Samstag, 30. Juni 2012
Wahnhöfe und Blutbäder
Geschrieben 2008


Was verbindet abgelegene Ortschaften wie beispielsweise Lebus an der Oder, Murr an der Murr, Ziegenrück an der Saale, Runkel an der Lahn, Grebenau an der Jossa, Friedrichswerth an der Nesse ..? Da es zu aufwendig wäre, ihnen die Flüsse zu stehlen, hängt man sie systematisch vom Eisenbahnnetz ab.

Das sind unmittelbare Angriffe auf meine Kindheit. Ich wuchs im Dorf Zennern an der Eder und im nahen Städt-chen Gudensberg auf. Beide Ortschaften hatten Bahnhöfe. Dasselbe gilt lückenlos für meine „späten“ Wohnorte, die auch wieder vergleichsweise klein waren, darunter Dorf Mecklenburg, Korbach, Waltershausen. Ich glaube, sie nicht zuletzt ihres Bahnanschlußes wegen gewählt zu haben – wie wäre ich auch anders hingekommen? Die „leistungsstarken“ Autos, die ich fuhr, gehörten stets meinen Chefs. Bahnanschluß verlieh mir bereits als Dreikäsehoch das beruhigende Gefühl, jederzeit aufbre-chen zu können, um woanders „wie ein Turm“ – nach einem Maurenbrecher-Song – durchs Leben zu schreiten. Faktisch reise ich kaum noch und verfalle allmählich der Seßhaftigkeit.

Solange er nicht mit Span- oder Lochblechplatten verrammelt ist, steht der Bahnhof genauso für An- und Niederkunft wie dafür, daß einem stets alle Türen offen stehen. Er ist das Drehkreuz der Menschen mit ausge-prägtem Möglichkeitssinn. Wie sich der Geldsack potenti-ell alles kaufen kann, könnte der Bahnhofsnarr alles anlaufen. Die LP Trotz & Träume von 1979 wird durch das schmissige Lied Wie ein Rad eröffnet. Der darin erwähnte Gitarrenkoffer lehnt vor meinen Füßen in der Hüttenecke. Selbst die Gitarre (Modell John Pearse) ist noch da; für den Hals nahm Dieter Hopf Mahagoni, für die Decke rote Zeder. Seit meinem Handgelenkbruch führt sie ein Schattendasein. In meinen Tagträumen spiele ich in fröhlichen Rentnerbigbands. Es läuft immer gut, denn wie schon Georg Kroll in Remarques Obelisk erkannte, enttäuscht Phantasie nie.*

Jenes frühe Lied besingt den üblichen Streuner, der sich so rasch umgarnen lassen wie wieder absetzen kann. Deshalb sei ihm die Bahnhofsnähe so lieb. Von interessanten Leuten in ein paar Tagen der Zusammenarbeit neu beschwingt, drehe er sich – eben wie ein Rad – weiter um sich selbst.

Was meinen jetzigen Wohnort Waltershausen angeht, dürften allerdings auch die Tage dieser Stichstrecke zwischen Friedrichroda und Fröttstädt gezählt sein, an der unser verrammelter Bahnhof liegt. Nach ungefähr über-einstimmenden Angaben verschiedener Webseiten mußten in den 10, überwiegend „rotgrün“ gestempelten Jahren bis 2005 um 5.000 Kilometer Bahnstrecken daran glauben. Dagegen sollen die heute fast ausschließlich geförderten ICE-Strecken zusammengenommen keine 7.000 Kilometer lang sein. Man mache sich einmal klar, welcher ungeheu-erlichen Vernichtung von volkswirtschaftlichen Werten die Verrottung oder Ausmerzung jener „Nebenstrecken“ gleichkommt. Diese Gleise, Bahndämme, Brücken, Tunnels und Bahnhöfe wurden alle einmal in mühsamer Arbeit und mit viel Geld erbaut. Allein im Waltershäuser Bahnhof könnte eine 30köpfige anarchistische Kommune wohnen. Man könnte ihn auch unseren einheimischen, in einem schäbigen Plattenbau eingepferchten Asylsu-chenden überlassen – wären sie nur jene potenten „Investoren“, die ihn als 5-Sterne-Lokal mit Speisen aus aller Welt betrieben!

Ich gebe zu, der Waltershäuser Bahnhof ist auch ohne Verrammelung kein Schmuckstück. Aber es gibt schlim-mere Bahnhöfe. Waltershausen im ganzen ist sogar ein vergleichsweise hübsches Städtchen. Kennen Sie dagegen Bad Kleinen? Goethe war möglicherweise schon mal dort; wo wäre er nicht gewesen. Robert Gernhardt kann jedenfalls nicht dort gewesen sein. Sonst hätte er eins seiner berühmtesten Gedichte ganz gewiß auf diese Ansammlung von Häusern am Nordzipfel des Schweriner Sees verfaßt (statt auf Metzingen). Bar jeden Charakters, strahlt das angebliche Bad die Aura einer verwaisten düsteren Latrine aus; die Einheimischen pinkeln gleich in den See.

Zu allem Unglück verfielen im Sommer 1993 einige Mit-arbeiter des Bundeskriminalamtes auf Bad Kleinen, um den mutmaßlichen „Terroristen“ Wolfgang Grams – je nach Sichtweise – zu verhaften oder hinzurichten. Das Strafmaß wurde somit beträchtlich durch den Sterbeort verschärft. Grams’ Leichnam soll sogar mitten im Gleiskörper Bad Kleinens gelegen haben. Um 2000 wußte ich das noch nicht; gleichwohl fiel mich beim Betreten des Bahnhofsgeländes unweigerlich Gruseln an. Der Gemein-derat hatte sich wohlweislich gehütet, auf dem minenfeld-artigen Bahnhofsvorplatz eine Gedenktafel aufzustellen. Er konnte ja immer argumentieren, andernfalls hätte Bahnchef Mehdorn auch Bad Kleinen kaltblütig vom Weltgeschehen abgehängt.

So thront die schäbige Bahnhofshalle, die nur durch einen niederschmetternden Fußgängertunnel zu erreichen war, vermutlich nach wie vor mitten im Gleiskörper wie ein Furunkel auf Hartmut Mehdorns Hintern. Wir benutzten den Bahnhof damals vom Olgashof aus je nach Reiserich-tung im Wechsel mit Dorf Mecklenburg. Insofern waren es allerdings paradiesische Zustände.

Ich sagte: Waren! Der Bahnhof von Waren an der Müritz zittert bereits, und anschließend kommt der von der berühmten Pferdestadt Warendorf im Münsterland unter den Hammer.

* Die Heilung des Handgelenks verlief besser als befürchtet. Meine Stahlsaitengitarre hat inzwischen sogar Gesellschaft von einer netten Spanischen Gitarre bekommen. Beide Gitarren wirken in diesem Stückchen mit.



Siehe auch
Schlimmes von der Pfrimm
Verschrottung der US-Straßenbahn bei Krupp
Pferdebahn: bei Rudolph Ruete in Flotte Leute
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