Dienstag, 12. März 2024
Risse im Brockhaus 12

Wenn Brockhaus Bischöfe hochhält, muß er natürlich auch Feier- und Festtage feiern. Sie entschädigen für Arbeits-tage, ermöglichen Zwiesprache mit Gott und nehmen unseren Kalendern die Eintönigkeit. Für mich ist das freilich grober Unfug. In meiner Freien Republik Mollowina sind die Tage eines Monats so gleich wie die RepublikanerInnen. Man arbeitet dort nicht, um sich mit schwindenden Kräften von einem Feiertag zum nächsten hangeln zu können, vielmehr weil die anstehenden Aufgaben sowohl für die Personen wie für die Republik sinnvoll, meist auch durchaus unterhaltsam sind. Folglich können jähe Badevergnügen auch mal dienstags um 11 Uhr 23 stattfinden, nur nicht an den seltenen Frostdienstagen. Einige Greise dürfen gerne Ostern feiern, falls sie sonst an Entbehrung stürben, aber Ostern steht nicht im Kalender. Der einzige gleichsam amtliche Festtag ist der Jahrestag des Umsturzes. Hätten Georgi Malenkow, Mao Zedong oder Hermann Matern mitansehen müssen, wie unordentlich dieser Festtag begangen wird, wären sie in Ohnmacht gefallen und hoffentlich auf dem Friedhof gelandet. Hochzeitstage entfallen aus schon früher genannten Gründen. Die persönlichen Geburtstage der GO-Mitglieder (auch Mihail Bak, der oberste Schiedsrat der Republik, ist Mitglied einer GO) werden sicherlich gefeiert, jedoch landesweit auf sehr unterschiedliche Weise. In meiner letzten Kommune belief es sich meist darauf, dem Geburtstagskind durch den jeweiligen Küchendienst an einem Tisch des großen Gemeinschafts-raumes zum Frühstück ein auffallend hübsches Gedeck auflegen zu lassen. Ob es dann um 8 oder um 11 erschien, es wußte immer, wo es Platz zu nehmen hatte. Ständchen waren sowieso nicht üblich. Übrigens auch keine Geschenke. Der Lohn des Kommunarden war es, Kommunarde sein zu dürfen und einigermaßen kostenlos so viele Freunde zu haben. So lautete jedenfalls die Theorie.



In einem Land, das allen gehört und auch alle mehr oder weniger gut ernährt, von den Äckern Kartoffeln oder Maiskolben zu klauen, wäre ersichtlich absurd. Aber in einem solchen Land lebt Brockhaus nicht, und so tun wir ihm den Gefallen, mit Felddiebstahl zu rechnen. Er sei »prinzipiell« so strafbar wie jeder gewöhnliche Diebstahl, § 224 StGB. Man drücke freilich oft ein Auge zu und verzichte auf Strafverfolgung. Warum schreibt der Redakteur eigentlich nicht »grundsätzlich« statt prinzipiell? Nun gut. Und warum wird zuweilen auf Strafverfolgung verzichtet? Weil es hier um den Diebstahl »von Früchten und sonstigen geringwertigen Gegenständen« des Feldes oder des Waldes geht. Diese angebliche Geringwertigkeit stört mich durchaus mehr als das Prinzip. In ihr drückt sich die Verachtung des kapitalistisch geprägten Wohlstandsbürgers für »billige Ware« aus. In jüngster Zeit bekommt dieser Bürger allerdings schon einen Vorgeschmack davon, wie wertvoll Kartoffeln oder Maiskolben sein können, sobald sie selbst für gutbezahlte Redakteure unerschwinglich sind, falls es überhaupt noch Kartoffeln oder Maiskolben im Lande gibt. Und man muß kein Prophet sein um anzukündigen: in solchen Notzeiten werden auch die zeitweise als harmlos geltenden »Mundraub«-Sachen erbarmungslos angezeigt und bestraft.



Wer die Räuber und Schänder abhalten will, baut gerne Festungen. Zwar erwähnt Brockhaus die ab ungefähr 1600 oft gezackten, sternförmigen Grundrisse der stark verrammelten Städte oder Bastionen, erklärt sie jedoch nicht. Vielleicht vertraut er darauf, jeder hätte weidende Pferde in nächster Nachbarschaft. Meine vier- und hochbeinigen Nachbarn legen ihre Trampelpfade auf der Koppel stets im Zickzack an. Dadurch erweitern sie, sofern sie zu dritt oder 30 sind, ihr Blickfeld beim Trotten, erhöhen also ihre Sicherheit. Jetzt können sie auch geduckte Tiger erspähen, die hinter ihnen im sonst »toten Winkel« kauern. Das gilt auch für jene Festungen. Hinzu kommen günstigere Schußbahnen und Vorteile für den Nahkampf. Bei den gezackten Angriffsobjekten können die Feinde schwerer die Sturmleitern anlegen. Und so weiter – nur nicht bei mir. Im Grunde ist es genauso hirnrissig, seine Zeit damit zu verschwenden, in die Geheimnisse des Festungsbaus wie in die Geheimnisse der Fertigung von Halbleitern oder Kartoffelchips einzudringen.

Nach Lewis Mumford haben wir unsere mechanischen Erfindungen bis ins Mittelalter hinein »mehr dem Krieg als dem Frieden« zu verdanken.* Er geht sogar noch weiter. Ich zitiere einen ganzen Absatz von der Seite: >Der Streitwagen der Bronzezeit ging dem allgemeinen Gebrauch von Transportlastwagen voraus, brennendes Öl wurde zur Abwehr des Feindes von der belagerten Stadt verwendet, ehe man es als Antriebskraft für Motoren oder als Heizstoff benutzte. Die assyrische Armee verwendete aufgeblasene Rettungsgürtel, um Flüsse zu überqueren, Tausende Jahre bevor Schwimmwesten für Zivilisten erfunden wurden. Auch die Arten der Metallverwendung entwickelten sich rascher in der Armee als im zivilen Leben. Die Sense wurde an Streitwagen befestigt, um Menschen niederzumähen, ehe sie an der Mähmaschine befestigt wurde, die dem Ackerbau diente; Archimedes‘ Wissen über Optik und Mechanik wurde dazu verwendet, die römische Flotte, die Syrakus angriff, zu zerstören, ehe es für konstruktive industrielle Zwecke angewandt wurde. Kriegführung war, vom griechischen Feuer bis zur Atombombe, von der ballista bis zur Rakete, die Hauptquelle jener technischen Erfindungen, die auf metallurgischem oder chemischem Wissen beruhten.<

Das ist ja wohl ein äußerst betrübliches Armutszeugnis, das uns der US-Gelehrte da ausgestellt hat. Und dies alles nur, weil Gott es einst versäumte, uns mit Krallen oder Säbelzähnen oder Giftdrüsen auszurüsten. So blieb uns vielleicht nichts anderes übrig, als unsere Gehirnzellen aufs Militärische zu trimmen. Anfänglich nannten wir uns noch WächterInnen, später SicherheitspolitikerInnen.

Erfahrungsgemäß sind auch die ausgereiftesten Erfindungen auf dem Gebiet der Sicherheit nie davor sicher, nicht früher oder später ausgehebelt zu werden. Ich frage mich vergeblich, woran das wohl liegen mag. An unserer unvollkommenen Natur? An der Unmöglichkeit, der Zeit vorzugreifen, den Schleier der Zukunft zu lüften? Oder gibt es eine Art Gesetz über die Unvermeidbarkeit von Schwachstellen, das unfehlbar immer gilt, zu allen Zeiten? Dann hätte es auch zu Gottes schöpferischen Zeiten gegolten – und es wäre kein Wunder, wenn ihm der Mensch nur unvollkommen gelang. Aber wer weiß, ob es nicht schon damals Lobbyisten der Freien Marktwirtschaft gab, die ihm einflüsterten: »Bloß keine Vollkommenheit, Alter! Das wäre doch der Ruin der ungehemmten Produktion stets neuer Waren und ganz ungeahnter Arbeitsplätze, der uferlosen Vergeudung und der entsprechenden rosigen Gewinnaussichten aller unternehmungslustigen Leute …«

Oft sind die »Sicherheitslücken« allerdings keineswegs technischer, vielmehr sozialpsychologischer Natur. Man spricht wahlweise von menschlichem Versagen oder Verrat. Unter Hitler und Stalin haben ja sogar Jugendliche kaltblütig ihre linienuntreuen Eltern, LehrerInnen oder Freunde verraten. Das Phänomen ist aber kein modernes. Löffler erwähnt in seiner Waltershäuser Stadtgeschichte auch für die lange Zeit von 1300 bis 1700 immer mal wieder Verrätereien, die beispielsweise zum Einfall von verrohten Landsknechten oder der Folter einer angeblichen Hexe führten.

Für eingefleischte anarchistische Kommunarden steht eine Sicherheit, die auf technischem Wege erzielt wird, ohnehin immer auf tönernen Füßen. Man muß diesen Weg meiden. Vergittere ich mein Fenster, zieht es Diebe oder Unholde wie Fliegen an; lege ich dagegen meine goldene Konfirmationsuhr auf die Fensterbank, bringt es mir gleich die Rührung der Diebe oder Unholde ein: weil ich sie offensichtlich für anständige Leute halte. Mit anderen Worten, freie Kommunen oder Republiken werden auf Vertrauen gebaut. Nur ist das in einer Welt, die inzwischen ein einziges Bollwerk des Argwohns und sogenannter Sicherheitskräfte darstellt, tausendmal leichter gesagt als getan. Im Ergebnis wäre es vielleicht zu selbstmörderisch.

* Lewis Mumford, Mythos der Maschine, zweibändig um 1970, hier Fischer-TB 1977, S. 261



Im Eintrag über die Feuerwehr spricht Brockhaus (1988) völlig ungehemmt über Beamte, Truppführer und Truppmänner, Einsatzleiter, Dienstkleidung der Feuerwehr-Männer, Ausbildung des Feuerwehrmanns und so weiter und so fort. Sogar Händels Feuerwerksmusik (1749) wird einem Mann zugeschrieben. Es ist zum Weglaufen, wie bei einem Großbrand. Hätten wir die Hessin und Sozialdemokratin Nancy Faeser schon damals als bundesdeutsche Innen- und Heimatministerin gehabt, wäre der betreffende Band des Universallexikons (Nr. 7) ohne Zweifel unverzüglich abgelöscht (mit Wasser besprüht) und eingestampft worden. Dabei hat es doch bereits 1916 Berufsfeuerwehrfrauen gegeben, und zwar in der Stadt meines antiautoritären Heranreifens, Kassel! »Die erste Berufsfeuerwehrfrau der ‚Neuzeit‘ war wohl Monika Tegtmeier, die am 01. August 1985 als Anwärterin für den gehobenen feuerwehrtechnischen Dienst in den Dienst der Berufsfeuerwehr Remscheid eintrat«, belehrt mich eine einschlägige Webseite.*

Da mich die kleinen Schritte der mühsamen Emanzipation wenig interessieren, springe ich einmal kurzerhand über den Ärmelkanal. Die verdammt junge Engländerin Fleur Lombard (1974–96) soll die zeitlich erste britische Feuerwehrfrau gewesen sein, die zu Friedenszeiten ein Unfalltodesopfer ihres selbstlosen Einsatzes wurde. Sie diente im englischen Südwesten. Der Avon Fire and Rescue Service, dem sie angehörte, hatte damals, bei rund 700 Leuten, nur acht Frauen beschäftigt. Lombard war erst 21 Jahre alt. Am 4. Februar 1996 galt es in einem Supermarkt von Staple Hill bei Bristol einen Brand zu bekämpfen, den ein Wachmann absichtlich gelegt hatte, wie sich später herausstellte. Lombard wurde mit einem Kollegen hineingeschickt, um nach möglichen Opfern zu sehen. Auf dem Rückweg zum Eingang wurde sie offenbar, bei starker Hitze, von herabstürzenden Bauteilen überwältigt. Der Brandstifter war genau in Lombards Alter. Die englische Wikipedia meint, der Mann habe Wahnvorstellungen gepflogen und an Langweile gelitten. Die RichterInnen schickten ihn für 7 ½ Jahre ins Gefängnis, wo es womöglich noch langweiliger war.

Verfolge ich hin und wieder Einsätze der Waltershäuser Feuerwehr, dämmert mir im Flackern des Brandherdes, daß diese überwiegend männlichen Diener des Volkes ungleich mehr von ihrer Bedeutung als von Wasser durchdrungen sein dürften. Die grimmigen Mienen und Gebärden, die knappen Anweisungen untereinander, die barschen oder mürrischen Auskünfte für die lästigen Schaulustigen, die achtungseinflößenden Uniformen beziehungsweise Schutzkleider, die aus jedem Volksdiener ein Monster machen – alles spricht dafür, daß mich, den nahezu unbekannten Wort- und Tonkünstler, kilometer-breite Feuerschutzgräben von diesen kämpfenden Helden trennen. Allerdings schützen mich dieselben Gräben auch vor der Korruption, die in Feuerwehrkreisen vermutlich nicht wesentlich geringer als in der Rüstungsbranche oder in unseren Regierungsvierteln ist. Der Annahme, Ministerin Faeser halte sich ganz genauso für eine Dienerin des Volkes wie etwa Fleur Lombard oder eine Waltershäuser Kindergärtnerin, dürften wohl nur Einfaltspinsel aufsitzen. An den Spitzen unserer demokratisch-kapitalistischen Behörden stehen jede Wette nahezu ausnahmslos völlig hartgesottene und hartherzige Karrieristen, die für Freie Republiken ungleich größere Gefahrenherde darstellen würden als gelegentliche Brände. Aber wahrscheinlich kämen sie in solche Ländchen gar nicht erst hinein. Sie würden bereits in der GO-Probezeit scheitern, die jeder Aufnahmewillige zu durchlaufen hat.

* https://www.feuerwehrfrauen.de/über-uns/feuerwehrfrauen/berufsfeuerwehr/



Der Kasseler Jagd- und Kunstflieger, Flugzeugbauer und »Wehrwirtschaftsführer« Gerhard Fieseler kam Brockhaus entgegen, indem er 1987 (mit 91) noch rechtzeitig unter die Erde wanderte, die er so gern und erfolgreich aus der Luft betrachtet hatte. So mußte ihn das Lexikon ein Jahr darauf nicht mit Samthandschuhen anfassen. Es bildet sogar ein von Fieseler entwickeltes, im Zweiten Weltkrieg vielverwendetes »Kurier- und Verbindungsflugzeug« ab, auf dessen Heckflosse ein Hakenkreuz zu sehen ist. Rüstungsboß Fieseler wurde nie belangt. Ob er aber deshalb bei Klee fehlt, bezweifle ich. Ein von mir verfaßtes ausführliches Porträt Fieselers finden Sie bei Interesse in meinem Nasen-Lexikon.



Vermutlich haben Sie schon von Neugeborenen gehört, »die von unbekannten Eltern ausgesetzt, aufgefunden und durch fremde Personen erzogen werden.« Die Lektoren und Korrektoren dieses Satzes waren möglicherweise Findelkinder von der Eingangstreppe des Mannheimer Brockhaus-Gebäudes, arme Würmchen. Ein berühmtes Findelkind kennt natürlich jedes Kind: Kaspar Hauser. Im Dezember 1833 war der bis heute geheimnisumwitterte Findling im fränkischen Ansbach den Folgen einer Stichverletzung erlegen. Nach Ansicht etlicher ForscherInnen hatte der ungefähr 20jährige, der für 16 Jahre in einem abgedunkelten Raum bei Wasser und Brot gedarbt haben wollte, mehrere in Freiheit auf ihn verübte »Attentate« durchweg eigenhändig ausgeführt – weil die öffentliche Aufmerksamkeit für seinen sensationellen Fall zu erlahmen drohte. Mal sehen, wann sich Nancy Faeser, Annalena Baerbock oder gar Sahra Wagenknecht Stichverletzungen beibringen.

Genau ein Jahr darauf, im Dezember 1834, legte die 28jährige Charlotte Stieglitz in Berlin Hand an sich. Ihre Ehe war kinderlos geblieben, aber zum Kindesraub fehlte ihr wohl das Zeug. Sie hatte 1828, nach gemeinsamen romantischen Höhenflügen, den Berliner Schriftsteller und vorübergehenden Kustos der Königlichen Bibliothek Heinrich Wilhelm Stieglitz geheiratet, fand sich aber rasch auf dem Bauch wieder – ihn übrigens auch. Ihr wahrscheinlich im Grunde gefühlskalter Gatte, falls man Friedrich Kummer folgt*, war einerseits außerstande, an seine literarischen Anfangserfolge anzuknüpfen, andererseits wollte er aber auch nicht auf den Glauben an sein dichterisches Feuer verzichten. So faßte sie den Entschluß, Heinrich durch eine große, aufopferungsvolle Tat zugleich zu erschüttern und zu beflügeln: die 28jährige erstach sich am 29. Dezember 1834 mit einem Dolch, den sie ihm einmal geschenkt hatte. Das Aufsehen war natürlich riesig. Die für Heinrich erhoffte Wirkung blieb allerdings aus. Er ging nach München und Italien, wo er rund 15 Jahre später, mit 48, an der Cholera starb. Kummers Urteil über Stieglitz ist womöglich noch härter als der Dolch, mit dem sich seine Gemahlin umbrachte: »Hinter glänzendem Firniß findet man weder Gedanken noch Gefühle.« Im Brockhaus (Band 21) kommt Stieglitz gar nicht erst vor – die Lanze gegen ihn.

* ADB Band 36 von 1893



Einen Vortrag über finnische Musik werde ich Ihnen ersparen, weil mir in dem entsprechenden Brockhaus-Eintrag aus einer Aufzählung lediglich der Name Toivo Kuula (1883–1918) ins Auge sprang. Prompt stieß ich bei der Suche im Internet auf eine Räuberpistole. Kuula, hoffnungsträchtiger Schüler von Sibelius, daneben von Fauré eingenommen, schuf vorwiegend Vokalwerke, gern für Chor, aber auch viel Klavier- und Kammermusik. Dies anscheinend frohe Schaffen war jedoch in der sogenannten Walpurgisnacht Ende April 1918 jäh Vergangenheit. Finnland galt damals als russisches Großherzogtum. Täusche ich mich nicht, waren die lieben Finnen stets ein Objekt des Tauziehens zwischen Rußland und Schweden. Im Januar 1918 brach allerdings zusätzlich, ähnlich wie in ganz Europa, ein Bürgerkrieg zwischen »Weißen« und »Roten« aus, der sich vermutlich auch noch mit dem Streit zwischen finnischer und schwedischer Kulturhoheit vermischte. Jedenfalls erfreuten sich die Weißen der Gunst deutscher Truppen. Man schlug die Russenfreunde und Bolschewisten aufs Haupt und siegte im Dezember 1918. Der weiße General Von Mannerheim wurde »Reichsver-weser« und steuerte ein unabhängiges, sicherlich bürgerlich-kapitalistisches Finnland an. Grausamkeiten gegen die besiegten Roten ordnete er wahrscheinlich nie an, er duldete sie jedoch.

Zurück zum April 1918. Damals fand im karelischen Wyborg (Viipuri), wo Kuula lebte, bereits eine weiße Siegesfeier statt. Die Stadt lag weit im Osten, schon fast bei Leningrad. Aber man hatte sie den Roten, einstweilen, abgerungen. Bei dieser Siegesfeier erwischte es Kuula. Die einzige brauchbare Quelle über die näheren Todesum-stände, die ich unter Mühen gefunden habe, stellt ein popartig aufgemachter Beitrag* auf der Webseite der staatlichen finnischen Rundfunkanstalt Yleisradio dar. Die Anstalt wird meist nur yle genannt, wie das blaue Logo. Sie betreibt etliche Radio- und Fernsehkanäle. Nach dem bunten Netz-Beitrag war Kuula Anhänger der Weißen. Ob er auch am Häuserkampf beteiligt war, teilt niemand mit. Bei dem Fest im Hotel Seurahuone ließ er sich leider zu Tätlichkeiten hinreißen, was er mit seinem Leben bezahlte. Man hatte Kuula und dessen Gattin Alma, eine Sängerin, um eine musikalische Darbietung auf der Saalbühne gebeten. Im Anschluß an diese, wohl auch von Alkohol befeuert, geriet der Komponist in ein Wortgefecht mit sogenannten Jägern. Er soll sowieso ein Hitzkopf gewesen sein. Die Jäger waren ein weißer, von der deutschen Reichswehr geprägter Truppenteil aus Freiwilligen, echte Rabauken. Kuula schien sich aber stark zu fühlen, zog er doch plötzlich ein Messer und stach einen Widersacher in den Hals. Daraufhin sehen die weißen Jäger rot und zerren oder scheuchen den prominenten Gast auf den Hof. Vielleicht flüchtet er auch. Jedenfalls fällt da ein Schuß, der ihn am Kopf trifft. Der Komponist fällt um. Es gibt drei Hauptverdächtige für den Schuß. Aber die Ermittlungen sind höchst schlampig, Zeugen können sich absprechen, Verdächtige kommen um, der Fall bleibt bis heute ungeklärt. Gegen den letzten Verdächtigen, Pekka H., gab es sogar eine Anklage, aber dann erlitt er zufällig einen tödlichen Segelunfall. Damit hatte sich günstigerweise ein häufig durchaus peinliches öffentliches Gerichtsverfahren erübrigt.

Angeblich hatte die tödliche Kugel genau ein Auge des Komponisten durchbohrt. Die englische Wikipedia versichert, »Kuula« heiße ausgerechnet Ball oder Kugel. Aber der Komponist und Pianist eignet sich wohl kaum zu dem bedauernswerten Opfer, dem gewaltsam die Samtpfötchen gebrochen wurden. Nach mehreren Quellen war er nicht so sehr weiß, vielmehr ein glühender Anhän-ger der Erznationalisten, die man damals Fennomanen nannte. Sie verabscheuten alles Schwedische. Sie wollten Finnisch als Amts- und Schulsprache und das Schwedische, zuweilen auch gern die vielen Schweden , die es im Lande gab, zurückdrängen. Ich nehme an, die entsprechenden Sympathien waren auch im weißen Lager durchaus geteilt. Dummerweise verrät keine Quelle, worum es bei dem Streit im Hotel eigentlich ging. Möglicherweise hatte sich Kuula ja mit den Jägern einen blutigen Sprachenstreit geliefert. Die Weltgeschichte kennt deren viel. Schließlich griff der eine oder andere Widersacher zur Schußwaffe. Nach 18 Tagen im Krankenhaus tat der 34 Jahre alte aussichtsreiche finnische Komponist seinen letzten Atemzug.

Die karelische Sängerin Alma Silventoinen saß vermutlich händeringend und tränenüberströmt an seinem Bett. Sie soll den Verlust ihres Gatten nie verwunden haben. Sie pflog das Werk, so gut es ging. Sie ließ sich in Helsinki nieder. Mit 57 sei sie (1941) auf einer Reise einem Herzanfall erlegen, heißt es irgendwo. Das Paar hatte eine Tochter, geboren 1917. Sinikka wurde professionelle Pianistin. Sie begleitete auch ihre Mutter bei manchen Konzerten. Gestorben 1981, wird sie die bunte yle-Gedenkseite gar nicht mehr zu Gesicht bekommen haben. Laut finnischer Wikipedia hatte sie zwei Kinder. Hatte sie sogar Enkel, reckten diese vielleicht im April 2023 blaue Fähnchen, weil sich Finnland endlich in den blutigen Schoß der NATO begeben hatte. Herzlichen Glückwunsch.

* »Säveltäjä Toivo Kuula murhattiin yli sata vuotta sitten, mutta tekijää ei koskaan saatu tilille – Nyt murhamysteeri on ehkä ratkennut«, 25. Oktober 2022: https://yle.fi/aihe/a/20-10003568



Wie auch Brockhaus weiß, pflegt der Fischadler eine im Vogelreich vergleichsweise seltene Jagdmethode: das Stoßtauchen. Ich verfolgt es einmal vor rund 20 Jahren bei meiner bislang einzigen Begegnung mit einem Fischadler. Das war am westlichen Ausläufer des Edersees. Dort mündet die hübsche Itter, der ich, von Korbach aus, per Fahrrad gefolgt war. Kaum glitzerte der See auf, schoß ein großer Vogel nahezu senkrecht im Sturzflug hinab, ließ das Wasser aufspritzen und machte sich mit seiner Beute wieder davon. Vor dem Aufsetzen fährt der Vogel blitzschnell seine Krallen aus, damit er sein Ziel erdolchen und fortschleppen kann. Dank seiner schmalen Schwingen wird der überwiegend weißköpfige Fischadler oft als ausgesprochen elegant empfunden, doch diese Fischjagd kommt mir doch recht brutal vor. Erweist sich der Fisch als zu schwer, läßt ihn der Jäger wieder fahren. Dann schwimmt der Fisch ins Kreiskrankenhaus.

Neben der Jagdmethode gilt auch der ganze Greifvogel zumindest in Deutschland als selten, somit »gefährdet«. Die meisten Fischadler soll Mecklenburg in der Müritz-Gegend zu bieten haben. Vor rund 30 Jahren kam ich auf Reisen einmal in Waren an der Müritz vorbei. Unweit vom Hafen thronte die Marienkirche auf einer kleinen Anhöhe der Altstadt. Als ich mein Taschenfernglas auf die merkwürdige Wetterfahne des Kirchturms richtete, staunte ich nicht schlecht. Sie haben dort weder Hahn noch Fischadler, vielmehr einen Schwan in der Fahne. Der soll, an lutherischen Kirchen des Ostseeraums, noch nicht einmal so selten sein. Eine Heimatkunde-Seite erläutert dazu, der Schwan sei ein bekanntes Symbol des Reformators Martin Luther gewesen. Luther habe diesen Vogel zu Ehren des tschechischen Reformators Jan Hus gewählt, der sich schließlich auch schon mit den paptistischen Bossen angelegt habe. >Als Hus deshalb [1415] auf dem Scheiterhaufen stand, wo er verbrannt wurde, soll er gerufen haben: »Heute bratet ihr eine Gans, aber aus der Asche wird ein Schwan entstehen.« Sein Name »Hus« bedeutete nämlich auf tschechisch »Gans«.<

Das ist freilich auch starker Tobak. Da wird man unsicher, wen man mehr fürchten soll: die Scheiterhaufenchefs oder die Märtyrer Marke Hus. Zu meinen liebsten Feindbildern unter deutschen Barockfürsten zählt der in Gotha residierende Ernst I. (1601–75), den sie »den Frommen« und den nicht wenige Strohköpfe einen Wohltäter nennen. Dabei war er ein engstirniger und hartherziger Korinthenkacker von der feinsten Sorte. Schildert Löffler in seiner Stadtgeschichte von Waltershausen den Schwall an polizeilichen Verordnungen, mit dem Ernst seinen »protestantischen Musterstaat« überschwemmte, greift man sich unwillkürlich an den Hals. Ob Huren mit und ohne Ehebruch, zu enges Tanzen, zu wildes Tanzen, Küssen mitten auf der Gasse, Jauchzen im Wirtshaus, Fluchen und Beschimpfen, die falschen Seidenbänder im Haar, drei Gänge zu viel beim Hochzeitsmahl, Faulenzen am hellichten Tage, Schlummern während der Predigt oder gar den ganzen Gottesdienst schwänzen: alles war strafbar. Die unnachsichtige Verfolgung von »Hexen« kannte beziehungsweise billigte der fromme Herzog selbstverständlich auch. Ich greife lediglich einen diesbezüglichen Satz von Löffler heraus: »1670 wurde eine Frau aus Hörselgau [ein Dorf zwischen Waltershausen und Gotha] wegen Zauberei gefoltert, gerichtet und verbrannt.«



Ich ziehe dem zeitweiligen Star der US-Literaturszene Scott Fitzgerald einen peruanischen Kautschukbaron vor: Carlos Fermín Fitzcarrald (1862–97). Brockhaus verschmähte ihn. Cineasten dürften ihn aus Werner Herzogs Film Fitzcarraldo von 1982 kennen, wo ihn Klaus Kinski spielt. Damit kennen sie ihn aber gerade nicht.* Der leibhaftige Fitzcarrald verstand es, Tausende von Indios, als Zapfer an den Gummibäumen, in seine Schuldknecht-schaft zu bringen und ganze indianische Stämme gegeneinander aufzuwiegeln, weshalb er trotz seiner Besessenheit steinreich wurde. Sich die Überlegenheit der Schußwaffen zunutze zu machen, versäumte er selten. Doch er war erst 35, als sein Schiff Adolfito im Sommer 1897 in Stromschnellen des Urubambas (in Südperu am Ostfuß der Anden) auf einen Felsen lief und kenterte. Es hatte Schienen für eine von Fitzcarrald geplante Bahn-strecke geladen. Zwei Tage später zog man Fitzcarralds Leiche aus dem Fluß – die Schienen womöglich nie.

* »Kautschuk – Mythologie und Wirklichkeit«, Förderkreis des IAI, 18. Oktober 2019: https://foerderkreis-des-iai.org/2019/10/18/kautschuk-mythologie-und-wirklichkeit/. Das Ibero-Amerikanische Institut sitzt in Berlin.



Der Physiker Rudolf Fleischmann (1903–2002) hatte, ab 1941, Professuren in Straßburg, Hamburg und Erlangen. Die letzte Amtszeit läßt Brockhaus offen, denn der Herr Gelehrte lebt ja (1988) noch. Deshalb läßt er womöglich auch den militärischen Gesichtspunkt von Fleischmanns Forschung und Lehre offen. Brockhaus stellt lediglich fest, der Naturwissenschaftler habe »wichtige Untersuchungen« auf seinem Fachgebiet durchgeführt, etwa die »Kerngammastrahlung« betreffend. Der Mann war Atomphysiker. Waren seine Untersuchungen für die Menschheit oder für das deutsche Volk oder vielleicht nur für die deutschen Faschisten und Rüstungsbosse wichtig? Auch das läßt Brockhaus offen. Nach Klee war SA- und Parteimitglied Fleischmann (Beitritt 1933 + 37) vom Regime für »kriegswichtige Untersuchungen« gefördert worden. 1953 sei er noch im Vorstand des Physikalischen Instituts der Uni Erlangen sowie Auswärtiges Mitglied des Max-Planck-Instituts für Kernphysik gewesen. Wikipedia bestätigt Fleischmanns »Kriegswichtigkeit«. Wohl deshalb kassierten ihn bei Kriegsende die Yankees ein und unterhielten sich eine Weile mit ihm, weil sie selber ebenfalls gerne Kriege führten, beispielsweise bald darauf in Korea. Schon 1947 durfte er aber wieder gehen, und zwar an die Hamburger Universität, als Professor. In Erlangen wurde er dann erst 1969 emeritiert. Im ganzen kam der Mann auf 98 Jahre Lebenszeit. Vielleicht hatten ihm die Götter seine Unterschrift unter den Aufruf der »Göttinger Achtzehn« von 1957 angerechnet, die Bundeswehr bitte nicht mit Atomwaffen auszustatten. Schließlich wußten die Yankees viel besser mit den Atomwaffen umzugehen … die bis zur Stunde in deutschen Bunkern schlummern.

Sollten Sie Langweile haben, lesen Sie einmal die gezielt lückenhafte Lobhudelei, die sich Gottfried Landwehr 2002 im Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissen-schaften erlauben durfte. Zu den Leckerbissen zählt die Bemerkung, als Fleischmann 1947 den Hamburger Lehrstuhl für Experimentalphysik übernommen habe, sei das Institut bedauerlicherweise »auf Grund von Kriegsschäden in einem desolaten Zustand« gewesen … Das folgende Pdf ist nur indirekt, über eine Suche nach der genannten Quelle, erreichbar: https://badw.de/fileadmin/nachrufe/FleischmannRudolf.pdf.



Über die Einträge zum Schriftsteller und begeisterten Ostlandreiter Walter Flex (1887–1917) sowie den deutschen Großkapitalisten Friedrich Flick (1883–1972) kann ich nicht meckern. Flex habe ich, möglicherweise erheiternd, in meiner neulich verfaßten Miesen Zelle Straßenterror gestreift.



Dagegen muß ich die einleitende Brockhaus-Behauptung, der bekannte Fliegenpilz mit dem meist weißge-sprenkelten roten Hut sei »sehr giftig«, unerschrocken zurückweisen. Hier wirkt traditionsreiche Panikmache gegen Drogen nach. Damit will ich keineswegs die Giftigkeit des lustigen Pilzes leugnen. Aber Brockhaus selber ringt sich noch zu dem Hinweis durch, diese Waldfrucht zähle zu den »ältesten Halluzinogenen des Menschen«. Es kommt also auf die Dosierung an, wie so oft. Der hessische (Naturschutz-)BUND gibt schon fast eine Entwarnung aus, wenn er auf seiner Webseite* verkündet: »Im Gegensatz beispielsweise zum Knollenblätterpilz, der schon in geringer Dosis zu tödlicher Vergiftung führt, ist der Fliegenpilz eher harmlos. Ein gesunder erwachsener Mensch müsste schon eine Mahlzeit zu sich nehmen, die aus mindestens einem Kilogramm Frischpilzen bereitet wurde, um in Lebensgefahr zu geraten.« Was die »antörnende« Wirkung des Fliegenpilzes angeht, wird sie recht hübsch, wie ich hoffe, durch einen Titel unserer Platte Leon besungen. Forschen Sie ruhig einmal nach. Die Platte dürfte in deutschen Wäldern und Haushalten sogar ungleich seltener sein als der Pilz.

* https://www.bund-hessen.de/arten-entdecken/fliegenpilz/



13. Februar 5721. Bei Ausgrabungen am Thüringer Wald im ehemaligen Deutschland des Planeten Erde sind MarsianerInnen erneut auf ein merkwürdiges Phänomen gestoßen. Altmodische Wege, die dort meist Feldwege hießen, zeigen zumindest streckenweise sogenannte Fliesen – nur sind diese durchweg zertrümmert, bestehen also im Grunde lediglich aus Scherben. Bis dahin wußten unsere Fachleute gar nicht, daß man die deutschen Feldwege gefliest hatte. Ein solcher Straßenbelag mutet ja auch wirklich genauso seltsam wie unbeholfen an. Offensichtlich wurden damals Fliesen verlegt, die nur geringe Belastungen vertrugen, sodaß sie bei der ersten Begegnung mit Pferdehufen oder Offroaderrädern brachen. Aber dann fand man den Bruch vielleicht ganz schick, so wie manche Mosaike, und ließ die Fliesen kurzerhand liegen …

Ob Fliesen schon zu Brockhaus‘ Zeiten als »Bauschutt« galten, der anständig (mit Gebühren belegt) zu entsorgen sei, möchte ich gar nicht untersuchen. Ich will auch nicht abstreiten, daß der Mensch seit der Antike schon viele reizende Boden- oder Wandfliesen hervorgebracht hat. Nimmt man gleich noch andere Wandbeläge hinzu, wie etwa Papiertapeten, Seidenstoffe, Teppiche oder Bahnen aus Krokodilleder, könnte man aus dem Staunen kaum noch herauskommen. Unter volkswirtschaftlichen und moralischen Gesichtspunkten betrachtet, kommt einen allerdings, wieder einmal, das Grausen an. Jeder Zeitungsleser weiß es: während er in seinem Bad drei wunderschöne Jugendstilkacheln verklebt hat, sind auf diesem Planeten bereits die nächsten paar Tausend Kinder und Großmütter verhungert. Wer den Gesamtwert der bisherigen menschlichen Boden- und Wandbelagspro-duktion in Dollar angeben wollte, müßte mit riesigen Zahlen operieren, die eigentlich schon bei der Berechnung des US-Militärbudgets (2022: 877 Milliarden) an ihre Grenzen stoßen.

Der kürzlich von mir erwähnte Dachs aus dem Jugendbuch Der Wind in den Weiden vertritt folgenden Standpunkt. »Wollte ich meine Höhlenwände mit so einem Kunstmüll zukleistern, wäre ich ja schon blöd, weil ich mich damit des würzigen Duftes von Kiefernwurzeln, Trüffeln und dergleichen mehr beraubte. Nein, mein geblümter Schlafrock genügt mir. Will ich ihn unbedingt in Ruhe und mit Wohlgefallen mustern, spanne ich ihn eben zwischen ein paar Pflöcken an einer Höhlenwand aus. Das mache ich mitunter auch, sofern sich einmal Besuch angesagt hat.«



Vom niederländischen Maler Govert Flinck bildet Brockhaus das Gemälde Isaak segnet Jakob von 1638 ab. Es ist ein beliebtes Sujet, und möglicherweise kennen Sie die zugrundeliegende, alttestamentarische Geschichte. Mir scheint sie mehrere, erstaunlich früh erkannte wesentliche Grundzüge des Menschen zu versinnbildlichen. Für Bibel-verächterInnen: Jakob und Esau waren Zwillingsbrüder. Esau rutschte jedoch ein paar Sekunden früher als Jakob aus Isaaks Weib Rebekka, womit er als »Erstgeborener« und damit auch als zukünftiger Erbe seines Vaters Isaak galt. Der listige Jakob schaffte es allerdings, ihm zunächst das Erstgeburtsrecht gegen ein Linsengericht abzuluchsen. Jetzt fehlte Jakob nur noch der Segen seines leider schon blinden Vaters, der im übrigen bereits auf dem letzten Loch pfiff. Diesen Segen erschlich er sich auf Anraten seiner durchtriebenen Mutter, die ihn bevorzugt liebte, indem er sich Ziegenfellstreifen um Hals und Hände wickelte. Jetzt nahm der tastende Alte an, er habe den rauhhäutigen Esau vor sich, seinen »Erstgeborenen«. Ja, log Jakob, der bin ich. Damit hatte er Isaaks Segen und die großartige Aussicht in der Tasche, Stammvater des Volkes Israel zu werden.

Der beiden ersten Grundzüge liegen auf der Hand: Für meinen Eigennutz tue ich alles, Fallenstellen und schamloses Lügen eingeschlossen. Daraus ergibt sich fast wie von selbst: Die Menschen empfinden sich ungern als Brüder, lieber als Konkurrenten. Etwas verborgener liegen die Sucht nach Rangfolgen und eine Kleinkariertkeit, die jede Wette auch das Wohlgefallen des Gothaer Korinthenzählers Ernst der Fromme gefunden hat. Für diese Gemütsverfassung muß die Feststellung, wer der Erste sei, vordringlich getroffen werden. In diese Reihe gehören auch die Größten und die Erfolgreichsten – die folglich stets auch die Reichsten sind. Dabei werden diese Feststellungen unerbittlich mit Zollstock, Stoppuhr und Goldwaage getroffen. Niemand käme auf die Idee, jene Sekunden, die Jakob im Geburtskanal das Nachsehen einbrockten, seien vielleicht unerheblich, da sowieso haarsträubenden Zufällen entspringend. Wer wählt schon seine Geburt oder seinen Planeten? Niemand wagt den Vorschlag, auf Erstgeburtsrecht und Erbe zu scheißen, vielmehr sich den ganzen Kuchen kurzerhand zu teilen. Ausnahmen sind eine Handvoll Kommunisten und ein Teelöffel voll Anarchisten. Die werden natürlich leicht untergebuttert.



Ich übergehe die von Brockhaus gewohnt freundlich behandelten Nazifreunde Wilhelm Flitner (Pädagoge), Fritz Flügel (Neurologe) und Henrich Focke (Flugzeugbauer) und weise ersatzweise auf ein Interview hin, das Wladimir Putin soeben, am 6. Februar, dem US-Journalisten Tucker Carlson gewährt hat. Die Junge Welt bringt Auszüge.*

Danach nennt der russische Staatschef die »Entnazifi-zierung« der Ukraine erneut das vordringliche, noch nicht erreichte Ziel des gegenwärtigen Krieges am Don. Darunter möchte er ausdrücklich »ein Verbot aller dortigen neonazistischen Bewegungen« verstehen. Das ist natürlich grober Unfug. Aber Staatschefs lieben eben Verbote. Noch nie haben Verbote verwerfliches oder auch nur mißliebiges Gedankengut aus menschlichen Köpfen vertrieben. Das war bereits Rudi Dutschke klar. Es steht jedoch zu fürchten, am Arbeitersohn Wladimir, geboren 1952, ist die Aufklärung stets vorüber gegangen. Jenes schlechte Gut erwächst einem bestimmten Sumpf, und den muß man trockenlegen, sofern man ernstlich etwas ausrichten will. Wenn in Deutschland zur Stunde auf allen Kanälen gegen die AfD gewettert wird, kann ich nur lachen. Das sind Ablenkungsmanöver, die sich gewisse Holzköpfe ausgedacht haben, auf die Putin sogar noch recht hübsch zurückkommt. Schafft also bitte nicht die AfD, vielmehr Deutschland und den ganzen angelsächsisch-russisch-chinesischen Kapitalismus ab. Die Konkurrenzgesellschaften müssen weg. Wie man sieht, kann ich hier nahtlos das Anti-Jakob-und-Esau-Programm predigen.

Ferner stellt Putin, an der Duldung des Nord-Stream-Anschlages und der Folgeschäden für Deutschlands Wirtschaft aufgehängt, völlig richtig fest, »die heutige Regierung Deutschlands lässt sich nicht von den nationalen Interessen leiten, sondern von denen des kollektiven Westens.« Er vermeidet nur das Wort ArschkriecherInnen. Dann wird er jedoch konkreter:

>Auch durch die Ukraine, in die die Deutschen Waffen und Geld pumpen, verlaufen zwei Gasleitungen. Die Ukrainer haben die eine einfach gesperrt. (…) Ich verstehe nicht, warum Deutschland der Ukraine nicht sagt: »Hört zu, Leute, wir zahlen euch einen Haufen Geld, also öffnet bitte die Ventile und lasst russisches Gas zu uns durch. Wir kaufen Flüssiggas dreimal so teuer anderswo ein, das ruiniert die Grundlagen unserer Wettbewerbsfähigkeit. Wenn ihr wollt, dass wir euch finanzieren, dann sorgt dafür, dass wir dieses Geld auch erwirtschaften können.« Nein, das machen sie nicht. Warum, das können Sie die Deutschen fragen. (Schlägt auf den Tisch) Genau dieses Holz haben sie dort im Kopf. Dort regieren ausgesprochen inkompetente Leute.<

Das ist sicherlich einigermaßen zutreffend und deutlich, wenn auch nicht gerade sehr diplomatisch ausgedrückt. Bezeichne ich in der Kommunszene einen Widersacher als Holz- oder Strohkopf, habe ich jede mögliche Brücke zu ihm zertrümmert. Und so gänzlich aus Holz oder Beton sind Habeck, Baerbock, Scholz & Konsorten wohl kaum. Putins Wertung muß sie beleidigen, um nicht zu sagen, tief kränken. Am besten, sie legen sich zu Hause ins Bett und stehen nie mehr auf.

* https://www.jungewelt.de/artikel/469005.russland-und-der-westen-holzköpfe-in-berlin.html, 10. Februar 2024



Der nächste harmlose, im übrigen frühverstorbene Maler ist der Süddeutsche Carl Philipp Fohr (1795–1818). Brockhaus verrät immerhin, er sei in Rom im Tiber ertrunken. Und warum? Im Internet wird diese Formel von fast jedem Ochsen wiedergekäut. Zuweilen wird sogar angereichert verkündet, der junge Künstler sei beim Baden im Tiber ertrunken. Unter welchen näheren Umständen, ist jedoch, folgt man dem Mediziner und Essayisten Wolfgang Schmidt, nie untersucht worden. Alle vorhan-denen Berichte stützten sich lediglich auf Hörensagen und Mutmaßungen, behauptet der 1932 geborene Facharzt für Innere Medizin und Physiologie, der den Fall offensichtlich (2012) sehr gründlich durchleuchtet hat.*

Fohr war erst 22. Seine Leiche hatte man, Schmidt zufolge, am vierten Tag nach dem Unglück gefunden, am 3. Juli 1818. Sie war zwei Gehstunden flußabwärts an einem Ufergebüsch hängen geblieben. Einige Künstler hatten in der Tat gebadet, zu viert wohl, und Fohr war unvermittelt und äußerungslos umgesackt und weggetrieben, obwohl er wahrscheinlich des Schwimmens mächtig war. Carl Barth, der gleichfalls schwimmen konnte, versucht ihn noch zu erreichen – vergeblich. Die Kameraden sind bestürzt oder geben sich jedenfalls so. Und nach dem Auftauchen der Leiche bekommt der Nachwuchskünstler, der damals schon mit dem bekannten Kreis deutsch-römischer »Nazarener« um den Kollegen Friedrich Overbeck liebäugelte, noch am selben Tage, unter Verzicht auf eine Obduktion, ein erstaunlich, ja verdächtig prächtiges Begräbnis, während bereits die unterschiedlichsten Gerüchte über sein Ende durch die römischen Gassen und über die Tische des Künstlercafes Greco laufen. Fohr selber hatte die Stammgäste noch kurz vor dem Unglück auf einer Skizze für ein Ölgemälde festgehalten, deren Abbildung sich inzwischen in etlichen Büchern findet.

Fohr galt vor allem als begabter (romantischer) Landschafter. Sein Kunststudium in München hatte er 1816 abgebrochen, um noch im selben Jahr, von der »Erbprinzessin« Wilhelmine von Hessen-Darmstadt unterstützt und seiner Dogge Grimsel begleitet, den damals schon beinahe unumgänglichen Fußmarsch gen Italien anzutreten. Vom Militärdienst war der schmale, etwas rachitisch gebeugte Fohr befreit worden. Seine vermutlich braunen oder blonden Locken trug er schulterlang. In Rom führt ihn Studienfreund Ludwig Ruhl sofort in die Künstlerkreise ein. Später überwerfen sich die beiden miteinander, tragen wahrscheinlich sogar, auf einem Kirchhof, ein Pistolen-Duell aus, wenn auch eher als Farce. Der Grund war laut Schmidt ein Streit um Grimsel, doch der arme Vierbeiner gab wohl eher einen schon länger gesuchten Vorwand ab. Schmidt sieht gewisse Anhaltspunkte dafür, daß Fohr und andere, darunter Ruhl, homosexuell gestimmt waren und mit entsprechenden Eifersüchten oder Enttäuschungen zu kämpfen hatten. Aber es gibt keine deutlichen Belege. Grundsätzlich fällt über Fohrs gesamtes Liebesleben oder -sehnen in sämtlichen, fragwürdigen zeitgenössischen Quellen kein Wort. Gewiß: er hat eine Dogge – besser als gar nichts.

Gleichwohl sieht Schmidt keine Anhaltspunkte für eine wirkliche »Depression«, die Fohr womöglich veranlaßt haben könnte, sich selbst (den Schwimmer) zu ertränken. Ebensowenig glaubt der Arzt jedoch daran, man habe Fohr, warum auch immer, am verhängnisvollen Badetag in den Tiber gestoßen oder auch nur beim Absaufen im Stich gelassen. Die Quellen erwähnen Krankheitsanzeichen und längere Krankenlager des Romgastes Fohr, die den Verdacht nähren, er habe sich, durch Mücken aus den dortigen Sümpfen beigebracht, mit einer Malaria abgeplagt. Damit war er in Rom zweifelsohne kein Ausnahmefall, aber nun kam an jenem heißen Junitag, vielleicht, das Bad im Tiber hinzu. Schmidt nimmt an, der auch innerlich erhitzte, zudem allgemein geschwächte Fohr sei im hüfthohen kalten Wasser auf Steinen ausgeglitten, rücklings ins Wasser gekippt, und dadurch habe er eine sogenannte »vagale Reaktion« erlitten – laienhafter ausgedrückt: Schrecken, Schock, Bewußt-seinsausfälle, Wasserschlucken, völliger Bewußtseins-verlust. Dabei sei er schon von der Strömung erfaßt worden und gleich darauf ertrunken. Die eingangs gerügte Formel ist also korrekt.

* Rom, Wien, die Musik und das Kranksein: Vier Essays, Hamburg 2012, S. 9–74



Die Schwarzwaldgemeinde Forbach (bei Baden-Baden) liegt im Tal der Murg. Eben diesen Fluß überquert dort eine recht alte und berühmte überdachte Holzbrücke, auf die sogar Brockhaus in seinen fünf Zeilen hinweist. Sie darf auch von Autos benutzt werden. Trotz ihrer Spannweite von fast 38 Meter kommt sie ohne Mittelpfeiler aus, sodaß sie vor Hochwasser geschützt ist. Wovor nun die Überdachung schützen soll, fragt man sich im ersten Augenblick vielleicht vergeblich. Im Dorf und im Wald müssen sich die Leute vom Regen durchnässen lassen, nur auf der Holzbrücke nicht? Im nahen Freudenstadt gibt es immerhin ein paar Laubengänge am Marktplatz, aber das ist nur den schicken Cafes und Boutiquen geschuldet, nehme ich an. Fällt der Fußgänger im Suff von der Brücke in die Murg, nützt ihm die Überdachung auch nicht gerade viel. Einige Webseiten führen jedoch mindestens zwei fadenscheinige Gründe an. Die Überdachung schütze das Gebälk vor Verwitterung, und dem Vieh, das man früher über die Brücke trieb, flöße die Überdachung Vertrauen ein, weil es sich auf dem Weg in den Stall wähne. Dazu möchte ich nur bemerken, schlechtes Wetter schlägt vermutlich auch im Schwarzwald auch von den Seiten her auf die Brücke. Man müßte sie also rundum verkleiden. Dann hätte man freilich einen Tunnel und müßte ein paar Fenster einbauen. Dem Stallvieh käme das sicherlich entgegen, während es den Autos eher gleichgültig sein dürfte. Sie drehen einfach die Scheinwerfer an. Nur die PR-Chefin des Landkreises wäre stinksauer, weil wieder eine einträgliche »Sehenswürdig-keit« den Bach herunter gegangen wäre. Wer besucht schon in der Luft hängende Tunnels!



Die beiden folgenden Personen fehlen im Brockhaus. Wahrscheinlich ist das nur im ersten Fall bedauerlich. Der estnische Pädagoge Bengt Gottfried Forselius (1660–88), um 1660 bei Tallin als Sohn eines finnlandschwe-dischen Pfarrers geboren, wurde zum Begründer des estnischen Volksbildungswesens. Nach einem Studium der Rechtswissenschaft in Wittenberg widmete er sich der Unterrichtung estnischer Bauernkinder nach neuen Methoden, die auf Johann Amos Comenius zurückgingen. Dabei stützte er sich auf zahlreiche eigenhändige Übersetzungen religiöser und weltlicher Texte ins Estnische, außerdem vereinfachte er die Schreibweise des Estnischen und entwickelte das erste estnische ABC-Buch. 1684 gelang es ihm sogar, in Bischofshof bei Dorpat (Tartu) eine von ihm geleitete Schule zu eröffnen, die sich auftrug, junge Werktätige innerhalb zweier Jahre zu Volksschullehrern auszubilden. Neben Lesen und Schreiben wurde Deutsch, Religion, Gesang, Rechnen und Buchbinden unterrichtet. Dieses »Lehrerseminar« wie auch die überall entstehenden »Kirchspielschulen« erfreuten sich der Unterstützung des livländischen Generalsuperintendeten Johann Fischer und damit auch des schwedischen Staates, nicht dagegen des deutschbaltischen Adels. Für dessen Empfinden genügte es, wenn Bauernkinder Kartoffeln lesen und genau bezeichnete Bäume fällen konnten.

Das Verhängnis für Forselius lauerte allerdings nicht auf der heimatlichen Scholle. Im Sommer 1688 reiste er auf Einladung des schwedischen Königs nach Stockholm, um seine »fortschrittlichen« volksnahen Lehrmethoden vorzustellen. Seine eigens mitgereisten Schüler Ignati Jaak und Pakri Hansu Jüri beeindruckten König Karl XI. genug, um Forselius zu einer Art Schulinspektor für Livland zu ernennen und mit entsprechenden Befugnissen auszustatten. Doch auf der Rückfahrt im Spätherbst des Jahres geriet Forselius‘ Schiff auf der Ostsee in einen Sturm – der ungefähr 28jährige Pädagoge ertrank, angeblich am 16. November 1688. Trotz dieser Zeitangabe ist über das Unglück so gut wie nichts in Erfahrung zu bringen. 1827 war in einem Nachschlagewerk zu lesen*, neben Forselius seien sämtliche »Passagiere« des Schiffes umgekommen, was hieße, auch seine beiden Vorzeigeschüler. Der Name des Schiffes wird nicht genannt.

* J. F. von Recke / K. E. Napiersky / Th. Beise: Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexicon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland, Band 1, Mitau 1827, S. 596



Wie vielleicht nicht jeder weiß, glich Deutschland im späten Mittelalter einem mehr oder weniger zerschlissenen, handgeknüpften Teppich aus knapp 1.800 Zwergstaaten. Viele von ihnen waren kaum einen Fingerhut groß. Allerdings änderte sich das Teppichmuster ständig, weil Erb- oder andere Streitigkeiten zu Besitz- und Thronwechseln oder Neuaufteilungen führten. In der Regel wechselten dann auch Religion, Gesetze, Währung, Gewichte, Steuern und so weiter. Das waren natürlich Hochzeiten für blaublütige Kämpfernaturen und Schlawiner aller Art.

Was den badischen Markgrafen Eduard Fortunat (1565–1600) betrifft (abgeleitet von Fortunatus), malen ihn die gängigen Quellen, voran die deutsche Wikipedia, als Oberschurken und einzigartigen Lasterlumpen, obwohl es schwerlich stichhaltige Beweise dafür geben dürfte, daß er verderbter als das übrige Adelspack war. Aber auf was, Wahrheit eingeschlossen, verzichtet man nicht alles um einer schönen, kräftig kolorierten Geschichte willen! Der »liederliche« Eduard, geboren 1565, war zunächst als Knabe von 10 Jahren durch den Tod seines Vaters Christoph II. lediglich in den Genuß der kleinen Markgrafschaft Baden-Rodenmachern gekommen. Residenz war ein trutzig befestigtes Schloß im Städtchen Rodemack, das südlich von Luxemburg unweit der Mosel und heute in Frankreich liegt. Eduard galt schon früh als umtriebiger, im Grunde gottloser Schürzenjäger, der Ausschweifungen über alles stellte und zu deren Finanzierung weder vor Steuererhöhungen noch anderen kriminellen Maßnahmen zurückschreckte. Das ging angeblich bis zum Geldfälschen und bis zur Wegelagerei.

Die Markgrafschaft Baden-Baden kam »erst« nach dem Tod eines Cousins an Eduard, als er 23 war. Nun saß er im »Neuen Schloß« der gleichnamigen Stadt am Schwarzwald – sofern er nicht unterwegs war, etwa zu den Höfen in Brüssel oder Stockholm. Sechs Jahre darauf, 1594, mußte er seine schwarzwäldische Warte allerdings schon wieder preisgeben: Ernst Friedrich von Baden-Durlach (Karlsruhe) nutzte eine Abwesenheit seines reiselustigen Vetters Eduard dazu, die benachbarte Grafschaft Baden-Baden entgegen kaiserlicher Gebote kurzerhand zu besetzen und dadurch, wie er nach noch heute geschätztem Muster behauptete, vorm Verderben zu retten. Dem lieben ehrgeizigen Verwandten hatte schon Eduards »standes-ungemäße« Vermählung mit der Kaufmannstochter Maria von Eicken mißfallen. Ein von Ernst Friedrich eigenhändig verfaßter umfangreicher »Bericht« und verschiedene »Prozeßprotokolle« sprechen von zahlreichen anderen angeblichen Schandtaten des Vetters, Zauberei und mehrere fehlgeschlagene Mordanschläge auf Ernst Friedrich selber eingeschlossen. Zwei »geständige« Spießgesellen des Vetters, Francesco Muskatelli und Paul Pestalozzi, läßt der neue Markgraf öffentlich hinrichten, wobei er in seiner Gnade darauf verzichtet, sie urteilsgemäß bei lebendigem Leibe zu vierteilen – dies geschah, nach der Enthauptung mittels Schwert, erst mit den Leichen. Die Einzelteile wurden in mehreren Durlacher Straßen ausgehängt.

Urte Schulz füllte kürzlich ein ganzes Buch über Das schwarze Schaf des Hauses Baden* nicht unbeträchtlich, indem sie bedenkenlos und seitenlang aus den genannten, für mein Empfinden durchaus fragwürdigen »Dokumenten« zitiert, die sich womöglich der Folter (als wahrlich »peinliche außag«, Seite 131) der Beschuldigten verdankten, mindestens aber der Befangenheit des siegreichen Markgrafen, der Erpreßbarkeit der ihm hörigen Amtspersonen und ganz allgemein der blühenden Gerüchteküche der damaligen abergläubischen Zeiten. Immerhin führt sie später, ab Seite 168, selber einige Beispiele anderer zeitgenössischer Herrscher an, die Eduard in der angeblichen Lasterhaftigkeit kaum nachstanden. Nur Ernst Friedrich nimmt sie von diesem Generalverdacht merkwürdigerweise aus. Zu den Strolchen zählt Schulz auch den beleibten sächsischen Kurfürsten Christian II. (1583–1611), der sich im Sommer 1611, erst 27 Jahre alt, nach einer sportlichen Betätigung in seiner Dresdener Residenz nicht ausreichend zügeln konnte und in seinem erhitzten Zustand einige Liter kalten Bieres in sich hineingoß. Daraufhin habe ihn der Schlag getroffen.

Das Ende Eduards, inzwischen 34, war genau 11 Jahre früher gekommen. Es soll ähnlich lustig gewesen sein. Bewiesen ist dieser Zug keineswegs, denn der einzige angebliche Augenzeuge war ein gleichfalls befangener Mann, Eduards Mitregent in der ihm noch verbliebenen sponheimischen Herrschaft, der Graf Karl von Pfalz-Zweibrücken-Birkenfeld. Eduard hatte ihn in die Burg des Hunsrück-Städtchens Kastellaun eingeladen, wo er nun notgedrungen residierte. Am fraglichen Juniabend hatten sich die beiden Grafen erneut bei einem Fäßchen Mosel-wein zusammengesetzt, um einige »Unstimmigkeiten« zu bereden, die zwischen ihnen entstanden und der Hauptgrund des Besuches waren. Als sich Eduard übermüdet, vielleicht auch überfüllt in sein Schlafgemach zurückziehen wollte, sei er, so der Pfalzgraf in seinem Bericht, auf einer steilen, steinernen Treppe ausgeglitten und abgestürzt. Schwer verletzt, habe Eduard »Fortunatus«, der Glückliche Burgherr also, wenige Stunden später sein Leben ausgehaucht. So ein Pech – oder sollte es eher das Glück des Überlebenden gewesen sein, der womöglich im richtigen Augenblick ein wenig nachgeholfen hatte?

* Gernsbach (Casimir Katz Verlag) 2012



Bei geringfügiger Abweichung vom Alphabet beschließe ich die Folge mit einem US-Songschreiber, über den man nicht unbedingt Romane schreiben muß. Im Brockhaus hat Stephen Foster (1826–64) immerhin 10 Zeilen. In seiner Blütezeit, um 1850, war der weiße Pianist aus Pennsylvania einer der ersten professionellen Liedermacher der USA und auf jeden Fall der berühmteste. Von ihm stammen solche herzergreifenden, nie das Hirn überanstrengende Hits wie Oh Susanna (1847) und My Old Kentucky Home von 1853 (seit 1928 offizielle Landeshymne) – allesamt mit mehr oder weniger starkem rassistischem Touch, denn so war die Zeit. Als er 1860 nach New York City ging, war sein Stern bereits im Sinken. Kurz darauf verließen ihn Frau und Tochter. Die Songs hatten ihn aufgrund des noch unterentwickelten Autorenschutzes nie reich gemacht, und jetzt verarmte er geradezu. Angeblich hatte der 37jährige Künstler nur noch 38 Cent in der Tasche, als man ihn in den Sarg legte. Das klang sicherlich erfreulich liedhaft. Foster hatte sich in einer Absteige im Manhattaner Theaterviertel einquartiert, trank viel und bekam auch noch Fieber. Es war Mitte Januar 1864. Beim Versuch, das Zimmermädchen zu verständigen, brach der fiebernde Gast zusammen und schlug mit dem Kopf gegen das Waschbecken, das dadurch zersprang. So stellt man sich die Szene jedenfalls meistens vor. Demnach hatte Foster nicht nur seine leichten Songs in seinem Kopf gehabt. Die Trümmer des Waschbeckens brachten Foster zusätzliche Verletzungen bei. Man fand ihn drei Stunden später, vermutlich bewußtlos, und nach drei Tagen im Krankenhaus war er in sein Old Kentucky Home eingegangen*, falls der University of Pittsburgh, PA, vertraut werden kann.**

* Randy Newmans bissige Anverwandlung auf seiner Platte 12 Songs von 1970: https://www.youtube.com/watch?v=guW0r8R4DQE
** Christopher Lynch, »The Life and Music of Stephen Collins Foster«, o. J.: https://library.pitt.edu/foster-biography

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