Mittwoch, 7. Dezember 2022
Nasen Dietsch—Gogh

Dietsch, Andreas (1807–45), schweizer Bürstenbinder und US-Kommunarde. Der sozialistisch gestimmte Handwerker war die treibende Kraft des Versuchs, mit zukünftigen Kommunarden in die USA auszuwandern, um dort die Siedlung New Helvetia / New Aarau zu gründen. Die Auswanderung gelang, und zwar im Jahr 1844 mit 43 Teilnehmern. Die »Kommune« dagegen löste sich schon im folgenden Jahr endgültig auf, nachdem sie, durch Blauäugigkeit, Erschöpfung, Krankheit, Geldmangel, Wintereinbruch und den üblichen Streit unaufhaltsam zerbröckelt und ihr vielfach gebeutelter Anführer (wohl Anfang 1845) gestorben war. Man hatte am Osage River in Missouri, westlich von St.Louis, Land gekauft, das freilich nur noch von sieben Erwachsenen und elf Kindern erreicht worden war. Der 37jährige Bürstenbinder und Chef-Organisator war vermutlich völlig ausgelaugt, vielleicht auch, wie manche andere, durch Fieber geschwächt, und wahrscheinlich verbittert. Halder/Limmat schreiben, man wisse nichts von den näheren Todesumständen Dietschs, und dabei werde es wohl auch immer bleiben. Das ist das eine Erschreckende: diese Schlampigkeit oder Gleichgültigkeit vieler Beteiligter, Nold Halder und den Limmat-Verlag eingeschlossen, der ja immerhin eine Literaturliste gibt und Wilhelm Weitlings Besuch in Iowa (1851) erwähnt. Dietsch war mit dem kommunistischen Agitator bekannt gewesen. In Iowa hatten ein paar Schiffbrüchige vom Osage River erneut eine Kolonie gegründet, Communia. Auch sie hielt nicht lange. Übrigens hatte Dietsch zwei kleine Töchter mit auf die Auswanderung genommen. In seinem Tagebuch werden sie gelegentlich erwähnt; von ihrem weiteren Schicksal erfährt man jedoch auch von Halder oder den Verlagsleuten nichts.* Irre ich mich nicht, wissen wir von der älteren Tochter noch nicht einmal den Namen. Sie soll bereits, wie ihr Vater, wenige Monate nach der Ankunft in Missouri gestorben sein** – ein böses Erwachen im Märchenland USA.

Immerhin: drei Jahre vor den Neujahrsblättern von 2017 bot bereits eine schweizer Zeitung*** einen Schimmer von Recherche an. »In alten Grundbüchern ist der Landkauf von Andreas Dietsch und anderen Mitgliedern der Auswanderungsgruppe bestätigt. Ebenso aktenkundig ist, dass die jüngere Tochter von Dietsch namens Rosetta, die nach dem raschen Ende von Neu Aarau nach Iowa weitergewandert war, das väterliche Land am Osage River 1859 verkaufte.« Vielleicht hatte sich Rosetta der erwähnten Communia im Clayton County angeschlossen, die allerdings, wie eben angedeutet, im Lauf der 1850er Jahre zerfiel. Für 1859 gibt Mary Lou Schulte**** als Aufenthaltsort Rosettas das Madison County in Illinois an. Ansonsten werden die Mädchen von Schulte (2010) nicht erwähnt. Gleichwohl liegen damit wenigstens ein paar Anhaltspunkte für eine echte, sicherlich nicht ganz billige Spurensuche vor. Nebenbei: Rosettas Mutter, Susanna geb. Hagnauer, war bereits in Aarau gestorben, wohl 1843, mit 35, bei oder nach der Geburt des dritten Kindes.

Das andere Erschreckende ist die Ignoranz, die Dietsch und offensichtlich auch seine MitstreiterInnen der Indianer- und Sklavenfrage entgegenbringen. Die ist mit der Einfalt von Dietsch und anderen nicht zu entschuldigen. Allerdings lag sie leider ganz im kolonialen Trend jener Epoche, wenn ich mich nicht täusche. Auch die angeblich revolutionär gestimmten Geister unter den Auswanderern hatten keine Bedenken, ihre neuen Siedlungen und andere höchst demokratische Projekte, darunter Verlagshäuser, auf gestohlenem, mit Indianerblut getränktem Grund zu errichten. Sie wollten Freiheit – zunächst einmal für sich. Das Ergebnis sehen wir heute. Das ganze wiederholte sich übrigens knapp 100 Jahre nach Dietsch, als tausende von verfolgten Antifaschisten ihr Heil im angeblichen Hort der Demokratie suchten – ihr Heil. Dem eigenen Anspruch zuwider wirkten sie auf diese Weise sowohl an der Legitimierung wie an der Kräftigung des US-Imperialismus mit, ob als Geschäftsleute, KünstlerInnen, Professoren.

* Dietschs schmales Tagebuch wurde 1978 unter dem Titel Die groß-artige Auswanderung des Andreas Dietsch und seiner Gesellschaft vom Züricher Limmat-Verlag herausgegeben. Darin findet sich auch Nold Halders Studie über Dietsch, die wohl zuerst in den Aarauer Neujahrsblättern 1960/61 erschienen war. Halder starb 1967. Leider kommen, soweit ich sehe, jüngere US-Publikationen nicht erheblich über das Limmat-Buch hinaus.
** Heidi Hess / Rudolf Iten, »Auf den Spuren von Andreas Dietsch«, Aarauer Neujahrsblätter, Band 91 (2017), S. 96–103: https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=anb-001:2017:91::183#93. Für Iten hieß die überlebende Tochter Rosina. Wer sich hier irrt, weiß der Himmel.
*** Heinrich Rauber, »Vor 150 Jahren wollte Aarauer eigenes Reich gründen – nun wird er geehrt«, Aargauer Zeitung, 30. Juni 2014
**** »New Helvetia: The dream that died«, im Newsletter der Osage County Historical Society, Linn, Missouri, USA, Januar 2010




Distler, Hugo (1908–42). Der aus Bayern stammende Organist und Komponist wird zumeist als wichtiger Erneuerer der evangelischen Kirchenmusik seiner Zeit, zudem rastlos tätiger und mitreißender Mann gerühmt. Nun ja. 1940 schuf er für das Chorliederbuch der Wehrmacht unter anderem das Werk für Männerchor Morgen marschieren wir in Feindesland. Im selben Jahr wurde Distler, schon seit 1933 Mitglied der NSDAP, Professor an der Berliner Staatlichen Musikhochschule. Im April 1942 übernahm er außerdem die Leitung des Berliner Staats- und Domchors und bezog, da er mit seiner Familie (drei kleine Kinder) ein Haus in Strausberg bewohnte, eine Dienstwohnung in der Nähe des Doms. Allerdings muß er im Apparat nicht nur Gönner gehabt haben. Fünfmal hatte er den Gestellungsbefehl der Wehrmacht abwenden können, doch am 14. Oktober 1942 kam die sechste Aufforderung. Am 1. November 1942 begab sich der 34jährige Professor nach dem Gottesdienst im Dom zu seiner Dienstwohnung in der Bauhofstraße und brachte sich um.

Wie, läßt sich der sogenannten Offiziellen Hompage Hugo Distler (Stand November 2016) nicht entnehmen. Einige andere Quellen sprechen davon, Distler habe, vermutlich in seiner Küche, »den Gashahn aufgedreht«. Gottseidank ist nirgends zu lesen, das ganze Wohnhaus oder der ganze Dom seien in die Luft geflogen. Es mißlang mir übrigens festzustellen, ob die Offizielle Homepage von Distler persönlich oder dem Berliner Senator für Kultur und Erbauung genehmigt worden ist. Was die Motive für Distlers Selbstmord angeht, vermutet Nick Strimple (2002) laut englischer Wikipedia, mehr als staatliche Repression habe dem Komponisten der eigene Gewissensdruck zugesetzt – und die Befürchtung, auf Dauer sei es nicht möglich, zugleich den Nazis und Gott zu dienen. Vielleicht ist dem kalifornischen Dirigenten und Autor nicht bekannt, daß es anderen durchaus möglich war, beispielsweise den Bischöfen Theophil Wurm und Otto Dibelius.

Andere, offiziellere Quellen verweisen dagegen stets auf Distlers starke Lebens- und Versagensängste, die dem »unehelich« Geborenen von Kind auf zugesetzt hätten. Nach Jürgen Buch* leistete sogar das Übliche, nämlich eine Liebschaft, einen nicht unmaßgeblichen Beitrag zu Distlers Verzweiflung. Er war diese Liebschaft in Stuttgart parallel zu seiner Ehe eingegangen, hatte dann aber mit der Berufung nach Berlin dem (Strausberger) Haussegen zuliebe auf sie verzichtet. Distlers Tochter und Biografin Barbara Distler-Harth sei der Ansicht, mit diesem Verzicht habe ihr Vater »den Todeskern in sich gelegt«. Damit sind sowohl Gott wie der Faschismus fein heraus: es war Hugos freier Wille.

* »In der Welt habt ihr Angst«, in: 50 Jahre Hugo-Distler-Chor Berlin, Festschrift aus 2003, S. 7–11: https://hugo-distler-chor.de/wp/wp-content/uploads/2010/08/hdc_festschrift.pdf



Döblin, Wolfgang (1915–40), Mathematiker und Schriftstellersohn. Die Phänomene Zufall und Wahr-scheinlichkeit werden tagein tagaus als Beruhigungspillen oder Schreckgespenster verabreicht. Sie werden auch gern des langen und des breiten erörtert, obwohl sie meines Erachtens von keinem Sterblichen wirklich verstanden werden können. Arthur Koestler stimmte mir vor Jahrzehnten zu.* Die Gesetze der Wahrscheinlichkeit, die in den Naturwissenschaften die Kausalität abgelöst hätten, funktionierten zwar – wie jeder Physiker, jede Versicherungsgesellschaft oder jeder Croupier bezeugen könnte – doch sei niemand imstande zu erklären, wie und warum sie funktionieren. Der große Mathematiker Johann von Neumann habe sie einmal schwarze Magie genannt. »Dabei können wir es belassen.«

Vielleicht darf ich gleichwohl hinzufügen, daß sie vielen inbrünstig Hoffenden oder Bangenden eine Berechenbar-keit vorspiegeln, die es unmöglich geben kann. Der Fluggast etwa beruhigt sich gern mit Statistik. Heute kommen bei Flugreisen jährlich weltweit im Schnitt »nur« 1.000 Leute um – ein magerer Ortsteil von Waltershausen. Bei mehr als vier Milliarden Fluggästen im Jahr liege das Risiko, bei einem Absturz zu sterben, bei rund 0,00001 Prozent, lesen wir etwa im Ratgeber Die Zeit am 10. Juni 2009. O welche Augenwischerei! Wer das Risiko für den Einzelnen wirklich berechnen wollte, müßte selbstverständlich wissen, nach welchen Gesetzen der Zufall verfährt – ein schwarzer Schimmel. Den Zufall interessiert die Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht die Bohne. Das betrifft erst recht solche Unfälle, in denen »Wahrscheinlichkeiten« der Sorte »persönliche Disposition für eine rheumatische Erkrankung« oder »schlechter Ruf der Fluggesellschaft Gurke, die nur Wracks betreibt«, nicht oder kaum im Spiel sind. Niemand kann erklären, warum es den regelmäßigen Fluggast A. erst in 20 Jahren oder nie erwischt, B. dagegen schon bei seiner Jungfernfahrt.

Eine Bemerkung des polnischen Schriftstellers Henryk Sienkiewicz in seinen Briefen aus Amerika dürfte in dieselbe Richtung zielen. Im Sommer 1876 liebäugelt er mit der Bärenjagd und besucht zunächst einen kalifornischen Squatter, der in seinem abgeschiedenen Gebirgstal gerade an einem »richtigen« Blockhaus baut. Die erste Nacht in der Wildnis habe doch arg an seinen Nerven gezerrt, können Sienkiewicz' Landsleute in einer Warschauer Zeitung lesen. Jedes Rascheln schien ihm Skorpion oder Klapperschlange, jedes Fauchen Luchs oder Puma anzukündigen. Mit dem jähen Auftauchen eines funkelnden Augenpaars über der erst hüfthohen Haus-wand rechnend, starrte er von seinem Hobelspänenlager aus, statt zu schlafen, Löcher in die Dunkelheit. »Vielleicht passierte das in tausend Nächten nicht, dennoch konnte es in einer geschehen. Wer garantierte mir, daß diese eine nicht gerade angebrochen war?«

Wolfgang Döblin jagte nicht; er zählte eher zum Wild. Als Sohn des bekannten Schriftstellers Alfred Döblin war er zwangsläufig Jude. Er verstand sich außerdem als Sozialist – in erster Linie jedoch als Mathematiker, wobei er sich just der Wahrscheinlichkeitstheorie verschrieben hatte. In ihr soll er, trotz seiner Jugend, Erstaunliches geleistet haben. Dem Faschismus gemeinsam mit Eltern und Geschwistern über Zürich nach Paris entronnen, studierte er ab 1933 Mathematik und Physik an der Sorbonne. Zudem arbeitete er mit dem angesehenen Wahrschein-lichkeitstheoretiker Paul Lévy von der École Polytechnique, der ohnehin mit seinem Vater befreundet war. Kaum hatte Wolfgang Döblin 1938 (mit 23 Jahren!) seinen Doktor gemacht, rief das Militär, weil seine Familie inzwischen (1936) eingebürgert worden war. Und beim Wehrdienst holte ihn der Faschismus ein. Im Kampf an der Saar-Front errang Döblin, der als eher insichgekehrter Mensch beschrieben wird, sogar eine Auszeichnung. Doch im Juni 1940 wurde seine Einheit in den Ardennen oder Vogesen aufgerieben. Da die Kapitulation Frankreichs, nach den vorhandenen Informationen, unmittelbar bevorstand, trennte sich der 25jährige Döblin von seinen Kameraden und versteckte sich auf einem Bauernhof im lothringschen Dorf Housseras. Aber eben hier traf kurz darauf eine deutsche Vorhut ein, wie er, vielleicht von einem Heuboden aus, beobachten konnte.

Sicher war natürlich nichts. Solange Menschen im Spiel sind, bleibt immer ein Türchen für Ausnahmen von der Regel oder einfach nur für glückliche Zufälle offen. Dennoch war eine Gefangennahme und Folter durch die deutschen Eindringlinge ziemlich wahrscheinlich. So machte der junge Mathematiker eine frühere Ankündigung wahr und erschoß sich in der Scheune des besagten Bauernhofs.

Pikanterweise zogen es seine Eltern im selben Sommer vor, Richtung Lissabon und von dort aus in die USA zu flüchten. Die Mittel dazu hatten sie offensichtlich. Und später hatten sie, Marc Petit zufolge (2005)**, ein schlechtes Gewissen. Sie sollen erst in den Staaten erfahren haben, daß ihr Sohn Wolfgang schon gar nicht mehr kämpfte. Weil er unter der lothringschen Erde lag. Petit behauptet, dieser Gewissenskonflikt sei auch in Alfred Döblins letzten Roman Hamlet oder die lange Nacht nimmt kein Ende eingeflossen. Die Hauptfigur Edward habe Ähnlichkeit mit Wolfgang. Etwas später, 1957, sah sich der tote Sohn auf dem Friedhof von Housseras just von seinen gleichfalls verstorbenen Eltern Alfred und Erna flankiert. Sie wurden neben ihm begraben.

Es ist ein seltsamer Akt der Wiedergutmachung. Stephan Döblin, jüngstes Kind des Ehepaars, bestätigte Petits Feststellung von den Schuldgefühlen der Eltern vor einigen Jahren im Gespräch mit Christina Althen.*** Insbesondere der Vater habe ein schlechtes, ein kühles Verhältnis zu Wolfgang gehabt. Stephan glaubt, dieser Umstand habe die Entscheidung seines Bruder in jener Scheune, sich umzubringen, sozusagen begünstigt. Im übrigen macht Stephan, geboren 1926, keinen Hehl daraus: die Ehe seiner Eltern war seit vielen Jahren zerrüttet. Der berühmte Schriftsteller hatte eine dauerhafte Geliebte, das fand seine Gattin Erna gar nicht lustig. Nachdem Alfred, der unter anderem an Parkinson litt, in einer Schwarzwaldklinik gestorben war, habe sich die Witwe sogar geweigert, Dritte von seinem Ableben zu unterrichten. Die so gut wie unbesuchte Beerdigung sei ein Albtraum gewesen. Gleichwohl vergingen keine drei Monate, und Erna Döblin (1888–1957) machte es wie ihr Sohn Wolfgang: sie nahm sich, in Paris, das Leben, wenn auch »erst« mit knapp 70 Jahren. Näheres, die Gründe eingeschlossen, ist mir nicht bekannt.

* Die Armut der Psychologie, deutsche Ausgabe Bern/München 1980, S. 270
** Laut Ursula Homann, »Wer war Wolfgang Döblin?«, literaturkritik.de, Januar 2007: https://literaturkritik.de/id/10323
*** »Interview mit Stephan Döblin«, Berlin, November 2008: https://www.fischerverlage.de/verlag/aktuelles/unsere-autorinnen-im-gespraech/interview-mit-stephan-doeblin-er-strebte-immer-nach




Dohrn, Wolf (1878–1914), Reformprojekt-Chef in Dresden, beim Skilaufen in der Gegend von Chamonix (Walliser Alpen) verunglückt. Die berühmte »Gartenstadt« Hellerau, damals vor den Toren Dresdens, wurde 1909 vom lebensreformerisch gestimmten Möbelfabrikanten Karl Schmidt gegründet. Wichtiger Bestandteil waren Werkstätten und eine »Bildungsanstalt für Rhythmische Gymnastik«, später nur noch »Festspielhaus« genannt. Man wollte im Grünen arbeiten, wohnen und feiern – kurz, man wünschte sich einen jugendstiligen Winkel, in dem der Kapitalismus gesünder und schöner auszuhalten sei. Dazu bedurfte es natürlich der Unterstützung durch zahlreiche lebensfroh und neuartig gesinnte Künstler-Innen, und wer sie alle anwarb oder koordinierte, war Schmidts »rechte Hand« Wolf Dohrn.

Der Berliner Kunstkritiker Karl Scheffler war mit Dohrn befreundet. In seinem Lebensrückblick* schildert er Dohrn, der in einem gelehrten Hause Neapels aufgewachsen war, als großzügig und draufgängerisch veranlagten Humanisten, dem offenbar ein »neues Griechentum« vorschwebte. Einen besonderen Narren hatte Dohrn an dem französisch-schweizerischen Komponisten und Musikerzieher Jacques Dalcroze gefressen. Für ihn gab er beim Architekten Heinrich Tessenow die erwähnte »Bildungsanstalt« in Auftrag. Sucht man sich ein eher unvorteilhaftes Foto** dieses mit wuchtigem Säulenportal versehenen Gebäudes heraus, weiß jeder gleich: hier findet ein Unterricht hinter Gittern statt. Die heutigen Sachsen hätten es problemlos zu einer Besserungsanstalt für Corona-LeugnerInnen erklären können, doch es heißt, sie nutzten es wieder als Kunsttempel. Das ist womöglich im Sinne Schefflers, der merkwürdigerweise von einem »schlicht tempelartigen« Gebäude, andererseits jedoch von einem gewissen Hochmut der SchülerInnen, Lehrkräfte und bevorzugt Werkenden und Wohnenden spricht. Laut Scheffler gab es in Hellerau trotz aller lebensfrohen Kundgebungen zunehmend Unstimmigkeiten, Cliquenwirtschaft und einen Machtkampf zwischen Dohrn und seinem Gönner, dem Möbelbaron. Den eigentlichen Niedergang des Projekts habe Freund Dohrn »zum Glück« nicht mehr erlebt. Nachdem es in der Weimarer Republik unaufhaltsam verwässert worden war, erkannten die Faschisten 1939 immerhin die Potenz des »Festspiel-hauses« und nutzten es als Polizeischule. Später zog die rote SU-BeschützerInnenarmee dort ein.

Für Scheffler lag Dohrns Skiunfall (mit 35) in den Alpen sozusagen auf der Linie der Verwegenheit des Freundes. Dohrn habe stets alles aufs Spiel gesetzt, nebenbei für Dalcroze auch sein ganzes Vermögen. Nach Thomas Nitschke*** war Dohrn am 4. Februar 1914 mit der Berliner Schauspielerin Mary Dietrich unterwegs. Unweit des Dörfchens Trient sei er einen 400 Meter langen, steilen Hang »bergab gerutscht und kopfüber gegen einen Stein gestürzt, wo er leblos liegen blieb.« Zuvor habe Dietrich, soweit Nitschke wisse, Dohrns Ehe »erschüttert«. Der Organisator hatte sich 1907 mit Johanna Sattler verheiratet, wohl eine Bildhauerin. Sie ging nach dem Bergunfall an seinen jüngeren Bruder Harald Dohrn. Von Dietrich, geboren 1896, heißt es, sie habe häufig für Theaterguro Max Reinhardt gearbeitet, auf den Scheffler übrigens nicht so gut zu sprechen war. Ihr Antifaschismus hielt sich anscheinend in Grenzen. Sie starb 1951 in den USA. Da der Bergunfall bereits Anfang 1914 stattfand, blieb Dohrn auf diese Weise nicht nur die Entscheidung zwischen den Damen sondern auch der Frage erspart, ob es sich beim Ersten Weltkrieg um eine gymnastische oder doch eher dynastische Übung handele, nämlich der Krupps und Stinnes' und deren ArbeitnehmerInnen. Jedenfalls führte die Übung zum Faschismus.

* Die fetten und die mageren Jahre, Leipzig 1946, S. 43–46
** https://de.wikipedia.org/wiki/Wolf_Dohrn#/media/Datei:Tessenow_lores.jpg
*** Grundlegende Untersuchungen zur Geschichte der Gartenstadt Hellerau / Band 1 »Die Gründerjahre«, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2005, bes. S. 153 und 170–72




Enke, Robert (1977–2009). Als sich der 32 Jahre alte Sohn eines sportbegeisterten Psychotherapeuten im November 2009 mitten in einer zwar bewegten, im ganzen jedoch sehr erfolgreichen Karriere als professioneller, 1,86 messender Fußballtorhüter an einem Bahnübergang in Niedersachsen vor einen Zug warf, löste er nahezu eine Staatskrise aus. Für den Augenblick war die Nation vor Entsetzen gelähmt. Natürlich nicht aus Mitgefühl für die Zuginsassen, LokführerIn voran. Vielmehr hatte die Nation nicht nur einen wichtigen Wirtschaftskapitän verloren, wie etwa im Falle des Industriellen Adolf Merckle, der sich ein knappes Jahr vor dem Startorwart auf dieselbe soziale Weise das Leben nahm. Vielmehr hatte sie den publikumswirksamen und einschaltquotenmagne-tischen Hüter der häuslichen Heimatfront verloren. Die außerhäusliche lag damals in Afghanistan.

Am nächsten Tag nahmen 35.000 Menschen an einem Trauermarsch, vier Tage später 40.000 an einer Trauerfeier im Stadion des Bundesligisten Hannover 96 teil, für den der Thüringer Enke zuletzt zwischen den Pfosten gestanden hatte. Er war beliebt gewesen. Und wenn er in den zurückliegenden Jahren wiederholt mit »Depressionen« zu kämpfen hatte, wie nun von den Angehörigen eingeräumt wurde, hatte er dies den Fans und Managern, denen er seine gehobene Lebensführung verdankte, verständlicherweise nicht auf die Nase gebunden. Da war dann eher von »Infektionen« die Rede gewesen. Dabei hatte Enke, mit seiner Frau Teresa, nicht nur den Gram um eine schwerkranke und nach zwei Jahren verstorbene Tochter zu tragen; vielmehr fiel es ihm anscheinend grundsätzlich schwer, das Hauen und Stechen um Ehre, Geld und das berüchtigte Nummer-1-Podest in der Fußballnationalmannschaft als Deckchensticken zu begreifen. Sein Vater Dirk sagt dem Spiegel*, Gesprächsangebote habe Robert wiederholt ausgeschlagen. Für ihn, den Vater und Seelenfachmann, ist die Angst der wesentliche Nährboden von Roberts Depressionen gewesen. Der Sohn habe bereits als jugendlicher Fußballer immer wieder Angst davor gehabt zu versagen, also den Ansprüchen der Kameraden, Trainer, Bewunderer, die man sich bekanntlich auch selber gern zu eigen macht, nicht zu genügen. Zwar habe Robert in jüngster Zeit einen Klinikaufenthalt erwogen – aber auch davor habe er sich gefürchtet. Zum einen nahm er wohl nicht zu unrecht an, damit wäre der schöne runde Ball, der die Rubel oder Dollars gezielt in wenige Taschen rollen läßt, für ihn garantiert im Aus gewesen. Und zum anderen, deutet der Vater an, dürfte Robert den Blick auf die Wurzeln seiner Angst, seine wunden Stellen, seine »Schwäche« befürchtet haben. Schließlich stehen zwischen den Pfosten ausschließlich Helden.

Enkes Frau Teresa setzt sich inzwischen in der neugegründeten Robert-Enke-Stiftung unermüdlich gegen »Depressionen im Spitzensport« ein. Gegen den Spitzensport, wäre vielleicht zuviel verlangt. Aber sie könnte bei ihren Beratungen selbstmordgefährdeter SchwerverdienerInnen immerhin Bahnübergänge, Autobahnbrücken und dergleichen Tummelplätze zu »Tabuzonen« erklären. Eine entsprechende Aufklärung läßt nebenbei auch der Psychotherapeut Dirk Enke vermissen, falls ich sie nicht übersehen habe. Zudem könnte Schwiegertochter Teresa vielleicht empfehlen, einmal über Javi Poves' Schritt nachzudenken. Der damals 24jährige Nachwuchsstar des spanischen Erstligisten Sporting de Gijon reichte 2011 seinen Abschied ein. Er soll schon immer ein kritisch gestimmter Kopf und Gegner des Kapitalismus gewesen sein. Jetzt gedenke er zu studieren und die Realitäten solcher Konfliktherde wie dem Nahen Osten mit eigenen Augen zu erkunden. Da hat er freilich ebenfalls gute Chancen umzukommen. Laut dpa-Meldung vom August 2011 nannte Poves den Fußballbetrieb einen nicht unerheblichen Bestandteil der »Welt der Täuschung«, in der wir lebten. Von der Habgier und der Korruption einmal abgesehen, sei der ganze Zirkus darauf angelegt, die Menschen von ihren eigentlichen Sorgen und Bedürfnissen abzulenken. Brot & Spiele eben, wie seit altersher. Obwohl man neuerdings eher sagen müßte, Brot & Viren.

* »Er war in den eigenen Ansprüchen gefangen«, 14. November 2009: https://www.spiegel.de/sport/fussball/robert-enkes-vater-er-war-in-den-eigenen-anspruechen-gefangen-a-661239.html



Fabricius, Johannes (1587–1617), Astronom. Sowohl der früh verstorbene Johannes wie sein Vater David waren durchaus namhafte ostfriesische Astronomen, doch der Laie kennt sie kaum. Der Sohn gilt meist als Entdecker der »Flecken« auf der Sonne. Bis dahin hielt man unsere Erleuchterin für makellos. Da sich die Lage der Sonnenflecken im Lauf der Beobachtungen veränderte, konnte man nun auf die bereits von Kepler vermutete Eigenrotation des Sternes schließen und die Dauer einer Umdrehung berechnen. Johannes hatte erst kurz zuvor aus Leiden das neuartige Fernrohr mitgebracht, »die hollän-dische Brill«. Sein Vater, lutheranisch gestimmter Pastor in einem Dorf bei Emden, bestätigte die Beobachtung, wenn auch nur zerknischt, weil sie sozusagen sein frommes Weltbild befleckte. Noch im selben Jahr, 1611, legte der Sohn eine Schrift über die Entdeckung vor.

Viel mehr ist über den Filius leider nicht bekannt. Gerade 30 geworden, will Johannes, unter anderem studierter Mathematiker, seinen medizinischen Dr. in Basel machen. Im Januar 1617 aus Wittenberg kommend, erreicht er aber die Schweiz nicht. Er stirbt vorher, wohl in Dresden. Woran, verrät kein Mensch. 1598 war Johannes, als Knabe, einer heimischen Pestepidemie entgangen. Kepler schätzte die schmale Schrift des jungen Fabricius über Sonnenflecken und sprach dem Vater auch sein Beileid zum Tod des Sohnes aus. Diese briefliche Beileidsbe-kundung verpaßte der Pastor jedoch aus Gründen »höherer Gewalt«. Er wurde, wie immerhin aus seinem Grabstein hervorgeht, wenige Monate nach Johannes' Ableben von einem gewissen Frerik Hoyer ermordet. Über die Umstände gibt es etliche Legenden – und keinen Beleg. Der Soziologe und Erzähler Hermann Korte* hält die Version für am wahrscheinlichsten, der genannte Bauer sei von der Kanzel herab des Diebstahls bezichtigt worden, weshalb er dem Pastor David Fabricius am Abend auflauerte, um ihm hinterrücks mit einem Torfspaten den Schädel zu spalten. Ob die Anschuldigung vielleicht ein Rufmord gewesen war, weiß erneut kein Mensch. Verbürgt sei dafür die Strafe: Hoyer kam unters Rad.

Für mich ist der Umstand am traurigsten, daß beide Tode so sehr im Dunkel liegen. Vom Junior weiß noch nicht einmal jemand zu sagen, ob er zum Beispiel einer Krankheit erlag, versehentlich unter eine Kutsche kam oder gar Selbstmord beging. Korte weist diesbezüglich auf die Zerstörung vieler Akten und Kirchenbücher durch den soeben entfachten Dreißigjährigen Krieg hin, das schon. Aber man sollte doch meinen, es hätten zumindest ein paar private Briefe oder Aufzeichnungen mit entsprechenden Erwähnungen überdauert, beispielsweise bereits die Botschaft, durch die der Senior vom Ableben des Juniors erfuhr – falls sie nicht in mündlicher Form eintraf, durch Boten. Laut Dirk Lorenzen** ist nach Jahrhunderten sogar ein Text ausgegraben worden, in dem der Vater den Tod seines Sohnes beiläufig datiert (10. Januar) und beklagt, nur die Gründe für diese verdammt frühe Abberufung behält auch der Senior für sich. Vielleicht befürchtete er, der liebe Gott hätte es ihm angekreidet. Heute hätte man zumindest die Aufzeichnung eines entsprechenden Telefonats. Schließlich wird der Mobilfunk längst »flächendeckend« abgehört, also auch zwischen Emden und Dresden. Mit den Speicherkapazi-täten, die man für die Archivierung allen irdischen Spionage-Materials benötigt, ließe sich wahrscheinlich, sobald sie einmal erlischt, die Sonne neu aufladen.

Hier ist vielleicht ein Sprung in die Gegenwart gestattet. Für den inzwischen fast 80jährigen Kosmologen Jochen Kirchhoff stellt die sogenannte Digitalisierung eher einen Fluch als einen Segen dar. Somit ist er erfreulicherweise einerseits Skeptiker, ärgerlicherweise aber andererseits auch wieder keiner. Diese Zwiespältigkeit mag mit seiner Abkunft zusammen hängen. Er wurde nämlich von zwei Vätern gezeugt, Buddha und Rudolf Steiner, dann freilich vaterlos von der griechischen Ziege Amaltheia aufgezogen, die mancher jedoch für eine Göttin hält. Als Skeptiker erweist sich Kirchhoff auch in seiner mutigen Plandemie-Kritik und in seinem nicht minder mutigen Hohn auf die Märchen, die uns die postmoderne Astrophysik seit Jahrzehnten unverfroren als Tatsachen oder wenigstens Wahrscheinlichkeiten per Zeitung auf die Frühstücks-brötchen schmiert. Das schließt die bekannten Urknalle und Schwarzen Löcher, ja sogar die nahezu unangezweifelte »Lichtgeschwindigkeit« ein, wie er in seinem jüngsten, übrigens sehr fein gestalteten und ausgestatteten Buch*** bekräftigt. Vieles davon seien lediglich willkürliche, oft geradezu abenteuerliche Setzungen. Kirchhoff betont wiederholt, daß wir auch in kosmologischen Fragen nie aus unserer Befangenheit herauskommen. Die herrschende Astrophysik wird von ihr in einen kalten, finsteren, völlig lebensfeindlichen Kosmos geleitet, denn so etwas gefällt der herrschenden Astrophysik. Aber verzichtet Kirchhoff nun, in seiner Befangenheit, auf ein nicht minder unbeweisbares freundliches Gegenbild?

Das tut er selbstverständlich nicht. Ein Philosoph wie er muß predigen. Für Kirchhoff wird es höchste Zeit, »die Würde unserer kosmischen Existenz zu retten« (Seite 122), ehe uns der Verdacht beschleicht, nichts anderes als bedauernswerte Sklavenkreaturen und Folteropfer der sogenannten Schöpfung zu sein. Das Böse erwächst lediglich der herrschenden Astrophysik. »Sollte ein Weltgeist dieses Universum des Urknalls, der Schwarzen Löcher und der thermonuklearen Sternenhöllen geschaffen haben, so kann es sich bei ihm keineswegs um ein intelligentes Wesen handeln« (S. 217). Wir benötigen jedoch einen liebenswerten Weltgeist. Nicht, daß Kirchhoff von Gott oder, wie Steiner, von Jesus Christus spräche. So dumm ist er nicht. Er beschwört ersatzweise ein ums andere Mal den Geist, die Weltseele, das Göttliche und dergleichen mehr. Ohne solche »Setzungen« geht es eben nicht. Gesehen hat er von alledem keinen kleinen Fingernagel. Auf Seite 109 wettert er, »schon ein schlichter Grashalm, der vom Frühlingswind bewegt wird und auf dem ein bunt schillernder Käfer herumkrabbelt«, wäre im »aberwitzigen und absurden« Arsenal der herrschenden Astrophysik »eine Unmöglichkeit«. Kirchhoff dagegen möchte auch Stechmücken, Säbeltiger, Rheumatismus, Rollstühle, Mord & Totschlag, schwachsinnige Babys und Altersdemenz. Das war bereits für Hölderlin der »schöne Kreislauf« der Natur. Kirchhoff beklagt wiederholt den »Anthropozentrismus«, versichert uns freilich, Gestirne seien Lebewesen (S. 143). Für ihn geht »alles lebendige Werden … vom Menschen aus und zum Menschen hin« (S. 144). Und das soll keine Engstirnigkeit sein?

Erstaunlicherweise versagt der erwähnte skeptische Blick Kirchhoffs bei der sogenannten Mondlandung der USA. Er streift sie auf Seite 57 einwandlos. Da möchte man ihm glatt die jüngste, »mit aktuellem Nachwort« versehene Ausgabe von Gerhard Wisnewskis gründlichem und belegreichem Buch Lügen im Weltraum / Von der Mondlandung zur Weltherrschaft auf die Treppe werfen, das man wohl, soweit ich sehe, als Standardwerk der Raumfahrt-Skepsis bezeichnen darf, zumal es gut geschrieben ist.**** Übrigens gewinnt darin auch Raketenschmied Werner von Braun die richtige Kontur. Schon 10 Prozent der Ungereimtheiten und Argumente, die Wisnewski ins Feld führt, würden für tiefste Zweifel an der offiziellen Version genügen, die freilich längst in unzähligen Nachschlagewerken, Geschichtsbüchern und Zeitungsartikeln steht. Beweisen läßt sich hier übrigens gar nichts. Man kann die Mondlandung der Yankees bis heute weder widerlegen noch hieb- und stichfest beweisen, wie sogar manche NASA-Fans einräumen. »Simuliert« wurde ja sowieso schon dauernd während der Vorbereitungs-arbeiten, nämlich zwecks sorgfältigen Trainings in mehr oder weniger großen Hallen, die stets auch Filmstudios waren. Der mutmaßliche Schritt von diesen Trainings-einheiten zur Vortäuschung der »live« übertragenen Mondlandung von Apollo im Juli 1969 wäre sicherlich nur ein ähnlich »kleiner Schritt« gewesen wie der, den Astronaut Neil Armstrong (angeblich) beim Verlassen der auf dem Mond aufgesetzten Landefähre der Menschheit verkündete. Wisnewski führt das aus. Nebenbei schont er den Konkurrenten beziehungsweise Kumpanen der Yankees, die SU-Kommunisten, keineswegs.

Im übrigen bettet er die wahrlich abenteuerliche Unternehmung (die technisch wahrscheinlich noch gar nicht möglich war) in die geschichtlichen, vor allem politökonomischen Zusammenhänge ein. Für die angeschlagene USA (Vietnam, Watergate) war ein glänzender Erfolg bitter nötig. Wobei ihr Militärisch-Industrieller Komplex in erster Linie nicht auf Lob und Ruhm aus war. Für diesen ging es vielmehr um genauso abenteuerliche Summen, nämlich viele Milliarden Dollars. Laut Wisnewski stammt die Bezeichnung übrigens nicht von Verschwörungstheoretikern, sondern aus Präsident Eisenhowers Abschiedsrede vom 17. Januar 1961. Statt zur Mondfahrt aufzurufen, warnte Eisenhower damals vor der »Eroberung unbefugten Einflusses durch den militärisch-industriellen Komplex« (S. 296). Heute ist das alles befugt. Gibt Wisnewski einen Ausblick auf das Unheil, das sich inzwischen über unseren Köpfen und unter unseren Füßen zusammenbraut, kann einem wirklich schlecht werden.

* David und Johannes Fabricius und der Roman meines Vaters. Eine biographische Erzählung, Münster 2011, bes. S. 101–4
** https://www.deutschlandfunk.de/vor-400-jahren-tod-des-astronomen-johann-fabricius-100.html, 10. Januar 2017
*** Kosmos, Köln 2022
**** ursprünglich 2005, hier jüngste Auflage Rottenburg März 2020




Fieseler, Gerhard (1896–1987). Er starb mit 91 in der Stadt meiner antiautoritären Schülerzeit, Kassel. Er hatte mehr Erfolg als ich. Ergo hat Fieseler Straßen. Er hat Straßen in seinem Geburtsort Bergheim-Glesch (bei Köln), ferner in Zweibrücken und Gifhorn, zudem einen Weg in Baunatal bei Kassel, wo der vierrädrige Fortschritt zu Hause ist, ich sage nur Volkswagen. Dann gibt es noch ein verschämtes Sträßchen »Am Fieseler Werk« in Lohfelden bei Kassel und eine »Fieseler-Storch-Straße« in Calden bei Kassel. Die Fuldametropole Kassel war Fieselers wichtigster »Standort«, wie so etwas heutzutage heißt.

Fieseler fuhr nicht; er flog und baute Flugzeuge. Von diesem Weg konnte ihn auch der Umstand nicht abbringen, daß er seinen ersten Absturz bereits bei der Pilotenprüfung hatte. Dafür überlebte er den Ersten Weltkrieg als »Tiger von Mazedonien« (19 Abschüsse), um sich anschließend nur noch als Kunstflieger zu beteiligen. Die geballte Menschenjagd hatte eine Pause, Weimarer Republik genannt. Auch als Kunstflieger war Fieseler erfolgreich. Doch man wird ja nicht jünger, und so widmete er sich ab ungefähr 1930 dem Flugzeugbau. 1938 wiesen seine drei Werke in Kassel-Ost bereits rund 5.300 Beschäftigte auf, später wohl noch mehr, darunter selbst-verständlich streckenweise auch viele Zwangsarbeiter-Innen. Ein Jahr früher war er von Reichsluftfahrtminister Göring persönlich zum Wehrwirtschaftsführer ernannt worden. Prompt ließ sich Fieseler unmittelbar am Schloßpark Wilhelmshöhe eine Villa bauen, in der Kurhausstraße 9, vollendet 1939. Dann ging das Schießen und Bombardieren wieder los.

Erfreulicherweise (für ihn) konnte Fieseler seine Villa nach dem Zweiten Weltkrieg bald wieder beziehen, nahm doch die »Spruchkammer« der »Rehabilitierungsmaschinerie« (Wiederhold auf S. 274) 1949/50 alle bösen Vorwürfe von ihm und stufte ihn in der Gruppe der »Entlasteten« ein. Wie so viele, →Josias etwa, zeigte Fieseler keine Spur von Reue – aus der Sicht seiner Anwälte nur zurecht, war er doch lediglich widerstrebend in den Dienst des Faschismus getreten, ja im Grunde ein Widerstandskämpfer gewesen – und nicht etwa ein Nutznießer der faschistischen Aufrüstungspolitik. Fieseler hatte Dutzende von »Persilscheinen« vorgebracht; dafür waren plötzlich für ihn unangenehme Akten verschwunden. So nahm der reingewaschene »Werksführer« 1951 auf altem Bettenhäuser Betriebsgelände wieder die Produktion auf, diesmal allerdings nicht von Kampfflugzeugen oder selbstfliegenden Bomben, vielmehr von unverfänglichen Metallwaren wie Aluminiumfenster, Kleinmöbel und Lampen (bis 1958). Er hatte jetzt nur noch rund 100 Leute. In seiner Villa machte er außerdem ein Hotel auf, das bis 1966 bestand. Ob er auch selbst noch dort wohnte, und mit wem, sagt Wiederhold nicht. Als Greis litt Fieseler an Krebs. 1987 bekam der steinalte entlastete Träger des Pour le Mérite auf dem Kasseler Hauptfriedhof ein Begräbnis »mit allen militärischen Ehren«, wie Thorsten Wiederhold in seinem Buch mitteilt: Gerhard Fieseler – eine Karriere, Kassel 2003.

Um 1920 hatte Fieseler in seiner Eschweiler Druckerei (bei Aachen) seine künftige Ehefrau Helene kennengelernt. Den Betrieb schloß er 1926, um sich ganz dem Kunstflug zu widmen. Die Ehe wurde 1938 wieder geschieden. Das Paar hatte zwei Kinder, Sohn Manfred und Tochter Katharina, genannt Ina, die beide 1944 gestorben sein sollen. Trifft das zu, tippe ich auf Luftangriff, in welcher Stadt auch immer. Was das Scheidungsdatum angeht, trennten sich die Eheleute offensichtlich just während der Bauzeit der Wilhelmshöher Villa. Ob und wie andere Frauen in Helenes Fußstapfen (auf dem Perserteppich) traten, ist nirgends zu erfahren. Dasselbe gilt für die Scheidungsgründe. Vielleicht war der guten Helene ja Fieselers rücksichtsloser Opportunismus gegen den Strich gegangen. Ein Foto bei Wiederhold (S. 27) zeigt die kleine, etwas pausbäckige Dame mit Pelzkragen und Töchterchen 1934 in Kassel an der Seite ihres strahlenden Gatten, beide wiederum von schmunzelnden Hakenkreuzlern flankiert: Gauleiter (von Kurhessen) und Preußischer Staatsrat Karl Weinrich und Gaugeschäftsführer Bürckel. Fieseler war soeben als frischgebackener Kunstflugweltmeister aus Paris heimgekehrt. Mit diesem Titel beendete er seine künstlerische Karriere.

Unseligerweise hieß die Mutter meiner Mutter Hannelore, meine Großmutter also, ebenfalls Helene. Diese Helene hatte so wie wahrscheinlich Helene Fieseler und ganz gewiß Millionen andere im Zweiten Weltkrieg Blutzoll zu zahlen, indem sie ihren ältesten Sohn »im Felde« verlor. Außerdem wurde sie ausgebombt – zufällig in Kassel-Ost, wo es leider nicht nur Mietshäuser, sondern auch Waffenschmieden gab. Beide Vorfälle verstärkten eine wohl ererbte Veranlagung zum »Nervenleiden« beträchtlich. Dafür machte, soweit ich zurückdenken kann, in meiner Familie niemals einer Gerhard Fieseler verantwortlich. Den Namen kannte ich gar nicht, auch nicht von meiner abgekürzten Gymnasialzeit her – kein Abitur. Hätte man wenigstens meinen Großvater Heinrich verantwortlich machen sollen? Lieber nicht. Der Volksschullehrer war pflichtbewußt mit in den Krieg gezogen und kehrte als angesehener Hauptmann einer Brückenbaukolonne zurück, die zuletzt auf dem Balkan tätig gewesen war. Möglicherweise war er, im Gegensatz zu Fieseler, wirklich »nur« ein sogenannter Mitläufer gewesen. Der jüngere Bruder meiner Mutter behauptet sogar, Hauptmann Heinrich V. habe auf dem Balkan zuletzt einen Befehl verweigert, DorfbewohnerInnen »vergeltungsweise« erschießen zu lassen, als Vergeltung für die ständigen Übergriffe frecher einheimischer Partisanen. Durch das Chaos des deutschen Rückzugs sei er dem »Kriegsgericht«, also wohl seinerseits dem Erschossenwerden entgangen. Heinrich war fromm. Gott hatte ihn hineingeritten, und dann riß ihn Gott wieder heraus.

Um 1990 warf ich in Berlin, wo ich mich die letzten Jahre als Aktmodell über Wasser gehalten hatte, das Handtuch. Ich hatte zunehmend mit verschwommenen Ängsten zu kämpfen und sah mich bereits auf der Schwelle zu Bonnies Ranch in Reinickendorf, einer sogenannten Nervenklinik. Aber soll ich das ebenfalls, wie im Falle meiner Großmutter, auf eine ungünstige Veranlagung schieben? Es war Pech, jawohl. Es war Erfolglosigkeit, Niederlage, Bankrott. Ich war um 40 und war nichts geworden. Damals ergriff ich die übliche Alternative zur Irrenanstalt: ich flüchtete mich in den Schoß der Heimat und unter die Schürze meiner Mutter. Die Zugfahrt war ein Horror, ich wurde ausschließlich von Unruhe und Wahngebilden begleitet. Kaum in die Wohnung meiner Mutter eingetreten, brach ich zusammen. Ich kniete vor einem Sessel und klopfte mit der Stirn das Polster – wurde von einem regelrechten Heulkrampf geschüttelt und stammelte dabei wohl auch schon Worte in dem genannten Sinne: ich sei gescheitert, ein Versager, es hätte alles keinen Zweck mehr und so weiter.

Offenbar gelang es meiner Mutter, mich zu beruhigen. Wie, könnte ich nicht mehr sagen. Aber von ihrer Liebe einmal abgesehen, war sie auch gewissermaßen vom Fach, das half ihr vielleicht. Ursprünglich Geschiedene, Schreibkraft, Altenpflegerin und dann Krankenschwester, hatte sie sich noch weiter fortgebildet, um zuletzt ein Wohnheim für »Geistigbehinderte« zu leiten. Zufällig lag es in der oben erwähnten Kurhausstraße, nur nicht in Nr. 9, Fieselers Villa, sondern noch näher zum Schloßpark hin. Es war eine Einrichtung, die man landläufig »gemeinnützig« nennt. Allerdings dürfte auch Fieseler davon überzeugt gewesen sein, er habe stets, ob als Kampfflieger, Flugzeugbauer oder Hotelier, dem Gemeinwohl gedient. Und dafür hat er eben die eingangs genannten Straßen und das Begräbnis »mit allen militärischen Ehren« bekommen. Meine Mutter wurde vor einigen Jahren, wohl ihrem Wunsch gemäß, schlicht verbrannt und verscharrt. Ihre Urne steckt unter einer Rasenfläche für »anonym« Bestattete.



Fischer, Veronika (1964–2012), Politikerin. Zu den 20 größten postmodernen Übeln dürften der Autoverkehr, die Berufspolitik und die Frauenbefreiung zählen. Frau Fischer verkörperte sie gleich im Strauß. Als sie am Sonntag den 6. Mai 2012 aus ihrer am Mayener Marktplatz gelegenen kleinen Wohnung getragen wurde, war sie tot. Da hatte sie die Übel immerhin schon 47 Jahre lang ausgehalten. Mayen, knapp 20.000 EinwohnerInnen, liegt westlich von Koblenz. Fischer (CDU) war die amtierende Oberbürgermeisterin der Eifelstadt gewesen. Sie hatte zwei halbwüchsige Kinder, lebte jedoch »seit einiger Zeit« von denen und deren Vater getrennt. Die gebürtige Westfälin stand in jeder Hinsicht auf eigenen Füßen. Sie war gelernte Juristin, ehrgeizig und sogar filmbar. Prompt mauserte sich das blonde »Frauchen« um 2000 zur »knallharten« Politikerin, wie es überall heißt. Indessen ahnten die Zeitgenossen auch vielerorts, daß Fischer »innen« eher einer empfindlichen Schwimmblase glich. Schon am Samstag als vermißt gemeldet, war sie anderntags in ihre bereits durchsuchte Wohnung zurückgekehrt, wo sie abends nur noch tot vorgefunden wurde. Die Art des Selbstmordes wird nirgends genannt. Kummer mit Nahestehenden wird zwar gemutmaßt. Wahrscheinlich habe Fischer aber vornehmlich unter dem von ihr mitgeschaffenen Arbeitsklima gelitten: den meist versteckt vorgebrachten Angriffen auf diese »Chefin« also, die es angeblich liebte, ihre Kollegen im Stadtrat entweder stundenlang an die Wand zu reden oder mit knappen bissigen Kommentaren an derselben aufzuspießen. Das Magazin Focus wußte auch, Fischer hatte erst Ende März einen »schweren« Autounfall gehabt, bei dem ihr Wagen in Brand geriet; sie habe sich freilich noch aus diesem retten können. Denkbare andere brennende oder nicht brennende Unfallopfer übergeht das Magazin. Diesen Crash überstand sie also glimpflich. Bald darauf, am 8. Mai, war der Regionalpresse zu entnehmen, die größere Katastrophe habe die zierliche Frau, die so gern Machthaberin war, wenige Tage vor ihrem Tod geahnt, als sie seufzte: »Dieser Job bringt einen um.«

Liegt Martin Randelhoff von der TU Dortmund (2019) richtig, leistet sich die Welt jährlich 1,35 Millionen, täglich rund 3.700 Straßenverkehrstote. Tag für Tag wird also ein traditionsreiches Städtchen wie Freyburg an der Unstrut ausradiert, nur möchte es keiner sehen. Bei Kindern sei der Straßenverkehr bereits die häufigste Todesursache. Die jährlichen Verletzten schätzt Randelhoff auf 50 Millionen. Da die Autos inzwischen Panzern ähneln, landen heutzutage nicht mehr ganz soviele Leute im Sarg oder im Rollstuhl. Zukünftig nur mit einem Daumen und dem eingebrannten Schrecken zu erwachen, ist allerdings auch nicht gerade ermunternd. Hätte Randelhoff seine Zahlen den Corona-Viren unterbreitet, hätten sie sich totgelacht. Stellte man ähnlich überraschend, wie kürzlich eine sogenannte Pandemie ausgerufen wurde, die weltweite Produktion von Autos ein, bräche wohl mehr als nur Freyburg an der Unstrut zusammen.

An das Unglück, die UNO nähme plötzlich die postmoderne Befreiung der Frau zurück, darf man gar nicht denken. Keine Tesla-Managerinnen mehr, keine Soldatinnen und Kriegsministerinnen, keine Bischöfinnen, Fernsehintendantinnen und Oberbürgermeisterinnen und so weiter und so fort. Für jeden männlichen Schandtäter, der wohlweislich erst einmal Gras über sein Verbrechen wachsen lassen will, findet sich in der Postmoderne auf der Stelle weiblicher Ersatz. Bleibt nur noch zu hoffen, Fischers Kinder, einerlei welchen Geschlechts, hätten mehr Glück als die Mutter.



Fredou, Helric († 2015), Polizist, gestorben mit 45. Warum? Einmal davon abgesehen, daß wir es nicht wissen, scheint es heute keinen mehr zu interessieren. Gehen Sie ins Internet; Sie werden fast ausschließlich Berichte aus dem Todesmonat finden. In Nachschlagewerken steht er sowieso nicht.

An den Ermittlungen zum berüchtigten Anschlag auf die Charlie-Hebdo-Redaktion in Paris beteiligt, griff der pausbäckige, bieder wirkende französische Polizeichef, laut Focus, »nur Stunden« nach dem »Terrorakt« zu seiner Dienstpistole, um sich selber umzubringen. Das begab sich am 8. Januar 2015 frühmorgens in seinem Büro in der Polizeidirektion von Limoges, von der er Vizechef war. Die Großstadt liegt in Mittelfrankreich. Fredou hatte am späten Abend Bereitschaftsdienst, Besprechungen mit Kollegen aus Paris und »wichtige« Telefongespräche gehabt oder vorgehabt. Er stand im Begriff, einen Bericht zu verfassen, wozu es dann nicht mehr kam. Für einen Selbstmord aus Liebeskummer, Melancholie oder aus dem Gefühl des Verkanntseins heraus hätte er sich wirklich keinen günstigeren Ort und Zeitpunkt aussuchen können. Schließlich war gerade das Auge der Welt auf Frankreich gerichtet. Nur auf ihn nicht.

Nach einem erfreulich ausführlichen Artikel* der Epoch Times wurde den Angehörigen Einblick in den Autopsiebericht verweigert. Man könnte es außerdem merkwürdig finden, daß der Schuß angeblich ungehört blieb, obwohl kein Schalldämpfer benutzt worden war. Laut Polizei schoß sich Fredou »frontal« in die Stirn, was bei Selbstmorden, der Verrenkungen wegen, ebenfalls als seltsam gilt. Kein Abschiedsbrief. Während Focus schrieb, der Vizepolizeichef sei alleinstehend, kinderlos und überarbeitet gewesen und habe an Depressionen gelitten, behauptet ET, Fredous Mutter habe vom Hausarzt ihres Sohnes keine Bestätigung für die Unterstellung bekommen, er sei »ausgebrannt« oder »depressiv« gewesen. Bemerkenswerterweise hatte sich im November 2013 schon ein örtlicher Kollege Fredous im Dienst umgebracht, der Kommissar Christophe Rivieccio. Warum, müßte man untersuchen. Der vierfache Familienvater soll erst 44 gewesen sein. Damals habe Fredou seiner Mutter im Gegenteil versichert: »So etwas würde ich dir nie antun.« Als Fredou jedoch tot war, beschlagnahmten Kollegen in seinem Hause Computer und Smartphone. Mit den wenigen Skeptikern darf man also getrost argwöhnen, er sei wieder einmal einer gewesen, der zuviel oder das Falsche wußte.

Was den Pariser Anschlag angeht, hatten Fredous Leute in der Stadt Châteauroux die Eltern der Rechtsanwältin und UMP-Politikerin Jeannette Bougrab vernommen, von der noch umstritten ist, ob sie einmal Geliebte des ermordeten Charlie-Hebdo-Chefredakteurs war. Die Dame hatte es unter Sarkozy (bis 2012) zur Staatssekretärin gebracht. Soweit ich sehe, tun sowohl die Mainstream- wie die sogenannten alternativen Medien alles, um den Fall Fredou den Weg von 99,99 Prozent aller »Ereignisse« gehen zu lassen: ins Nichts.**

* »Charlie Hebdo Attentat – Beging der ermittelnde Kommissar wirklich Selbstmord?«, The Epoch Times (New York City), 30. Januar 2015: https://www.epochtimes.de/politik/ausland/charlie-hebdo-attentat-beging-der-ermittelnde-kommissar-wirklich-selbstmord-jetzt-reden-helric-fredous-mutter-und-schwester-a1217704.html
** Eine etwas jüngere Beleuchtung des Falles wage ich aus fremdsprachlichen Gründen nicht zu beurteilen und zu verwerten: Hicham Hamza, »Affaire Charlie: un franc-maçon proche de Bougrab succède au commissaire 'suicidé'«, Panamza, 16. November 2015: https://www.panamza.com/161115-charlie-fredou/. Soweit ich ver-stehe, geht es in ihr vor allem um Fredous Nachfolger Thierry Miguel.




Gaidzik, Georg (1921–53), DDR-Vopo, gefallen im Dienst. Am 17. Juni 1953 sind die drei DDR-Beamten (von der Volkspolizei und vom MfS) Georg Gaidzik, Gerhard Händler und Johann Waldbach zum Wachdienst in der Magdeburger Haftanstalt Sudenburg eingeteilt. An diesem Tag war, wie fast jeder weiß, in verschiedenen Städten der DDR, je nach Standpunkt, ein »Arbeiteraufstand ausgebrochen« oder aber vom Grenzzaun gebrochen worden. Was Magdeburg angeht, versuchte eine Gruppe von Aufständischen zwecks Gefangenenbefreiung das genannte Zuchthaus zu stürmen. Diese Leute besaßen ein paar Schußwaffen, die sie der Vopo entwunden hatten. Bei ihrem Angriff auf die Wachhabenden kamen die angeführten drei Beamten um. Der Älteste von ihnen war erst 33 Jahre alt. Wer im einzelnen schoß, ist teils umstritten, teils unbekannt. Verluste auf Seiten der ErstürmerInnen gab es nicht. Sie zerstreuten sich, als ein sowjetischer Panzer aufzog.

Im ganzen sollen die damaligen Unruhen 50 bis 70 Todesopfer gefordert haben. Es ist natürlich anzunehmen, daß sich unter den »Aufständischen« etliche Provokateure befanden. Wer sandte sie aus? Für die Linke besteht meist kein Zweifel: die AuftraggeberInnen konnten nur CDU, CIA, RIAS Berlin heißen – ein Rundfunksender, der die Unruhen kräftig schürte. Folgt man dagegen dem 2009 veröffentlichen Buch Deutsche Daten des aus der DDR stammenden Schriftstellers Friedrich Dieckmann, wurde der Aufstand von denen angezettelt, gegen den er sich richtete: Ulbricht und Semjonow. »Hochkommissar« Wladimir Semjonow vertrat damals die UdSSR und deren Armee. Sie alle hatten sich im ostdeutschen Volk unbeliebt gemacht, durch krasse Normerhöhungen und BesatzerInnengebaren etwa, hätten jedoch, so Dieckmann, durch Zugeständnisse keine Schonung mehr erlangt. Also mußte, wie üblich, ein massiver »feindlicher« Angriff von außen her (»westliche Provokateure!«), damit die Mannen um Ulbricht und Semjonow als Erretter der Nation auftreten konnten.

Den Hintergrund dieser Taktik gab für Dieckmann ein Kampf zweier Linien in der Sowjetunion ab, der die gesamte europäische Friedensordnung betraf. Eine Fraktion um den Geheimdienstchef Lawrenti Berija habe, mit Einvernehmen Winston Churchills, auf die Beendigung sowohl des (kostspieligen) »Kalten Kriegs« wie der deutschen Teilung, somit auf die Preisgabe der (kostspieligen) DDR gesetzt. Das war jedoch gar nicht nach dem Geschmack des Parteisekretärs Chruschtschow und der Roten Armee. Also konnte auch ihnen eine Gelegenheit, die Unverzichtbarkeit sowjetischer Anwesenheit in Ostdeutschland zu demonstrieren, nur willkommen sein. Der kräftig geförderte Aufstand wurde niedergeschlagen; Ulbricht saß wieder fest im Sattel; Berija wurde verhaftet und im Dezember 1953 erschossen; Adenauer (der »deutsche Einheit« immer nur als Lippen-bekenntnis gekannt hatte) gewann die westdeutschen Wahlen im September 1953 haushoch – die deutsche Teilung war zementiert.

Nebenbei eröffnet Dieckmann, sonst ein guter Stilist, seine Aufsatz-Sammlung mit einem langatmigen Essay über den idealen deutschen Nationalfeiertag, der zu allem Unglück (der Essay) ähnlich fruchtlos geraten ist, wie ich Kohls ostdeutsche »blühende Landschaften« aus eigener Anschauung kenne. Zur Krönung verkündet Dieckmann in diesem Essay kategorisch, ohne uns auch nur ein Komma einer Begründung zu gönnen: »Wieder andere werden einen Staats-, einen Nationalfeiertag schlechthin für überflüssig erachten. Wer das tut, erkennt mittelbar Staat und Nation für entbehrlich, was keine realistische Position ist; wir brauchen beide so dringlich wie Kooperation und Verflechtung in kontinentalen und globalen Bezügen.« Statt sich die Mühe dieses schlechthin überflüssigen Essays zu machen, hätte er genauso gut erklären können, ein Gestirn ohne Steueroasen sei undenkbar.

Ich will noch einen Blick auf die bald darauf (1961) errichtete Mauer werfen. Eins sollte klar sein: Hat es eine angebliche Volksrepublik nötig, ihre Bevölkerung gewaltsam am Verlassen des Landes zu hindern, weil sich diese Bevölkerung weder aufgrund der republikanischen Zustände noch aufgrund der Argumentation der republikanischen Regierung mit dem Dableiben anfreunden kann, sollte diese »Volksrepublik« ihren Laden lieber aus freien Stücken schließen, ehe sie zurecht in Verruf gerät. Von daher gibt es an den Todesopfern des DDR-Grenzregimes, möglicherweise über 1.000, nichts zu beschönigen.

Allerdings stelle ich es mir auch nicht angenehm vor, statt in der DDR in einer verschlossenen dunklen Transport-kiste zu ersticken. So erging es dem kleinen Holger H.. Dessen Vater, früher schon bei einem Fluchtversuch über die Ostsee gescheitert, schlug nun den Weg über den Kontrollpunkt Dreilinden nach Westberlin vor. Ein Westberliner Bekannter mit Lastwagen stellte sich, im Januar 1973, als Fahrer der Fuhre zur Verfügung. Der Vater kam in eine, die Mutter mit dem 15 Monate alten Holger in eine andere Kiste. Man hatte die Kontrollen schon fast durchstanden, als Holger zu brüllen anhob. Da es der Mutter nicht gleich gelang, ihn zu beruhigen, hielt sie ihm kurzerhand den Mund zu. Dummerweise litt ihr Holger zu dieser Zeit an einer Mittelohrentzündung und einer Bronchitis zugleich, sodaß er nicht durch die Nase atmen konnte. Der Lastwagen erreichte glücklich Westberliner Gebiet – aber mit dem erstickten Holger als Leiche.*

Unerschrocken betrachtet, hätte man freilich auch den vielen westlichen Demokraten das Maul zuhalten müssen, die sich über das grausame DDR-Grenzregime ereiferten, während sie mit ihrem Hintern krampfhaft den Deckel des bodenlosen Fasses drückten, in dem die niedergemähten PrärieindianerInnen, die ausgepeitschten Kongo-Neger, die totgeschlagenen Asiaten des britischen Empires, die Verbrannten aus Hiroshima, die abermillionen Toten diverser Algerien- und Vietnamkriege, die Opfer bundesdeutscher Polizeipistolen und so weiter ächzten. Allein an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, die mit Zäunen, Mauern, US-Nationalgardisten und Abschiebegefängnissen gespickt ist, kommen jährlich, seit Jahrzehnten, zwischen 250 und 500 Menschen um. Hat sich da jemand entrüstet? Auf diese obszöne Doppelmoral weist Gert von Paczensky in seinem wichtigen Buch Weiße Herrschaft unentwegt hin. Man hätte unseren Faßdrückern ins Gesicht sagen müssen, sie seien »herzlose Mörder, Plünderer und Verschwörer, wie sie die Welt ihresgleichen noch nicht gesehen« habe. So Hartley Shawcross, britischer Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen – auf die bösen Nazis gemünzt. Sollte das geflügelte Wort »Haltet den Dieb!« im Englischen keine Entsprechung haben? Von Paczensky knöpft sich auch wiederholt** die unzulässige »Vereinzigartigung« der faschistischen Verbrechen vor. Der Ausdruck stammt von mir. Sie hat genau die angedeudete Funktion. Siehe dazu auch A-7.

* Jens Bauszus, »Freiheit oder Friedhof«, Focus, 22. September 2014: https://www.focus.de/politik/deutschland/25-jahre-mauerfall/erschossen-verblutet-oder-ertrunken-ddr-fluechtlinge_id_1865059.html
** Etwa S. 125, 159, 240 in der Ausgabe Fischer-TB 1982




Gandorfer, Ludwig (1880–1918). Der Landwirt vom ansehnlichen Zollhof in Pfaffenberg, Landkreis Straubing, zählte zu den vielen schillernden Figuren der bayerischen Umsturzwirren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Seit 1912/13 war er vollständig erblindet. Das verdankte er aber wider Erwarten nicht seiner bekannten Streitlust und Hitzköpfigkeit. Nach Richard Dill* soll ihm ein Ochse schon in jungen Jahren ein Auge ausgestochen haben. Den Verlust des zweiten Augenlichts habe seiner Familie zufolge eine Netzhautablösung aufgrund einer aus »Deutsch-Ostafrika« mitgebrachten Malaria bewirkt. Dort hatte sich Gandorfer kurzzeitig (1904/05) als Farmer versucht. So galt er später überall als »der blinde Bauernführer«, und zumindest die erste Hälfte dieser Bezeichnung stimmte.

Für sein Gut hatte Gandorfer einen Verwalter. Ab ungefähr 1915 war das Xaver Seitz, der drei Jahre darauf auch in dem (angeblichen) Unfallauto neben seinem Dienstherren sitzen sollte. Gandorfer hatte zudem eine Gattin, seit 1908. Diese Ehe mit Katharina Lang blieb jedoch kinderlos und womöglich nie vollzogen. Manche munkelten, wenn (der blinde) Gandorfer mit Eisner, dem Chef des jungen bayerischen »Freistaats« Arm in Arm durch das »befreite« München gezogen sei, habe sich darin nicht nur Gandorfers Nähe zur Revolution ausgedrückt. In dieser Sicht drückte sich vermutlich Schwulenhaß aus. Vielleicht war Gandorfer zu Katharina einfach zu ruppig gewesen. Als ihm sein Erzfeind Karl Pracher, seines Zeichens Bezirksamtmann, 1905 einen Jagdschein verweigert, tut er es mit Verweis auf Gandorfers beachtliches Vorstrafen-register: »wegen Körperverletzung, also Rauferei, und Sachbeschädigung«, wie Dill schreibt. Durch den kleinen Zusammenstoß, der sich aus Prachers Weigerung in dessen Mallersdorfer Bezirksamt ergibt, kommen gleich noch einmal zwei Monate Gefängnis hinzu, wegen »Störung des öffentlichen Friedens«.

Für den Regensburger Kirchengeschichtler Johann Kirchinger** wurzelt die Wandlung des Großbauern Ludwig Gandorfer zum »Linken« just in solchen, von Gandorfer so empfundenen »Willkürakten« der Obrigkeit, und nicht etwa in seinem Glauben an den Sozialismus. Zudem sei er gegen 1918 hochverschuldet gewesen. Im Gegensatz zu seinem gleichfalls bekannten und begüterten, erheblich behutsamer taktierenden Bruder Carl habe der in Trennung von seinem Weib lebende, kinderlose Gandorfer also durch »die Revolution« nicht viel zu verlieren gehabt. Was die Brüder teilten, war wohl die Wut auf die kriegsbedingten Abgaben und Einschränkungen, die selbst Agrarkapitalisten ins Fleisch schnitten. Ludwig, zunächst SPD-Mitglied, gehörte seit 1917, als Kriegsgegner, der USPD an. Allerdings habe er »der Revolution« auch nicht viel zu bieten gehabt, findet Kirchinger. Sein Einfluß unter der Landbevölkerung sei sehr gering gewesen. Die Sicherung der Versorgungslage (Land ernährt Stadt), die sich die Revolutionäre von ihm versprachen, hätte Gandorfer wahrscheinlich niemals gewährleisten können. Eisner habe vornehmlich auf den »symbolischen« Wert Gandorfers und auf die Zugkraft des brüderlichen Namens gebaut. Konsequent sei er nach seinem, für viele »verdächtigen« Unfalltod von Eisner & Genossen zum Ideengeber, ja zum »blinden Seher« und selbstverständ-lich zum Märtyer der Revolution ausgerufen worden.

Sei es nun mit Gandorfers Motiven und Potenzen wie auch immer bestellt gewesen, jedenfalls stieg er im Laufe der Weltkriegsjahre auf. Sein Gutshof mauserte sich zum beliebten Treffpunkt der Revolutionäre; er selber zum engen Mitstreiter Kurt Eisners, den man nach den Münchener Aufständen am 8. November 1918 zum bayerischen Ministerpräsidenten erkor. Anders wie Eisner, der vier Monate darauf durch Anschlag ermordet wurde, kam Gandorfer aber bereits zwei Tage nach dem Umsturz, am 10. November, durch einen (angeblichen) Autounfall um. Der wird in den meisten Internetquellen sträflich kurzangebunden und unkritisch hingenommen. Ohne ihn wäre der breitschultrige 38jährige »Bauernführer« und vermeintliche Bürge für die Lebensmittelversorgung des roten Münchens sehr wahrscheinlich Vorsitzender des »Zentralen Bauernrats« geworden. Diesen Posten übernahm dann sein Bruder Carl. Genau aus diesem Grund, Sicherung der Ernährung, hatten sich, Dill zufolge, am Unfalltag sieben Personen in den vom Münchener Soldatenrat beschlagnahmten geräumigen, dreibänkigen Fiat des Prinzen Joachim Albrecht von Preußen gezwängt. Man sicherte diesem die Rückerstattung zu, sobald man wieder in München sei. Beide Vorhaben zerschlugen sich jedoch.

Hauptaugenzeuge der gewaltsamen Fahrtunterbrechung war Gandorfers schon erwähnter Gutsverwalter Seitz, der zu den immerhin sechs Überlebenden des Unfalls zählte. Nach Dill hat es sogar, wegen verschiedener Klagen auf Entschädigung, ein Gerichtsverfahren gegeben, doch seien die vorhandenen Unterlagen »durchaus lückenhaft« – wobei nicht die geringste Lücke darin bestehen dürfte, daß der erlauchte Fiat nach dem Unfall, so Dill, verschwand und nie mehr auftauchte. Am frühen Vormittag des besagten Sonntags kam der Wagen kaum über Schleißheim hinaus, das im Norden nahe bei München liegt. Nach Seitz' Aussage ging Sebastian Scharrer, ein erfahrener Kraftfahrer, die Landstraße in »gehörigem Tempo« an. Vor einer Kurve habe der Wagen plötzlich »einen Ruck bekommen«, worauf er hinten ins Schleudern geraten und gegen einen Alleebaum gestoßen sei. Dadurch seien die drei Männer auf der hintersten Sitzbank aus dem Wagen gefallen. Der Wagen selber landete im Graben. Von den Gestürzten kam lediglich Gandorfer um – Schädelbruch. Er starb auf der Stelle. Zufällig war er die Hauptperson des Unternehmens gewesen.

Sogar Dill räumt ein, wenn auch mit anderen Worten, jeder kritische Kopf werde sich angesichts solcher Unfallmeldung fragen, ob die Revolution »nur« zu schnell gefahren sei, oder ob ihr jemand ein weißbestrumpftes Bein gestellt habe. Kirchinger behauptet jedoch, eben Dill habe die »vor allem von dem Straubinger Heimatforscher Rupert Sigl kolportierten Gerüchte«, Gandorfer sei ermordet worden, »eindeutig widerlegt«. Offenbar baute Sigl*** auf Aussagen oder Gerüchte, wonach eine Leichenfrau von Anzeichen einer Schußwunde auf der Stirn des toten Gandorfers gesprochen hatte. Allerdings kommt mir Kirchingers Behauptung über Dills Eindeutigkeit mehr als kühn vor. Zur Stützung führt er einen Satz von Dill an, den man glatt für krank oder verunglückt halten könnte: »Alle Mordtheorien kranken daran, daß es zu viele Beteiligte gab, die nicht in eine Täter- oder Mitwissergruppe eingeordnet werden können.« Ja nun – und wenn schon? Warum sollen sich unter den »vielen« Beteiligten, ob innerhalb oder außerhalb des fürstlichen Fiats, nicht jede Menge Uneingeweihte befunden haben, deren Leben möglichen Attentätern scheißegal gewesen wären?

Selbstverständlich hätte ein Anschlag bei diesem (Un)Fall nichts Verblüffendes. Dill selber stellt sogar fest, Gandorfer habe ohne Zweifel zu den Personen gehört, die die abgesetzten Machthaber in Regierung und Militär am meisten fürchteten und haßten. Deshalb sei ihnen der bedauerliche Unfall sicher sehr gelegen gekommen. Das nun weist Kirchinger wiederum zurück. Gandorfers Tod habe der völkischen Rechten so gut wie keinen Nutzen gebracht: weil er ja ohnehin, wie schon gesagt, kaum Einfluß besessen habe und sofort durch seinen Bruder Carl ersetzt worden sei. In dieser Rechnung hat Haß keinen Platz. Oder die kaltblütige Erwägung: je mehr potentielle Staatsfeinde wir kaltmachen, um so besser. Sie bekundet nebenbei auch wenig Ahnung von dem rachedurstigen blutigen Wüten, das die »Weißen« nach der Niederlage der Räterepublik (Mai 1919) an den Tag legten.

Gewiß scheidet ein Verdacht auf einen Saboteur unter den sieben Wageninsassen aus. Die Blütezeit des unbedenklichen Selbstmordattentates war noch nicht gekommen. Ähnlich skeptisch sollte man sicherlich auch Erzählungen über »weiße« Heckenschützen oder BombenversteckerInnen aufnehmen, ist es doch recht unwahrscheinlich, daß es für einen Schuß oder eine Explosion, ja selbst für ein Reifenplatzen, nicht mehrere Ohrenzeugen gegeben hätte. Was aber nach einer Erklärung dürstet, sind mindestens zwei (angebliche) Tatbestände: Welchen rätselhaften »Ruck« (so Seitz) erlitt der Wagen – und wie, warum und wohin verschwand er denn nur, dieser Wagen? Wobei wir noch nicht einmal wissen, in welchem Zustand er sich befand. Man kann lediglich darauf wetten, der gute Fürst hätte ihn am liebsten nicht als Wrack zurückerstattet bekommen. Es sei denn, sein Fiat war gut versichert.

* Richard Dill: »Ein Unfall, der gelegen kam«, in: Friedrich Weckerlein (Hrsg.): Freistaat!, München 1994, S. 146–56
** Johann Kirchinger: »Symbolische Politik in den Revolutionstagen. Die Stilisierung Ludwig Gandorfers zum Helden des Umsturzes von 1918/19«, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte (ZBLG), Band 75, München 2012, S. 843–66
*** 1984; wo, wird nicht gesagt, falls ich es nicht übersehen habe




Gladow, Werner (1931–50), Berliner Gangsterboß. Der Sohn eines Fleischers war mit Sicherheit kein Antikapi-talist – nur zu kurz gekommen. Obwohl stämmig und eher untersetzt gebaut, fehlte es ihm nicht an Beweglichkeit. Zudem fand er in dem unübersichtlichen, auch zweigeteilten Berlin der Nachkriegszeit ein für räuberische Umtriebe durchaus günstiges Betätigungsfeld vor. Man überfiel im Westen ein Leihaus oder eine Bank, teilte die Beute im Osten; erleichterte dort eine Vopo-Streife um ihre Pistolen, schlupfte wieder zurück, um ein Schmuckgeschäft am Kurfürstendamm oder wenigstens einen Hehler in Zehlendorf aufzusuchen. Mit unliebsamen Zwischenfällen ist zu rechnen. Hier kracht ein als Leiter benutzter Stapel aus Tonnen zusammen, dort springt die Fahrradkette vom Fluchtfahrzeug ab. Beim Pläneschmieden in den einschlägigen Eckkneipen tritt der minderjährige Bandenboß, wegen einer Stippvisite auf einem Gymnasium Doktorchen genannt, gern im schwarzen Anzug mit weißer Krawatte auf. Da er seinem Vorbild Al Capone zunehmend auch im Schußwaffen-gebrauch nacheifert, häufen sich die Schwerverletzten – und dann gibt es zwei Tote, womit sich die Gladow-Bande viele Sympathien seitens der Gesamtberliner Bevölkerung verscherzt. Mit Hilfe eines »Singvogels« kommt die Ost-Kripo dem 18jährigen Bandenchef auf die Spur. Er hält sich in der elterlichen Wohnung in Friedrichshain auf. Nach ordnungsgemäßem Klingeln an der Wohnungstür und einem nachfolgenden einstündigen Feuergefecht – beides könnte erhebliche Zweifel an der Befähigung der FahnderInnen wecken – wird Gladow verhaftet und im März 1950 verurteilt. Wie Mitstreiter Sohni (11 Jahre Gefängnis) berichtet, kommentiert sein junger Boß das gegen ihn verhängte dreifache Todesurteil auf eine Art, die den Richter leichenblaß werden läßt.* »Wissen Sie, Herr Richter, hat Doktorchen gesagt, einmal laß ich mir das ja gefallen, die Birne abhauen, aber det andere beede Mal, würde ich sagen, det is Leichenschändung.«

Gladow starb mit 19. Sein Wirken wurde bis heute schon wiederholt verfilmt oder auf die Bühne gebracht. Freilich sind die wenigsten so hartgesotten, wie sie vor Gericht abgekocht werden. Nun, nach der Verurteilung, bleiben ja Doktorchen in seiner Gefängniszelle in Frankfurt an der Oder noch immerhin rund acht Monate Zeit, um sich seine bevorstehende Enthauptung auszumalen – während die beiden Menschen, die er auf dem Gewissen hat, bestenfalls für Sekunden ahnten, jetzt gehe es ihnen an den Kragen. Somit liegt im ersten Fall eindeutig Folter vor. Mit schönen Grüßen an China und die USA.

* Jens Brüning, »Vom Metzgersohn zum Gangsterboss«, Deutschlandfunk Kultur, 8. April 2005: https://www.deutschlandfunkkultur.de/vom-metzgersoh-zum-gangsterboss.932.de.html?dram:article_id=128939



Gogh, Vincent van (1853–90), wohl Selbstmord. Wahrscheinlich ist es unmöglich, die »Fußgängerzone« einer beliebigen deutschen Kleinstadt zu durchqueren, ohne von einem Dutzend Reproduktionen seiner Gemälde auf Plakaten, Kalendern und Postkarten behelligt zu werden. Was Wunder, er soll der bekannteste und beliebteste Maler aller Zeiten sein. Wahrscheinlich liebt man vor allem seinen unkonventionellen und mythenträchtigen Werdegang, Armut und weitgehende Verkennung eingeschlossen, sowie die Preise seiner Bilder, die bis heute, nachdem er einmal tot war (Juli 1890), ziemlich stetig in astronomische Höhen stiegen. Man nimmt zumeist an, der »verrückte« Maler aus Holland, der zeitweise in Belgien, später in einem südfranzösischen Irrenhaus lebte, habe sich mit 37 Jahren eigenhändig erschossen. Die Umstände seines Todes sind ähnlich umstritten wie die Frage, ob sich Van Gogh im Streit mit seinem Kollegen und kurzzeitigen Wohngenossen Paul Gauguin das ganze oder nur das halbe Ohr abgeschnitten habe, wobei gelegentlich sogar Gauguin als der Täter gehandelt wird. Auch darüber sind bereits etliche Aufsätze und einige Bücher geschrieben worden. War es eigentlich das linke oder das rechte Ohr? Man wird vielleicht erwidern, das sei relativ, je nach Standpunkt des Betrachters. Mit der »Bedeutung« eines Menschen oder Werkes verhält es sich ähnlich, nur haben die PrägerInnen des Kanons, wie ich vielleicht schon einmal bemerkte, meist die Kanonen auf ihrer Seite – in Gestalt von Rotationsmaschinen, Lehrstühlen, Fernsehkanälen beispielsweise. Vor diese Kanonen gebunden, wird sich übrigens auch jeder junge Mensch, der als »Senkrecht-starter« in den zeitgenössischen Literaturbetrieb einzugehen gedenkt, zweimal überlegen, ob er das sogenannte Hauptwerk des belgischen »Klassikers« Charles De Coster, der 1879 mit 51 Jahren aus mir unbekannten Gründen von uns ging, in die Nähe von Lamme Goedzaks Schmerbauch und Thyl Ulenspiegels Esel rückt.

Ich will meine Abneigung kurz begründen, wobei ich mich auf die dtv-Dünndruck-Ausgabe in der Übersetzung Walter Widmers beziehe. Danach verzapfte De Coster sein Epos über den flämischen Befreiungskampf gegen die Spanier Ulenspiegel (1867) zu allem Unglück in einem altertümelnden Französisch, dem es gelingt, die starke Tendenz des Werkes zur Langatmigkeit bis zur Aussichtslosigkeit zu steigern. Die Nähe zum Alten Testament liegt für den Kenner schon durch De Costers inflationären Gebrauch des Bindewörtchens und auf der Hand. Auch De Coster liebt die Wiederholung, sowohl in stilistischer wie in thematischer Hinsicht, und er liebt die Verherrlichung von Kraft und Gewalt. Von den meisten Leuten, für die die »Weltliteratur« gedacht ist, scheint Kernigkeit als ein maßgeblicher, revolutionärer, unverzichtbarer Zug der Volksseele erachtet und geachtet zu werden. Aber man steht jenen Kanonieren mit einem Korkenzieher gegenüber, der nichts ankratzt. Es verhält sich wie mit den nutzlosen Dementis gegen breit und wuchtig ausgestreute Falschmeldungen.

Zurück zum Ohrabschneider. Essayist Herbert Eulenberg behauptete in einem kleinen, gut gemalten Porträt*, Van Gogh habe vielleicht unter Wahnsinn, nie jedoch an Ruhmessucht gelitten. Als Wanderprediger wie als Maler sei er einfach nur besessen von seinen Eindrücken gewesen. Er mußte sie also mitteilen – und wäre das Echo noch so gering gewesen. Es war auch gering. Doch was soll man da erst von seinem vier Jahre jüngeren Bruder Theo van Gogh sagen! Er überlebte seinen schaffenswütigen Bruder lediglich um ein halbes Jahr. Der gelernte Kunsthändler, zuletzt Filialleiter einer Brüsseler Kunsthandlung in Paris, hatte Vincents »Verrücktheit« in Kauf genommen, wenn nicht sogar geachtet und ihn über viele Jahre hinweg in jeder Hinsicht unterstützt – und zwar selbstlos, wenn mich meine Informanten nicht täuschen. Es wäre ein ermutigender Fall von Geschwister-liebe. Vincents Tod traf Theo hart. Aufgrund einer Syphiliserkrankung ohnehin bereits angeschlagen, zudem von seinem Einsatz für den Verstorbenen abgekämpft, erlitt er schon im Oktober 1890 einen Nervenzusammen-bruch. Seine Familie ließ ihn in eine Utrechter Heilanstalt bringen, wo er im folgenden Januar im Alter von 33 Jahren starb.

* Ausgewählte Schattenbilder, Ostberlin 1951, S. 223–30
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