Mittwoch, 24. April 2024
Risse im Brockhaus 17

Brockhaus behauptet, Nadjib Sulaiman Haddad (1867–1899) sei ein panarabisch gestimmter Journalist, Übersetzer und Literat aus Beirut gewesen. Ich sage behauptet, weil der Mensch laut Internet gar nicht existiert. Vielleicht findet sich ja bei mir ein Leser, der Brockhaus beisteht. Dann möchte ich allerdings auch gern wissen, warum der Mensch schon mit Anfang 30 starb. Angeblich war das in Alexandria, also vermutlich Ägypten. Sollten Krieg und Anschlag ausscheiden, bleiben immer noch zahlreiche Möglichkeiten. Alexandria hat derzeit rund 5 Millionen EinwohnerInnen. Waren es um 1900 lediglich eine Million, dürfte Haddad immer noch schwer aufzutreiben sein.



Bei der reizenden Hagebutte eingetroffen, droht man im Brockhaus zunächst eine Niete zu ziehen. Es handle sich um die »Bezeichnung für die Frucht der → Rose, besonders die der Heckenrose«. Also gut, schlagen wir nach: Band 18. Dort ist von einer »Sammelnußfrucht« die Rede. Bei ihr bilde der rote bis schwarze Blütenbecher das Fruchtfleisch. Er enthalte zahlreiche Einzelfrüchte (Nüßchen). Die Fruchtschalen und Samen böten Kohlenhydrate, Gerbstoffe, Fruchtsäuren, Pektine und vor allem viel Vitamin C auf; man pflege sie (manchmal wohl erst nach Entfernung der Samen) zu Marmelade und Tee zu verarbeiten. Das stimmt. Diese oft angenehm leuchtenden Früchte ziehen einem das Maul zusammen, wohl wegen der erwähnten Gerbstoffe, und ob sie mich besser vor Corona geschützt haben als die Ingwerknolle, wäre erst noch zu untersuchen. Nur nicht im Augenblick.

Was Brockhaus völlig unterschlägt, war in meiner Kindheit gerade das Wichtigste. Die Nüßchen sind nämlich so fein und gut behaart, daß sie einen Schul- oder Wander-kameraden sofort zu Bocksprüngen antreiben, wenn man ihm dieses »Juckepulver« in den Hemdkragen stopft. Reißt sich das Opfer schließlich das Hemd vom Leibe, hat es immer noch Mühe, die garstigen, mit Widerhaken bestückten Nüßchen zu entfernen, weil sie sich längst in die Härchen verkrallt haben, die viele Kinder selber haben, eben auf ihrer Haut. Daraus ergaben sich oft Waffen-stillstandsgesuche oder Prügeleien.

Eine Herbstwanderung durch einen hagenbuttenfreien Landstrich gliche in der Enttäuschung dem Gang eines postmodernen Stadtbewohners durch eine Fußgängerzone ohne Handyshops. Fast noch vorteilhafter machen sich Hagebutten an Wintertagen vor Schneewehen geltend.



Über die merkwürdige Person des havelländischen Malers Karl Hagemeister (1848–1933) verraten die neun Zeilen von Brockhaus keinen Hauch. Das Lexikon bildet nur ein wogendes Seestück von ihm ab. Das dürfte jedoch (1911) auf Rügen entstanden sein, während Hagemeister immer fest in der Gegend um Werder an der Havel verwurzelt blieb. Er war durch und durch Landschafter, dazu Jäger, Segler und Obstbauer. Eine kenntnisreiche Schilderung des schmächtigen Künstlers, der zum Eigenbröteln neigte, liefert der Berliner Kunstkritiker Karl Scheffler, der öfter zu Hagemeister aufs Land fuhr und der wohl auch an dessen spätem Ruhm mitgedreht hatte, in seinen Erinne-rungen.* Die kann man überhaupt empfehlen, war Scheffler doch ein kluger Beobachter und ein ausge-zeichneter Stilist.

Eine Zeitlang hatte Hagemeister mit dem geringfügig älteren Maler Carl Schuch einige Europareisen unternommen, dann auch in Werder sehr bescheiden in einem niedrigen Häuschen zusammengelebt. Der enge Freund starb aber bereits 1903. Schuch hatte noch geheiratet; bald darauf war er »gemütskrank« und in eine Heilanstalt gesteckt worden. Vielleicht deshalb: wegen der Heirat. Ob die Freundschaft mit Hagemeister vielleicht einen homosexuellen Zug hatte, verrät auch Scheffler nicht. Um 1912 nahm sogar der halbwüchsige Prinz Friedrich Leopold von Preußen bei Hagemeister Unterricht – und der soll durchaus homosexuell gestimmt gewesen sein. Aber das beweist natürlich wenig. Scheffler meint, Hagemeister habe sich in dieser vorübergehenden Lebensgemeinschaft eher in einer mütterlichen, dienenden Rolle gefallen. Er kochte, schoß Enten, besorgte Leinwand und Farben, griff in die Ruder – alles dem kränklichen und nervösen Freund Schuch zuliebe. Von Sex ist nicht die Rede, aber von Texten. Hagemeister in einem Brief an Scheffler: »Ich habe eine gute Gewohnheit, die darin besteht, schon zum Kaffee etwas Gutes und Schönes zu hören. Es stammt diese Gewohnheit aus der Zeit, wo ich mit Schuch zusammen war. Jeden Morgen hatten wir ein Gespräch, oder er übersetzte mir etwas, einen Brief von Millet oder anderes. So waren wir des morgens schon freudig zur Arbeit gestimmt … Es trifft sich oft, daß man kurze Abhandlungen, ein paar Seiten findet, die, zur Naturstimmung hinzukommend, einem den ganzen Tag zum frohen Schaffen werden lassen.«

Wie auch immer, scheint Hagemeister »nach Schuch« stets »Junggeselle« geblieben zu sein. Überdies, so versichert Scheffler, sei er auch dann, als Ruhm und Rubel an den Schwielowsee rollten, seiner anspruchslosen Lebensführung treu geblieben. Just um 1912 hatten sich plötzlich die Berliner KunsthändlerInnen um ihn gerissen. Zwar legte er den neuen Geldsegen gut an, doch die Inflation um 1922 fraß diese Beute trotzdem. Hagemeister klagte und verbitterte freilich nie. Er wurde stolze 85, obwohl ihn im Alter Krankheit heimsuchte. Immerhin konnte er sich mit Genugtuung sagen: Jetzt stehst du im Lexikon und die Dorfleute gehen nicht mehr an dir vorbei, als seist du eine Vogelscheuche. Sie sagten jetzt »Herr Professor« zu ihm, denn dazu hatten ihn die Berliner Kreise um Prinz Leopold, wie ich annehme, ernannt.

1890 oder 91 war übrigens ein anderer junger Maler am Schwielowsee zu Schaden gekommen. Diese Episode streift Scheffler erstaunlich unsentimental. Leider nennt er keinen Vornamen. Es war im Winter, und »der junge Frohberg«, ein Lieblingsschüler des Berliner Kunstgewerbeschullehrers Max Koch, sei mit ein paar Freunden zum Eislaufen herausgekommen. Hagemeister, erfahrener Wetterfrosch, riet dringend ab. Sie hätten seine Warnung jedoch in den Wind geschlagen. Prompt brach Frohberg ein und ertrank.

* Die fetten und die mageren Jahre, Leipzig / München 1946,
S. 106–18




Den legendären britischen Motorradrennfahrer Mike Hailwood (1940–81) übergangen zu haben, werfe ich Brockhaus vor, weil der Champion ausnahmsweise nicht im Dienst starb. Er war bereits vorher vom aktiven Sport zurückgetreten, um sich hinfort als Motorradhändler zu betätigen. Er wohnte im Städtchen Tanworth-in-Arden bei Birmingham. Am Samstag den 21. März 1981 war Hailwood in dieser Gegend mit seinen Kindern Michelle und David in seinem Rover 350 unterwegs, weil jene, wie etliche Quellen versichern, plötzlich Lust auf Fish-and-Chips bekommen hatten – wer weiß, Hailwood selber vielleicht auch. Das Essen wurde teuer. Es kostete der neunjährigen Michelle und ihrem knapp 41 Jahre alten Vater das Leben, als sie auf der Rückfahrt in oder bei Portway auf einen Lastwagen prallten, der wohl gerade illegalerweise in einer gesperrten Zone des Mittelstreifens wenden wollte. Nach Angabe der englischsprachigen Wikipedia ist dieser Truckfahrer deutlich billiger davongekommen: mit 100 Pfund Strafe, was damals ungefähr 450 DM entsprach. 450 DM für zwei Tote? Diese Ungereimtheit hindert freilich die deutschsprachige Wikipedia nicht an der Feststellung, Hailwood sei »ohne eigenes Verschulden« umgekommen – eine Feststellung, die auf zahlreichen Webseiten nachgebetet wird. Hier und dort ist aber auch nur wertungslos von einem Autounfall die Rede. Die Freisprechung durch Wikipedia dürfte auf die beliebte Theorie des Kleineren Übels setzen. Wer sich auf Rennbahnen totfährt, ist verrückt; wer sich im Straßenverkehr totfährt, normal.



Zu den Hochburgen irdischer Seßhaftigkeit scheint die norwegische Hafenstadt Hammerfest am Nordpolarmeer zu zählen. Nach den meisten Quellen ist sie die nördlichste Stadt Europas. Ihr Wappentier: selbstverständlich ein Eisbär. Tage über 10 Grad sind selten. Neben der Kälte trotzen die derzeit rund 11.000 HammerfesterInnen dem groben Unfug der Sonne: im Winter geht sie nie auf, im Sommer nie unter. Laut Brockhaus war die Stadt überdies im Jahr 1890 durch einen Brand, zum Ende des Zweiten Weltkrieges dagegen, nach dem Prinzip verbrannte Erde, von den abziehenden deutschen Truppen zerstört worden. Nun sah man sich aber vor: »Beim Wiederaufbau wurde die Steinbauweise bevorzugt.« Vermutlich hat man auch gleich Atomschutzkeller eingerichtet. Ein besonderes Augenmerk galt jedoch (um 1960) der neuen Stadtkirche, die von Brockhaus, wen wundert es, gebührend hervorgehoben wird. Er lobt eine Stirnwand mit Glasmalereien. Von weitem könnte man die Kirche vielleicht mit einem großen Wikingerschiff verwechseln, doch das Kreuz auf dem halsartigen Turm macht unmißverständlich klar: Sie nähern sich einem bedeutenden nördlichen Vorposten des Siedlungs-Masochismus‘.



Der britische Komiker Tony Hancock (1924–68) kämpfte nicht gegen Eisbären, vielmehr Tiger. Brockhaus kennt ihn nicht – eine echte Bildungslücke. Aufgewachsen in Birmingham, anfänglich Bauchredner, wurde Hancock im Laufe der 50er Jahre durch Radio- und Fernsehsendungen der Londoner BBC bekannt, die Situationskomik boten. Einerseits sah Hancock ohne Zweifel knuffig aus. Andererseits hatte er ständig mit der Flasche in der Hand damit zu tun, to Send Away The Tigers, so ein Spruch von ihm, den eine walisische Rockgruppe 2007 zum Albumtitel erhob. Wie er einmal erläutert hatte, meinte der Komiker mit den Tigern die »inneren Dämonen«, die zu entfernen ihm mit Hilfe des Bauchredens offensichtlich noch nicht gelungen war, weshalb er sie im Alkohol zu ertränken suchte. Hancock war gespalten und größenwahnsinnig wie alle »genialen« KünstlerInnen, dazu, im Suff, aggressiv. Ein Autounfall, bei dem er durch die Windschutzscheibe flog, Zerwürfnisse mit Filmpartnern oder Skriptautoren, Beutelungen in etlichen Ehen oder Liebschaften und ständig abnehmende Nachfrage waren wenig geeignet, seinen Alkoholkonsum einzudämmen. Dabei waren seine Rundfunksendungen streckenweise »Straßenfeger« gewesen. Seine zweite Ehefrau Freda »Freddie« Ross, die auch seine Managerin war, verließ ihn nach langen Kämpfen gegen seine Tiger 1966. Hancock wechselte die Tapete über den Tigern: er ging nach Australien, um fürs dortige Fernsehen zu arbeiten. Er schlug aber nicht mehr ein. Freddie rang sich schließlich auch zur Scheidungsklage durch und ging zum Gericht. Drei Tage darauf, Ende Juni 1968, brachte sich der 44jährige »Absteiger« in seinem angeblich recht verwahrlosten Apartement in einem Vorort von Sydney um. Laut Olga Craig* war es »as in life, so in death, his best friends sat at his bedside: vodka by his right hand, amphetamines by his left.«

* https://www.telegraph.co.uk/culture/tvandradio/3626969/Laugh-at-Tony-I-very-nearly-died.html, 10. November 2004



Ich bin nicht sicher, ob man den nordamerikanischen Jazzmusiker Christopher Handy unbedingt kennen muß. Dafür zeugt es aber ohne Zweifel vom geringen Weitblick der Brockhaus-Redaktion, wenn sie noch im Jahr 1989 das gleichnamige Mobiltelefon wegläßt. Zu meiner Schande muß ich freilich gestehen, diese Kurzsichtigkeit anfangs geteilt zu haben. Nicht etwa, daß ich jemals mit dem Erwerb eines Handys geliebäugelt hätte; ich unterschätzte es lediglich. Als dann jedoch die Seuchenausbreitung, die Verkrümmung des Aufrechten Ganges auf der Straße und das sogenannte Smartphone kamen, konnte ich mir an 10 Fingern ausrechnen, wie das demnächst, nach meinem gnädigen Tod, enden wird. Schließlich hatten sie mit dem Smartphone einen weniger als handgroßen Taschencomputer geschaffen, der inzwischen kaum noch dicker als ein Bündel aus 20 Hunderteuroscheinen ist. Folglich wird er noch in diesem Jahrhundert auf das Format einer herkömmlichen Gürtelschnalle verdichtet und dann auf eben dieser überallhin mitgetragen. Durch einen Gelenkverschluß kann er rechtwinklig zum Körper hochgestellt werden, damit man den Bildschirm sehen und selbstverständlich auch mit den nadelförmigen Hüten auf Daumen und Zeigefinger bedienen kann. Die Fingerhüte muß man natürlich auch nachts tragen, während der Gürtel am Bettpfosten hängt. Der Einwand, auf so einem kleinen Gerät sähe man doch gar nichts mehr, ist einfältig. Der Benutzer des winzigen Blindenhunds, wie er jetzt behelfsmäßig genannt wird, soll nicht möglichst viel sehen – vielmehr soll er nur das Wesentliche sehen, und das sind die verkleinerten Logos der werbenden Firmen, der jeweiligen Landesregierung oder anderer Befehls-geberInnen. Ein chinesisches IT-Unternehmen arbeitet allerdings schon an einer Weiterentwicklung des Blindenhunds. Er soll allen Säuglingen in die linke oder rechte Handinnenfläche eingebettet werden, je nachdem, ob sie Rechts- oder LinkshänderInnen sind. Fernziel, für das Jahr 2150, ist der operative Einbau ins Gehirn aller Kleinkinder, die gerade Laufen lernen. Ab diesem Eingriff laufen die Kleinen sozusagen von selbst. So oder so, bezieht der Blindenhund seine Energie aus den Döners, Pizzas und Steaks, die man ja ohnehin dauernd ißt. Die Befehle kommen, wie gehabt, aus dem Mobilfunknetz. Keine Bange, die NachfolgerInnen Nancy Faesers werden schon für die geeignete Schalt-, Leit- und Kontrollzentrale sorgen. Von einem Hackerangriff auf dieses Gremium brauchen Sie gar nicht erst zu träumen: der Große Blindenhund, der irgendwo in Washington D.C. oder in den Rocky Mountains sitzt, hat seine Untergremien unsichtbar, farblos, ja überhaupt substanzlos, gleichwohl strohdumm gemacht.



Die schwarze US-Dramatikerin Lorraine Hansberry (1930–65) wurde nur 34. Wer eine vergleichsweise seltene Laufbahn eingeschlagen hat, sollte vielleicht auch das Anrecht auf einen ungewöhnlichen Tod haben – Puste-kuchen. Auch Brockhaus verschwendet keine Aufmerk-samkeit für diesen frühen Tod. Die wahrscheinlich lesbisch gestimmte Schriftstellerin aus afroamerikanischem Mittelstand erlag 1965 einer schnöden Krebserkrankung. Sechs Jahre vorher hatte sie mit dem Stück A Raisin in the Sun geschafft, wovon viele zukünftige Arthur Millers träumen: als Niemand am Broadway in NYC herauszu-kommen – nur war sie zudem die erste dunkelhäutige Autorin, der das gelang. Das Stück behandelt den Versuch einer in Chicago lebenden afroamerikanischen Arbeiterfamilie, ihrer durch Armut und Rassismus aufgezwungenen Enge zu entkommen. Man strebt sogar ein eigenes Haus an, das in einem »weißen« Viertel liegt. Möglich macht‘s die Lebensversicherung des soeben verstorbene Familienoberhauptes – Vati wird also nicht mehr viel von dem Haus haben … Der hübsche Titel des Stückes soll sich Versen des schwarzen Schriftstellers Langston Hughes verdanken: »Was passiert mit Träumen, die aufgeschoben werden? Trocknen sie wie eine Rosine in der Sonne?«

Das damals umgehend preisgekrönte Stück wurde vielfach übersetzt und (1961) auch verfilmt. Anläßlich einer Neuinszenierung in NYC 2014 behauptet ein Deutschlandfunk-Autor*, »angesichts des unerträglichen Ungleichgewichts des Reichtums« in den USA sei es nach wie vor aktuell. Was würde er da erst heute sagen, während sich die Superreichen der Welt am Verkauf krimineller Impfstoffe, Marschflugkörper und sogenannter Kommunikationsmittel geradezu besaufen?

* Andreas Robertz, »Kampf von Menschen ohne Aufstiegsmöglich-keiten«, 5. April 2014: https://www.deutschlandfunk.de/a-raisin-in-the-sun-kampf-von-menschen-ohne.691.de.html?dram:article_id=282136



Nimmt Brockhaus den eher unbekannten Astronom Peter Andreas Hansen auf (1795–1874), ehrt er mich gleich mit, wurde der Norddeutsche doch »1825 Direktor der Sternwarte Seeberg bei Gotha«. Ja, er stieg sogar noch auf. Die Sternwarte im Bergwald taugte nämlich nicht viel, zudem wohnte die Familie wenig standesgemäß. So ließ sich der Herzog schließlich erweichen und genehmigte einen Neubau unweit seines Schloßparks in der Gothaer Jägerstraße. Hier wirkte und wohnte Hansen ab 1859 bis zu seinem Tod, und zwar »mit großem Erfolg«, wie zumindest die heimatkundlichen Quellen versichern.

Im 21. Jahrhundert ging Hansen sogar in die Schöne Literatur ein. Nachdem Kriminalkommissar Köfel (Der Fund im Sofa, Erfurt 2009) mit einem kurz zuvor noch von Hunden gejagten Waltershäuser Schriftsteller durch den Gothaer Schloßpark spaziert ist, biegen sie just in die Jägerstraße ein, gedenken sie doch den Snookersalon Reinen Tisch am Hauptbahnhof aufzusuchen. Köfel deutet aber zunächst nach links, wo ein stattliches mehrgliedriges älteres Gebäude aus bräunlichem Sandstein zu sehen ist. »Die Wohn- und Arbeitsstätte unseres Astronomen Peter Andreas Hansen«, erläutert Köfel. »Er starb um 1870. Sehen Sie hinten den angestrahlten Turm? Das war dereinst die Sternwarte. Sie galt damals als mustergültig.« Sein Begleiter nickte. Der vieleckige Turm wies ein umlaufendes blaugoldenes Band aus Rauten auf; in jeder Raute saß ein Sternchen. Jetzt deutete Köfel nach rechts in eine schmale Seitenstraße. »In dem hell verputzten Mehrfamilienhaus hat Hanns Cibulka gewohnt.« Das war ein anderer, ungleich bekannterer thüringischer Schriftsteller gewesen. Köfel hatte einmal einen Einbruch mit Gemälde-Diebstahl bei dem Mann untersucht und sogar aufgeklärt. Der prominente Mieter hatte die Gemälde jedenfalls nicht eigenhändig verschwinden lassen. Er starb vor genau 20 Jahren.

Beim Gang durch den Schloßpark war es bereits dunkel geworden. Ein Bekannter meinte einmal zu mir, bei meinem Interesse für Kosmologie müßte ich ja wohl auch zu den leidenschaftlichen nächtlichen »Sternguckern« gehören. »Ach woher!« erwiderte ich. »Mein Schlaf ist mir teuer, und den pflege ich in der Regel nachts abzuhalten.« Ein ungutes Gefühl hatte ich aufgrund dieser Antwort aber schon. Ich war mir nämlich ziemlich sicher, das »Sternegucken« vordringlich aus Angst zu meiden, nicht wegen der Einbuße an geruhsamem Schlaf. Kosmologe Jochen Kirchhoff hätte mich wahrscheinlich verstanden. In seinem jüngsten Buch* merkt er an: »Der technisch-wissenschaftliche Erdling richtet die Fernrohre in die rätselhafte Weite des Alls, und er tut dies in der Annahme, nur der Blickende zu sein, nicht aber der von dort Angeblickte. Dabei kann sich das Gefühl, aus dem Weltraum heraus angeblickt, ja im eigenen Wahn geradezu gerichtet zu werden, durchaus auch im modernen und postmodernen Menschen einstellen, wenn er in sternenklarer Nacht ‚nach oben‘ blickt, ohne dabei die Vorstellungen der Mainstream-Kosmologie aufzurufen. In der nächtlichen Konfrontation mit dem Sternenhimmel, wenn sie denn in der seelischen Tiefe zugelassen wird, stellt sich gelegentlich mehr ein, als der Einzelne verkraften kann.«

Klammert man die Angst vor Finsternis, Verlorenheit und bösem Blick einmal aus, bleibt zumindest das unheimliche Staunen über den Umstand, daß es im Universum offensichtlich nicht drunter und drüber geht. Zwar explodieren dauernd Sterne oder ganze Galaxien, aber im Wesentlichen scheint dieser merkwürdige Superbehälter, dessen Ränder noch niemals einer gesehen hat, zu halten. Es herrscht Ordnung statt Chaos. Viele Sterne findet selbst der Laie auf Anhieb wieder, sofern er regelmäßig guckt. Auch dieses Staunen kann Kirchhoff nachvollziehen. Die Astronauten hätten die Erde erhaben und erleuchtet in der Schwärze schweben gesehen, und sie hätten versichert, sie hänge ohne jedes Halteseil im Raum, so ist es ungefähr in seinem 1999 erschienen Hauptwerk** zu lesen. Er gibt sich dann noch einige Mühe, der Art dieses Zusammenhaltes auf den Grund zu kommen – vergeblich. Immerhin stellt er für mein Empfinden zurecht fest, irdische und himmlische Mechanik seien keineswegs wesensgleich. Während unsere Fußsohlen auf der Erde durch die Schwerkraft (oder »Gravitation«) festgesaugt werden, scheint ja im Univer-sum, ganz im Gegenteil, ein seltsames Gleichgewicht zu herrschen.

Wie sich versteht – und das ist ja gerade das Gruselige – wissen wir darüber so gut wie nichts. Nach den »Grenzen« des Riesenbehälters haben wir auch kaum eine Ahnung von dessen Beschaffenheit. Ob »interstellare Materie« und »Hintergrundstrahlungsenergie« postmoderner Astrophysiker oder Kirchhoffs »Äther«, es handelt sich gleichermaßen nur um dünne, fadenscheinige Spekulationen. Immer mal wieder läßt Kirchhoff freilich die Katze aus dem finsteren Sack, wenn er die großen ZusammenhalterInnen tapfer und überaus herkömmlich »Weltwille« oder »Weltseele« nennt. Am deutlichsten wird er mit dem bündigen Satz: »Das Nichts oder die Götter, das ist die Alternative.« Es geht um Angstabwehr! Darauf kommt Kirchhoff wiederholt zurück. Ein klirrend kalter, unerklärlicher, unmenschlicher Kosmos wäre doch gar zu empörend und furchterregend, sagt er sinngemäß. Also muß er ihn mit »Seele« oder »Göttlichkeit« zusammen-kleistern. Zwar rügt er genauso oft die unbedenklichen Operationen mit spezifisch menschlichen Kategorien wie Raum, Zeit, Masse, Energie und so weiter. Schließlich sind sie befangen, beschränkt – geradezu lächerlich. Aber für »Seele«, »Götter«, »Nichts« und dergleichen gilt das offenbar nicht.

* Kosmos, Berlin 2022, S. 119
** Räume, Dimensionen, Weltmodelle, bes. S. 155 +159




Brockhaus übergeht sowohl den »Hellseher« und Zauberkünstler Erik Jan Hanussen (1889–1933) wie dessen zeitweiligen Gegenspieler Sigmund Breitbart, siehe unten. Irre ich mich nicht, war Hanussen im Grunde nur ein zwielichtiger, freilich auch dämonisch wirkender Überredungskünstler. Falls man nicht das Wort Hochstapler vorzieht. Er hatte dunkles Haar, buschige Brauen, große Augen und einen sinnlichen Mund. Aufgewachsen in Wien, brachte er es trotz mancher Reinfälle in seiner Artistenlaufbahn zuletzt in Berlin zu beifallsumrauschten Auftritten, einer geräumigen Yacht und sogar eigenen Zeitungen. Er unterstützte die Nazis und hatte insbesondere dicke Freunde in der SA. Josef Schnelle deutet* häufige, »teilweise sadomasochistische Orgien« an. Man gab sich auch Glücksspielen hin. Die Frage, was Magie sei, soll sich Hanussen einmal wie folgt beantwortet haben: »Die Menschen in dem geliebten Glauben an das Wunderbare nicht zu stören, sondern zu bestärken.« Das gefällt mir. Dieser Entschlossenheit verdankte ja wohl auch der Faschismus seinen Siegeszug.

Trotz seiner Regimefreundlichkeit wurde der 43jährige Zauberkünstler im März 1933 überraschend verhaftet und binnen weniger Tage heimlich erschossen. Forstarbeiter fanden seine Leiche bei Zossen im Wald. Nach Schnell hatten ihm die SA-Chefs die öffentliche, kaum verhüllte Vorankündigung des Reichstagsbrandes krumm genommen. Zudem war seine jüdische Herkunft durchgesickert. Der Mann aus Wien hatte nämlich ursprünglich Hermann Chajim Steinschneider gehießen. Und nicht zuletzt wünschten sich etliche hohe braune Kumpanen ihrer nicht minder hohen Spielschulden zu entledigen. Hanussens Schuldscheine verschwanden natürlich sofort. Gerichtliche Verfolgung des Mordes wurde abgebogen.

Ironischerweise war auch der Kraftsportler und Bühnenkünstler Siegmund Breitbart, den jede Berliner Göre als Eisenkönig kannte und bewunderte, jüdischer Herkunft. Er starb aber nicht an der Politik. Ob er im Sommer 1925 trotz der Bemühungen des berühmten Berliner Medizinprofessors August Bier, den ich bereits gewürdigt habe, mit 32, 38 oder gar erst 42 von einem rostigen Nagel zu Fall gebracht wurde, wird wahrscheinlich nie aufzuklären sein. Er selber, Siegmund Breitbart, nennt in seinen damals erschienenen Erinnerungen 1887 als das Jahr, in dem er das trübe Licht des Lodzer Ghettos als Sohn eines jüdischen Schmiedes erblickte. Leider packte der alte Grobian selbst seine Liebsten nicht mit Samthandschuhen an. Vermutlich entschloß sich Sohn »Sische« auch deshalb, ein ausgesprochen starker Mann zu werden.

Zwar schoß Breitbart keineswegs zum Hünen auf, doch hatte er eine wohlproportionierte Heldengestalt zu bieten, trainierte Tag und Nacht und verrichtete seine einfallsreichen Herkulesarbeiten auf der Bühne oder im Manegensand stets mit gewinnendem Lächeln. 1921, nach etlichen Jahren als Fabrikarbeiter und Wanderartist, kam er im Berliner und Hamburger Zirkus Busch groß heraus. Er fuhr in Gladiatorenrüstung als Wagenlenker ein, zerbrach jedes Hufeisen, das ihm das eine oder andere Dienstmädchen aus dem Parkett reichte, stieß mit dem Schädel, statt Fußbällen, dicke Pflastersteine fort, zerbiß Ketten mit den Zähnen oder ließ sich, rücklings auf einem Nagelbrett liegend, den mächtigen Brustkorb mit einem Amboß beschweren, den junge Burschen aus den hinteren Rängen mit Vorschlaghämmern bearbeiten durften. Alle blonden Wertheim- oder KaDeWe-Verkäuferinnen himmelten Breitbart an. Auch der junge Berthold Brecht war begeistert. In vielen jüdischen Synagogen wurde für die Auftritte des verehrten »Muskeljuden« gebetet. 1923 gastierte Breitbart bereits in Wien und in den USA.

Im selben Jahr blieb er, laut Daniela Gaudings Darstellung*, trotz einer Geldstrafe wegen angeblich tätlicher Beleidigung »moralischer Sieger« im Kampf mit seinem erbitterten Konkurrenten Erik Jan Hanussen. Der hatte ihn des Betruges bezichtigt. Die eisernen Requisiten seien von minderer Qualität, also gleichsam gefälscht. Als sie nun beide »zufällig« in Wien gastierten, wenn auch in zwei verschiedenen Häusern, ging Hanussen in die Offensive. Er zog sich eine attraktive, überdies gestählte junge Frau an Land, trainierte sie im Schnellverfahren und behauptete nun auf der Bühne, sie vollbringe all die Nummern, die man von Breitbart kannte, nicht weniger schlecht als dieser, weil sie nämlich sein, Hanussens, »Medium« sei, das er mit übersinnlichen Kräften ausgestattet habe. Das holperte zwar hier und dort, aber das Spektakel war da, und Wien spaltete sich in zwei Lager. Neben der Presse wurde sogar eine prominente »Jury« zwecks Untersuchung der Auftritte und gegenseitigen Vorwürfe der beiden berühmten Streithähne eingesetzt. Hanussen wünschte den Widersacher offensichtlich zu »vernichten«; Breitbart wünschte die eigene »Ehre« zu retten. Der Eisenkönig ließ sich selbst auf eine Wette mit Dritten ein, bei der es um eine von Hanussen gestellte, kaum überprüfbare Kette ging – Breitbart zerbiß sie vor den Augen der Wiener Presse. Das versichert jedenfalls Gauding, die sich wiederum auf damalige Zeitungsartikel stützt. Den Wetteinsatz habe Breitbart der Wiener Rettungsgesellschaft gespendet. Die erwähnte Jury habe übrigens beiden Künstlern (und dem »Medium« Martha Farra) saubere, dazu großartige Arbeit bescheinigt.

Beziffert Gauding den Wetteinsatz auf eine Millionen Kronen, darf man sich nicht einschüchtern lassen. Schließlich befand man sich damals mitten in der »Hyperinflation«. Tatsächlich habe der Betrag lediglich dem Preis eines Damenkostüms entsprochen. Das ganze wirkt in manchen Augen vielleicht trotzdem grotesk. Millionen Kleiner Leute stehen bereits am Rand des Hungertods, ein paar Reiche des Ruins – gleichwohl kreist das Öffentliche Leben um die Zerbeißungsfähigkeit von Eisenketten und um Damenkostüme für den Abend im Varieté. Was Wunder, wenn in solchen miesen Zeiten auch die Schlammschlachten berühmter Unterhaltungs-künstlerInnen zu Weltkriegen aufgeblasen werden.

Färbt Gauding nicht schön, war Kraftprotz Breitbart das angenehmere Identifikationsobjekt. Zwar lebte er zur Zeit der Wiener Posse bereits auf recht großem Fuß, Auto, Dogge und mindestens 10 weitere Hunde sowie einen jungen Löwen eingeschlossen; dennoch soll er bis zuletzt ein herzlicher und stets hilfsbereiter Bürger gewesen sein. So wird von regelmäßigen Armenspeisungen in der 1923 vollendeten, säulenbewehrten Villa Breitbart im Oranienburger Ortsteil Friedrichsthal berichtet, wo der Künstler mit seiner Gattin Emilie und dem Adoptivsöhnchen Oskar wohnte. Auch bedürftigen Juden griff er mit Spenden unter die Arme. Ihm selber war freilich nach einem Ritzer nicht mehr zu helfen. Wieder einmal Nägel mit der bloßen flachen Hand in Bohlen schlagend, trieb er sich am 26. Juli 1925 bei einem Auftritt in der polnischen Stadt Radom aus Versehen einen Nagel bis ins Knie. Wie sich erst nach Tagen und Wochen zeigte, war dieser Nagel nicht keimfrei gewesen. Der letzte Gladiator überlebte die Blutvergiftung trotz Beinamputation nicht und starb im Oktober in einem Berliner Krankenhaus.

Um zu ermessen, wie er sich nach dem Machtantritt der deutschen Faschisten verhalten hätte und ob er möglicherweise ebenfalls erschossen, wahlweise vergast worden wäre, müßte man allerdings Hellseher sein.

* Josef Schnelle: https://www.sueddeutsche.de/politik/mordfall-erik-jan-hanussen-der-hellseher-und-die-nazis-1.3994752, 13. Juni 2018
** Daniela Gauding, Siegmund Sische Breitbart, Berlin 2006, bes. S. 26–36




Überblicke ich den zerklüfteten und wasserreichen Landstrich in Nordschweden einigermaßen korrekt, gab es dort einmal den Fluß Stora Luleälven, der auch Wasserfälle zu bieten hatte, darunter beim Ort Porjus den 75 Meter hohen Harsprångsfallet. Angeblich heißt das Hasensprungfall, das wäre doch schön. Leider stieg, während das Wasser fiel, der Stromverbrauch: man mußte Energie gewinnen. »Dazu wurde der Fluß [ab 1950] durch einen 1.350 m langen Damm aufgestaut und bildet einen rund 10 km langen See.« Das ist nun bedeutend weniger schön. Dieser kranke Satz verkettet zugleich unter-schiedliche Zeiten (wurde und bildet) und verschiedene grammatische Ebenen, wenn ich das als Laie so ausdrücken darf. Man hätte zum Beispiel schreiben müssen: … aufgestaut, sodaß sich ein langer See bildete. Stimmen Sie mir zu? Danke sehr.

Möglicherweise standen die Füße des Brockhaus-Redakteurs gerade in einer Wasserlache, weil es draußen geschneit hatte; deshalb hatte er alle Hände voll zu tun, den drohenden Schnupfen mit Salbeipastillen abzuwehren. Einen kleinen Trost konnte er uns immerhin noch bieten: Von den Wasserfällen, die dem Kraftwerksbau im Wege standen, blieb einer mit 40 Meter Fallhöhe erhalten. Doch wer weiß, vielleicht haben sie den inzwischen auch schon erdrosselt. Nein, nicht den Redakteur! Nur den Wasserfall.

Außerdem erfreute uns der Redakteur auf derselben Lexikonseite mit einem witzigen Zungenbrecherwort. Hartberg sei eine Bezirkshauptstadt in der Oststeiermark. Da habe ich doch glatt »Ostereiermark« gelesen! Wohl, weil wir in wenigen Tagen, Ende März, tatsächlich Ostern haben.



Der Opernregisseur und Theaterleiter Rudolf Hartmann (1900–88) sei 1934 an die Berliner, drei Jahre darauf an die Münchener Staatsoper berufen worden, teilt Brock-haus mit. Dort habe er von 1952–67 als »Staatsintendant« gewirkt. Ihm seien zahlreiche bedeutende Inszenierungen gelungen, etwa von Wagner- und Strauss-Opern. Also schönen Dank. Laut Wikipedia hatte er den Posten in Berlin bis 1944 inne. Nach Kriegsende kam ein Zwischenspiel an der Nürnberger Oper. Ob das unter Umständen ein paar Entnazifizierungstöne einschloß, verrät auch diese Enzyklopädie nicht. 1960, während seines unerschrockenen Wirkens an der Bayerischen Staatsoper, sei Hartmann das Bundesverdienstkreuz angeheftet worden. Da ist sogar der Deutschlandfunk radikaler.* Nach den Forschungen des Theaterwissen-schaftlers Jürgen Schläder habe die Münchener Oper Hitler immer besonders am Herzen gelegen, was wir ja gut verstehen können. Dort zog er die Stars zusammen, brachte Programmwünsche ein und schmuggelte gezielt Propaganda auf die Bühne. Nach Kriegsende habe es selbst in ästhetischer Hinsicht keinen Schnitt an der Staatsoper gegeben. Das wußten eben Stars wie Hartmann zu verhindern. Markus Thiel ergänzt gleichfalls 1917, Hartmann habe sich während der braunen Jahre »beschmutzt« und dabei noch nicht einmal etwas dagegen gehabt, »als Günstling der Nazis betrachtet zu werden«. An seinen »Führer« habe er schwärmerische Briefe geschrieben. Ich nehme stark an, in den beiden Büchern Hartmanns, die auch Brockhaus erwähnt (Erinnerungen 1975, Über Strauss 1980), sind jene Briefe aus Platzgründen nicht berücksichtigt worden. Der Staatsintendant starb mit knapp 88 Jahren just in München.

* https://www.deutschlandfunk.de/theaterwissenschaftler-schlaeder-bayrische-staatsoper-wurde-100.html, 4. Dezember 2017
** https://www.ovb-heimatzeitungen.de/kultur/2017/11/22/haus-im-zwielicht.ovb, 22. November 2017




Nach dem »Hasensprung« und den Hasen im Allgemeinen erwähnt Brockhaus sogar das Grimmsche Märchen Hase und Igel. Auf niederdeutschen Quellen beruhend, zähle es zu jenem weltweit verbreiteten Fabelbereich, in dem ein langsames mit einem schnellen Tier um die Wette laufe. »Man unterscheidet drei Gruppen: 1) Das langsame Tier überlistet das schnelle mit Hilfe von Verwandten, die an der Laufstrecke aufgestellt sind. 2.) Das langsame Tier hängt sich an den Schwanz des schnellen. 3) Das beharrliche Tier überholt das schlafende schnelle (bei Aisopos).«

Die Nummer 2) kennt wahrscheinlich jeder von den Reformisten her. Sie hängen sich an den Schwanz der vom Kapital befehligten Demokratie und wundern sich früher oder später, mitsamt ihrer AnhängerInnen beschissen zu werden. Nummer 3) dagegen halte ich für gar zu einfältig, weil das Kapital nie schläft. Es »arbeitet« vielmehr. Bleibt noch die Nr. 1), die selbstverständlich dem beliebten verlogenen Schmusemärchen vom Hirtenknaben, der Riesen fällt, entschieden vorzuziehen ist. Das Schmusemärchen habe ich hier unter David & Goliath behandelt.

Einen geringen Vorwurf kann ich Grimm oder Brockhaus nicht ersparen: Sie predigen das übliche konterrevolu-tionäre Clandenken, wenn sie die HelferInnen oder MitstreiterInnen des Igels »Verwandte« nennen. Die »Verwandten« lösen den Ehemann oder Vater Igel bekanntlich ab, um an dessen Stelle eine Etappe zu rennen beziehungsweise sich hinter dem Ziel hockend ins Fäustchen zu lachen, wenn in den ansteigenden Ackerfurchen der ausgepumpte Hase naht. Alternativ müßte man etwa von Freunden, Genossen, Verbündeten sprechen. Nur ist die Angelegenheit leider ein weites Feld, weil sich in die Genannten nur zu gern allerlei Spione, UmfallerInnen oder auch einfach nur Strohköpfe mischen. Während Frau Igel und die Sprößlinge ihrem Alten eisern die Stange zu halten pflegen, bis die liebe Familienehre gerettet ist.

Manche Kleinen Leute ziehen das Eigenbröteln und damit die Unabhängigkeit vor, aber auf diese Art ist in der Regel noch nicht einmal ein Blumentopf zu gewinnen.



Brockhaus meint, der norddeutsche Schriftsteller Man-fred Hausmann (1898–1986) habe nach journalisti-schen Arbeiten und Erzählungen von romantisch-schwermütigem Gepräge mit seinem Roman Abschied von der Jugend (1937) eine Wandlung »zu einem entschiedenen Christentum« eingeleitet. Das klingt wie ein Prädikat: Besonders wertvoll. Mein Eindruck ist dagegen eher, dieser Mann sei nicht besonders wacker, vielmehr scheinheilig gewesen. Diese Wertung möchte ich aber nur als Versuchsballon in einer Debatte verstehen, vor der die heutige Windstille um Hausmann zu weichen hätte.

Soweit ich sehe, hatte Hausmann nach seiner Mitwirkung am Ersten Weltkrieg und einer Promotion zum »Dr. phil.« mit jugendbewegten Kollegen wie Ludwig Tügel und Gustav Schenk zur schreibenden Fraktion des vorwiegend braun getünchten »Malerdorfes« Worpswede bei Bremen gezählt. Ab 1945, nach dem nächsten Weltkrieg, gaben sich diese Leute wortgewandt als gebeutelte »Innere Emigranten« aus und setzten ihre Laufbahn, da dieser Legende so gut wie niemand auf den Zahn fühlte, erfolgreich fort. In welches stille Kämmerlein hatte sich also der »Innere Emigrant« Tügel im September 1940 zurückgezogen? Er stand in einem gut gefüllten Weimarer Saal an einem Rednerpult, um den Teilnehmern des »Großdeutschen Dichtertreffens« Die Gestaltung der Lebensordnung unseres Volkes als Aufgabe der Gegenwartsdichtung nahezubringen. Anschließend ging‘s zum Empfang durch den »Gauleiter« und »Reichsstatt-halter« Fritz Sauckel ins Weimarer Schloß. Wie sich kurz darauf einem ausführlichen, bebilderten Tagungsbericht* in Goebbels Wochenblatt Das Reich entnehmen ließ, war Dichter Tügel in seiner Hauptmanns-Uniform erschienen. So verblüffte es wenig, wenn der Autor dieses Berichtes, just Manfred Hausmann, mit Begeisterung von jenem »totalen Krieg« sprach, den Gastredner Oberstleutnant Prof. Dr. Kurt Hesse vor den in Weimar versammelten Männern und Frauen des Geistes beschworen hatte. In wirkungsvoll biblisch-altertümelndem Bilde versicherte Hausmann den Lesern des Reichs, im heutigen Deutschland gehöre »das Buch zum Schwert, das Schwert zum Buch«. Eben hier hatte Brockhaus vielleicht zurecht die Begabung Hausmanns für »entschiedenes Christentum« gerochen.

Als die faschistischen Kanonen endlich zum Schweigen gebracht worden waren, saß Hausmann erneut, wie schon vor dem Krieg, für die SPD im Worpsweder Gemeinderat. Verweise auf angebliche öffentliche Reue, die Wikipedia gibt, kommen mir wenig stichhaltig vor. Die Auflage von Hausmanns Bücher – für viele »harmlose Vagabunden-literatur« – hatte inzwischen die Millionengrenze überschritten. Dem fügte er nun in neuer Eigenschaft als ordinierter Ältestenprediger der Evangelischen Kirche und treuer »Knecht Gottes«, so seine Eigenbezeichnung, noch Unmengen an erbaulichen Schriften hinzu, in denen jeder, der es nur will, die oben befürchte Scheinheiligkeit studieren kann.

* »Das Großdeutsche Dichtertreffen in Weimar. Ein Überschlag und Ausblick von Manfred Hausmann«, in: Das Reich, 29. September 1940



Mit der Heilerde, die sowohl auf die Haut gepappt wie geschluckt werden kann, liege ein »altes Volksheilmittel« vor, behauptet Brockhaus. Er hat völlig recht. Sie bestehe meist aus pulverisierter Moorerde (nur nicht aus Worps-wede) oder feinem Lehmpulver. Leichte Vergiftungen lindere sie durch ihre »absorbierenden«, also aufsaugenden Substanzen. Das glaube ich gern. Ist mir wegen eines verdorbenen Stück Kuchens schlecht, sind die Magenschmerzen nach einem Teelöffel Heilerde schon nach wenigen Minuten wie weggeblasen. Das eingespeichelte Pulver wirkt selbst bei Entzündungen auf der Zunge; nur ist es auf dieser nicht so einfach zu halten. Im Grunde wirkt es in unzähligen Fällen, also nahezu immer. Man muß lediglich an seine Wunderwirkung glauben. Deshalb wirkt es zum Beispiel gegen Werbespots für Hundefutter oder Smartphones nicht.



Der französische Schriftsteller Louis Hémon (1880–1913) hat immerhin fünf Zeilen. 1911 sei er nach Kanada ausgewandert, wo er »als Holzfäller« wirkte. Aber anscheinend nicht sehr lang. Fiel ihm also im besten Mannesalter ein Ahornbaum, ein Waschbär oder gar eine Kanadagans auf den Kopf? Meine anderen, nicht minder betrüblich kargen Quellen sprechen nämlich meist von einem Unfall. Ansonsten deuten sie Selbstmord an. Der 32jährige kam eines Sommertages in oder bei Chapleau, Ontario, unter einen Zug.

Es soll inzwischen mehrere biografische Arbeiten über Hémon geben – ob die BerichterstatterInnen sie gelesen haben, wage ich zu bezweifeln. Jedenfalls war der leidenschaftliche Schwimmer, Radfahrer und Boxer, obwohl studierter Jurist, kein zerstreuter Professor gewesen. In Paris hatte er zunächst für Sportblätter oder
-seiten geschrieben, und nachdem er sich 1911, inzwischen Londoner, der drohenden Ehe mit der zwar betörend modellierten, möglicherweise jedoch anstrengenden Irin Lydia O‘Kelly durch eine Atlantiküberquerung entzogen hatte, verdingte er sich in Quebec, Kanada, unter anderem als Farmarbeiter und Vermessungsgehilfe. Auch sein zweijähriges Töchterchen (Lydia-Kathleen) ließ er, nach einigen Quellen, in der Alten Welt sitzen. Die Mutter landete angeblich bald darauf für ihr restliches Leben in einer Irrenanstalt. Wer weiß, ob der entscheidende Irre nicht Hémon war. Fotos zeigen ihn natürlich ganz normal: flotter Hut, schmalen Schnauzbart, Pfeife in der Hand. So stellt man sich eben Sportreporter oder dünne Ausgaben von Kommissar Maigret vor.

Dem Wagnis Übersee entsprang vor allem Hémons Roman Maria Chapdelaine, der das entbehrungsreiche Siedlerleben und die Wahlqualen der Titelheldin (drei heiratswillige Verehrer aus unterschiedlichen Milieus) nicht ohne Humor darstellen soll. Den Einschlag dieser Frucht seiner Stadtflucht konnte Hémon allerdings nicht mehr genießen. Als er das (auf französisch geschriebene) Manuskript abgeschlossen und auf die Post gebracht hatte, brach er in mir unbekannter Gemütsverfassung mit der Eisenbahn gen Westen – und in sein Verderben auf. Im nächsten Jahr, 1914, wurde Maria Chapdelaine zunächst als Zeitungsroman veröffentlicht. Später erlebte das Werk Übersetzungen in mehr als 20 Sprachen. Es wurde auch wiederholt verfilmt. Laut Kindlers Neuem Literatur Lexikon von 1988 war der eher mittelmäßige Text »zum Markenzeichen eines bäuerlich-archaischen Quebec« hochgejubelt worden. Die schlichte, heimat- und schollentreue Farmerstochter entscheidet sich schließlich für den Landwirt unter den drei Bewerbern. Schauplatz der Schnulze war das am Nordufer des Sees Saint-Jean gelegene Nest Péribonka, wo Hémon für rund zwei Monate als Gehilfe des Farmers Samuel Bédard gearbeitet haben soll. Die Webseite eines anscheinend dort eingerichteten Museums* zeigt auch einige Fotos, sogar von Hémons Tochter (und vermutlich Erbin). Nur dem frühen Tod des Autors gönnt sie weder ein Foto noch eine Erklärung, falls ich mich nicht vertan habe. Die Webseite kommt mir etwas verworren vor. Vielleicht ist diesem Durcheinander auch meine (auf englisch) verfaßte Anfrage an das Museum zum Opfer gefallen: keine Antwort.

Die französische Wikipedia spricht in ihrem recht ausführlichen Eintrag ebenfalls reichlich verwaschen von einem Unfall mit Lokomotive, führt aber noch einen Begleiter ein. Ob der mitstarb oder aber floh, sagt sie nicht. Vielleicht ein Mörder?

* https://www.museelh.ca/louis-hemon/?lang=en



Trotz ihrer befremdlichen Berufswahl hätte ich die bayerische Skirennläuferin Barbara Henneberger (1940–64) durchaus aufgenommen. Im April 1964 ist die mehrmalige deutsche Meisterin bei St. Moritz mit rund einem Dutzend anderen Assen an Dreharbeiten zu Willy Bogners Film Ski-Faszination beteiligt. Die Gruppe löst zwei Lawinen aus, der Henneberger (23) und der US-Sportler Wallace »Buddy« Werner (28) zum Opfer fallen. Bogner, damals selbst ein erfolgreicher Skirennläufer, zudem Filmemacher, später Chef des väterlichen Münchener Modehauses, offizieller Ausrüster der deutschen Ski-Nationalmannschaften sowie Bundesverdienstkreuzträger (1996), scheint noch zu leben. Er ist Jahrgang 1942. Henneberger war damals seine Braut. Da ihm Warnungen vor der akuten Lawinengefahr bekannt waren, wurde er ein Jahr darauf von einem Graubündener Gericht mit zwei Monaten Gefängnis auf Bewährung »bestraft« – für zwei Fahrlässige Tötungen. Wer hier auf einen sogenannten »Prominentenbonus« schimpft, kann nur ein hartnäckiger Modemuffel sein, der von Rechts wegen ins Gefängnis gehört.

2005, anläßlich des Selbstmordes eines 17jährigen Adoptivsohnes von Bogner, Bernhard, machte ein »Leitmedium«* vor, wie man in knappen biografischen Abrissen alles Unwesentliche wegläßt. »Am 12. April 1964 erlebte Willy Bogner einen schweren Schicksalsschlag: Seine Freundin, die Olympia-Skiläuferin Barbara Henneberg, wurde in der Schweiz von einer Lawine verschüttet.« Mehr wird dazu nicht gesagt. Schicksal!

* »Bogner-Sohn beging Selbstmord«, Süddeutsche Zeitung, angeblich am 11. Mai 2010: http://www.sueddeutsche.de/muenchen/ermittlungs-ergebnis-bogner-sohn-beging-selbstmord-1.669173. Das Erscheinungsdatum ist ebenfalls irreführend. Der Selbstmord fand nach meinen Informationen in der Nacht vom 1. auf den 2. Oktober 2005 statt. Das war ein Sonntag. Wahrscheinlich erschien der Artikel am Dienstag den 4. Oktober 2005.



Der Weinberg, der sich unweit des Rathauses über der Karlsaue erhebt, ist beste Kasseler Wohnlage. Umgeben von einem hübschen Park, standen hier vor dem Zweiten Weltkrieg zwei prachtvolle Villen des heimischen Henschel-Clans. Das heißt, die jüngere Villa ließ Oskar Henschel bereits 1932 abreißen, weil sie, kaum verkäuflich, dafür seiner Ansicht nach zu hoch besteuert, leerstand.* Schließlich konnte er die ehemalige Residenz seiner Stiefmutter nicht zur Suppenküche für die Leute erniedrigen, die er jüngst im Rahmen des bedauerlichen kapitalistischen Krisenzyklus‘ in seiner Fabrik hatte entlassen müssen. Die andere Villa dagegen machte wenig später Bekanntschaft mit britischen Bomben. Ja, so ein böser Schicksalsschlag!

Es war am 22. Oktober 1943 gewesen. Damals flogen britische Jäger einen massiven Angriff, der Kassel zu fast 80 Prozent in Schutt und Asche legte. 418.000 Bomben gingen auf die Stadt nieder. Wie Zeitzeuge Willi Belz in seinen Erinnerungen erwähnt, stand selbst der Asphalt der Straßen in Flammen, sodaß etliche Schutzsuchende in Fackeln verwandelt wurden. Im Ergebnis waren knapp 10.000 EinwohnerInnen tot, gut 10.000 verwundet, rund 150.000 (von 230.000) obdachlos. Die Stadt glich einer Steinwüste. Auf einem zeitgenössischen Foto unternimmt ein offener Pkw eine Besichtigungsfahrt durch die Ruinen. Neben dem Höheren SS- und Polizeiführer Josias Erbprinz zu Waldeck und Pyrmont, der im nahen Barockstädtchen Arolsen noch heute ein hohes Ansehen genießt, ist Herr Dr. Joseph Goebbels, Reichsminister für »Volksaufklä-rung«, zu sehen. Doch aufgeklärt hatten eher die Briten. Seit Monaten war durch Noten an die Hitlerregierung und durch abgeworfene Flugblätter bekannt gewesen, welche Städte von den Briten als zum Kampfgebiet gehörig betrachtet wurden.

Wenn auch Kassel Haß und Bomber auf sich zog, war die Familie Henschel nicht gerade unbeteiligt daran. Neben einem Militärflugplatz in Rothwesten und den Waldauer Fieseler-Werken, die mit über 5.000 Beschäftigten Flugzeuge bauten, barg Kassel das traditionsreiche Unternehmen Henschel & Sohn. 1777 von Georg Henschel als Geschütz- und Glockengießerei gegründet, mauserte sich das Unternehmen bis zum Oktober 1943 zu einer großangelegten Panzerschmiede mit rund 3.000 Beschäftigten. 1976 war es noch wertvoll genug, um vom Thyssen-Konzern geschluckt zu werden. Diese Übernahme erwähnt Brockhaus noch mit Mühe und Not – von den Kriegen und Rüstungsgewinnen dagegen ist keine Rede.

In Moskau wurden soeben ein paar nagelneue Maschinenpistolen getestet. Vier Attentäter drangen am Freitagabend (22. März) in eine Konzerthalle ein, um auf die nichtsahnenden BesucherInnen das Feuer zu eröffnen. Zurück blieben 137 Tote, darunter auch Kinder, und rund 180 Verletzte. Jetzt suchen die Behörden die Attentäter, nicht etwa die Waffenproduzenten.

* https://www.hna.de/kassel/abriss-henschel-villa-krise-795050.html, 7. Juni 2010



Ich übergehe den braunen Juristen und Finanzpolitiker Karl Maria Hettlage (1902–95) und hebe dafür eine braune Frau aufs Schild: Hildegard Hetzer (1899–1991). Brockhaus hilft der österreichischen Kinder- und Jugendpsychologin auffallend plump über das »Dritte Reich« hinweg, wenn er mitteilt, bis 1931 sei sie Mitarbeiterin von Charlotte Bühler in Wien gewesen, »anschließend Professorin an der Pädagogischen Akademie Elbing, 1947–61 am Pädagogischen Institut in Weilburg, danach an der Hochschule für Erziehung in Gießen.« Dann hebt er noch ihre Studien und Tests zum Einfluß des Milieus auf unsere Kleinen hervor. Ihr Bundesverdienstkreuz (1972) verschmähte er in die Waagschale zu werfen.

Die umschiffte Klippe heißt also Elbing, das niemand kennt. Es handelt sich um eine eigentlich polnische Hafenstadt an der Ostseeküste. War dort das »Milieu« für Kinder und für die Psychologin gut? Es war neuerdings braun. Man könnte jetzt frohlocken, weil Hetzer in Elbing nach drei Jahren schon wieder entlassen wurde, was sogar Klee nicht verschweigt. Sie paßte nicht richtig ins faschistische »Berufsbeamtentum«. Wahrscheinlich spielte auch die jüdische Herkunft ihrer Mentorin Charlotte Bühler aus Wien eine Rolle. Doch Hetzer, recht großzügig abgefunden, war nicht auf den Kopf gefallen und hangelte sich über verschiedene eher freiberufliche Beschäftigungen in der Hochburg des Faschismus Berlin bis ins Jahr 1940, wo sie als Sachbearbeiterin in die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) dienstverpflichtet wurde. Diese Naziorganisation schickte sie 1942 erneut gen Osten. Nun hatte sie sich in der »Provinz« um die Großstadt Posen mit polnischen Heimkindern zu befassen, die vielleicht der »Germanisierung« fähig und wert waren.

Spätere Vorwürfe, Hetzer habe ihre entwicklungsdiag-nostischen Kompetenzen in den Dienst des NS-Regimes gestellt und sich insbesondere im sogenannten Warthegau des besetzten Polens an der Germanisierung und Zwangsverschleppung polnischer Waisen- und Pflegekinder beteiligt, blieben durchaus nicht aus, wie ich einer ausführlichen jüngsten kritischen Studie entnehme.* Die ersten Vorwürfe stammen aus dem Jahr 1975. Brockhaus hätte sie also »theoretisch« kennen können. Professorin Hetzer kannte sie natürlich auch, scheint ihnen jedoch, wen verblüfft es, mit Ausreden begegnet zu sein. Aufgrund der Studie überzeugen mich Entlastungsversuche kaum. Stock & Kollegen weisen darauf hin, entgegen einer gewissen politischen Unzuverlässigkeit, die Hetzer angehaftet haben mag, sei sie 1942 von Heinrich Himmler persönlich, dem »Reichsführer SS und Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums«, für eine »Sonderaufgabe« im Warthegau berufen worden, und im folgenden umreißen sie die verächtlichen Züge dieser neuen Untersuchungs- und Sortierungstätigkeit Hetzers. Wer diese Züge in die Nähe von Kinderliebe rückt, muß schon hartgesotten sein.

Allerdings handelte sich Hetzer in Brockau schon nach rund zwei Monaten den »Rauswurf« ein. Anscheinend verhedderte sie sich erneut im dornigen Dickicht der Sympathie- und Kompetenzstreitigkeiten. Sie durfte jedoch in Posen weiter für die NSV tätig sein, nämlich als »Erziehungsberaterin« und Gutachterin. Bei Kriegsende gelang es ihr, dem »Osten« zu entkommen. Damit kam sie vom Regen in die Traufe der keineswegs aalglatten »Entnazifizierung«. Daraus ging sie aber, vor allem mit Hilfe eindrucksvoller Persilscheine, als »unbelastete« Siegerin hervor. Schon Ende 1950 wurde sie wieder Professorin.

Bemerkenswerterweise kommen Stock & Kollegen trotz meines unvorteilhaften Eindrucks von Hetzer zu dem Fazit, sie sei »weniger als bislang angenommen an der Germanisierungsaktion« im Warthegau beteiligt gewesen. Ihre dazu gemachten Aussagen stünden auch »mit den von uns gefundenen Dokumenten in guter Übereinstimmung«. Dafür kommen in der Studie ein paar andere östliche »ErziehungshelferInnen« schlecht weg.

* Stock / Amend / Koza, »Der Fall Hildegard Hetzer und der Anteil weiterer Psychologinnen an der Eindeutschung polnischer Kinder während des Zweiten Weltkriegs«, online 19. Dezember 2023: https://econtent.hogrefe.com/doi/10.1026/0033-3042/a000649



Gewisse bekannte, meist überfallweise auftretende Rückenschmerzen ohne Gänsefüßchen und grammatische Belehrung Hexenschuß zu nennen, scheint 1989 noch nicht strafbar gewesen zu sein. Heute würde Brockhaus dafür mitten in Mannheim (oder Freising) an den Pranger gestellt, wenn nicht sogar, in Gestalt des Bandes 10, verbrannt werden.

Hildegard Hetzer wäre ein solcher Fehltritt wohl kaum unterlaufen. Ich vergaß zu erwähnen: Im Januar 1945 erkrankte sie zunächst, falls Stock & Kollegen zu trauen ist. Na, wen wundert es, bei den seelischen und militärischen Anfechtungen, die sie vielleicht durchzumachen hatte. Sie erholte sich in einem Sanatorium der sowjetisch besetzten Zone im Harz, ehe sie, 1947, in den Westen entwischte. Über die Art ihrer Erkrankung verlieren die Autoren kein Wort. Vielleicht war es ja ein Hexenschuß. Damit hätte allerdings Erklärungsnot bestanden. Warum legen die Hexen auch auf Ihresgleichen an, also auf Weiber? Das kommt ja sogar heute noch vor, wie mir bereits so manche Freundin klagte. Und dann noch auf eine gewesene und zukünftige Professorin! Irgendetwas wird sie also schon auf dem Kerbholz gehabt haben.

Sehen Sie, so geht einwandfreie wissenschaftliche Prosa. Da ist alles durch Argumente, Akten mit Protokollen oder Urkunden und zwingende Logik lückenlos abgesichert.



Es gab etliche Frauen, die sich im Faschismus geschunden und in der ihn ablösenden Demokratie hintergangenen sahen. Ich denke beispielsweise an die kommunistisch gestimmte Bergmannstochter und Seifenverkäuferin Martha Hadinsky, die sich 1963 mit 51 umbrachte. Diesen leidgeprüften Frauen stellte ich einmal verschiedene, stets mit Samthandschuhen angefaßte Nazi-Gattinnen gegenüber. Eine von ihnen hieß Lina. Zur selben Zeit, da man der »unbelehrbaren« Martha die karge Rente gestrichen hat, zehrt die etwa gleichaltrige Lina auf der Ostseeinsel Fehmarn, wo sie außerdem ein Hotel betreibt, von einer just vor dem Schleswiger Landessozialgericht erkämpften »Kriegsopfer«-Rente. In ihren Augen war ihr im Sommer 1942 verstorbener Ehemann nämlich »einer unmittelbaren Kriegseinwirkung zum Opfer gefallen«. Und die Frage, wer den Krieg vom Zaun gebrochen hatte, hielt sie offenbar für unerheblich. Das Gericht schloß sich dieser Sicht (1958) schließlich an.

Das Opfer war kein Geringerer als Reinhard Heydrich gewesen, geboren 1904 in Halle/Saale. Im Brockhaus ist er sogar mit Paßfoto vertreten. Heyderichs Sterbeort war Prag. Der Polizeigeneral, Leiter des »Reichssicherheits-hauptamtes« und nebenbei Vize-»Reichsprotektor für Böhmen und Mähren« war damals, als 38jähriger, den Folgen eines auf ihn verübten Anschlages tschechischer Agenten erlegen, die im Auftrag der Londoner Exilregierung und mit Unterstützung einheimischer UntergrundkämpferInnen handelten. Nun war die arme Lina Witwe. Mit ihr und vier Sprößlingen hatte Heydrich bei Prag in Schloß Jungfern-Breschan (Panenske Brzezany) residiert, wo laut stern-Bericht von 2002 »bis zu 120 jüdische KZ-Häftlinge für sie fronen« mußten.* Vordringlich ging Heydrich allerdings als Berliner Cheforganisator der »Endlösung der Judenfrage« in die Geschichte ein. Nach zahlreichen Zeugnissen war die Gattin des kaltblütigen Massenmörders, eine geborene Von Osten, schon um 1930, also mit 20, eine »glühende Nationalsozialistin« gewesen. Manche Quellen bescheinigen ihr geradezu Sadismus. Lina übte maßgeblichen Einfluß auf ihren gleichfalls blonden, gleichfalls ehrgeizigen Reinhard aus, der zwar ein Hüne war, jedoch an seiner dünnen, hohen Stimme und dem entsprechenden Schüler-Schmähnamen Ziege gelitten haben soll. Zwar wurde Lina 1948 von einem tschechischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt – aber dummerweise in Abwesenheit. Himmler hatte ihr geraten, erst einmal nach Bayern abzutauchen. Später kehrte sie in den Schoß ihrer norddeutschen Heimat zurück. Dort konnte sie sich am besten um die Erziehung ihrer inzwischen nur noch drei Kinder kümmern.

Dies alles wußten die Schleswiger SozialfürsorgerInnen zu belohnen. Offenbar hielt Lina ihrem Reinhard auch bis zuletzt die Stange, wie aus ihren Memoiren hervorgehen soll. Von Reue keine Spur. Sie starb 1985 mit 74 Jahren.

* Mario R. Dederichs am 6. November 2002: https://www.stern.de/politik/geschichte/epilog-verdraengung--vertuschung-und-vergebung-3899814.html
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