vom Karlskirchener Gymnasium, hieß Renate Vogt. Sie war seit längerem geschieden und lebte allein. Kollegen behaupteten später, ihr regelmäßiges Joggen hätte keineswegs die Grenze zum Fanatismus überschritten. Sie keuchte lediglich mehrmals wöchentlich einen bestimmten, mit Treppen durchsetzten Steilweg zur Burgruine hinauf, weil sie schlank, geschmeidig und langatmig bleiben wollte. Dabei nun geschah es. An dem verhängnisvollen Donnerstag hatte es geregnet. Nach Ansicht der Schutzpolizei glitt die Lehrerin unglücklich auf einer glitschigen Treppe aus, stürzte über 20 Meter einen Steilhang hinunter und schlug vor einem der ehemaligen Eiskeller am Fuße des östlichen Schloßberges auf einer schmalen, asphaltierten Straße auf. Sie brach sich das Genick.

Unmittelbare Augenzeugen hatten die Kollegen bislang nicht aufgetrieben. Ohl fand ihre Geschichte jedoch einleuchtend, nachdem er den Unfallort gemustert und vergeblich nach Anzeichen für »Fremdeinwirkung« abgeklopft hatte. Nach einer guten Stunde zog er sich wieder ins Hauptquartier der vorübergehend nur zweiköpfigen Kripo zurück, verfaßte einen kurzen Bericht und warf sich grimmig auf eine unerledigte Sache, bei der die Aufwartefrau eines Mietshauses in der Schwimmbad-straße einen 28 Jahre alten Mieter vor mehreren Ohrenzeugen als »Kinderschänder« gebrandmarkt haben sollte. Düster überflog Ohls Bericht aus dem Wald, nickte und heftete ihn sorgfältig ab. Schließlich war er im Augenblick der Verwaltungschef.

Eine denkbare Alternative zum Befund »Unfall« wäre sicherlich »Selbstmord« gewesen. Diesen Gedanken hatte Ohl aber großzügig ins Unterholz verscheucht, weil ihm Renate Vogt als bescheiden, stets freundlich, ja anscheinend sogar rundum zufrieden geschildert worden war. Die Schutzpolizisten dagegen übergingen diese Alternative eher deshalb, weil sie sie ungern dem prominenten Mitbürger und Steuerzahler Engelbert Müllerkoog zumuten wollten. Sie hielten das für taktvoll. Müllerkoog war nämlich der Vater der einst verheirateten Frau Vogt. Das wußte aber Ohl nicht, als er am Unfallort weilte. Für ihn hatte sich irgendeine Joggerin namens Renate Vogt den Hals gebrochen – und nach wenigen Tagen hatte er sie vergessen.





2



Für den Antiquar Stubenrauch stellte die hohe, eicherne Flügeltür im seitlich angebauten Portalhäuschen die ein-zige Kostbarkeit des klobigen ehemaligen Amtsgerichtes dar. Ohne Zweifel übertraf sie sogar viele Kirchentüren. Stubenrauch mußte es wissen, denn zum einen war er gelernter Tischler, zum anderen lag sein Kellerladen mit gebrauchten Büchern gleichsam um die spitze Ecke, nämlich in der Gasse Hinter dem Amtsgericht. Die kostbare Flügeltür ging auf den Holzweg. Sie zeigte zwischen mehreren querstrebenartigen gut gehobelten Brettern ein großzügiges Muster aus dicken rautenför-migen Holzschindeln; der ganze Besatz war mit Hilfe von unverbrämten Holzstiften im Türblatt verdübelt. Man konnte diesen Besatz als ein wuchtiges Furnier auffassen, das der kleinstädtischen Gerichtsfestung wohlangemessen war.

Allerdings war die Festung bekanntlich vor einigen Jahren geschlossen worden. Sie stand aber gar nicht sonderlich lange leer, hatte sich doch im zurückliegenden Sommer der ersehnte »potente« Käufer für das nach wie vor mit Amtsgericht beschriftete, denkmalgeschützte Gebäude gefunden. Der Mann hieß Engelbert Müllerkoog, inzwischen 62. Jeder Literaturfreund oder Fernseh-konsument wußte selbstverständlich, was er von diesem Mann zu halten hatte. Er war bedeutend. Er strich emsig Literaturpreise ein und versäumte selten eine Gelegenheit, öffentlich salbungsvolle Worte von sich zu geben, obwohl er von Natur aus keineswegs typischer Prahlhans war. Er war einfach nur von seiner Bedeutung durchdrungen. Seine Tochter Renate, jene Lehrerin vom einzigen Gymnasium Karlskirchens, hatte das leerstehende Amtsgericht beiläufig und absichtslos am Telefon erwähnt. Müllerkoog, damals in München residierend, war beeindruckt und setzte sowohl seine Tochter wie seinen »BernharDiener« sofort auf die Karlskirchener Stadtväter an. Die zeigten sich hocherfreut und verkauften ihm die wertvolle Immobilie. Später gestand Müllerkoog, besonders eine Großaufnahme des aus Sandstein gemeißelten Reliefs, das in der zur Straße gewandten Giebelspitze prunkte, hätte es ihm angetan. Es zeigte, wie schon früher erwähnt, zwei Knaben, die ein mächtiges, senkrecht stehendes Schwert umklammerten.

Man ahnt es bereits, der Großschriftsteller liebte die Sprache und das männliche Geschlecht. Das letztere hing er nicht unbedingt an die große Glocke, aber Georg Mandel von der Kasseler Post wußte es natürlich trotzdem. Müllerkoogs Gattin, mehr ein Aushängeschild, war früh gestorben. Jetzt teilte er sich das Amtsgericht im Wesentlichen mit seinem Sekretär und mit seinem Hund, den er freilich auch noch liebte. Es war ein fuchsroter Chow-Chow. Eine Haushälterin kam nur tagsüber; sie wohnte, wie Stubenrauch, fast um die Ecke, sodaß sie stets zur Hand war. Schließlich konnte man von den beiden Herzögen des Literaturreiches nicht verlangen, sich die Apfelsinen oder Pampelmusen eigenhändig auszupressen. Von dem Chow-Chow schon eher, aber der trank am liebsten Leitungswasser.

Düster hatte von Müllerkoogs kultureller Bedeutung lediglich verschwommene Vorstellungen, weil er Mandel gar nicht danach gefragt hatte. Der Kommissar machte sich aus Salonlöwen oder Herrenreitern so wenig wie aus Hunden. Mach Männchens schleckende Zuneigung erduldete er nur seiner Chefin zuliebe. Unlängst jedoch, zum sogenannten Totensonntag, war er in der Wochen-endbeilage der Frankfurter Rundschau auf eine kleine Betrachtung aus der Feder des prominenten Mitbürgers gestoßen. Er las sie freilich mit zunehmendem Unmut, weil sie ihm gar zu kurz, zu oberflächlich gedacht, überdies zu glatt formuliert vorkam. Was Müllerkoog zum Thema »Tod« eigentlich auf dem Herzen lag, blieb im Grunde nebelhaft. Er schien sich jedoch für eine »versöhnliche« Haltung dem Tod gegenüber auszusprechen. Das gipfelte schließlich in einer Bemerkung, die ihm jeder Prediger, wie bereits das FR-Feuilleton, mit Gold bezahlt hätte. »Der Tod, sagte mir der Freund, könne nichts Schwieriges haben, schon deshalb nicht, weil jeder ihn leiste. Und auch an dieser Überlegung war nichts Schwieriges. Gut war es, an ihr festzuhalten.«

Was für ein Blender, was für ein Weihrauchschwenker! knurrte Düster, während er durch sein hohes Dachgauben-fenster in den Novemberdunst stierte. Die Unmengen an Leichen, die wir Tag für Tag von vollgekotzten Krankenhausbetten, blutbefleckten Parkwegen oder von den zahlreichen Kriegsschauplätzen zu bergen haben, kamen also mit leichten Übungen davon. Der Mann spinnt ja wohl. Ilona rieb ihm allerdings später, am Telefon, unter die Nase, diese Kritik sei vielleicht auch noch etwas zu kurz gedacht. Jeder Tod, auch der angeblich natürlichste, stelle eine Erpressung dar. Spräche Müllerkoog mit dem Freund von »Leistung«, müsse ja wohl unser Wille beteiligt sein, denn leistungslos seien nur Träume und Illusionen. »Er kennt also einen verbreiteten Willen zum Tod. In Wahrheit ist bekanntlich das Gegenteil der Fall: die meisten Menschen wollen mitnichten sterben, sie sind entschieden dagegen. Deshalb muß ihnen der Tod aufgezwungen werden, mein Liebster. Sie leisten ihn nicht, sie erleiden ihn.«

Der eben gestreifte BernharDiener hieß eigentlich Bernhard Fuhr und hatte sogar einen Doktortitel. Er war rund 20 Jahre jünger als sein Chef. Offiziell war er Müllerkoogs Sekretär. Inoffiziell auch dessen Liebhaber und Wegbahner. Germanist Fuhr hatte die maßgeblichen Arbeiten und Artikel über den großen »Dichter« Müllerkoog veröffentlicht, glänzte mit Vorträgen über ihn und kümmerte sich um alles, was sich Müllerkoog kokett weltfremd als »Bürokram« vom Leibe hielt. Man kann sich wohl denken, daß Fuhr auf diese Weise auf seine Kosten kam. Im neu erworbenen Amtsgericht ließ Müllerkoog eine Art Einliegerwohnung für seinen »BernharDiener« schaffen. Er selber, der von Fuhr gemanagte Großmeister deutschsprachiger Lyrik und Prosa, wandelte den früheren Gerichtssaal mit den fünf schmalen, buntverglasten Kirchenfenstern in sein Arbeitszimmer um. Es lag in dem Giebelhaus, das die Knaben mit dem Schwert bewachten, im ersten Stock. Das schöne Parkett hatte er mit seltenen Teppichen vollgeklatscht, darunter ein kleiner, altersbedingt verblaßter Aubusson, der auf beigem Grund vorwiegend gerankte, einst strahlend blau blühende Blumen zeigte. Diese Kostbarkeit lag unter dem Besucherarmlehnstuhl, der vor Müllerkoogs mächtigem, geschwungenen Schreibtisch aus Nußbaum stand. An dem Schreibtisch saß meistens Fuhr.

Der Sekretär des Großschriftstellers war ein stämmiger, charmanter und sogar gutaussehender Mann, der mit Engelszungen reden konnte. Man sollte jedoch nicht argwöhnen, er habe Müllerkoogs Liebhaber lediglich gespielt. Der schmächtige, etwas schüchtern wirkende Engelbert mit den schütteren blonden Strähnen auf dem Vogelkopf gefiel ihm tatsächlich. Gewiß gestattete sich Fuhr auch manchen Seitensprung – den sein Chef und Gönner geflissentlich übersah. Mit anderen, mehr finanziellen Unregelmäßigkeiten hielt es Müllerkoog genauso. Er wollte in diese Dinge nicht eindringen, solange ihm Fuhr den mächtigen Brustkorb ließ. Bei seinem Bernhard fühlte er sich geborgen.





3



Fast hätten wir Müllerkoogs Sohn Manfred vergessen. Als überzeugter Großstadtmensch wohnte er bereits seit einigen Jahren in Kassel. Wir kommen noch ausführlicher auf ihn zurück, weil er in Kürze ebenfalls, wie seine Schwester Renate, von einem tragischen Geschick ereilt wird. Einstweilen nur dies: Manfreds Verhältnis zum Senior war schwierig. Das zum Publikum leider auch. Manfred hatte sich dummer-, wenn auch überlicherweise in den Kopf gesetzt, gleichfalls eine literarische Laufbahn einzuschlagen und so zu Ruhm zu kommen, verstand es freilich nie, sich aus dem Schatten des Alten zu lösen. Manfreds Bücher gingen eher schlecht. So steckte ihm Engelbert Müllerkoog, via Fuhr, manchen Scheck zu, was das Verhältnis nicht gerade unkomplizierter machte. Gleichwohl konnte es Manfred verständlicherweise nicht dulden, wenn Fuhr die zukünftige Erbmasse anzutasten wagte, die Manfred und Renate winkte. Eben diesen Verdacht – den der Veruntreuung – hatten die beiden schon seit einiger Zeit gehegt. Davon wußte nur die Polizei noch nichts. Aber Ilona Velberting, selber Lehrerin, hatte bereits vor Renate Vogts Unfall in Andeutungen davon gehört. Und das fiel ihr wieder ein, als auch Manfred so schrecklich zu Fall kam.

Jene Kollegin, mit der sie sich unweit des Zierenberger Bahnhofs eine Wohnung teilte, hatte Ilona einmal bei einem kleinen Umstrunk recht Löbliches von der Prominententochter aus Karlskirchen erzählt. Die Wohngenossin hieß übrigens Heidrun Magersuppe. Sie lachen vielleicht, aber der Nachname ist durch Hederichs Zierenberger Stadtgeschichte für die Gegend verbürgt. Heidrun Magersuppe war eher »vollschlank«, Richtung Lilli Lilienthal. Sie zerriß sich gleichwohl keineswegs das Maul über Renate, die sie von Tagungen her kannte. Die schlicht und gradlinig wirkende Frau bilde sich auf ihren hochgelobten Vater nichts ein und strebe auch selber nicht nach Lorbeer. Sie belächele sein fürstliches Gebaren eher. Was sie aber durchaus weniger witzig finde, daß Fuhr ihn wahrscheinlich übers Ohr haue. Ihr Bruder Manfred habe sich kürzlich einmal die väterlichen Bankunterlagen angesehen und dadurch Verdacht geschöpft. Das habe er einstweilen nur ihr, der Schwester, mitgeteilt, um den Vater nicht in einen Herzanfall zu stürzen.

Wie Düster erst nach dem Anschlag in Kassel mühsam rekonstruierte, hatte die Krisensitzung der Geschwister nur wenige Tage vor Renates Unfall am Schloßberg stattgefunden. Weitere Aufschlüsse gaben ihm dann erst die Vernehmungen des verhafteten Berthold Fuhrs. Vor dem Anschlag hatte sich Düster gar nicht um das gekümmert, was sie dann »den Fall Müllerkoog« nannten. Das war ihm wohl auch schwerlich vorzuwerfen. Wie sollte er ahnen, der Großschriftsteller werde von seinem Sekretär seit Jahren zielstrebig ausgenommen wie die sprichwörtliche Weihnachtsgans? Warum sollte Düster plötzlich ohne Anhaltspunkte Ohls netten Bericht von dem Unfallort am Schloßberg anzweifeln? Dazu kam es erst durch den Anschlag in Kassel. Wäre dieser aber womöglich zu verhindern gewesen, wenn sich Ilona Velberting einmal etwas früher an die Erzählung der Heidrun Magersuppe erinnert und sie flugs ihrem Liebhaber Kommissar Düster vorgesetzt hätte? Diese Frage stellte er Ilona in der Tat. Darauf schimpfte sie, jetzt wolle er wohl ihr den Schwarzen Peter in die Schuhe schieben. Hinterher sei man immer klüger; da reime sich alles schön zusammen. Sie sehe aber gar nicht ein, warum sie sich damals, nach dem Umtrunk mit Heidrun, näher für das Schmutzige-Wäsche-Waschen im Clan Müllerkoog hätte interessieren sollen. Das räumte Düster schließlich ein, und damit war der Haussegen im Mansardendach der Apotheke Röder am Karlskirchener Obermarkt gerettet.





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Die folgende Darstellung sowohl des angeblichen Unfalls am Schloßberg wie des Kasseler Anschlages erfolgt zum einen aufgrund der Ermittlungen, die Düster in Absprache mit der Kasseler Kripo vornahm, zum anderen aufgrund einiger Details, die Fuhr noch in den Vernehmungen beisteuerte. Diese kamen nämlich einem Geständnis gleich.

Dummerweise war Renate beim Stöbern in den Kontoauszügen ihres Vaters von Fuhr beobachtet worden, merkte das freilich ihrerseits nicht. Das war das Todesurteil für Renate gewesen. Fuhr lauerte ihr an dem regnerischen Apriltag am Schloßberg auf und stieß sie in die Tiefe. Zwar hatte er sich vorsichtshalber maskiert, aber sie kam ja gleich zu Tode, und mögliche Augenzeugen wußte Fuhr gut zu meiden. Selbst das Alibi, das er für den Notfall bereit hielt, brauchte er nicht zu zücken. Damit zum Sohn. In ihm hatte Fuhr zunächst keine Gefahr gesehen. Dann belauschte er jedoch ein Telefongespräch zwischen Vater und Sohn, aus dem Fuhr schließen mußte, auch Manfred habe inzwischen Argwohn gefaßt. Offenbar legte Manfred seinem Vater nahe, das Finanzielle aus Fuhrs Aufgabenbereich heraus zu nehmen, vielleicht sogar ihm selber anzuvertrauen, dem Sohn. Das ging Fuhr entschieden zu weit, sodaß er sich entschloß, Nägel mit Köpfen zu machen.

Fuhr kannte Manfreds Gewohnheiten ähnlich gut wie die von Renate, außerdem die Wirtin einer bekannten Kasseler Schwulenkneipe, die ihm das schon wieder benötigte Alibi verschaffen sollte. Manfred hatte eine kleine Eigentums-wohnung unweit der ehemaligen Villa Henschel auf dem Kasseler Weinberg. Er teilte sie sich lediglich mit seinem fetten, watschelnden Langhaardackel, den er selbstver-ständlich oft ausführte, meist auf denselben Wegen. Der Weinberg wurde am Fuß von der Frankfurter Straße umkurvt, jenseits lag die Karlsaue. Die verkehrsreiche Straße ähnelte einer Schlucht. Sie wurde jedoch vom Henschelgarten aus von einer Fußgängerbrücke über-spannt, die Manfred und sein hängebäuchiger Dackel nur zu gern benutzten, um ein wenig an den Randgebüschen der Karlsaue zu schnuppern. Viel mehr lag nicht drin, denn der greise und überfütterte Dackel war nur noch schlecht zu Fuß. Manfred trug ihn streckenweise kurzerhand auf seinen Armen.

So auch am Mordabend, als der erneut maskierte Fuhr ihm an der Fußgängerbrücke auflauert. Es wird bereits dunkel; die Laternen auf der Brücke zeigen Fuhr, die Luft ist rein. Der Doktor philosophiae besaß nie eine Pistole; er ist überhaupt kein Waffenmensch. Nur kräftig und skrupellos ist er, weshalb er den Dichtersprößling mitsamt Dackel auf den Armen kurzerhand über das Geländer auf die verkehrsreiche Frankfurter Straße kippt. Dann sucht er das Weite. Nur erreicht er es nicht, weil auf dem Fußweg längs der Karlsaue zwei Rocker daherspaziert kommen. Das Klirren ihrer Kettchen hat Fuhr überhört. Sie haben den Anschlag leider mitbekommen und stellen dem maskierten Flüchtigen nun ein Bein, bevor sie ihm die Maske entreißen, um ihm ein blaues Auge zu hauen. Sie nehmen ihn in die Mitte, gehen zum Brückengeländer und schauen sich den Tumult an, der unten auf der Straße herrscht. Sie hören die ersten Sirenen. »Aha, mein Freundchen, die Bullen rücken schon an. Verrate ihnen aber nicht, von wem du das hübsche Veilchen hast.«

In seinem Abschlußbericht erörtert Düster auch die mutmaßliche Persönlichkeit Fuhrs. Für ihn ist der Doppelmörder alles andere als ein vertrockneter Literaturwissenschaftler und Schreibtischhengst, vielmehr ein Spieler. In diesem Sinne nutzt er Müllerkoogs Schuldgefühle ihm gegenüber (und die entsprechende Erpreßbarkeit) ohne Reue aus. Müllerkoog hat ja sicherlich einige Schaumschlägereien, dazu Moral- und Gesetz-widrigkeiten seines Sekretärs geduldet, wenn nicht sogar gebilligt. Müllerkoog ahnte zumindest: der Fuhr baut da einen Popanz auf. Auch vom deutschen Faschismus her hat Müllerkoog Dreck am Stecken. Ihn selber, Müllerkoog, hätte Fuhr niemals umgebracht, und er tat es ja auch nicht unmittelbar. Schließlich hätte er sich damit nur der Kuh beraubt, die er möglichst lange zu melken gedachte. Auf der einen Seite liebte Fuhr Müllerkoog und sein eigenes Ansehen; auf der anderen verachtete er die Sprößlinge seines Gönners. Die hatten es zu nichts gebracht. Da konnte man sie genauso gut umbringen.

Lüge und Literatur seien Geschwister, behauptet der Kommissar sogar. Ein aufrichtiger Fuhr sei undenkbar. Gefragt, warum er sich dann dazu habe verleiten lassen, beide Morde im Laufe der Vernehmungen zu gestehen, habe Fuhr achselzuckend erwidert: »Warum sollte ich meine Leistungen schmälern, Herr Kommissar? Der zweite Mord war ja sowieso kaum abstreitbar – da konnte ich den ersten ruhig auch noch auf meine Kappe nehmen. Die Todesstrafe droht mir schließlich nicht. Vielleicht gelingt mir in der Haft ein großes Buch.«

Ja, schließt der Kommissar den Bericht, darin wird er seine Leistungen sicherlich in vollstem Umfang und mit größtmöglicher Tiefe darzustellen und zu würdigen wissen.

Wie sich versteht, ist Müllerkoog von Fuhrs gewaltigem Vertrauensbruch und dem Verlust seiner Kinder bis ins Mark erschüttert. Rund eine Woche nach dem Kasseler Anschlag bricht er in seiner nun verlassenen Gerichtsburg endgültig zusammen. Er hat gerade noch die Kraft, sein Testament zu zerreißen und an Fuhrs Schreibmaschine, mit zwei zittrigen Zeigefingern, eine kurze Neufassung zu tippen. Da auch Müllerkoog Hundehalter ist, vermacht er den Löwenanteil seines Vermögens dem Fritzlaer Tierheim mit der Auflage, im Karlskirchener Amtsgericht eine feudale Zweigstelle nur für verarmte oder verwaiste Köter zu eröffnen. Der fuchsrote Chow-Chow bekommt, auf Lebenszeit, eine fette Rente. Mit dem schmalen Rest seines Vermögens bedenkt Müllerkoog wie gehabt seine Haus-hälterin. Jetzt ruft er in seiner Verzweiflung und Verwir-rung Kommissar Dühser an, den er bittet, das Testament auf Stichhaltigkeit zu prüfen, sauber abschreiben zu lassen und als Zeuge mit zu unterschreiben.

Düster zögert. Er will dem geplagten Prominenten einen Notar empfehlen, wenn auch nicht gerade Benito Marini aus dem Fürstenlob, doch Müllerkoog zetert mit dünner Stimme, dazu sei jetzt keine Zeit mehr. Ergo erfüllt ihm Düster diesen letzten Wunsch. Er macht das Dokument, einschließlich beglaubigter Kopie, noch am selben Tag fertig und stößt es auf dem Nachhauseweg, wie vereinbart, in den Postschlitz der kostbaren eichernen Flügeltür des ehemaligen Amtsgerichts. Mit Ohl hat er zuvor darauf gewettet, der alte Mann werde den nächsten Abend nicht mehr erleben. Und in der Tat. Die Haushälterin findet ihn in dem gepolsterten Armlehnstuhl vor seinem Schreibtisch eingesunken, den er so oft zum Diktat benutzt hatte, während Sekretär Fuhr hinter dem Schreibtisch thronte. Das hohe, schmale Glas mit einem Rest des Gifttrankes liegt schräg an seinem Hosenbund. Etwas Flüssigkeit ist sogar auf den Sesselsitz und den kostbaren Aubusson getropft.
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