Donnerstag, 10. November 2022
Straßenterror

Der Unmut über Straßennamen und damit auch über Regimewechsel, denen ja bekanntlich Umbenennungen von Straßen auf den Fuß folgen, begleitet mich seit meiner antiautoritären Jugendzeit. Eine der prächtigsten Straßen Kassels hieß und heißt selbstverständlich Goethestraße. In Kassel hat also das Regime nie gewechselt. Vermutlich stöhnt das parteilose Deutschland unter mindestens mehreren hundert, wenn nicht mehreren tausend Goethestraßen. Da kommt Walter Flex (1887–1917) trotz unseres jüngsten Krieges gegen die Russen nicht so schnell heran. Der thüringische Bedichter von Rauschenden Wildgänsen und Völkern in Eisen, steuerrechtlich Schriftsteller und Leutnant, starb mit 30 bei einem Gefecht an der Ostfront (Insel Ösel, Estland) den Heldentod. Neulich schrieb ich einen Lexikonartikel über ihn und kam beim Nachforschen auf mindestens 27 deutsche Walter-Flex-Straßen. Außenministerin Baerbock kann die Liste der aufgeflexten deutschen Orte gern bei mir anfordern. Aber ausgerechnet Eisenach, wo der Sohn eines dortigen »nationalliberalen« Gymnasialprofessors Abitur machte, hat bis heute mit einer Straßentaufe nach Flex gegeizt. Da läßt sich sicherlich noch etwas machen.

Vor 70 Jahren wurde in Essen der junge Gegner der Wiederbewaffnung Philipp Müller (1931–52) von der Polizei erschossen. Seitdem gab es in der DDR, nicht ganz unverständlich, zahlreiche Philipp-Müller-Straßen, darunter auch in Halle. Ich sagte: gab. 2012 wurde die in Halle nämlich in Willy-Brandt-Straße umbenannt. Der Unterschied zwischen hochherzigem und schäbigem Siegerverhalten war der Stadtratsmehrheit von Halle vielleicht nicht bekannt. Oder wollte man hier eine »klammheimliche« Verbindung nicht nur zu Brandts sogenanntem Radikalenerlaß, sondern auch zum Ende Benno Ohnesorgs herstellen? Damals, 1967, war Brandt in Bonn Außenminister und Vizekanzler gewesen – um von seinen Westberliner Parteifreunden Heinrich Albertz (Bürgermeister) und Erich Duensing (Ex-Generalstabs-offizier, Polizeipräsident) zu schweigen. Brandts Radikalenerlaß führte übrigens zu großangelegter Schnüffelei im Öffentlichen Dienst und mindestens 2.000 Berufsverboten – selbstverständlich ganz überwiegend gegen Linke ausgesprochen. Gegenwärtig wird daran wieder angeknüpft. Den Vietnamkrieg duldete Brandt. Gleichwohl werden gewisse Internet-Portale nicht müde, Brandts Status als sozialdemokratischer Säulenheiliger besonders mit der Behauptung zu verteidigen, er habe großartige »Entspannungspolitik« betrieben. Die kann dem Weißen Haus kaum mißfallen haben, heißt es doch in Tim Weiners umfangreicher CIA-Geschichte (deutsche Ausgabe Ffm 2008) auf Seite 400, die Yankees hätten während des ganzen Kalten Krieges »heimlich« [antikommunistisch gestimmte] Politiker in Westeuropa geschmiert – darunter »der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt« …

Übrigens lehne ich personenbezogene Straßennamen grundsätzlich ab. Ich verabscheue nämlich jeden Personenkult. Die Geschichte wird nicht von Personen, sondern von Strukturen und Bewegungen gemacht. Personen sind in ihr vergleichsweise unwichtig, daher auch sehr leicht austauschbar, wie das erwähnte Weiße Haus und diverse Berliner Regierungsgebäude seit vielen Jahrzehnten erleben. Dem Revolutionär und überragenden Schriftsteller Victor Serge, teils in der Sowjetunion aktiv, war das bereits vor 100 Jahren klar. Aber was für ein jämmerliches Bild gibt der Personenkult um Lenin bis Mao im Vergleich zu dem postmodernen Rummel ab, der in den westlichen »Demokratien« um die jeweiligen Hampel-männer oder Hampelfrauen der Nation gemacht wird! Das kommt natürlich der postmodernen Verbilderungssucht sehr entgegen. Sie wirft sich auch gern auf sogenannte Dichter. Von mir aus könnt ihr alle schönen Bilder von Baerbock, Wagenknecht oder dem jüngsten Büchner-preisträger in die Wüste schicken, damit die Kamele etwas zu lachen haben.

Was denn bitte die Alternative wäre? Ich sage nur: Hirschsteig, Am Pfaffenhütchen oder auch Ziegenberg-straße, so in Waltershausen, wo ich wohne. Das sind wunderschöne Namen, an die sich ausführliche Lehrgespräche über die deutsche Flora und Fauna knüpfen lassen. Sie werden natürlich einwenden, dafür sei Deutschland inzwischen (wieder) viel zu groß. So viel Natur gäbe es hier gar nicht mehr, daß sich damit das gesamte Straßenetz abdecken ließe.
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