Dienstag, 2. Januar 2024
Risse im Brockhaus 5
ziegen, 09:30h
Der »Völkerrechtler und Staatsphilosoph« Friedrich Berber (1898–1984) war, laut Brockhaus, zufällig »1936–44 stellvertretender Leiter des Instituts für auswär-tige Politik in Hamburg, [ab] 1937 Professor in Berlin«, nach dem Krieg in München. Er »leistete Bedeutendes auf dem Gebiet der Forschung über die Kriegsverhütung und des internationalen Wassernutzungsrechts.« Das nenne ich starken Tobak.
Für Ernst Klee war der Gelehrte, mit dem Titel Gesandter, »Völkerrechtsexperte Ribbentrops«, also des faschisti-schen deutschen Außenministers, ab 1937 auch Partei-mitglied. Wikipedia erläutert, als NS-Propagandist habe Berber »die passende ideologische Untermauerung der nationalsozialistischen außenpolitischen Verletzung internationaler Verträge« geliefert. Bonner Orden bekam er anscheinend nicht; dafür sah er sich 1973 durch eine in München verlegte Festschrift für Friedrich Berber zum 75. Geburtstag gefeiert, die immerhin 577 Seiten dick war.
2016 mußte Berber eine Kopfnuß hinnehmen: Der Friedrich-Berber-Weg in Neuperlach-Süd, München, wurde umgetauft. Laut einer Lokalredakteurin* hätte man Berbers Rolle unter Ribbentrop »eigentlich« auch schon Mitte der 1980er Jahre gekannt, als die Taufe erfolgt war. Aber nicht in Mannheim. Brockhaus Band 3 erschien 1987. Das Tempo der Aberkennung ist allerdings erstaunlich: 2016 war der Zweite Weltkrieg schon 70 Jahre alt. Die bekannte Tendenz zur ständigen Beschleunigung scheint nicht in jedem Bereich zu greifen.
* https://www.merkur.de/lokales/muenchen/ramersdorf-perlach-ort43348/strassenumbenennung-neuperlach-wegen-nazi-vergangenheit-meta-zr-6158337.html, 29. Februar 2016
Mit der Lennestädter Schriftstellerin und Malerin Josefa Berens-Totenohl (1891–1969) hält Brockhaus es ähnlich. Für ihn war sie »Lyrikerin und Erzählerin ihrer sauerländischen Heimat« – und nicht etwa für Lesungen umworbene Nazitante und Zuarbeiterin der damaligen Berliner Blut- und Boden-Politik. 1956 wünschte ihr der westfälische sozialdemokratische Ministerpräsident Fritz Steinhoff zum 65. Geburtstag alles Gute. Ich will mich aber nicht mehr näher mit ihr beschäftigen. Stattdessen schwebt mir eine Bemerkung zu ihrem auffälligen Nachnamenszusatz Totenohl vor – was zur Stunde freilich noch auf gewisse Schwierigkeiten stößt. Frau Berens hatte ihn gewählt, um sich unverkennbarer zu machen. Dabei hielt sie sich anscheinend an einen Ort oder Landschafts-teil ihrer Gegend, zu dem ich jedoch in keiner Quelle eine Erläuterung finde. Ich vermute lediglich, es handle sich um eine feuchte Wiese in Gewässernähe oder gar um einen richtigen Sumpf, denn eben so etwas wird in besagter Gegend »Ohl« oder »Aul« genannt. Meine entsprechende Nachfrage an das Lennestädter Stadtarchiv hatte allerdings unter unerwarteter Höherer Gewalt zu leiden. Mitarbeiterin B. erklärte mir nach gewisser Verzögerung am 18. Dezember freundlicherweise, mit zahlreichen anderen Kommunen Südwestfalens sei Lennestadt Ende Oktober »von einem Cyber-Angriff« heimgesucht worden. Deshalb stünden ihr die gewohnten, digitalen Recherchemittel nicht zur Verfügung und die Bearbeitung meiner Anfrage nehme etwas mehr Zeit in Anspruch. Auch könne sie Dokumente einstweilen nur als Kopie auf dem herkömmlichen Postweg verschicken. Darauf lauere ich also jetzt, im Neuen Jahr.
Wenn man an die schrecklichen Zeiten noch um 1800 denkt, wo es nur unter mühsamem Aufwand möglich war, etwa die eine oder andere Stadtverwaltung lahmzulegen! Man mußte zum Beispiel nächtens ins Rathaus einbrechen und durfte um Gottes Willen kein Baumwolltaschentuch mit eingesticktem Monogramm verlieren. Oder man hatte alternativ mindestens drei Bedienstete der Stadt zu bestechen, den Nachtwächter eingeschlossen, und konnte dann nur beten, von denen nicht verpfiffen zu werden. Heute dagegen geht man einfach über ein paar schützende Umwege ins Internet, ruft die fragliche Webseite der Stadtverwaltung auf und setzt sein bewährtes Hacker-Programm zur Änderung des Paßwortes ein, das allen Bediensteten anvertraut worden ist, damit sie auch schön »Home-Office« machen können. Jetzt geben diese Tröpfe wie die Verrückten ihr vertrautes »Sauerkraut« ein, während ich dafür gesorgt habe, daß die Webseite nur noch auf »Powerfrau« reagiert.
Übrigens muß Totenohl keineswegs unbedingt etwas mit Leichen zu tun haben. Aus dem Studium der Stadtge-schichten von Waltershausen, Zierenberg, Wolfhagen weiß ich nur zu gut, wie oft bei Personen- oder Flurnamen schon in wenigen Jahrhunderten die aberwitzigsten Verschiebungen vorgekommen sind, dabei aus den unterschiedlichsten Gründen, und seien es versehentliche Schreibfehler beim Kopieren von Urkunden. Zwischen den nordhessischen Dörfern Kirchberg und Gleichen (bei Gudensberg) liegt zum Beispiel ein hübscher, bewaldeter Hügel, den die Wanderkarten »Leichenkopf« nennen. Es ist mir bislang nicht gelungen herauszufinden, warum. Aber die Mutmaßung, dort habe eben mal ein Chatte einen anderen Chatten erschlagen, ist doch ziemlich abenteuerlich. Vielleicht gab es auf der Gudensberger Burg einfach mal einen Trottel von Schreiber, der von dem gültigen Namen »Gleichenkopf« das G vergaß, und schon war die Mordgeschichte festgestampft. Allerdings ist auch der Bezug auf das Dorf Gleichen abenteuerlich. Erstmals 850 als »Gilihha« beim Fuldaer Mönch Eberhard erwähnt, machte auch dieser Dorfname, wie schon angedeutet, zahlreiche Verwandlungen durch. Vermutlich hat er mit Leichen durchaus viel, mit Gleichheit dagegen sehr wenig zu tun. Das hinderte mich freilich um 2010 nicht daran, am Fuß des Leichenkopfs die anarchistisch gestimmte Landkommune Emsmühle anzusiedeln. Das dort dienstbare Flüßchen Ems mündet südlich von Gudensberg in der Eder.
Nachtrag 1. Februar 2024 Das Stadtarchiv von Lennestadt hat Wort gehalten. Es schickte mir mehrere Quellen-Auszüge. Nach einer Prüfungsarbeit von Maria Schöttelndreier (Osnabrück 2004) zog die Malerin und Schriftstellerin Josefa Berens 1925 »nach Gleierbrück an der Lenne, das früher Totenohl genannt wurde. Mit dem Erscheinen ihres ersten Romans gibt sich Josefa Berens den Namenszusatz Totenohl, um die Verbundenheit mit ihrer Heimat auszudrücken.«
Zur Herkunft des seltsamen Ortsnamens führt Schöttelndreier mit einigen anderen Autoren die rastenden Begräbniszüge an. Denen liegt laut Heimatforschern eine Sage oder Legende zugrunde, nach der sich ein Siedler namens Irmingam zum Christentum bekehrt und an besagter, im Urwald gerodeten Stelle ein Gehöft erbaut hatte. Ebendort, bei dem neuen Gehöft am Gleierbach, hätten künftig die Leichenzüge von Adeligen, die einen christlichen Friedhof in Wormbach anliefen, Zwischen-station gemacht. Daher »Totenohl«. Allerdings weisen die ForscherInnen auf Ungereimtheiten hin, die solche Begräbniszüge eher unwahrscheinlich machen. Vielleicht entsprang die Legende späterem christlichem Wunsch-denken, wonach man den »Heiden« schon früh den Schneid abgekauft haben wollte.
Eher trifft der landschaftliche Ursprung zu. Nach Namenskundlern meinte »ol« oder »aul«, später »ohl«, in der Regel einen feuchten Landstrich, vielleicht von einem Bach umflossen. Wir befinden uns ja in der Tat im Lennetal. Überdies mündet der Gleierbach just beim Dörfchen Gleierbrück in die Lenne. Was nun den vorderen Namensteil betrifft, bezeichnete »toyt« oder »teut« eine Spitze, wohl meist einen ins Auge stechenden Hügel oder Berg. Trifft dies in unserem Fall zu, sind die »Toten« eine nachträgliche Erfindung.
Nebenbei stoße ich im Internet auf eine 2021 verfaßte bebilderte Betrachtung* des Essener Heimatkundlers Dieter Bonnekamp, wonach das ansehnliche, »1938 in Gleierbrück-Totenohl« errichtete Fachwerkgehöft unserer Dichterin zumindest in den 1990er Jahren Wanderer mit einem Hakenkreuz im Giebel grüßte. Oder vorbeigekarrte Leichen. Bonnekamp zeigt Berens-Totenohl auch von uniformierten Nazirecken flankiert.
* https://vor-ort.kolping.de/kolpingsfamilie-essen-burgaltendorf/wp-content/uploads/sites/2417/2021-1-josefa-berens.pdf
Nach der Nazimärchentante übergehe ich auch die von Brockhaus verharmlosten Wissenschaftler Ragnar Berg (1873–1956, ein Ernährungsforscher) und Hans Berger (1873–1941, Psychiater). Siehe bei Ernst Klee. Dafür ein paar Zeilen zur weltberühmten Opernsängerin Erna Berger (1900–90). Zwar hatte sie im »Dritten Reich« noch keinen Lehrstuhl; den bekam sie erst 1959 im demokratischen Hamburg. Joseph Goebbels hatte sie aber immerhin (1944) auf seine berüchtigte Gottbegnadeten-Liste setzen lassen. Der Berliner Staatsoper soll sie sogar bis 1946 angehört haben. Gastspielreisen ins feindliche Ausland hatte sie jederzeit unternehmen dürfen. In Berlin und Dresden hat sie, seit der »Wende«, auch Straßen. Täusche ich mich nicht, wird darstellenden Künstlern das sogenannte Mitläufertum immer besonders gern nachgesehen. Schließlich haben sie uns immer so gut unterhalten, während Borsig und Krupp auf ihren Testackern die Panzerketten rasseln ließen. Von der Weltpresse war Berger gern als »wahres Stimmwunder« gerühmt worden. Andere bezahlten das eigene Wahrheits-empfinden im KZ oder in einem Himmelfahrtskommando an der Front. Berger wurde knapp 90.
In der Regel kein Wohngebäude, habe der Bergfried mittelalterlicher Burgen den Verteidigern »häufig als letzter Zufluchtsort« gedient, klärt uns Brockhaus auf. Ich nehme allerdings an, man zog sich dabei nicht gerade durch das legendäre Angstloch zurück, unter welchem regelmäßig Gefangene buchstäblich in ihrer eigenen Scheiße zu sitzen hatten. Diesen Zweck übergeht das Universallexikon. Sigmar Löffler schildert dazu im ersten Band seiner Waltershäuser Stadtgeschichte die Verhältnisse auf meiner Heimatburg: »Der Eingang des Bergfrieds lag sehr hoch über der Erde und war nur durch eine lange Leiter zu erreichen. Der untere Teil des Turms diente als Burgverlies. Es war ein lichtloser, enger, fast 9 m tiefer und oben mit einem Gewölbe abgeschlossener Schacht. Durch eine Öffnung in der Mitte des Gewölbes konnte man mit einem über eine Winde laufenden Seil den Gefangenen hinunterlassen und heraufziehen.«
Einer Klageschrift von Bauern zufolge sei das Verlies kaum jemals gereinigt worden, sodaß ihm, durch das erwähnte Angstloch, ein »unleidlicher, tödlicher« Gestank entstiegen sei. Soweit ich weiß, maß das durch Gitter verschließbare Angstloch grundsätzlich allenfalls ein Meter im Durchmesser. Die ranzigen Brotkanten konnte der zuständige Adelsknecht bequem durchs Gitter werfen. Dabei hielt er sich vermutlich die Nase zu. Die Vorstellung, Monate oder gar Jahre in solch einem grauenhaften Kerker zu sitzen beziehungsweise zu verfaulen, nimmt mir bereits am Schreibtisch den Atem. Wahrscheinlich waren auch die Selbstmord-Möglichkeiten recht beschränkt. Sollte man da mit dem Kopf an die Wand rennen?
Der Mediziner Gustav von Bergmann (1878–1955) war Professor in Marburg, Frankfurt/Main, Berlin und München – bei Brockhaus ohne Jahreszahlen. Von Bergmann »errang wesentliche Verdienste durch die Einführung der Asepsis bei der Wundbehandlung und in der Kriegs- und Hirnchirurgie.« Das ist alles. Klee stellt ihn dagegen als »führenden Internisten der NS-Zeit« vor. Hitler zog ihn 1942 als Experten zum »Heeressanitäts-wesen« heran. Zwei Jahre darauf saß auch Von Bergmann in jenem schon früher erwähnten Wissenschaftlichen Beirat des Gesundheits-Bevollmächtigten Karl Brandt, der in Nürnberg ein Todesurteil bekam. Gleichwohl wurde Von Bergmann schon 1946 zum Direktor der II. Münchener Universiätsklinik bestellt. 1953 Bundesverdienstkreuz.
Über das Bergsteigen läßt sich Brockhaus auf rund zwei bebilderten Seiten wie ein Fernsehkoch über das korrekte und völlig ungefährliche Hühnereiaufschlagen am Pfannenrand aus. Hört und sieht man gut zu, kann man gar nichts mehr falsch machen. Ist Ihnen dagegen nach kritischen Gesichtspunkten zumute, schlagen Sie bitte mein Nasen-Lexikon auf, und zwar unter Brawand, Samuel – den ein Blitz (1902) vom Wetterhorn fegte. Dieser Berg, knapp 3.700 Meter hoch, liegt in den Berner Alpen.
Bernburg (Saale) liegt auf halbem Wege zwischen Halle und Magdeburg. Nach den 20 Zeilen von Brockhaus ist die Kreisstadt eine Reise wert, zumal die dortige Burg Albrechts des Bären »im 16. Jahrhundert zu einem der schönsten Renaissanceschlösser in Mitteldeutschland umgestaltet« wurde. Von einer als Heilstätte getarnten Tötungsanstalt ist nicht die Rede. Dabei wurden in Bernburg um 1940 mindestens 14.000 Menschen ermordet, die der Faschismus als »minderwertig« empfand. Die Angelegenheit war eigentlich spätestens um 1960 bekannt, weil damals zwei leitende Ärzte aus den Tötungsanstalten Brandenburg (Havel) und Bernburg verhaftet wurden, Aquilin Ullrich und Heinrich Bunke. Das Gerichtsverfahren gegen sie wurde allerdings auf die bekannte skandalöse Art verschleppt und endete schließlich (1986–88) in einer obszön lächerlichen Bestrafung. Näheres dazu führte ich vor Jahren in meiner vierten Bott-Geschichte aus. Auch von Klee sind die beiden Mediziner erfaßt. Von Brockhaus nicht. Eine allen Touristen zugängliche Gedenkstätte in der ehemaligen Bernburger Landes-Heil- und Pflegeanstalt wurde freilich erst 1989 eröffnet, worauf sich Brockhaus notfalls zurückziehen könnte, da Band 3, mit Bernburg, bereits 1987 erschien.
Die Lexikonspalte über Betrug macht indirekt klar, daß wir seit Jahrhunderten im Kapitalismus leben. Brockhaus bestimmt den Betrug als »Vermögensdelikt, das begeht, wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen …«, bla bla bla. Im folgenden interessiert sich Brockhaus nur noch darum, wann »die Strafbarkeit« der einen oder anderen ökonomischen Übervorteilung beginnt. Wie sich versteht, bemißt sich die Strafbarkeit nach Gesetzen und Vorschriften, nicht etwa nach moralischen Überlegungen. Das ganze ausgedehnte Feld des nicht ökonomisch motivierten Betruges – der selbstverständlich auch nicht meßbar wäre – fällt für Brockhaus sowieso in die Wildnis, der wir Zivilisierten keine Aufmerksamkeit schenken müssen. Neben dem Wahlversprechensbruch des Politikers, inzwischen bereits ein Gewohnheitsrecht, nenne ich nur den guten alten Vertrauensbruch unter Freunden. Wer darauf achtet, wird unseren Alltag ähnlich stark von Betrug durchtränkt finden wie von der Lüge. Beides hat eher selten mit Geld zu tun, vielmehr mit unserer Entschlossenheit, Recht zu behalten, den berüchtigten Gesichtsverlust nicht zu erleiden, den anderen zu demütigen und stets als siegreich zu gelten.
In dem kurzen Eintrag zum österreichischen Publizisten und Schriftsteller Hugo Bettauer (1872–1925) erwähnt Brockhaus sogar, er sei »von einem Nationalsozialisten ermordet« worden. Näheres lesen Sie hier:
Obwohl Bettauer aus wohlhabendem jüdischem Hause stammte, könnte ihm ein Böswilliger von verschiedenen Porträtfotos her, die ihn in gesetzterem Alter als kurzhälsigen Dickschädel zeigen, glatt das Zeug zum Rausschmeißer oder gar Unhold bescheinigen. Man möchte kaum glauben, dieser grobschlächtige, auch an Egon Friedell erinnernde Kerl habe um 30 die 16jährige Hamburgerin Helene Müller betört. 1904, nach Bettauers Scheidung von der Schauspielerin Olga Steiner und inzwischen 18, wurde Müller die zweite Ehefrau des umtriebigen Schreibwütigen, der insbesondere gegen Prüderie, für Frauenrechte und freie, selbstbestimmte Sexualität kämpfte. Sein späterer Mörder und dessen Rechtsanwalt, ein Funktionär der österreichischen Nazis, werden dem Gericht zu bedenken geben, es habe sich darum gehandelt, die Jugend vor der Verderbnis zu schützen. Bettauer war aufgrund seines Engagements, das auch die hurtige Produktion von zahl- und erfolgreichen »leichten« Romanen einschloß, zu einer bekannten, schillernden und umstrittenen Figur geworden. Wie es aussieht, war er nicht uneitel, aber hart im Nehmen, wobei er auch selber nicht immer mit Samthandschuhen vorging. Pikanterweise hatte er 1901 in Berlin bereits seinerseits für einen Todesfall gesorgt, nämlich den Selbstmord des Hoftheaterdirektors, dem er öffentlich Bestechlichkeit vorgeworfen hatte. Bettauer wurde ausgewiesen.
In Wien gab er zuletzt, ab 1924, sein eigenes Wochenblatt heraus, Er und Sie, das sich dank seiner aufklärerischen oder reißerischen Berichte vieler LeserInnen erfreute. Im Büro diese Blattes hielt er auch regelmäßig Sprechstunden für Ratsuchende ab. Hier blickte er an einem Märztag des Jahres 1925 in die Pistole des 20jährigen Zahntechnikers Otto Rothstock, der ihn mit mehreren Schüssen niederstreckte, denen Betthauer zwei Wochen darauf im Krankenhaus erlag. Damit war der streitbare 52jährige Publizist und Vater zweier Söhne zum ersten prominenten Todesopfer der Nazis in Österreich geworden.
Bettauers Mörder kam wegen angeblicher Unzurechnungs-fähigkeit mit einem Freispruch und anderthalb Jahren Heilanstalt davon. 2009 wurde in Wien ein kleiner Platz nach Betthauer benannt. 2022 erschien in Wien ein Buch über den Mordfall.
Nach Brockhaus leitete der »Aerodynamiker« und Professor Albert Betz (1885–1968) in Göttingen »1936–56 die Aerodynamische Versuchsanstalt [AVA] und 1947–56 auch das Max-Plank-Institut für Strömungs-forschung.« Das Lexikon hütet sich allerdings, diese beachtliche Kontinuität zu betonen. Klee dagegen wird deutlicher: Die AVA, dem Reichsluftfahrtminister Göring unterstellt, habe der »Aufrüstung der Luftwaffe« gedient. Daneben sei der Göttinger Physiker »Obmann für Aerodynamik (Waffenforschung) der Deutschen Akademie der Luftfahrtforschung« gewesen. Treffen Klees Angaben zu, zählte Betz somit zu den Führungskräften der damals herrschenden Kriegstreiberbande. Dafür 1957 das Große Bundesverdienstkreuz, laut Wikipedia. Die faßt ihn übrigens vergleichsweise schonend an.
Das Ende eines anderen Physikers und Professors kommt mir dagegen durchaus angemessen vor. Der Inder Homi Jehangir Bhabha (1909–66) war vor allem Kernphysiker, daher auch Vorsitzender der nationalen Atomenergiekommission, wie Brockhaus weiß. Er habe unter anderem über kosmische Höhenstrahlung geforscht. Brockhaus deutet in Klammern sogar Bhabhas Todesumstände an: Flugzeugabsturz. Und zwar sei er am 24. Januar zu einer in Wien stattfindenden Konferenz der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEA) unterwegs gewesen, heißt es bei Wikipedia. Als seine mit 117 Personen besetzte Linienmaschine, eine aus Beirut kommende Boeing 707, jedoch Genf ansteuerte, wo sie, vor dem Ziel London, zwischenlanden sollte, stieß sie bei Chamonix, Frankreich, mit dem Gipfel des Montblancs zusammen und zerschellte. Überlebende: keine. Da hatte der Erforscher von unsichtbaren Winzlingen, Atome genannt, also just den höchsten Berg der Alpen erwischt, 4.800 Meter. Wikipedia behauptet, das Flugzeug sei fünf Jahre früher, 1961, auf den reizvollen Namen Kangchendzönga getauft worden – nach einem anderen Berg. Der liegt im Himalaya und ist schlappe 8.586 Meter hoch. Die Flugkapitäne sollten sich mal anstrengen, wenn Sie mich fragen.
Neue Berufe wie Düsenjägerpilot, Geigerzählerputzer oder MondspaziergängerIn zu erfinden, war im Grunde unumgänglich, weil ja unablässig Berufe aussterben, die bis dahin für tödliche Arbeitsunfälle und damit die Regulierung des Arbeitsmarktes sorgten. Diesen Gesichtspunkt vernachlässigt Brockhaus allerdings in seinem Eintrag zum Bibliothekar. Einen Tod, wie er Friedrich Adolf Ebert beschieden war, muß man heutzutage, wo alles am Bildschirm gelesen und verwaltet wird, bereits mit der Lupe suchen. Der Pfarrerssohn stand seit 1825 an der Spitze der Dresdener Königlichen Öffentlichen Bibliothek. »Am 10. November 1834 war er damit beschäftigt, mehrere Bücher wegzustellen; dabei fiel er aus beträchtlicher Höhe von der Bücherleiter und starb an den Folgen dieses Falles am 13. November«, war vor gut 100 Jahren in Richard Bürgers Biografie (Leipzig 1910, bes. S. 57–63 ) zu lesen. Darüber scheint die Forschung bis heute nicht hinausgekommen. Bürger ist übrigens wahrheitsliebend genug um anzumerken, der 43 Jahre alte Mitbegründer der Bibliothekswissenschaft sei bereits von beruflicher Hingabe, Ehekrach (Amalie geb. Hadenius, seit 1826 Ebert) und wiederholten Grippeanfällen geschwächt gewesen. Ebert auf der Leiter war sozusagen nur das Tüpfelchen auf dem i.
Um sich auf einem gebräunten Lehrstuhl zu halten, war der hauptsächlich in Berlin wirkende Chirurg August Bier (1861–1949) schon zu gebrechlich: Ruhestand 1932. Günstig für Brockhaus, denn so kann das Lexikon etliche (angebliche) Verdienste des gebürtigen Waldeckers aufzählen. Das Schäbige läßt es lieber weg. Nach Klee dagegen legte sich Bier im Rahmen der nationalen Revolution erst so richtig ins Zeug. Inzwischen Geheimrat, warb er Anfang April 1932 im Völkischen Beobachter für die faschistische Partei. Auf dem Reichsparteitag 1937 wurde ihm der faschistische Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft überreicht. 1943 berief ihn Hitler zum außerordentlichen Mitglied des Wissenschaftlichen Senats des Heeressanitätswesens. Er starb, mit 87, auf seinem Gut Sauen in Brandenburg. Er selber war selbstverständlich kein Schwein. Im Gegenteil betonen seine vielen AnhängerInnen (in Wikipedia), gegen Kriegsende habe sich Bier nachweislich von den Nazis abgewandt. Ja, sicher, kluge Leute schlagen sich stets auf die Seite der voraussichtlichen Sieger. Merkwürdigerweise hat sich dieser Sinneswandel des ehemaligen Abiturienten der Korbacher Alten Landesschule aber gar nicht in deren Geschichtswerkstatt niedergeschlagen. Vielmehr bekennt die Schule, Bier habe dem Nationalsozialismus seit 1932 »sehr nahe« gestanden. Das hindert Korbach freilich nicht daran, sich mit der Altstädter Professor-Bier-Straße zu brüsten.
Zu Ambrose Bierce (1842–1914 verschollen) möchte ich mich eigentlich noch kürzer als Brockhaus äußern. Seine hier und dort hochgelobten Kurzgeschichten konnten mich nie überzeugen. Sein Wörterbuch des Teufels ist sicherlich originell; viele Einträge wirken jedoch gesucht und daher wenig erhellend. Dagegen finde ich die beiden Söhne des US-Berufssoldaten, Schürzenjägers, Journalisten, Saufkopps, Asthmatikers, Erzählers und mutmaßlichen Selbstmörders erwähnenswert. Soweit ich sehe und die Quellen reichen*, machten Day Bierce (1872–89) und Leigh Bierce (1874–1901) ihrem Erzeuger alle Ehre. Der 16jährige Day hatte eine Braut, wohl Eva Atkins mit Namen, die eines schlechten Tages mit seinem besten Freund durchbrannte, wohl Neil Hubbs. Als das abtrünnige Paar nach Chico (Kalifornien) zurückkehrte, stellte Day es zur Rede. Schon zogen beide Männer ihre Colts und ließen diese sprechen. Hubbs wurde getötet, während Eva möglicherweise nur einen Steifschuß ans Ohr abbekam. Daraufhin habe sich Day in ein höher gelegenes Zimmer zurückgezogen – um sich eigenhändig zu erschießen.
Bruder Leigh schaffte 10 Jahre mehr. Er bemühte sich gerade als Journalist Fuß zu fassen, als ihn, in New York City, eine Lungenentzündung niederwarf und tötete. Wahrscheinlich hatte er sich die Krankheit bei einer Sauftour geholt. Er soll eine junge Witwe hinterlassen haben, mit der er erst seit wenigen Monaten verheiratet war.
Nach einigen Quellen, die ich noch nicht gefunden habe, verbieten sich Abfälligkeit und Schadenfreude, weil die Brüder vor ihrer Geburt nicht gefragt worden waren, ob sie den Bauch von Ambrose Bierces Gattin Mary Ellen »Mollie« Day wirklich auf eigene Verantwortung zu verlassen gedächten.
* Hauptsächlich »Ambrose Bierce« in der englischen Wikipedia, die üppige Literatur anführt.
Ich gestehe, der Liedermacher und Schriftsteller Wolf Biermann (* 1936), bis 1976 DDR-Bürger, ist mir derart unangenehm, daß ich ihn lieber rechts liegen lasse. Für mich gehört er wie beispielsweise Arthur Koestler, Joschka Fischer, Peter Schneider zu den prominentesten Umfallern, die wir im Freien Westen haben. Erstaunlicher-weise wird die Rückkehr in den Schoß, aus dem der Faschismus kroch und in dem sich dieser derzeit große Chancen auf eine Wiedergeburt in postmodernem Gewande ausrechnen kann, von vielen Leuten als Achtung gebietendes Ankommen aufgefaßt. Die Kindsköpfe kommen endlich in der Vernunft an. Verweigern sie sich diesem Rückweg jedoch bis zum letzten Atemzug, gelten sie mindestens als Einfaltspinsel, oft als Verschwörungs-theoretikerInnen, demnächst als VerbrecherInnen. In Jutta Ditfurth haben wir möglicherweise so eine Widerspenstige; und in Michael Schneider, Peters Bruder, auch so einen Widerspenstigen. Aber die Nichtumfaller-Innen sind zumindest in Deutschland dünner gesät als Wilder Hanf. An Biermann finde ich am Übelsten, daß ihm irgendwelche Charakterruinen 2018 allen Ernstes den Ernst-Toller-Preis zuschusterten. Genausogut hätte man Stepan Bandera den Friedensnobelpreis anheften können. Naja, geben wir ihn eben Wolodymyr Selenskyj.
Ich fürchte, viele kosmologisch interessierte moderne Menschen haben einen Big bang, zu deutsch großen Knall. Sie glauben, wie Brockhaus, an eine das Weltall hervorbringende »Urexplosion«, die »durch die Existenz der kosmischen Hintergrundstrahlung und die Expansion des Weltalls weitgehend gesichert« sei. Das ist zumindest grammatischer Unfug, allerdings ein bezeichnender. Wenn überhaupt, ist natürlich nicht die Urexplosion durch die genannten Faktoren »weitgehend gesichert«, soll sie doch schon vorbei sein, nämlich vor schlappen 14 Milliarden Jahren stattgefunden haben. Vielmehr meint das Universallexikon offensichtlich, die Annahme einer solchen Urexplosion sei weitgehend gesichert. Diese Formulierung hätte aber dem seit längerem geübten Einvernehmen im Wege gestanden, den sogenannten Urknall als Tatsache hinzustellen. Hier wird der grammatische Unfug zum physikalischen und erkenntnistheoretischen Schwachsinn. Man arbeitet mit beschränkter Sonnensystematik und willkürlichen Setzungen und verfügt über geradezu monströse Zeiträume, als sei man erst letzte Woche dabei gewesen. Wahrscheinlich forschen moderne AstrophysikerInnen zu mindestes 95 Prozent auf der Grundlage völlig abenteuerlicher Annahmen. Wenn da irgendetwas gesichert ist, dann die Irrenanstaltsreife dieser Leute. Wer sie überführen will, kann beispielsweise zu einer Neuerscheinung aus der Feder des aus der DDR stammenden Physikers Mathias Hüfner greifen, 2. erweiterte Auflage 2020: Moderne Astrophysik trifft auf Ingenieurwissenschaften. Den etwas ungelenken Titel muß man in Kauf nehmen, denn der Jenaer Autor ist sowieso kein Meister der Sachbuchprosa. Aber klug genug allemal.
Wieder kann uns Brockhaus einen biederen Unterhal-tungskünstler unterjubeln. Frauenschwarm Willy Birgel (1891–1973), ursprünglich Bühnenschauspieler, wirkte ab 1934 in einer wahren Flut von Filmen mit. Wegen deren Harmlosigkeit (1941: Rittmeister von Brenken … reitet für Deutschland) ernannte ihn Goebbels 1937 zum »Staats-schauspieler« und später auch zum »Gottbegnadeten«. 1966 bekam er den Bundesfilmpreis, wenn auch eher von Heinrich Lübke. Er starb mit 82, in der Schweiz.
Wie der bekannte schweizer Fotograf Werner Bischof (1916–54) so früh zu Tode kam, deutet Brockhaus mit keinem Komma an. Jedenfalls fiel er nicht vom Pferd. Durch seinen Militärdienst im Zweiten Weltkrieg war der durchaus erfolgreiche Mode- und Werbefotograf auf ein anderes Sujet gestoßen: das Leid bedrohter oder verelendeter Menschen. Er veröffentlichte nun dokumentarische Fotos in der Presse, ab 1949 im Rahmen der engagierten Pariser Bildagentur Magnum. Bischofs eindringliche Bilder von diversen Kriegs- und Hungerschauplätzen fanden weltweite Verbreitung. Allerdings standen sie mit ihrer gekonnten Ästhetik oft im Widerspruch zu dem Elend, das sie zeigten – ein grundsätzliches Problem. Ab 1953 durchstreifte der zukünftige »Klassiker der Schwarzweißfotografie« den amerikanischen Kontinent. Gefechte in Indochina hatte Bischof überlebt, aber hier, in den peruanischen Anden, traf den 38jährigen das Unfallpech. Am 16. Mai 1954 in einem Chevrolet Station Car mit dem Geologen Ali de Szepessy-Schaurek und dem einheimischen Chauffeur Luis Delgado unterwegs*, kam der Wagen am Cerro Peña del Aguila (bei Cajamarca) in einem Ort namens »Adlernest« von der Straße ab und stürzte in eine Schlucht. Alle drei starben. Wie es aussieht, nahmen sie die näheren Umstände dieses Straßenverkehrsunfalls mit ins Grab. Oder sollte jemand in dem Dörfchen nach Augenzeugen gefahndet haben? Wenige Tage nach dem Unglück gebar Bischofs Frau Rosellina, wohl in Zürich, ihren zweiten Sohn Daniel. Der erste, Marco, heute Bischofs Nachlaßverwalter, war damals knapp vier. Auf der sogenannten offiziellen Webseite zu Bischof werden dessen Mitsterber nicht erwähnt. Dito in der deutschen Wikipedia. Sie waren zu unwichtig.
* NZZ 15. Mai 2004, »Der Unvergessene«, online https://www.nzz.ch/article9JOYF-ld.301261?reduced=true
Möglicherweise habe ich hier und dort bereits auf die Blaufichte eingehackt. Ehemalige DDR-BürgerInnen kennen sie unbedingt, denn dort rahmte sie jede zweite Datscha ein. Nachdem wir 2003 in Waltershausen, zwecks Kommune-Gründung, das ausgedehnte Grundstück der biggi-Puppenfabrik erworben hatten, warf ich erst einmal unsere Motorsäge an. Ich hasse diese Fichtenart, die eigentlich, wie sogar Brockhaus weiß, in die nordamerika-nischen Gebirge gehört. Mag sein, Lotte Ulbricht haßte auch den US-Imperialismus – die Blaufichte jedoch auf keinen Fall. Jede Importware, die den ostdeutschen Sozialismus westlicher aussehen lassen konnte, war willkommen. Und dies bereits vor der sogenannten Wende. Über diese, nämlich die Einverleibung der DDR durch Kohl, Vogel und Biermann, kann man sich gar nicht genug aufregen. Sehr wahrscheinlich bestand damals die letzte Chance, auf diesem Planeten eine vorbildliche größere anarchistische Republik zu eröffnen, ohne gleich über den Haufen geschossen zu werden. Eben in jener DDR, von der etliche Bananenfresser im Gefolge Biermanns 1989/90 nichts mehr wissen wollten. Gut so. Der Rest, vielleicht acht Millionen plus freundschaftliche Zuströme aus allen fünf Erdteilen, hätte dankbar ungefähr jene utopischen Konzepte verwirklicht, die ich inzwischen schon in mehreren Erzählungen dargelegt habe. Für Westberlin hätten wir Kohl den Bezirk Suhl abgetreten. Da hätte er immerhin etliche Kalibergwerke gehabt, zum Stillegen. Großberlin freilich hätten wir nach und nach ausgedünnt, wie ich es einmal am Beispiel Kassel vorführte. Man sieht bereits, der realistische Roman über die alternative DDR wäre noch zu schreiben. Dazu bedarf es allerdings historischer, geografischer, massenpsycho-logischer Kenntnisse, die ich leider nicht besitze und wohl kaum noch erwerben kann. Die einmalige Chance ist vorbei.
Im Brockhaus steht nur sein überaus einflußreicher Vater Gerson, ein jüdischer Berliner Bankier. Sohn Georg von Bleichröder (1857–1902) scheint sich dagegen aus Wirtschaft und Politik eher herausgehalten zu haben. Um 1895 erstand er mit Hilfe der vom Vater geerbten Millionen (Bankhaus S. Bleichröder, Unter den Linden) im heutigen Erftkreis (bei Köln) ein Schloß nebst Gestüt, schwänzte so manche Aufsichtsratssitzung und gab sich in seinen letzten Lebensjahren lieber der Pferdezucht hin. Neben möglichst schnellen Pferden galt seine Leidenschaft Automobilen. Im Juni 1902 nach einem Parisbesuch mit der Eisenbahn in Düren eingetroffen, schwang sich der schnauzbärtige 44jährige hinter das Steuer seines dort abgestellten Wagens, um nach Schloß Lechenich zurückzukehren. Nach zeitgenössischen Berichten, die der Erftstädter Archivar Frank Bartsch zusammengetragen hat*, pflegte der »Baron« die rund 22 Kilometer lange Strecke in lediglich 16 bis 17 Minuten zurückzulegen, das wären im Schnitt knapp 80 Sachen. Man bedenke, wir befinden uns im Jahr 1902. Bleichröders »rasendes« Automobil war unter den Einheimischen »gefürchtet«; Klagen habe er mit Drohungen erwidert. Am 11. Juni krachte es dann. Zwischen Herrig und Lechenich, unweit des sogenannten Herriger Bäumchens, kam dem knatternden Pferdenarren ein Pferdefuhrwerk entgegen. Das Pferd scheute, stellte sich quer – Bleichröder fuhr hinein. Man schaffte ihn ins Schloß, wo er seinen schweren Verletzungen wohl noch am selben Tag erlag. Die Lokalpresse betonte Bleichröders »eigenes Verschulden« an der Katastrophe. Der Kutscher kam offenbar mit dem Leben davon, doch das Pferd möchte man, an Bleichröders Stelle, der die Pferde ja so sehr liebte, nicht gesehen haben. Ob der Kutscher Schadenersatz forderte, ist nicht bekannt. Ähnlich stumm ist es um Bleichröders persönliche Verhältnisse bestellt. Es heißt, der unverheiratete Baron habe sein Schloß lediglich als Sommersitz genutzt, ansonsten vorwiegend in Berlin gelebt. Somit dürfte es einen von ihm bezahlten Gestütsleiter gegeben haben. Dessen Kommentar hätte mich schon interessiert.
Erstaunlicherweise wurde Bleichröders Unfalltod sogar vom Kaiser (Wilhelm II.) zum Anlaß genommen, vor der »Gefahr für Menschen und Thiere« zu warnen, die vom Automobil ausgehe, und »strengste« Geschwindigkeits-beschränkungen vorzuschlagen. Erstaunlich, weil Bleichröders Vater Gerson Vertrauter Bismarcks und ein wichtiger Finanzier des preußischen Militarismus gewesen war. Aber bekanntlich waren solche staatsoberhäuptlichen Rügen an die Adresse der Beschleunigungswütigen ohnehin nicht anders in den Wind gesprochen wie etwa die Millionen Appelle gegen die Kriegsgefahr, mit denen man inzwischen alle auf den Weltmeeren kreuzenden Flugzeugträger tapezieren könnte.
* Kontinuität und Wandel auf dem Lande. Die rheinpreußische Bürgermeisterei Lechenich 1815–1914, Weilerswist 2012
Der nächste Bankfachmann, Karl Blessing (1900–71), diente zunächst dem Führer (Reichsbank ab 1933), dann der Margarine-Union AG und Unilever, schließlich (ab 1958) unserem von zuviel Butter zu dicken Wirtschafts-minister Ludwig Erhard, nämlich als Präsident der Bundesbank. Brockhaus betont diese Kontinuität natürlich nicht. Er unterschlägt auch Blessings Parteimitgliedschaft (1937) und seinen Ehrentitel Wehrwirtschaftsführer. 1965 hängte ihm Erhard, inzwischen Kanzler, das Bundesverdienstkreuz um. Blessing hatte fünf Kinder. Das wird ja wohl, hofft man auf Enkel, auch noch für die nächsten zwei oder drei Regime reichen.
Anstelle des »avantgardistischen« Theatermannes Roger Blin hätte ich eher die Boxer Jürgen und Knut Blin erwähnt. Knut (1968–2004) war der Sohn. Sein Vater konnte sich Schwergewichts-Europameister nennen, hatte es überdies zu einem Kampf gegen Muhammad Ali gebracht. Das war 1971 gewesen, in Zürich. Jürgen Blin, gelernter Metzger, lebte stets in Hamburg, auch im Ruhestand. Nach seiner Box-Karriere (rund eine Million) war er teils Vermieter, teils Gastwirt, vor allem aber unglücklicher Bürge gewesen, heißt es – die Million ging wieder flöten. Immerhin blieb ihm ein Haus und, in zweiter Ehe, eine Gefährtin. Sohn Knut, seit 1987 ebenfalls Schwergewichts-Profi, bestritt 1990 einen großen Titelkampf, bei dem er dem braunhäutigen Mario Guedes gleich in der ersten Runde einen netten Rippenbruch beigebracht haben soll. In Runde Sechs gab der Deutsch-Portugiese auf. Doch der begabte, blonde, 1,88 große Knut sozusagen ebenfalls. Nach diesem Sieg dankte er nämlich etwas überraschend ab. Einige Quellen behaupten, er sei fromm geworden und einer freien Christengemeinde beigetreten. Diese Maßnahme konnte ihm freilich auch nicht das Leben retten. Ende Mai 2004 stürzte sich der 35jährige aus dem 12. Stock einer psychiatrischen Klinik am Bodensee zu Tode.
Laut Spiegel (26. Dezember 2011) war der Junior »ab dem 20. Lebensjahr manisch-depressiv« gewesen. Zu der Frage, warum, scheint sich niemand äußern zu wollen. »Wir haben alles versucht, Medikamente, Ärzte, Privatkliniken«, sagt Blin senior im selben Jahr der Hamburger Morgenpost. Und im NDR räumt er freimütig ein, Knut habe das Talent besessen, an dem es ihm selber gemangelt hätte. »Der Knut wäre ein richtig Guter geworden.« Jürgen Blins eigener Vater war ein Melker und Säufer gewesen, der seinen Sprößling mit Prügeln zur Mitarbeit trieb. In den häufig wechselnden Schulen wurde der »stinkende« Melkersohn gehänselt. »Ich war vollkommen verstört«, wird er im erwähnten Spiegel-Artikel zitiert. »Oft ging ich in den Wald und heulte.«
Das war im Mai 2022 vorbei. Blin starb, nach kurzer Krankheit, wie es heißt, an Nierenversagen. Er war knapp 80.
Obwohl er ein paar Zeilen im Brockhaus hat, ist der US-Komponist Marc Blitzstein (1905–64), wie ich fürchte, in Deutschland kaum bekannt. Sein krasses, vergleichsweise frühes Ende klammert das Lexikon aus. Blitzstein wuchs in einem gutbürgerlichen, wenn auch sozialkritisch gestimmten jüdischen Hause in Philadelphia an der US-Ostküste auf, studierte Klavier und Komposition, zum Teil in Europa, und lebte dann vorwiegend in New York City. Für etliche Jahre war er Mitglied und Aktivist der Kommunistischen Partei seines Landes und teilte deren SU-Hörigkeit, etwa den »Hitler-Stalin-Pakt« betreffend. Andererseits war der gutaussehende, dunkelhaarige Künstler mit dem kleidsamen Oberlippenbart zu klug und lebenslustig, um schon in seinen besten Jahren zu verknöchern. Einen Schwerpunkt seines Schaffens bildete das Musiktheater, wobei er sich unverhohlen an Brecht/Weill, Hanns Eisler, Clifford Odets und ähnlichen linksstehenden Erneuerern orientierte. Gleichwohl fand Blitzstein zu einer bemerkenswerten Originalität, die sich, neben Opern oder Musicals, auch in einigen Klavier- und Orchesterstücken ohne Gesang niederschlug. Seinen »Durchbruch« erzielte er 1937 unter dem Titel The Cradle Will Rock mit klassenkämpferisch-melancholischen Szenen aus »Steeltown«, zu denen er sowohl die Musik wie das Libretto und die Songtexte schrieb. Daraus stammt ein Lied, das ich hier, dem Internet sei dank, gleich vorstellen kann. Da es angenehm kurz ist, werde ich es sogar in drei Versionen vorstellen. Die erste Aufnahme, eine Fassung mit der partitur-gerechten Orchesterbegleitung, gilt aus verschiedenen Gründen als Rarität. Sie stammt aus einer Rundfunksendung von 1960, wodurch sich zum Teil die mangelhafte Tonqualität erklärt. Der Song Nickel Under the Foot wird von der Straßendirne »The Moll« vorgetragen, in diesem Fall gesungen von Tammy Grimes.
Bei der Premiere des Musicals am Broadway (16. Juni 1937) war die Orchesterbegleitung aufgrund »höherer Gewalt« ausgefallen. Die staatlich subventionierten Produzenten hatten nämlich, von den Proben her, kalte Füße bekommen und die Eingangstür des gemieteten Theaters kurzerhand mit einem Vorhängeschloß versehen. Daraufhin organisierten die Einrichter des bissigen »stage cartoons« (so Blitzsteins Bezeichnung vier Jahre später), John Houseman und Orson Welles, telefonisch das nahegelegene Venice Theatre sowie ein Klavier und zogen mitsamt den genarrten Schauspielern und Zuschauermassen ein paar Blocks weiter, um das Stück zu retten – und aus der Not eine Tugend zu machen, wie sich herausstellen sollte. Komponist Blitzstein bemühte sich selbst auf den Klavierhocker, während es dem Ensemble erspart blieb, Kulissen oder Instrumentenkoffer zu schleppen und Kostüme anzuziehen: sie lagen in dem verrammelten Theater. So unterschieden sich die KünstlerInnen äußerlich nicht im geringsten von dem mit arbeitslosen Musikern angereicherten Publikum, das ohnehin hart an der Rampe saß. Die mit einiger Verspätung begonnene Aufführung gewann eine knisternde Eindringlichkeit, die sich am Ende in »standing ovations« entlud.
In den zahlreichen Inszenierungen von The Cradle, die durch die Jahre folgten, wurde das schmucklose Muster aus der Premiere fast immer beibehalten. Eine davon (1939) sah am Piano den jungen Leonard Bernstein, mit dem sich Blitzstein für Jahrzehnte anfreundete. Andere enge Freunde waren die Kollegen Aaron Copland und David Diamond – alle drei homosexuell. Blitzstein selber hat aus seiner starken schwulen Neigung zumindest unter Verwandten und Bekannten nie einen Hehl gemacht, obwohl er es in seinen letzten Lebensstunden, mit 58 Jahren übel zusammengeschlagen in einem karibischen Krankenhaus liegend, möglicherweise unwillkürlich vorzog, Vizekonsul William Milam zu bitten, Blitzsteins Schwester Jo von einem »Autounfall« zu benachrichtigen, was dann zunächst auch in der Presse zu lesen war. Dies und vieles andere läßt sich Howard Pollacks umfangreicher und sorgfältig gearbeiteten Biografie von 2012 entnehmen. Man bedenke die Verhältnisse zu Blitzsteins Zeit – an schicke »Homoehen« war damals noch nicht zu denken. Dies dürfte auch zumindest ein Grund für Blitzstein gewesen sein, sich 1933 mit der Schriftstellerin Eva Goldbeck zu verheiraten. Ansonsten hatte Blitzstein, Pollack zufolge, im Laufe der Zeit etliche feste Liebhaber, ohne deshalb nun als Schwuler monogam zu leben. Allerdings trug dieser Umstand zur Verkürzung seiner Zeit bei, wie wir noch sehen werden.
Die 1901 geborene, jüdischstämmige Kritikerin und Übersetzerin Eva Goldbeck aus New York City hatte den charmanten Komponisten 1928 in einer Künstlerkolonie getroffen. Sie gab ihm in der Folge wesentliche künstlerische Anregungen, kam freilich mit eigenen erzählerischen Arbeiten nie zum Zug. Im Gegensatz zu Blitzstein, dem erklärten Schwulen, war Goldbeck, nach Pollack, offenbar geradezu undefinierbar gestimmt. Sie starb 1936 bereits mit 34 Jahren in einem Bostoner Krankenhaus. Die zierliche, braunhaarige, ausgesprochen gewissenhafte Schriftstellerin und starke Konsumentin von Kaffee, Zigaretten und Alkohol war seit mindestens 10 Jahren immer erschreckender abgemagert, litt zudem an Brustkrebs. Nach Einschätzung ihres Kollegen und Freundes Lewis Mumford und dessen Freund Henry Murray, bei dem sich Goldbeck 1935 in psychologische Behandlung begeben hatte, stand sie unter einer dicken zweiendigen Knute aus Narzismus und Masochismus, die sie gleichsam in die Selbstzerstörung trieb. Die unerreichbare Hauptquelle ihrer Enttäuschung und Gespaltenheit sei dabei vermutlich in ihrer Mutter Lina Abarbanell zu sehen. Die US-deutsche Opernsängerin (Sopran), die als Schönheit galt, soll gnadenlos in sich selbst verliebt und die entsprechende Rabenmutter für ihr einziges Kind gewesen sein. Die Tochter habe ihre ignorante Mutter zunehmend gehaßt – und dann in der Folge wohl das Weibliche in sich selber. Zuletzt habe es Goldbeck sehr wahrscheinlich auf einen »suicide from spite«, aus Trotz also angelegt, vermutet Murray. Zweck der Übung: die anderen, die einen nie genug beachtet und geliebt haben, sollen schuld sein.
Kommen wir auf Blitzstein zurück. Vor gut 20 Jahren wurde das unterhaltsame Drama um die New Yorker Cradle-Premiere auch von Tim Robbins ausgenutzt, der darüber oder daraus einen Kinofilm machte: Cradle Will Rock (deutsche Fassung: Das schwankende Schiff), USA 1999. Ob sich Robbins‘ Schilderung einigermaßen an die Tatsachen und den Geist von 1937 hält, kann ich nicht beurteilen, wenn ich auch von PJ Harvey her nur das Schlimmste befürchten kann. Die damals 30jährige britische »Alternative«-Sängerin steuerte zu diesem Werk, vermutlich auf Betreiben des für die Filmmusik verantwortlichen Ko-Produzenten David Robbins, eine Darbietung bei, die meisterhaft demonstriert, wie sich ein hochkarätiger Song mit einfachsten Mitteln dürftig und flach machen läßt. Obwohl das vordringlich eine Frage der Musik, der Gesangskunst und der Stimme ist, gebe ich bei dieser Gelegenheit den Text des Songs wieder, wobei ich mir keine Übersetzung zutraue. Ich nehme freilich an, Molls beißende Seufzer kreisen, mit dem Groschen unter dem Fuß (ein starkes Bild), um den vielgefächerten »Willen zur Macht«, der ja leider nicht nur Fabrikanten, PolitikerInnen und Mafiabosse, vielmehr alle Welt beherrscht, selbst Vergnügung suchende Seeleute in karibischen Hafenstädtchen.
Maybe you wonder what it is / Makes people good or bad / Why some guy, an ace without a doubt / Turns out to be a bastard / And the other way about / I'll tell you what I feel / It's just the nickel under the heel. // Oh you can live like hearts and flowers / And everyday is a wonderland tour / Oh you can dream and scheme and happily put / And take, take and put / But first be sure / The nickel's under your foot. // Go stand on someone's neck while your takin' / Cut into somebody's throat as you put / For every dream and scheme's depending on whether / All through the storm / You've kept it warm / The nickel under your foot. // And if you're sweet then you'll grow rotten / Your pretty heart covered all over with soot / And if for once you're gay and devil-may-careless / And O so hot / I'll know you've got / That nickel under your foot.*
Tatsächlich wurde der Urlauber Blitzstein nebenbei auch beraubt, nachdem er sich am Abend des 21. Januar 1964 auf der Suche nach Drinks und anderen Vergnügen ins Hafenviertel von Fort-de-France, Martinique, begeben hatte. Die drei jüngeren einheimischen Seeleute, die er aufgegabelt hatte, nahmen ihm in einer dunklen Seitenstraße Geldbörse und Uhr weg. Da sie ihm dafür einen tüchtigen »Denkzettel« verpaßt hatten, fand er sich im Krankenhaus der Inselhauptstadt wieder. Dort erlag er anderntags seinen schweren Verletzungen. Die Diebe und »fahrlässigen Totschläger«, die ihrem Opfer möglicherweise auch auf den »neck« getreten hatten, wurden gefaßt und kamen später mit wenigen Jahren Gefängnis davon. Nach Pollack hatte der Komponist schon immer betont »männliche« Liebhaber und den entsprechenden »harten« Sex bevorzugt, sodaß jetzt natürlich einige sagten: selber schuld. Andere sprachen von »Ironie«, sei der Komponist doch ausgerechnet »Typen« (bei Moll »Bastarde«) zum Opfer gefallen, für die er sich in seinen Werken, darunter (1954) eine sehr erfolgreiche englische Fassung von Brecht/Weills Dreigroschenoper, zeitlebens eingesetzt habe. Pollack hält dem entgegen, ein Grundzug des gesamten Schaffens und Wirkens von Blitzstein liege gerade im Protest gegen Brutalität in jeder Form.
Makabererweise wurde 1967 auch der Regisseur Jack Landau, den Blitzstein knapp 10 Jahre zuvor mit Musik zur Inszenierung zweier Shakespeare-Stücke beliefert hatte, von einem sehr ähnlichen Ende wie der Komponist ereilt. Man fand den erst 42jährigen in seiner Bostoner Wohnung erstochen und erdrosselt vor. Soweit ich erfahren konnte, war er »a hustler« zum Opfer gefallen, einem Stricher also. Doch für Blitzstein zählte mit Sicherheit auch der profitorientierte Betrieb von Baumwollspinnereien in Alabama (um 1900) zu jener Brutalität. Diese Fabriken tauchen in seiner bemerkenswerten, nach einem Stück von Lillian Hellman geschriebenen Oper Regina auf, wobei das Libretto auch einen an den Rollstuhl gefesselten »Gründervater« zu bieten hat, den die Titelheldin, seine Gattin, endlich loswird, indem sie ihm im rechten Augenblick die Arznei gegen seine Herzattacke verweigert. Wer hier an Seifenoper denkt, liegt nicht völlig falsch. Trägt Tochter Alexandra, im heiratsfähigen Alter, ihre Arie »What will it be for me« vor, möchten einem gleichzeitig Tränen der Belustigung und der Ergriffenheit kommen. Im Vergleich zu diesem Kleinod, das zum millionsten Male die große erste Liebe besingt, stellen sich Wagners »Winterstürme wichen dem Wonnemond« (aus dem Ring) als plumpes Wanderlied dar. Das ganze Werk ist eine Opernparodie, die sich auf höchstes Opernniveau schwingt. Zwar zieht Blitzstein dabei alle ihm je zu Ohren gekommenen Musikstile heran, vom Wiener Walzer über Polka und Ragtime bis zum Rap (1949!), doch er versteht es irgendwie, sie gerade wie in einer cotton mill zu einem homogenen eigentümlichen und betörenden sound zu verweben, den es bis dahin noch nicht gegeben hat. Tatsächlich sagte er zwei Jahre vor seinem Tod, in einer Fernsehsendung von 1962, wenn er irgendetwas sei, dann ein »amalgamator, a kind of musical amalgamator.«
Doch ich drohe mich zu verzetteln. Das letzte und beste Wort hat Patti LuPone aus einer von John Houseman geleiteten Cradle-Produktion der Acting Company von 1985.
* Mein Wortlaut folgt dem (angeblichen) Original-Manuskript von 1936 (siehe Szene 7, nach der Mitte der Seite), dem offenbar auch LuPone treu bleibt, von ihrem letzten »the nickel« abgesehen.
Die britische Schriftstellerin Enid Blyton (1897–1968) hatte einen ausgesprochen dicken Geldbeutel, weil sie ein großes Herz für Kinder hatte. Was Wunder, wenn mir da die Sommerlager der Jungschar des CVJM-Kassel der 1960er Jahre einfallen. Wir trieben sicherlich auch viel Sport, aber beim Abendbrot war allein das Wettessen beliebt: wer konnte die meisten Schmalzbrote verdrücken? Dabei hatten wir uns die Brotscheiben auch noch eigenhändig zu schmieren, denn die Köchin kam ja, bei 40 Knaben, gar nicht mehr hinterher. Es war also wirklich Schwerarbeit. 8 bis 12 Schmalzbrote beim Sieger waren keine Seltenheit. Von Blyton vermeldet Brockhaus, sie habe in 46 Jahren 400 Jugendbücher ausgeworfen. Das wären jährlich rund 8,7 Titel, die sie aufs Papier zu schmieren hatte. Möglicherweise wird sie aber von Brockhaus noch unterschätzt. Wikipedia behauptet, zur Stunde zähle Blyton mit ungefähr 700 Werken und über 600 Millionen verkauften Büchern zu den erfolgreichsten Jugendbuchautoren aller Zeiten. Darüber hätte ihre Landsfrau Barbara Cartland (1901–2000) natürlich nur gelacht. Sie soll ihre Liebesromane in 14tägigem Rhythmus eingetütet und an ihren Verleger adressiert haben. Cartlands Gesamtabsatz beziffert Wikipedia auf eine Milliarde Exemplare.
Da es unfair wäre, in diesem Zusammenhang nur auf Autorinnen einzuhacken, erlaube ich mir den Hinweis: Auch Georges Simenon (1903–89) stieß nachweislich einige Hundert Romane oder Erzählungen aus, darunter allein 75 Krimis mit dem biederen Kotzbrocken Kommissar Maigret. Den vorzüglichen Roman Die Witwe Couderc legte der französische Schriftsteller 1942 außer der Reihe vor, um auch in gehobenen Kunden- und Kritikerkreisen einen Achtungserfolg zu landen.
Am sympathischsten ist mir eigentlich die deutsche Kaufmannstochter und Theologengattin Agnes Günther (1863–1911), die lediglich ein Werk zustandebrachte. Schließlich halte ich es seit gut 20 Jahren selber mit dem Ehrgeiz, möglichst knapp und möglichst wenig zu schreiben. Günthers einer Wurf entpuppte sich als Wucht – nur hatte sie nichts mehr davon, erschien ihr Roman Die Heilige und ihr Narr doch erst 1913 posthum. Im folgenden kam es wahrlich knüppeldicke: das Werk erzielte bislang 144 Auflagen, zuletzt Kiel 2011. Es kreist um eine Prinzessin, die sich ihrer bösen, vor allem eifersüchtigen Stiefmutter zu erwehren hat. Dafür hatte Wenigschreiberin Günther immerhin zeitlebens nie den krankmachenden Ärger mit Verlegern oder Kritikern. Sie erlag mit 47 in Marburg einem Lungenleiden.
Bei den Bocks im Brockhaus fehlt er. Was den Mediziner Hans Erhard Bock (1903–2004) jedoch bemerkenswert macht, ist nicht nur die Gegend seiner Jugend, nämlich Waltershausen nebst Gotha, wo er Abitur am Ernestinum machte, und überdies das stolze Lebensalter, das er erreichte – genau 100 Jahre. Sondern er hing auch dem Faschismus an, wie ich von Klee erfahre. 1937 der Partei beigetreten, wurde Bock kurz darauf Lehrbeauftragter Luftfahrtmedizin und Oberarzt, 1942 auch Professor der Tübinger Uniklinik. Nebenbei fungierte er als beratender Internist im Rang eines Stabsarztes (!) der Luftwaffe. Als die Luftwaffe besiegt war, wurde Bock (1949) auf einen Lehrstuhl in Marburg, 1962 erneut in Tübingen gehievt. Bundesverdienstkreuz 1973. Nett auch die Lobeshymne einer Verehrerin namens Ursula Gräfen aus dem Todesjahr: »Groß als Arzt, als Forscher, als Lehrer und Mensch«, Ärzte Zeitung 19. Juli 2004, online hier. Danach war Bock die Krankenfürsorge, die Tröstung und die Schulmedizin in Person, vor allem bei der Luftwaffe. Nur Nazi war er nie. Ich werde unserem 25köpfigen Stadtrat vorschlagen, den hiesigen Denkmalplatz am Altstadtring in Bock-als-Gärtner-Platz umzubenennen.
Zwei Gesinnungsgenossen Bocks: Germanist Paul Böckmann (1899–1987), laut Brockhaus 1936–58 Professor in Hamburg, Heidelberg, Köln. Laut Klee: Bekennt sich 1933 öffentlich zu Adolf Hitler und wird 1937 auch Parteimitglied. Ozeanograph Günther Böhnecke (1896–1981), laut Brockhaus 1935–45 Direktor des Marineobservatoriums Wilhelmshaven, 1946–60 Präsident des Deutschen Hydrographischen Instituts Hamburg. »B. trug zum Wiederaufbau der deutschen Meeresforschung nach 1945 bei.« Das ist ja nett von ihm. Vorher half er sie zu zertrümmern. Oder sollte ich mich täuschen? Klee übergeht Böhnecke leider, während er in Wikipedia verharmlost wird, wie ich finde. Immerhin war Wilhelmshaven der führende Hort der deutschen Kriegsmarine. Wer da als Leiter eines Marineobserva-toriums lediglich irrtümlich mitlaufen wollte, mußte schon ein Blindgänger sein.
Den Wiener Schauspieler, Witzbold und Kabarettisten Maxi Böhm (1916–82) zu vernachlässigen, ist vielleicht verzeihlich – sofern man wenigstens eine Träne für seine Tochter Christine Böhm (1954–79) übrig hat. Die junge Bühnen- und Filmschauspielerin erholte sich im Sommer 1979 am Lago Maggiore im Tessin. Sie hatte bereits in mehreren Filmen mitgewirkt, so 1976 an Fritz Umgelters Fernsehkrimi Ein Badeunfall, 1977 an Tod oder Freiheit, ein Kostümfilm nach Schillers Räubern, in welchem Böhm die Rebellenbraut Maria zu mimen hatte. Nun überkam sie ausgerechnet am letzten Urlaubstag, einem Sonntag, die Lust, mit zwei Freundinnen in einem »kristallklaren« Bergsee oberhalb der Ortschaft Riveo zu schwimmen. Es war der 5. August 1979. Tags zuvor hatte BRD-Mittelstreckler Harald Schmid, Gelnhausen, etwas weiter südlich, in Turin, gerade einen neuen Europarekord über 400 m Hürden aufgestellt, 47,85 Sekunden. Die 25jährige »abenteuerlustige« Wiener Schauspielerin dagegen erklimmt barfuß einen »turmhohen« Felsen über einem Wasserfall, meldete die Krone am Dienstag.* Plötzlich sei sie wohl an einer glitschigen Stelle ausgerutscht und »30 Meter tief den Wasserfall hinabgestürzt«. Badegäste am unteren See hätten sie nur noch tot aus dem Wasser ziehen können. Gleichwohl habe sich ihr Vater Maxi nach Erhalt der Unfallnachricht noch in der Nacht mit seinem Sohn Max ins Auto geworfen und sei in die Schweiz »gerast«. Das ist die richtige Reaktion, sage ich dazu. Die beiden kamen sogar heil im Tessin an. Neuer Europarekord.
Ein Jahr nach dem Tod seiner Schwester muß Max Böhm, geboren 1949, allerdings verdammt ungemütlich zumute gewesen sein, denn am 7. Mai 1980 soll er sich erschossen haben.** Mit was er sich, außer Geldverdienen, beschäftigt hatte, wird in den wenigen Erwähnungen des Vorfalls nicht mitgeteilt. Die Krone gab ihn 1979 beiläufig als »Diplomkaufmann« aus. Als Motiv wird der beliebte Gummigrund »Depressionen« angeführt. Daran soll schon sein zumindest in Wien berühmter Vater Maxi gelitten haben, der bald darauf mit 66 Jahren einem Herzinfarkt erlag. Lustig war er also wirklich, der Senior, vor allem, als er drei Kinder zeugte.
* Neue Kronen Zeitung, Wien, 7. August 1979
** https://www.pragerzeitung.cz/zwischen-ruhm-und-tragoedie/,
9. Dezember 2015
Hans Böhm († 1476), auch Pauker/Pfeifer von Niklashausen genannt, war nicht etwa der Erfinder der bekannten, mit etlichen Klappen bewehrten Böhm-Querflöte, vielmehr ein fränkisch-schwäbischer Viehhirte, Musiker, Prediger, Massenagitator. Niklashausen liegt im schönen Taubertal. Der Agitator hatte in wenigen Monaten Zehntausende von armen Schluckern begeistert und zu seinen Anhängern gewonnen, weil er gegen die Habgier der Fürsten und Pfaffen wetterte und eine Ausbreitung von Gemeineigentum und überhaupt Gleichheit forderte – fast ein frühkommunistisches Programm. Immerhin 16.000 seiner AnhängerInnen sollen im Juli 1476 sogar nach Würzburg gewallfahrtet sein, um beim Fürstbischof die Freilassung des jungen, als »Schwärmer« getarnten Agitators zu erwirken. Der Herrscher ließ sie zunächst trösten, dann jedoch beim Abzug blutig verjagen. Ihr Leitstern, Böhm, wurde wenige Tage später als Ketzer verbrannt. Er war bestenfalls 25 Jahre alt.
Über Böhm, von dem wir wenig wissen, ist schon viel geschrieben worden. Einen guten Überblick scheint mir der Artikel über ihn in der deutschen Wikipedia zu geben. Sollte man aber nicht noch ein paar Takte zu den Bischöfen sagen? Sogar Brockhaus verheimlicht nicht, daß den Böhm »der Bischof von Würzburg« auf dem Gewissen hat. Allerdings dürfte dieser gar kein Gewissen gehabt haben. Was Brockhaus etwas früher in seinem Eintrag über die Bischöfe mitteilt, kann ich jedenfalls nur erbärmlich nennen. Darin geht er mit keinem Komma auf die haarsträubende Machtfülle zumindest der Bischöfe unseres Mittelalters ein. Dagegen werden diese meist Wohlgenährten in einem lesenswerten Konferenzbericht von 2018 unmißverständlich als »entscheidende Herrschaftsträger« bezeichnet. Bleibt man da etwa an Bischof Benno von Osnabrück (um 1050) hängen, nimmt man erstaunt zur Kenntnis: »Zur Erweiterung seines Einflusses und der Macht seines Bistums avancierte er zum wohl erfolgreichsten Urkundenfälscher des gesamten europäischen Mittelalters.« Ähnlich habe ich mir von Hans Mottek im ersten Band seiner Wirtschaftsgeschichte mit Genugtuung versichern lassen, damals seien, neben Königsthronen, auch Bischofssitze käuflich gewesen. Deshalb also führt Brockhaus sie immer brav an. Schließlich trachtet er danach, sein 24bändiges Universallexikon ebenfalls gut zu verkaufen. Mottek erwähnt den Oberschurken Albrecht von Brandenburg (um 1500), der sich zwecks Erwerbung des Mainzer Erzbischofsitzes von den Augsburger Fuggern 21.000 Dukaten lieh. 1518 wurde er zusätzlich Kardinal. Als besonders gottesfürchtigen Betrüger hebt der DDR-Historiker daneben den Abt von Kempten (um 1400) heraus, der auch vor einem Meineid nicht zurückge-schreckt sei. Möglicherweise war dies auf Friedrich von Laubenberg gemünzt, der für seine Prasserei und seine Rechtshändel bekannt war. Der Papst hatte ihn sogar zum Fürstabt von Kempten erhoben. Er starb 1434.
Böhms Mörder, der Fürstbischof von Würzburg, hieß übrigens Rudolf II. von Scherenberg, gestorben 1495. Leider kann man ihm nichts mehr abschneiden. Lippen hatte er sowieso nie. Er wurde, trotz eines Steinleidens, steinalt, über 90.
Nun halten Sie doch solchen trockenen Langweilern wie Hans, Fritz, Dieter einmal ein paar slawische Vornamen entgegen. Schon Boleslaw, laut Brockhaus »mehr Ruhm«, schüttet alle drei auf einmal mit Klangfülle zu. Ich führe ferner, aus dem Stegreif, Bolek, Milutin, Mirko an. Jener Boleslaw hat allerdings den Nachteil, massenhaft Herrscher unter seinem Dach zu versammeln. Liest man überdies deren Beinamen, etwa der Grausame, der Fromme, das Schiefmaul, vergeht einem der Neid auf diesen klangvollen Vornamen.
Heinrich ist leider nicht viel besser. Nach verschiedenen Herleitungen hat der Name stets mit Macht, Reichtum, Hohem Rang zu tun. Was Wunder, wenn er im Spätmittelalter zu den Spitzenreitern der Jungen-Taufe zählte. Auch mein Großvater hieß noch Heinrich, obwohl er mit den genannten Eigenschaften wenig am Hut hatte. Henner ist eine Verkleinerungs- oder Koseform, die zu meiner Zeit in Hessen durchaus beliebt war. In humorigen Sendungen des Hessischen Rundfunks hieß immer mindestens einer Henner. Heute wäre ich schon auf Knien dankbar, brächte der HR auch nur einen einzigen Titel von unserer Platte Leon unter die Leute, meinetwegen die Nummer 3 kleiner bahnhof (mp3, 4,181 KB) . Den Text und die Noten finden Sie bei Bedarf von der Startseite aus.
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