Dienstag, 16. April 2024
Risse im Brockhaus 16

Brockhaus kennt physikalische und Kleidergrößen. Er kennt auch noch den Roman »Der große Gatsby«, die sogenannte Große Kreisstadt und sogar den krankhaften »Größenwahn« (vier Zeilen) – aber die Größe als ganz gewöhnliche weltumspannende Meßlatte für die unter-schiedlichsten soziologischen und psychologischen Phäno-mene scheint ein paar Nummern zu groß für ihn zu sein.

Kürzlich habe ich von der Abgrenzungssucht des zwei-beinigen Tieres mit dem aufgeblähten Schädel gesprochen. Seine Wut, alles nach »kleiner als« und »größer als« zu sortieren und dabei ab- oder aufzuwerten, hängt sicherlich damit zusammen. Aber die Größenwut, wie man glatt sagen könnte, offenbart eine auffallende Begeisterung für den quantitativen Unterschied. Vermutlich war diese Begeisterung einst besonders durch das allgemeine Sichaufrichten angestachelt worden: plötzlich fand sich der Mensch auf zwei Beinen gehend und stehend wieder, wodurch er in der Lage war, jedem Köter, jedem wilden Eber und selbst noch jedem Schimpansen kurzerhand auf den Kopf zu spucken. Und kaum war er »seßhaft« geworden, fing das Wetteifern unter Nachbarn an, wer die größten Gladiolen, die längsten Salatgurken und die dicksten Kürbisse vorzuweisen habe.

In meiner Tanzstundenzeit, um 1965, hatte ich das Pech, bei dem Gerenne um die jeweilige feste »Tanzstunden-dame« über meine spitzen schwarzen Schuhe zu stolpern und nur noch eine zu ergattern, die mich um fast eine Handbreit überragte. Das trug mir Gram, Scham und schlaflose Nächte ohne Ende ein. Schließlich war es aber nicht mehr länger aufschiebbar, sich auch mal einen richtigen Kuß zu geben, nicht nur Komplimente. Zu diesem Zwecke wußte ich es immerhin beim Spaziergang durch die Karlsaue so einzurichten, daß wir zufällig hart neben einem Baumstumpf verzückt innehielten und unser sittsames Händchenhalten unterbrachen. Schon hatte ich den Baumstumpf erklommen und zog die Braut mehr vor Angst als vor Begierde zitternd an mich. Ihr Name fällt mir, ehrlich gesagt, beim besten Willen nicht mehr ein. Erfreulicherweise bestand sie später nicht darauf, mich nach dem Küssen auch noch zu heiraten.

Als ich mich gegen 2000 als Erzähler versuchte, litt ich eine Zeitlang daran, keinen Roman zustande zu bringen. Ohne Roman wird noch zur Stunde kaum ein Nachwuchsschriftsteller wirklich ernst genommen. Dabei kommt es freilich am wenigsten darauf an, was die Talente wie in ihrem Roman zu sagen haben. Der Umfang macht es. Der Markt will »Lesefutter«. Die LeserInnen erwarten für ihre 19,80 Euro einen Text, der sie mindestens 21 Abende lang noch für ein halbes Stündchen zwingt, die Augen offen zu halten. Zum Glück ist der Mensch mit Neugier und der Entschlossenheit geschlagen, nie die Hoffnung aufzugeben. So quält er sich durch den ganzen Wälzer und hofft noch auf der vorletzten Seite, jetzt käme endlich das, was ihm die Werbung versprochen hat.



Der nordmährische Kurort Groß Ullersdorf (Velké Losiny) dürfte bereits durch seinen kullerigen Namen bemerkenswert sein. Daneben hat er schwefelhaltige Quellen und ein Renaissanceschloß mit dreigeschossigem Arkadenhof und einem Großen Saal zu bieten, den Brockhaus sogar abbildet. Das ist allerdings ein Anblick zum Weglaufen. Der Saal ist derart mit Bildern, Statuen, Simsen, Kaminen, Möbeln, Kronleuchtern überladen, daß eigentlich die üppig bemalte Decke herunterkommen müßte. Jedenfalls eins tiefer. Auf jedem Fleck Tapete hängt ein Gemälde. Alle Rahmen stoßen, alle Formen und Farben beißen sich. Gleichwohl sind die rund 16 Polsterstühle um den langgestreckten ovalen Eßtisch auch noch einmal knallrot bezogen. Also wenn den lieben hohen Gästen in diesem Saal das Festmahl gemundet hat, kann man ihnen nur Geschmacksverirrung bescheinigen. Dummerweise tragen auch sie noch zu der Orgie bei, weil sie ja alle wild durcheinander bekleidet sind. Zwar ersticken sie dadurch die Röte der Polster, aber für die Dienerschaft stellt der Anblick dieser Tischrunde Folter dar. Ich höre den Einwand, vielleicht sei an der ganzen Orgie gar nicht der Adel, vielmehr die gegenwärtige Museumsleitung schuld. Dann muß man eben an dieser zweifeln.

Das Schloß wurde gegen 1600 unter dem Grafen Johann von Žerotín erbaut. Nach verschiedenen Webseiten dürfte es, wenig verblüffend, mehrere große Säle geboten haben. Allerdings hebt man die Brauen, wenn auch von einem Gerichtssaal die Rede ist. Davon weiß Brockhaus kein Komma. Im Internet dagegen stößt man hartnäckig auf die Hexenprozesse von Groß Ullersdorf. Der Titel bezeichnet eine von 1678–92 währende Hexenverfolgung, die in diesem mährischen Winkel unter der Regie eines gewissen Heinrich Franz Boblig von Edelstadt in der Zeit der Rekatholisierung des Landes stattfand. Laut deutscher Wikipedia fielen ihr insgesamt 104 Menschen zum Opfer. »Allein in Groß Ullersdorf starben 56 Personen auf dem Scheiterhaufen, der zweite Schwerpunkt wurde Mährisch Schönberg mit 48 Hinrichtungen.«

Boblig, bis dahin in Ölmitz eher als Advokat tätig, war vom Schloßhauptmann Adam Vinarský von Křížov und seiner erzfrommen Gattin Angelika Anna Sibylla Gräfin von Galle, einer Tochter von Přemek II. von Zierotin, als Inquisitionsrichter angeheuert worden. Laut tschechischer Wikipedia traf er im Alter von 66 ein. Die Gräfin von Galle stellte ihm, vom Gerichtssaal einmal abgesehen, eine Wohnung, Verpflegung, Tageshonorar und Reisespesen. Früher war er anscheinend andernorts auch schon an zahlreichen Exzessen beteiligt. Er dürfte einer jener hirnverbrannten, perversen und sadistischen Greise gewesen sein, an denen das europäische Mittelalter leider nicht arm war. Selbstverständlich genoß er Rückendek-kung sowohl seitens der örtlichen Grafen wie von hohem katholischem Personal von Ölmütz bis Prag. Er »richtete« wie üblich auf der Grundlage von Verleumdungen, willkürlicher oder erpreßter Beschuldigungen und gefälschter »Belege«, die er zum Teil eigenhändig verfaßt haben soll. Neben verschrobenen alten Frauen traf es auch reformierte Pfarrer und beispielsweise wohlhabende Mühlenbesitzer. VerleumderInnen schufen sich so Konkurrenten oder sonstwie Mißliebige vom Hals, Boblig selbst strich emsig die Nachlässe von Opfern ein und sonnte sich in seiner kaum glaublichen Machtfülle.

Da könnte sich mancher durchaus fragen, mit welchem Füllhorn an Dokumenten und historischen Arbeiten, mit welcher Nachforschungslust oder mit welchem Kriterienkatalog (für die Auswahl) die betreffende Person diesen Brockhaus-Eintrag zu Groß Ullersdorf verfaßt haben mag. Aber was verlangt man denn da von Groß Ullersdorf! Bei 24 Bänden ist das ein Stäubchen, das sowieso keinen Hund hinter dem Ofen hervorlockt.



Ich vernachlässige den Internisten Louis R. Grote (1886–1960), den Brockhaus als biederen, ja sogar »kriti-schen« Naturheilkundler ausgibt. Dafür ein paar Takte zu dem U-Komponisten und Dirigenten Franz Grothe (1908–82). Von ihm teilt Brockhaus mit, er habe 1940–45 das Berliner Rundfunk-Tanz- und Unterhaltungsorchester geleitet, zahlreiche Operetten und Lieder und mehr als 170 Filmmusiken geschrieben. In der Tat wird der Künstler auch in anderen Quellen zu den populärsten Schlager-komponisten des 20. Jahrhunderts gezählt. Dummerweise hatte er aber am 1. Mai 1933 nichts Dringenderes zu tun, als in die NSDAP einzutreten. Während des Zweiten Weltkrieges soll er, neben Filmmusik, auch »Durchhalte-lieder« wie Wir werden das Kind schon schaukeln und Wenn unser Berlin auch verdunkelt ist geliefert haben. 1942 bekam er einen leitenden Posten in der Reichsmusik-kammer. Um 1950 konnte er sich nach manchen Widrigkeiten in seinem »Entnazifizierungsverfahren« amtlich bescheinigt einbilden, er sei unter Hitler lediglich »Mitläufer« gewesen. Nun ging es mit der Karriere wieder steil bergauf. 1956 landete er mit seinem Instrumental-stück Mitternachts-Blues einen Welterfolg. Ab 1965 konnte ich als Knabe am neuen Fernsehgerät meiner Großeltern verfolgen, wie Grothe in der beliebten Sendung aus Frankfurt/Main Zum Blauen Bock die MusikerInnen dirigierte; mit Conférencier Heinz Schenk soll er außerdem über 400 Lieder verfaßt haben. Was ich nicht mehr sah, war der Aortariß, an dem Grothe 1982 starb. Der knapp 74jährige war in Köln bei einem Konzert auf der Bühne zusammen gebrochen. Nach einem solchen Tod verzehren sich durchaus viele BühnenkünstlerInnen, habe ich mir sagen lassen. Zwei Jahre vorher hatte man Grothe noch rechtzeitig das Bundesverdienstkreuz um den Hals gehängt. 2018 konnte die Bevölkerung der Stadt Weiden i.d.OPf aufatmen: ihr Stadtrat befand, die heimische Franz-Grothe-Schule, eine Städtische Musikschule für Jung und Alt, bleibe ihrem Namen trotz mancher Bedenken treu.* Der Alternativvorschlag von der örtlichen Linkspartei, die Einrichtung Das Wirtshaus im Spessart zu nennen, hatte kein Gehör gefunden. Zu dem gleichnamigen Film von 1958 hatte Grothe die Musik beigesteuert. Zwar liege der Spessart zumindest teilweise durchaus in Bayern, doch von der Oberpfalz sei er wan-dernd viel zu beschwerlich zu erreichen. Diesen Einwand fand das Berliner Franz-Grothe-Streichquartett doof.

* https://chrismon.de/nachrichten/41057/musikschule-behaelt-trotz-ns-vergangenheit-namen-von-franz-grothe, 8. Oktober 2018



Der märkische Schriftsteller, Versuchsgärtner und Wandervogel Curt Grottewitz (1866–1905) war vermutlich für Brockhaus nicht berühmt genug. Wer gern »Naturschwärmerei« verhöhnt, könnte dem anscheinend schlanken Mann sein unrühmliches Ende unter den kräftigen dunklen Schnauzbart reiben. Sohn eines sächsischen Gutsbesitzers, hatte Grottewitz zunächst, in Leipzig, einen Doktor-Grad als Germanist erworben. Er befaßte sich aber auch mit Naturwissenschaft und der heute so genannten Ökologie. Entsprechend zogen ihn, diesmal in Berlin, die neuerdings »naturalistisch« orientierten Literaten-Kreise in ihren Bann. So verschrieb er sich um 1893 (Heirat mit Elisabeth Mahn) einem schlichten, schriftstellernden Leben auf der eigenen kleinen Scholle, anfangs in Eberswalde, schließlich im Dorf Müggelheim bei Köpenick. Das Ehepaar hatte vier Kinder.* Auf den sozialistisch gestimmten Proletarier gezielt, verfaßte Grottewitz Bücher wie Unser Wald oder Sonntage eines großstädtischen Arbeiters in der Natur. Zu seinen bevorzugten Müggelheimer Spazierorten zählte die Große Krampe, eine langgestreckte Bucht der Dahme, eines Nebenflusses der Spree. In dieser Bucht soll Grottewitz, laut Haig Latchinian sogar ein erfahrener Rettungs-schwimmer**, am 16. Juli 1905, mit knapp 40 Jahren, ertrunken sein. Man behauptet oder vermutet, je nach Quelle, er habe sich in Schlingpflanzen verfangen. Hinweise auf Untersuchungsberichte finde ich nicht. Die Frage, ob der schreibende Sonderling mordbereite Erzfeinde oder aber Grund zum Selbstmord gehabt hätte, wird nirgends angeschnitten. Man begnügt sich wieder einmal mit der beliebten Formel »mysteriöser« Todesfall, so auch Latchinian.

* Wilhelm Bölsche, »Zur Erinnerung an Curt Grottewitz«, Buchvorwort von 1920, hier auf https://brauerei.mueggelland.de/sonntage.html
** Haig Latchinian, »Vom Gutsbesitzersohn zum Pionier der Arbeiter-Wanderbewegung«, Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Muldental, 5. April 2016, S. 27




Brockhaus kennt nur den Vater, anscheinend ein vorbildlicher Tierschützer. Der Sohn, Michael Grzimek (1934–59), trat in dessen Fußstapfen, prallte dabei jedoch unglücklich auf einen Geier. Wie sich ältere LeserInnen sicherlich noch erinnern werden, erregte der Direktor des Zoos in Frankfurt am Main Bernhard Grzimek um 1955 mit dem Buch und Film Kein Platz für wilde Tiere weltweites Aufsehen. Die Erlöse waren üppig genug, um neue Tierschutzprojekte in Afrika zu planen und zu diesem Zwecke auch das Fliegen zu erlernen, da sich die Bestände an Giraffen oder Gazellen vom Flugzeug aus leichter beobachten und zählen ließen. So machten sowohl Vater Bernhard wie Sohn Michael den Pilotenschein und erwarben eine Dornier 27, die sie mit Zebrastreifen bemalen ließen, damit die Giraffen oder Gazellen das über ihnen brummende Untier nicht etwa mit Geiern verwechselten. Sohn Michael war angehender Doktor der Zoologie, zudem verstand er es bereits, mit Filmkameras umzugehen. Aber eben nicht mit Geiern. Am 10. Januar 1959 in seiner Zebramaschine über dem Nationalpark Serengeti im heutigen Tansania unterwegs, stieß er mit einem Gänsegeier zusammen. Der Vogel beschädigte eine Tragfläche stark genug, um die dröhnende und stinkende Konkurrenz zum Absturz zu bringen. Den 24 Jahre alten Nothelfer der Tiere kostete dieser Vorfall das Leben.

Da er nun einmal tot war (der Sohn), raffte sich Vater Bernhard um 1960 zu dem nächsten Buch und Film und Welterfolg Serengeti darf nicht sterben auf. Neben Savannen scheint der alte Grzimek das Unkonventionelle geliebt zu haben. Nachdem sich der Tierarzt und Fernsehstar 1973 von seiner Frau Hildegard hatte scheiden lassen, heiratete er fünf Jahre darauf, inzwischen schon fast 70, die Witwe Erika seines Sohnes Michael. Deren Söhne Stephan und Christian, also seine Enkel, adoptierte er. Der als eitel und albern beschriebene Wissenschaftler starb 1987 mit knapp 78 Jahren. Im »Dritten Reich« hatte er sich allerdings eher konventionell verhalten – unter anderem als Regierungsrat im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft und, während des Krieges, Tierarzt.* Da hat er sicherlich ausschließlich Zebras geimpft.

Seine Parteimitgliedschaft (1937) stritt Grzimek später ab. Schließlich lügen Tiere auch, wie der Geier beweist, der sich wie eine Drohne in die Luftfahrt mischte.

* Sven Felix Kellerhoff, »Die ‚normale‘ Wahrheit hinter Grzimeks Nazi-Akte«, Welt, 4. April 2015: https://www.welt.de/vermischtes/article139133223/Die-normale-Wahrheit-hinter-Grzimeks-Nazi-Akte.html



Den bayerischen Psychiater Bernhard Aloys von Gudden (1824–86) sollte man nicht so gerafft abfertigen wie Brockhaus, paart sich sein Tod im Starnberger See doch immerhin mit der endgültigen Abdankung seines deutlich jüngeren Königs, einer wahrlich schillernden Figur. Diese Figur nannte sich Ludwig II. von Bayern (1845–86). Sie galt weithin als prunk-, vor allem bau- und bühnensüchtig (Schlösser, Richard Wagner), außerdem homosexuell, weshalb Ludwig so manchen Mitmächtigen oder Konkurrenten verständlicherweise ein Dorn im Auge war. Vermutlich zogen es diese freilich vor zu beteuern, es gehe nur darum, den Staatshaushalt (und nicht etwa den zusammengeraubten Schatz derer von Wittelsbach) vor dem Ruin zu retten. Was nun Von Gudden angeht, galt er auf seinem Fachgebiet als Kapazität, brachte aus Zürich Verdienste als Reformer der brutalen Verhältnisse in der Psychatrie mit und war günstigerweise seit 1873 Professor an der Münchener Universität und gleichzeitig Chef der Kreisirrenanstalt. Also lieferte Von Gudden, inzwischen neunfacher Vater und 62 Jahre alt, im Sommer 1886 buchstäblich über Nacht ein allgemein als »Gefälligkeits-gutachten« bezeichnetes Dokument über die angebliche Verrücktheit Ludwigs, der daraufhin von seinen Ministern, die schon seit längerem faktisch herrschten, abgesägt werden konnte. Am 9. Juni »entmündigten« sie Ludwig und setzten seinen Onkel Luitpold als Nachfolger ein.

Am 11./12. auf Schloß Neuschwanstein »in Gewahrsam genommen« und dann nach Schloß Berg am Starnberger See verfrachtet, rückte der gemeinsame Todestag des 40 Jahre alten Ludwig und seines neuen »Betreuers« Von Gudden heran: der 13. Juni, Pfingstsonntag. Gegen Abend kam es zu einem weiteren Pfingst-»Spaziergang« der beiden, nur dieses Mal ohne Pfleger=Wächter, wohlgemerkt. Bald darauf wurden sie beide rund 25 Meter vom Seeufer entfernt aus dem seichten Wasser gefischt – als Leichen. Die (angeblichen) Aussagen von Bootsleuten, Bediensteten, Wächtern, Gendarmen nützen uns herzlich wenig, weil diese Leute bekanntlich bestechlich sind. Sie waren jedoch gut geeignet, die in Regierungskreisen bevorzugte Version des Seeufer-Dramas zu stützen, die übrigens die NZZ noch 100 Jahre später vertritt.* Auch Brockhaus beugt sich ihr, wenn er (1990 in Band 13) zu Ludwig mitteilt, »die sich mehrenden Anzeichen von Geisteskrankheit« hätten »nach einem ärztlichen Gutachten« zu seiner Entmündigung geführt. Laut jener offiziellen Version hatte sich Ludwig Flucht- oder Selbstmordversuch in den Kopf gesetzt. Als ihn Von Gudden daran hindern wollte, habe der König den viel älteren und kleineren Psychiater erwürgt, dann sich selber ins Wasser gestürzt und folglich schuldbewußt ertränkt.

Kritischere Kreise witterten dagegen einen Anschlag auf den entführten Monarchen. Nach dieser Sicht stellte Ludwig für die Schmiede der Palast-Intrige eine Gefahr dar, weil er mitnichten »unzurechnungsfähig«, vielmehr sogar noch in Teilen des Volkes beliebt war. Ob das zutrifft, kann ich nicht beurteilen. Um Ludwig also am Ausplaudern, am Widerstand oder gar am Wiederauf-erstehen als König zu hindern, sei er wahrscheinlich betäubt in einer Kutsche vom Schloß zur Unfallstelle am See verschleppt und dort umgebracht, etwa erdrosselt oder ertränkt worden. Dies sicherlich nicht von dem in der Tat vergleichsweise winzigen und überdies schon recht betagten Professor. Dessen Schützling Ludwig war ein gut 1,90 großer und ziemlich massiger Kerl. Ein ausge-zeichneter Schwimmer soll er außerdem gewesen sein. Von Gudden könnte jedoch bei der Verschleppung, etwa durch Verabreichung von Chloroform, mitgewirkt haben. Nur sei Von Gudden dann, als gefährlicher Mitwisser, auch selber beseitigt worden, von wem auch immer.

Der Öffentlichtkeit wurde selbstverständlich die erwähnte halbamtliche Version mit dem Flucht- oder Selbstmord-versuch einschließlich Zweikampf verkauft. Der Dokumentarfilmer Klaus Bichlmeier aus Ottobrunn bei München hält sie allerdings für ein Ammenmärchen. Er glaubt belegt zu haben**, Ludwig wurde erschossen. Der Mantel des Spaziergängers Ludwig habe eindeutig zwei Löcher von Flintenkugeln gezeigt. Als Ausgangspunkt seiner Zweifel nennt Bichlmeier einen erst 2016 veröffentlichten Brief Ludwigs an einen Vetter, den er drei Tage vor seinem Ende verfaßt habe, und zwar offensichtlich bei geistiger Klarheit. Danach befürchtete er selber für sein Leben das Schlimmste von seiten der Hofschranzen seines lieben Onkel Luitpolds, der ihn schon länger im Visier hätte. Die Existenz dieses Dokuments ist kürzlich auch von der Welt bestätigt worden, die ansonsten zeitgeistgemäß gegen »Verschwörungstheorien« anstänkert.***

* Klaus Vieli, NZZ 14. Juni 1986: https://static.nzz.ch/files/0/9/5/Der+Mann+der+mit+Ludwig+II_1.8191095.starb_1.8191095.pdf
** https://www.abendzeitung-muenchen.de/bayern/koenig-ludwig-ii-von-bayern-neue-dokumente-weisen-auf-mord-hin-art-445807,
13. Juni 2018
*** https://www.welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article231758695/Ludwig-II-von-Bayern-Nach-der-Diagnose-seines-Psychiaters-kam-es-zur-Katastrophe.html, 14. Juni 2023




Die Angaben zum vielgelobten französischen Miniaturmaler Jean Urbain Guérin (1760–1836) sind merkwürdigerweise im Internet kaum weniger dürftig als im Brockhaus. Mit dem Hinweis, er habe sogar Ludwig XVI. porträtiert, kann man mir nicht imponieren. Zu seinem Familienleben herrscht sogar tote Hose. Dabei muß er mindestens eine Tochter gehabt haben, möglicherweise durchaus keine Langweilerin. Brockhaus bringt nämlich, undatiert, eine Abbildung von Guérins Gemälde Porträt der Tochter. Man sieht, selbst der Vorname des Mädchens wird einem vorenthalten. Strahlend blauäugig, dafür nur verhalten rothaarig, blickt es uns an. Der Vater hat es als Brustbild mit freiem Hals vor mäßig blauem Hintergrund gemalt. Ich schätze das Mädchen auf fünf bis sieben, wie kürzlich unter Panorios Cosette, siehe Folge 15. Aber welche Kluft! Diesem kecken, vielleicht etwas mageren Mädchen ist kein Gramm Verlegenheit anzumerken. Sein leises Lächeln wirkt eher selbstbewußt als trotzig. Hört mal, erklärt es uns, ich bin die Tochter des berühmten Künstlers Guérin, der gerade unseren König malen durfte. Mit mir könnt ihr nicht so umspringen wie mit diesem Zicklein vom Lande Cosette. Sicherlich mußte sie dauernd Kartoffeln schälen oder Oliven in so eine widerliche Salzlauge einlegen. Meine eigene Berufswahl habe ich einstweilen noch nicht getroffen. Es steht aber zu fürchten, ich werde auch Malerin und natürlich ebenfalls steinreich.



Hier sehen Sie meinen ersten Elektrorasierer. Das dürfte um 1970 gewesen sein. Da lag der Gestalter des Braun Sixtant aber schon seit rund fünf Jahren unter der Erde. Er war in Ulm, der Stadt der berühmten Hochschule für Gestaltung, einem Herzinfarkt erlegen. Es handelt sich um den niederländischen Architekten, Designer und Dozenten Hans Gugelot (1920–65), dem Brockhaus gut 10 Zeilen widmet. Wahrscheinlich ist er nicht ganz so bekannt wie sein Hochschulkollege Otl Aicher, den ich weiter oben bereits behandelt habe. Gugelot hatte jedoch den besseren oder jedenfalls umweltverträglicheren Tod, wie ich vielleicht sagen darf.

Wikipedia behauptet, Gugelot habe Design als intellektuelle und moralische Frage aufgefaßt, die mit Geschmack nichts zu tun habe. Das ist viel dran – für meinen Geschmack. Den ganzen, geradezu gigantischen gestalterischen Aufwand, den man heutzutage in der kapitalistischen Demokratie zwecks Verhätschelung des Kunden = des eigenen Profits treibt, könnte man in anarchistischen Zwergrepubliken getrost in der Pfeife rauchen, falls sie da überhaupt noch Pfeifen haben. Aus den Pfeifenköpfen steigt dann der reine Moden-, Marken- und Egowahn. Selbst in der verflossenen DDR herrschten in dieser Hinsicht noch einige Züge, die sie für Folteropfer westlicher Warenästhetik beinahe zum Schlaraffenland oder wenigstens Kurort machten. Die NutznießerInnen westlicher Warenästhetik verhöhnten die Volkswirtschaft der DDR natürlich als »ärmlich« und »erbärmlich«. In ihr galten Leitlinien, die sich am Gebrauchswert einschließlich der Langlebigkeit der Güter, an der Sparsamkeit in der Herstellung (keine Vergeudung von Rohstoffen sowie Werbemitteln) und an zeitloser Schönheit orientierten. Besucht mich mein guter Bekannter Ludwig, der am anderen Ende des Städtchens wohnt, höre ich ihn bereits, wenn er auf seiner überwiegend einwandfreien Simson durch die Waltershäuser Altstadt knattert. Ludwig stammt aus der DDR. Sein flottes Moped ist rund 40 Jahre alt.

Gewiß gab es in der DDR-Produktion auch etliche tadelnswerte Erscheinungen. Das Schlimmste war die massenhafte Produktion für den Export, um an Devisen zu kommen. In zigtausend westdeutschen Arbeiter- und Kleinbürgerhaushalten summten erstaunlich preiswerte Kühlschränke, die man in irgendeinem Einkaufstempel ergattert hatte, obwohl sie eigentlich östliche Geheimagenten waren. Das wußten aber die wenigsten, weil der Tempelchef den Hersteller wohlweislich um den und den Markennamen gebeten und womöglich sogar das Herkunftsschild »Made in GDR« überpinselt hatte. Ferner gab es zeitweise miefige Maßregelungen gegen am Bauhaus orientierte Designer, denen Formalismus, Funktionalismus oder weiß Stalin & Shdanow was unter die Nase gerieben wurde. Ambivalent ging es im Zwischenreich der nichtindustriellen Produktion zu. Hier wurde dezentrale, mit beträchtlichem Einfallsreichtum gepaarte Selbsthilfe mal gehemmt, mal gefördert. In vielen DDR-Haushalten standen zum Beispiel Nähmaschinen, damit man sich diesseits der Konfektionsware – die teils nicht vorhanden, teils zu teuer war – eigenhändig mit hübscher Bekleidung versorgen konnte. Manche verzichteten auch nur deshalb liebend gern auf die offizielle »Plaste-und-Elaste«-Ware, um sich in derselben keine Schwitzbäder und unvorteilhaften Gerüche auf den Hals zu ziehen. Ludwig erzählte von einer Nichte, die nagelneue weiße Bettlaken aus Leinen stapelweise erwarb, um sie verschieden einzufärben und dann in Kleidungs-stücke für die ganze Familie zu verwandeln. Ludwig selber beschränkte sich aufs Säumen roter Fahnen für den Maiumzug.

Auf derartiger Selbsthilfe hat eine anarchistische Republik geradezu zu fußen. Was Nahrungsmittel betrifft, strebt sie ohnehin weitgehende Unabhängigkeit ihrer Grundorgani-sationen, Dörfer und früheren Stadtteile an. Man darf bloß nicht glauben, ansonsten hätten ihre Siedlungen statt Fabriken nur noch Dorfschmieden und Hobbykeller zu bieten. Aber die zentrale Produktion hat in solchen Republiken stark heruntergeschraubt, im übrigen so gebrauchswert- wie menschenfreundlich organisiert zu sein. 2022 habe ich in der Erzählung »Der Sturz des Herkules« (in Kassel) die Verhältnisse in den 14 Ländern des neugeschaffenen Rhein-Oder Bundes (ROB) umrissen. Ich nehme schon an, daß dort fast jedes Land auch seine eigene Fabrik für Elektrogeräte hat, beispielsweise Rasierer. Da es weder Geld noch Ein- und Verkauf gibt, werden diese Rasierer eben auf Anforderung ohne Rechnung an die einzelnen Siedlungen verschickt. Das läuft natürlich über die zuständigen Kreis- und Landesräte und deren Computer. Im Zeitalter des Internets dürfte eine solche Verteilung kinderleicht sein. Freilich wäre es unmenschlich, die Gegend, die eine Elektrofabrik betreibt, auch noch mit einer Fabrik für Haushaltswaren, etwa besonders große Töpfe und Pfannen für die GO-Küche, zu belasten. Ergo steht die in einer anderen Gegend, und die Verständigung über den Bedarf sowie die Verteilung geschehen auf genau dieselbe Weise. Ich wüßte nicht, was daran Zauberei oder Katastrophe sein sollte.

Es ist im Gegenteil eine Labsal für die republikanische Volkswirtschaft, weil der ganze parasitäre Aufwand entfällt, den in westlichen Freien Marktwirtschaften der Handel und das Shoppinggehen mit sich bringen. Außerdem bleiben einem die Krisen, also die Gewinn- und Lohnausfälle erspart, unter denen der Kapitalismus gebetsmühlenartig stöhnt. Hat die Elektrofabrik plötzlich ein paar Hundert Rasierer »zuviel« auf Lager, stellt sie ihre Produktion gern für einige Wochen ein. Die Rasierer werden schließlich nicht schlecht. Es droht auch kein Handstreich der »Konkurrenz«, die heimtückisch den Superrasierer Soundso auf den Markt wirft. Die MitarbeiterInnen dagegen freuen sich, zur Abwechslung einmal auf den Kartoffelacker zu gehen oder auf einer Baustelle der einen oder anderen Siedlung mitanzupacken. Diese Möglichkeit, jederzeit Kräfte verlagern zu können, zählt zu den großen Vorzügen einer anarchistischen Volkswirtschaft. Übrigens sind die »Kräfte« meist vielseitig erfahren, dazu »hochmotiviert«, wie der westliche Manager zuweilen neidvoll anerkennt.

Jetzt sind Sie vielleicht Sprachlos. Dabei räume ich gerne ein, die Frage, ob anarchistische RepublikanerInnen rauchen sollten, ist keine Frage der Warenästhetik, höchstens der Sozialpsychologie, nimmt man die Gesundheit einmal aus. Wer in der DDR mit diesen Zigarillos aus Treffurt (Thüringen) im Mundwinkel Eindruck schinden wollte, hatte es allerdings ziemlich schwer. Ludwig behauptet, sie hätten gestunken wie eine Müllverbrennungsanlage. Oder wie der Dampf, den die Waltershäuser Conti-Gummiwerke noch heutzutage todsicher alle Sonntage abgeben, weil sie sich einbilden, dann merkten es die Inspektoren des Umweltschutzes nicht so leicht. Die sind ja am Wochenende auf dem Rennsteig oder in Bayreuth bei einer Wagneroper.



In Freiheit kann der Gummibaum 25 bis 40 Meter hoch werden. Das gilt allerdings nicht für seine in Mitteleuropa überaus beliebte Gefangenschaft, wie auch Brockhaus weiß. In meiner Jugend war es besonders schlimm. Man konnte keine Kleine-Leute-Wohnung betreten, ohne vom eingetopften Gummibaum eine gewatscht zu bekommen, obwohl man doch zu Hause selber einen hatte. Ähnlich beliebt waren nur noch Geranien und die sogenannte Zimmerlinde.

Der Gummibaum glänzte jedoch einzigartig mit großen ledrigen Blättern, vor denen sich unsere Väter und großen Brüder notfalls, wie vorm Spiegel, zum Rasieren aufstellen konnten. Fenchel, ein Genosse aus dem antiautoritären Schülerbund, hatte damals sogar einen großen Bruder. Und seine Mutter hatte einen Gummibaum. Sie wohnten in der Holländischen Straße am Hauptfriedhof. Zwar blüht der Gummibaum nicht so üppig wie Geranien oder Petunien, aber die dunkelgrünen Exoten hatten ganz durchtriebenen Ersatz geschaffen. Diese anfänglich knallroten neuen Blattriebe erinnerten an Peperoni, galten freilich als ungenießbar. Außerdem waren sie kappbar, wie uns Fenchel einmal prustend erzählte. Sein großer Bruder tyrannisierte ihn immer. Schließlich platzte Fenchel der Kragen. Er schnappte sich ein Küchenmesser von der Spüle und scheuchte den flüchtenden Bruder mit der Versicherung durch die ganze Wohnung, er werde ihm die Eier abschneiden. Fenchel muß in seiner Ohnmacht wirklich zur Raserei gefunden haben. Schließlich suchte sein Bruder Zuflucht hinter dem Gummibaum, was aber lediglich dazu führte, das sie beide keuchend immer im Kreis um den Gummibaum jagten. Der Bruder bettelte um sein Leben und log ihm weiß der Himmel was vor. Da wurde es Fenchel zu bunt. Er stach mit dem Küchenmesser quer durch das wippende Gummibaumlaub auf seinen Tyrannen ein. Dabei kappte er versehentlich die knallrote Baumspitze. Prompt hielten sie wie auf ein Kommando entsetzt inne. Dann berieten sie sich betreten, wie der Schaden vielleicht zu verbergen sei. Schließlich warfen sie die Baumspitze aus einem Fenster, das auf den Hauptfriedhof ging. Aber schon kamen die Eltern vom Einkaufen bei Betten-Voepel zurück und entdeckten den Schaden binnen weniger Minuten. Jetzt war es am Vater, beide Sprößlinge zur Schnecke zu machen und mit Stubenarrest zu belegen.

In Waltershausen war Anfang April 1945 ein kurzes günstiges Machtvakuum entstanden, läßt sich Löfflers Stadtgeschichte entnehmen (Band II, S. 289). Viele BürgerInnen hätten es dazu genutzt, verlassene Unterkünfte und öffentliche Einrichtungen bedenkenlos zu plündern. Aus der Schule etwa wurden Tische, Schränke, Nähmaschinen, Bücher fortgeschleppt – »ja sogar der Gummibaum aus dem Schulleiterzimmer fand eine Liebhaberin.« Wenige Tage später hätten sich allerdings auch die eingerückten »Amis« nicht beim Plündern zurückgehalten. Sie erleichterten etliche Haushalte gern um alles Mögliche: Radios, Uhren, Musikinstrumente, Bettwäsche und dergleichen mehr. Nur die Gummibäume ließen sie in Frieden. Wahrscheinlich hatten sie in Florida oder auf Hawaii selber welche.



Ich hätte sie vielleicht Schwärmerin genannt – Brockhaus zieht »Dichterin« vor. Er verrät auch, sie sei von einer »unglücklichen Liebe in den Selbstmord getrieben« worden. Das könnte ja manchen auf Karoline von Günderrode (1780–1806) neugierig machen. Sie hatte es bestimmt nicht leicht. Wegen eines Augenleidens soll sie zeitlebens häufige Anfälle von Kopfschmerzen erlitten haben. Vielleicht war es Grüner Star. Im Glauben, es schone die Augen, benutzte sie zum Schreiben grünes Papier. Sie wird als sanft und schüchtern, aber auch impulsiv geschildert. Obwohl sie in einem Adligen Damenstift (in Frankfurt am Main) erzogen wird, erwärmt sie sich für die Französische Revolution. In einem Brief an Gunda Brentano stellt die 21jährige fest: »Schon oft hatte ich den unweiblichen Wunsch, mich in ein wildes Schlachtengetümmel zu werfen, zu sterben. Warum ward ich kein Mann! Ich habe keinen Sinn für weibliche Tugenden, für Weiberglückseligkeit. Nur das Wilde, Große, Glänzende gefällt mir. Es ist ein unseliges, aber unverbesserliches Mißverhältnis in meiner Seele; und es wird und muß so bleiben, denn ich bin ein Weib und habe Begierden wie ein Mann, ohne Männerkraft. Darum bin ich so wechselnd, und so uneins mit mir …«

Man könnte argwöhnen, hier tobe sich ein verdammt romantisches, ja einfach unreifes Verlangen aus. Dieser Argwohn fände auch in Günderrodes Werken reichlich Nahrung. Kaum hat Piedro, Held einer gleichnamigen Ballade, im Kampf auf dem Schiffsdeck seinen rächenden Stahl in die Brust des Jünglings gesenkt, der ihm die Geliebte raubte, bringt ihn die Reue ins Wanken; er taumelt in die Arme des Gemeuchelten, und der küßt ihn mit seinen letzten Atemzügen heiß und inniglich. Da will Piedro nichts mehr von der herbeieilenden Geliebten wissen; er wendet sich ab und läßt sich, dem Ruf des Todes folgend, still ins Grab des Meeres gleiten. Wenn das keine Seifenoper ist? Andererseits könnte eine Fürsprecherin einwenden, ausschließlich Wind sei es aber auch nicht, wenn man das leibhaftige Ende der Autorin bedenke, bei dem sie ja durchaus etwas wie kaltblütige Entschlossenheit bewiesen habe.

1799 bei Freunden auf einem Gut im Odenwald, verliebt sich die 19jährige in den Jurastudenten Friedrich Carl von Savigny, später preußischer Minister. Savigny scheint eine Verbindung zu erwägen, kneift dann aber, wie manche Quellen behaupten, vor Günderrodes Gebildetheit. Neben Novalis schätzt sie die Denker Fichte und Schelling. Selbstverständlich ist hier auch ein völlig berechtigtes Aufbegehren gegen das Schattendasein im Spiele, das damals »dem Weibe« zugewiesen wurde. Mit engen Freundinnen wie Bettina Brentano malt sie sich abenteuerliche Reisen aus, die realiter nur Männer antreten dürfen. Doch die Freundinnen schwinden, lassen doch auch sie sich eine nach der anderen unter die Haube zwingen. Norgard Kohlhagen zitiert* den Freiherrn von Knigge. Eine Frau, »die ein Handwerk aus der Literatur macht«, stelle der Freiherr klar, »sieht die wichtigsten Sorgen der Hauswirtschaft, die Erziehung ihrer Kinder und die Achtung unstudierter Mitbürger als Kleinigkeiten an, glaubt sich berechtigt, das Joch der männlichen Herrschaft abzuschütteln«.

1804, mit 24 Jahren, veröffentlicht Günderrode unter dem Pseudonym »Tian« ihr erstes Buch, Gedichte und Phantasien. Ein Jahr darauf folgen Poetische Fragmente, die auch Piedro enthalten. Zwar zeigen sich Clemens Brentano und sogar Goethe von ihrer Verskunst angetan, doch als Schriftstellerin wird sie zu Lebzeiten und selbst später noch wenig gewürdigt. Ob das wirklich nur dem männlichen Gebälk des Literaturbetriebes anzulasten ist? Hyacinth Holland trifft 1879 mein Empfinden, wenn er in einem Lexikonartikel seufzt, bei dieser Dichterin ließen sich zwar unterschiedliche Stileinflüsse feststellen, Ossian und Lessing etwa, doch sei »alles mehr oder minder von einem sentimentalen Mondlicht und zarter todttrauriger Wehmuth überstrahlt.« Das ist natürlich auch eine Eigenart.

Im selben Jahr 1804 begegnet die Mondelfe in Heidelberg dem Klassischen Philologen Friedrich Creuzer, der mit einer 13 Jahre älteren Frau verheiratet ist. Günderrode verliebt sich »unsterblich« in ihn, was Creuzer zu erwidern scheint. Bei ihren Interessen bietet sich ein gemeinsames Leben geradezu an, zumal Creuzers Frau zu einer Scheidung bereit wäre. Ich sage bewußt »Frau«, weil es neun von 10 Quellen nicht für nötig halten, den Namen dieses fünften Rads am griechisch-römischen Streitwagen zu nennen, das Internetlexikon Fembio (Sibylle Duda, 2005) eingeschlossen. Sie hieß Sophie. Immerhin ist auch Professor Creuzer nicht mehr der Jüngste, nämlich neun Jahre älter als Karoline. Deren Vater, ein Hofrat und Schriftsteller, war übrigens gestorben, als sie erst sechs gewesen war. Sie wuchs bei ihrer Mutter, dann im Damenstift auf.

Doch auch Creuzer zieht den Schwanz ein. Die Affäre mit diesem verqueren Weib und seine Angst vor Skandal schlagen ihm auf Magen und Gemüt. Größer noch könnte seine Angst gewesen sein, mit Sophie eine gutbürgerliche Hausfrau und fürsorgende Glucke zu verlieren. Eine Zeitlang erwägen sie Konstellationen »zu dritt«. Dann wieder verlangt er von Karoline, der Schellinglektüre und ausschweifenden, unehelichen Gedanken abzuschwören. Das hält sie für eine Zumutung. Sie kontert mit dem Plan, mit Creuzer nach Alexandria oder, dabei sie in Männerkleidern, nach Rußland zu fliehen. Dies alles macht Creuzer nur kränker. Er bittet einen Freund, Günderrode eine Absage auf immer zu schicken.

Sie hielt sich (im Juli 1806) gerade mit einer Freundin in Winkel im Rheingau auf. Von einem Chirurgen hatte sie sich schon vor längerer Zeit erklären lassen, wie der Dolch mit Silbergriff, den sie besaß, am günstigsten gegen das eigene Herz zu führen sei. Als sie der Absagebrief im Gasthof erreicht, täuscht die 26jährige Schriftstellerin einen Spaziergang vor, begibt sich zum Rheinufer und ersticht sich gekonnt – »Daß der Zweiheit Gränzen schwinden / Und des Daseins Pein«, wie sie im Gedicht Die eine Klage geschrieben hatte. Dann kippte oder glitt sie ins Wasser, wo man sie anderntags fand.

Vielleicht hatte ihr nur noch der Anlaß gefehlt, schließlich hatte sie einen solchen Abgang in Piedro schon geprobt. Der Tod vereinfacht die Verhältnisse. In Günderrodes Lyriksammlung Melete, die erst nach Jahrzehnten erscheint, findet sich das Gedicht Die Malabarischen Witwen, in dem sie die Witwenverbrennung in Indien zur »süßen Liebesfeyer« verklärt, was man freilich nicht von Fembio erfährt. »Nicht Trennung ferner solchem Bunde droht, / Denn die vorhin entzweiten Liebesflammen / In einer schlagen brünstig sie zusammen.« Laut Kohlhagen setzt Creuzer alles daran, die Veröffentlichung von Melete zu unterbinden – nicht wegen der indischen Witwen, vielmehr kommt Creuzer in dem Buch nur wenig getarnt als wiederum skandalträchtiger Eusebio vor. Creuzer spricht nun seinerseits in privaten Briefen von Karoline als der »Seligen«, während er sich von Sophie gesund pflegen läßt. Der irdische Bereich steht ihm verständlicherweise näher. »Wenn ich nur meine Sophie noch recht lange behalte.« Kohlhagen höhnt: »Er behält sie. Er überlebt sie. Er heiratet nach ihrem Tod ein zweites Mal, wird fast 80 [eher fast 87] Jahre alt, gibt seine Memoiren heraus und streift in einem Satz auch kurz die Zeit, die er mit Karoline von Günderrode erlebte.« Der Satz laute folgendermaßen: »Jene Zeit werde ich als eine Periode schwerer Seelen- und Körperleiden stets in Erinnerung behalten.« Demnach erwähnt er noch nicht einmal ihren Namen, geschweige denn ihren Tod.

* Norgard Kohlhagen auf https://www.dichterinnen.de/Guenderrode/, 1997



Zumindest hat Gunnlöd einen hübschen Namen, das muß man ja zugeben. In der Edda sei sie, so Brockhaus, eine Tochter des Riesen Suttung, »Hüterin des Dichtertranks, den Odin durch eine List gewinnt: er dringt in Schlangengestalt bei Gunnlöd ein, nimmt den Trank zu sich und entweicht in Gestalt eines Adlers.«

Ja, Mensch, wer hätte nicht auch schon von solchen günstigen Verwandlungen geträumt! Die PolitikerInnen übrigens nie. Sie verstellen sich nur, wenn sie vorgeben, uns im hohen Amte vertreten zu wollen und notfalls noch nebenbei, wie Baerbock, der deutschen Volkswirtschaft zuliebe Rußland zu vernichten. Aber wer weiß, ob das bei Ihnen nicht auch schon so artgemäß ist wie etwa im Reich unserer Haustiere, wo die Katze einen Buckel oder unsere Gans ihren Hals zur Lanze macht. Hier liegen weder Verstellung noch Verwandlung vor. Diese Geschöpfe können nicht anders: sie spielen lediglich ihre artgemäßen Trümpfe aus. Bei Eseln und Tigern scheint die Sache mitunter gleichwohl anders zu liegen. In Canettis übergewichtiger Prosaarbeit Masse und Macht von 1960 sucht ein Tiger, der offenbar zum Vegetarismus bekehrt worden ist, die Getreidefelder verschiedener Bauern heim. Erst ein besonders mutiger Feldhüter wagt ihn mit Hilfe einer List anzugreifen. Er hüllt sich in einen grauen Mantel, sodaß er womöglich als wohlschmeckender Esel gelten und so den vegetarischen Tiger wieder auf den Pfad des richtigen Geschmacks führen kann. Doch der vermeintliche Tiger galoppiert erfreut wiehernd auf den Feldhüter zu, weil er sich eine Eselin erhofft. Dabei entgleitet ihm sein Tigerfell. Sein Besitzer hatte den Esel als Tiger verkleidet, um ihn auf Kosten seiner Nachbarn ungestört mästen zu können.

Wo diese ausgesprochen hochbeinigen Tiger heimisch waren, verrät uns Canetti nicht. Jedenfalls war die Verstellungskunst noch nicht perfekt. Wer sich heute ungestört mästen will, gibt sich einfach bei Rheinmetall, Pfizer oder Tesla als ArbeitnehmervertreterIn oder Gesundheitsapostel aus. Nur die braunen Esel dürfen das Volk, statt es zu repräsentieren, treten. Während Canetti das Phänomen der Vertretung allenfalls streift, fesseln ihn Verwandlungen. Sind diese wenigstens »innovativ«?

Zuweilen beschleicht mich nämlich der Verdacht, wer ein unverwechselbares Lebenswerk zu krönen habe, müsse für alten Kaffee irgendeine neue Worthaube finden. Durfte ich mein Geld, statt in der Schneiderei, in einem Nähstudio lassen, fühle ich mich in dem geänderten Kleid schon gleich um 10 Jahre verjüngt. Friedrich Georg Jünger faßte Darstellung und Beschwörung unter »Ahmung« zusammen. Canettis »Verwandlung« ist damit verwandt. Wir fühlen uns ein, schlüpfen in Rollen, spielen, verschmelzen Lebensphasen oder -arten, wachsen. Wir bereichern uns selbstbestimmt und unvermittelt. Verwandlung ist Wachstum ohne Delegierung und ohne Ausbeutung.



Laut Brockhaus starb der tschechische Bildhauer Otto Gutfreund (1889–1927) in Prag. Nun ja, das ist eine große Stadt. Starb er an Durchfall oder an Fernweh? Nach Kriegsteilnahme (oder besser: Internierung) auf Seiten Frankreichs und längerem Aufenthalt in Paris, wo er begierig kubistisch gefächerte Luft schnupperte, hatte Gutfreund jedenfalls keineswegs Anlaß, sich als Künstler (so wie als Soldat) verkannt zu fühlen. Er bekam heimische wie ausländische Ausstellungen, eine Ehefrau und 1926 einen Lehrstuhl an der Prager Kunstgewerbeschule. Ein Jahr darauf, Anfang Juni, lag der 37jährige in der Moldau. Warum? Unfall beim Schwimmen, wie meist behauptet wird, oder doch eher Selbstmord?

Gutfreund galt als ängstlich, kontaktscheu, ein Bruder von Kafka vielleicht, und entsprechend bekümmert – ungefähr so wie sich 1912 seine Bronzebüste Don Quijote zeigt.* Möglicherweise geht aus den Büchern, die in der tschechischen Wikipedia angeführt werden, Näheres hervor. Der Artikel selber kennt nur die übliche Phrase: »auf tragische Weise« (beim Schwimmen unweit der Schützeninsel) ertrunken. Über diese schmale, innerstädtische Moldauinsel führt übrigens eine Brücke, die 1898 aus Stein erbaute Brücke der Legionen. Es wäre also wieder einmal interessant zu wissen, ob der betreffende Ertrunkene tatsächlich des Schwimmens mächtig war, und wenn ja, ob er in seinem Keller zu Hause, für alle Fälle, einen aus der Soldatenzeit geretteten, nun mit Pflastersteinen gefüllten Tornister aufbewahrte. Oder ob er sich anständig mit Schlaftabletten betäubte, bevor er mit letzter Kraft sprang. Eine Ermordung dagegen wird nirgends erwogen.

* https://en.wikipedia.org/wiki/Otto_Gutfreund#/media/File:Otto_Gutfreund_%28Don_Quijote%29.jpg



Den finnischen Schriftsteller Pentti Haanpää (1905–55) streifte ich neulich andernorts wegen seiner Solidarität mit Mücken. Ich zitiere dort aus seinem eher frühen Roman Teufelskreis, der mich, um ehrlich zu sein, nicht gerade vom Hocker gerissen hat. Vielleicht lernte er ja dann noch dazu. Petri Liukkonen behauptet*, im Hinblick auf reichen Wortschatz und sprachliche Feinheiten habe Haanpää die meisten seiner finnisch schreibenden Zeitgenossen übertroffen. Jedenfalls sind an seinem vergleichweise frühen Ende nicht die Mücken schuld. Vielmehr soll er gleichfalls am Wasser gescheitert sein – und das liegt ähnlich wie in Gutfreunds Fall im Nebel.

Auf Fotografien wirkt Haanpää eher kernig wie ein Holzfäller. In der Tat verlieh er den Arbeits- und Wandersleuten Stimme, die nur an Entbehrungen reich waren. Immerhin verkniff er sich bei dieser Fürsprache die gröbsten Fanfarenstöße, warb dafür mit spröder Poesie. Im Grunde hätte Haanpää auf Thoreaus Waldensee gehört. So aber blieb er, nur unter Zähneknirschen der weiten verstädterten Welt entsagend, zeitlebens der mittelfinnischen, mit Mooren, Sümpfen und Mücken gespickten Einöde treu, wo er nahe seines Geburtsortes Pulkkila im Dorf Piippola wohnte, das später eine Schule nach ihm benannte. Seit 2009 zählen beide Dörfer zu Siikalatva, wenn ich nicht irre. Haanpääs Falle wurde der ein Stück weiter südlich, bei Pyhäntä gelegene, recht ausgedehnte See Iso Lamujärvi. An einem Freitag Ende September 1955, zwei Wochen vor dem 50. Geburtstag des halbwegs anerkannten und folglich gelesenen Erzählers, unternahm man, offenbar zu mehreren, eine Angelpartie auf dem See. Sie geriet schon insofern feucht, als man eifrig diversen Schnäpsen zugesprochen haben soll. Dann kam Sturm auf – und warf den mutmaßlichen Gastgeber, Haanpää, ins Wasser, wo er ertrank. Falls er nicht eigenmächtig gesprungen war oder gar einen versteckten Tritt von hinten abbekommen hatte.

Nach Robert Brantberg** hatte Haanpää seiner Frau Aili gegenüber Andeutungen gemacht, die zumindest einen Selbstmord nicht ausschließen, falls ich meinen Übersetzungsroboter richtig verstanden habe. Jedenfalls legt sich auch Brantberg nicht fest. Tochter Elsa, geboren 1945, kann man anscheinend nicht mehr befragen, soll sie doch (1997) ebenfalls jung, nämlich mit knapp 52, gestorben sein.

* http://authorscalendar.info/haanpaa.htm, Stand 2023
** http://brantberg.fi/Haanpaa%20Pentti.htm, 2009




Die Haartracht muß ziemlich wichtig sein, räumt ihr Brockhaus doch fast drei Spalten ein. Schon in der Antike empfand man sie sogar als »Sitz der Lebenskraft«, lesen wir da. Das kennt man auch von vielen nordamerika-nischen Indianerstämmen, wo Knaben sich bereits kastriert sahen, wenn sie vor einen weißen sogenannten Friseur geschleppt worden waren. Das Skalpiertwerden war ihnen natürlich gleichfalls unangenehm. In unserem Mittelalter bildeten die Verordnungen darüber, wer sich wie mit gebändigter Haartracht schmücken durfte, ein getreues Seitenstück zu den irrwitzigen Kleiderordnungen. Wer sich da ohne Befugnis eine gepuderte Perücke anmaßte, wurde vielleicht nicht auf der Stelle erschossen, aber doch hart bestraft. Der Zweite Weltkrieg, in dem bekanntlich viele Menschen kahlgeschoren und vergast worden waren, scheint nach Brockhaus keine Läuterung bewirkt zu haben: »eine Vielzahl rasch wechselnder Modefrisuren« hätte bei manchen alten Leuten glatt zu anhaltendem Kopfschütteln, wenn nicht sogar zu einigen Ohnmachten geführt.

Ich gebe zu, ich wäre sofort dabeigewesen – bei den Unverständigen. PolitikerInnen und Eheleute lügen sich untereinander oder gegenseitig die Hucken voll, wie es schon 2.000 Jahre früher im Schatten der Tempelsäulen üblich war – aber die Frisuren dürfen sich nicht treu bleiben; sie haben gefälligst schneller erneuert zu werden als die Waschmittelverpackungen und Autokarosserien. Die Doppelmoral steht über Epochen hinweg im gewohn-ten hohen Kurs; wagt es jedoch ein Landtagsabgeordneter, eine ganze Legislaturperiode lang mit derselben Frisur im Plenarsaal zu erscheinen, kann er sich seine Wiederwahl getrost abschminken. Nebenbei warte ich auf Hinweise auf ein Mathegenie, das einmal berechnet, wieviel die jeweilige Landesbevölkerung in einer Legislaturperiode allein für die Haartracht ausgegeben hat. Wahrscheinlich könnte man für den Gesamtbetrag alle Flüchtlingsasyle in Fünfsternehotels verwandeln. Aber die machen den Irrsinn ja leider mit, die Flüchtlinge. Manche dürften sogar hauptsächlich deshalb zu uns kommen, weil man hier so perfekt auf der Schädeldecke »gestylt« wird.

In den anarchistischen Kommunen, denen ich zeitweise angehörte, war die Angelegenheit einfach und preiswert. Man schnitt sich die Haare kurzerhand gegenseitig, wobei es sicherlich auch immer ein paar besonders begabte SchererInnen gab. Wollte einer sein Haar rotgrüngelb färben, durfte er es ungestraft tun – aber zu meiner Zeit war das in anarchistischen Kommunen noch nicht so beliebt. Ich erinnere auch an die »Kleiderkammern«, die in Kommunen oft zu finden waren. Hier wird Gebrauchtware gesammelt und zur freien Verfügung gestellt. Ich persönlich stecke noch zur Stunde in Klamotten aus dieser glorreichen Zeit. Ich ergatterte sogar zwei weiße Bettlaken, die ich dann vermittels Klemmringen und eines gespannten Drahtseils vor mein ausladendes Zimmerfenster hängte. Sie lassen sich tadellos auf- und zuziehen, was will man mehr? Wüßte das freilich mein letzter Chef, ein sehr begabter Raumausstatter-meister in Südhessen, würde er sich an den Kopf fassen und prustend durch den nächsten Wald laufen. Das macht er ja, als Rentner, sowieso die ganze Zeit.

Übrigens hatten wir zuletzt viel Streit, aber selten über handwerkliche Fragen. Er hielt mich hauptsächlich für einen herausragenden Polsterer. Zu den wichtigsten Werkzeugen des Polsterers zählt der sogenannte Haarzieher, der im Brockhaus leider fehlt. Es handelt sich nicht etwa um ein Züchtigungsgerät preußisch gestimmter Schulmeister. Der ungefähr handlange Dorn mit angedeutetem Griff wird benutzt, um durch Gewebe hindurch Polstermaterial wie Afrik oder Roßhaar verlagern und so der gewünschten Form und Dichte des Polsters nachhelfen zu können. Er stellt wirklich eine unerläßliche, oft eingesetzte Hilfe dar – nur darf man ihn nicht mit einer Brechstange oder mit jenem Hebel verwechseln, mit welchem Archimedes einst die Welt aus den Angel zu heben gedachte. Zu diesem Zweck benötigt man eher Massen. Ich meine: menschliche. Allerdings sind die oft ein zweischneidiges Schwert. Man macht Revolution – und dann sitzt man unversehens in der alten Scheiße. Schon rücken die Friseure wieder an, die diese Scheiße zu Häufchen der Geborgenheit umgestalten.



Um es gleich zu gestehen: die hochdekorierten Chemiker, Militaristen und Zeitgenossen Fritz Haber und Otto Hahn können mich mal. Damit zur Gattin des Erstgenannten Clara Immerwahr (1870–1915). Für Brockhaus war sie nicht wichtig genug. In meinen Nasen streifte ich sie nur (unter Ludwig, Oliver). Dabei war auch Immerwahr Chemikerin und als solche mit 30 erster weiblicher Doktor der Universität Breslau gewesen. Der verhängnisvolle Fehler, die Gattin Fritz Habers zu werden, den sie in einer Tanzschule kennengelernt hatte, unterlief ihr bereits ein Jahr darauf, 1901.

Damals war Haber Professor in Karlsruhe. Ab 1911 stand er sogar, als »Geheimrat«, dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie in Berlin-Dahlem vor. Damit war die Forschungstätigkeit der Professoren- und Geheimrats-gattin, die 1902 unter Mühen einen kränklichen Sohn geboren hatte, endgültig beendet. Als solche hatte sie freilich nicht mehr lange zu leben. Dem Witwer schanzte man 1918/19 den Nobelpreis zu: offiziell für die Erfindung des Kunstdüngers. Das hätte Clara vielleicht noch geschluckt, weil ihr Erzeuger, ein schlesischer Gutsherr, ebenfalls schon erfolgreich mit Kunstdünger experimen-tiert hatte. Aber zum einen kam Habers Herstellung künstlichen Ammoniaks nicht nur landwirtschaftlichen sondern auch militärischen Gelüsten entgegen (Sprengstoff); zum anderen war er daneben federführend an der Entwicklung des Giftgases beteiligt gewesen, das die Deutschen mit der erwünschten verheerenden Wirkung im zurückliegenden Weltkrieg eingesetzt hatten, dabei oft mit Wissenschaftler, Beobachter und Einsatzleiter Fritz Haber an vorderster Front. Seiner Gattin kommt das (1915) bereits bei Probevorführungen mit Haustieren als »Perversion der Wissenschaft« vor. Von ihren Einsprüchen läßt sich Haber jedoch nicht beirren. Dagegen ist die Chemieindustrie begeistert, sind doch die Exportmärkte für Chlorgas über Nacht »weggebrochen«, weil sie nun in Feindesland liegen. Am 22. April 1915 findet der erste große tödliche Giftgaseinsatz statt: mit 150 Tonnen Chlorgas nach dem Haberschen Blasverfahren an der Westfront bei Ypern. Nach dem Gelingen dieses Einsatzes endlich zum »Hauptmann der Reserve« befördert, lädt Haber für den 1. Mai in seine Dahlemer Villa zum Festgelage ein. Am nächsten Morgen, während Haber noch seinen Triumph ausschläft, entwendet Immerwahr seine Dienstpistole und versetzt sich unter den Parkbäumen der Villa, nach einem Probeschuß in die Luft, einen Schuß ins Herz. Nach spätestens zwei Stunden ist die 44jährige tot.

Ein antimilitaristisch-moralischer Untergrund ihrer Selbsttötung ist wahrscheinlich, nur leider nicht belegbar, weil verschiedene entsprechende Dokumente, darunter vom Hauspersonal bezeugte Abschiedsbriefe, teils durch den Krieg, vor allem jedoch durch vorsorgliche Eingriffe familiärer Hände verloren gingen. Die Weste des Giftgasfürsten sollte kein Fleckchen Blut aufweisen. Zudem läßt sich aber denken, daß es Immerdar angesichts ihres kahlköpfigen, dafür schnurrbärtigen Gatten, sofern er einmal zu Hause war, inzwischen vor Enttäuschung und Ekel schüttelte. Autoritär, ehrgeizig, leicht reizbar, dürfte er für die sanftmütige Clara geradezu erdrückend gewesen sein. Wie sich versteht, war er, obwohl oder weil Jude (wie sie), ein glühender Vaterlandsverehrer. Nach ihren Einwänden gegen seine militärische Dienstbarkeit verpaßt er ihr jede Wette einen Maulkorb für öffentliche Äußerungen. Viel auf Reisen oder eben im Felde, gestattete er sich natürlich auch einige sexuelle Seitensprünge. Schon 1909 hatte Clara in einem Brief geklagt, Habers »mensch-liche Qualitäten« seien »nahe am Einschrumpfen«.* Noch am Selbstmordtag rückt Haber plangemäß und vermutlich erleichtert an die Ostfront aus, neuen Giftgaseinsätzen entgegen. Heute gehört die Villa, in deren Garten sich Immerwahr erschoß, zum Hort der Freien Forschung Fritz-Haber-Institut. Um einen deutlichen Hinweis auf Immerwahrs Pistolenschüsse wird scheints noch gerungen.**

* Nach Jörn Heher: https://wissenschaft-und-frieden.de/artikel/clara-immerwahr-und-fritz-haber/, 1992
** https://www.berliner-woche.de/dahlem/c-kultur/bezirksverordnetenversammlung-fordert-gedenkstele-fuer-chemikerin-und-frauenrechtlerin_a195571, 8. Januar 2019




Nicht, daß ich Brockhaus vorwürfe, SpitzensportlerInnen wie den österreichischen Ringer und Kletterer Ernst Hack (1946–86) und das Skirennas Barbara Henneberger (siehe demnächst) eiskalt übergangen zu haben. Beide wurden jedoch Opfer ungewöhnlicher Unglücksfälle.

Was Hack angeht, verkündet die deutsche Wikipedia, der starke Mann, ehemals erfolgreicher Ringer, mehrmaliger Staatsmeister in seiner Sparte, nun als Kaufmännischer Angestellter erwerbstätig, sei am Sonntag den 1. Juni 1986 bei einer Bergtour in seiner oberösterreichischen Heimat das Opfer eines Steinschlages geworden. So etwas kommt sicherlich schicksalshaft vor, ist aber mindestens ungenau. Vielleicht hat sich einer den Steinschlag aus den Fingern gesogen, um den guten Ruf des Sportsmannes zu schützen. Einzelheiten und Belege werden nicht gegeben. Dafür erfahren wir, Hacks Verein SK Vöest Linz ehre ihn durch regelmäßige Schülerringkampfturniere. Immerhin erwähnen einige Webseiten überdies einen Sohn, geboren 1985 – erstaunlich spät. Nachdem er 1986 »seine Eltern« verloren habe, sei er, nahe Linz, bei seinen Großeltern aufgewachsen. Hack junior soll Dr.phil, Sporthistoriker und Literat sein. Aus der Bemerkung mit den Eltern schloß ich zunächst, bei jenem »Steinschlag« habe es auch des Sohnes (nirgends erwähnte, weil zu unwichtige) Mutter erwischt. Aber auch das ist ein Trugschluß. Nach Unfallbericht* eines Linzer Blattes erlag Ernst Hacks 34 Jahre alte Ehefrau Berta bereits am 4. Januar des Jahres einem Gehirntumor. Eine üble Sache. Sie wäre wohl für manchen Gatten ein handfester Selbstmordgrund gewesen.

Ex-Ringer Hack, nur 1,63 m groß, war leidenschaftlicher Alpinist und hielt sich häufig im sogenannten »Kletter-garten« auf dem Buchenkogel bei Walding (westlich von Linz) auf. So auch an jenem verhängnisvollen Sommertag wenige Monate nach dem Tod seiner Frau. Hier sei der 39jährige, so das Linzer Blatt, am Abend offensichtlich oder jedenfalls mutmaßlich von einer 25 Meter hohen Granitwand abgestürzt, wohl aus ungefähr 15 Meter Höhe. Man fand ihn erst am nächsten Vormittag, weil die anderen Kletterer vor Hack abgezogen waren. Mit diesem Vorfall waren vier Kinder, zwischen sieben Monaten und 11 Jahre alt, innerhalb von fünf Monaten zu Vollwaisen geworden. Sie kamen jetzt in die Obhut der Mutter der verstorbenen Berta Hack.

Den Gemüts- und Gesundheitszustand des Abgestürzten deutet das Blatt mit keinem Komma an. Den müßte man aber kennen, um den Vorfall mit gewisser Wahrschein-lichkeit einschätzen zu können. Die Polizei habe eine Obduktion angekündigt. Ergebnis? Unbekannt. Meine Versuche, mit den Kindern in Kontakt zu kommen, sind bislang fehlgeschlagen.

* hw, »Linz: In nur fünf Monaten wurden vier Kinder zu Vollwaisen«, Oberösterreichische Nachrichten, 3. Juni 1986
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