Donnerstag, 21. Dezember 2023
Risse im Brockhaus 4
ziegen, 09:52h
Nicht wenige empfindsame kritische Zeitgenossen werden immer mal wieder von der Gleichzeitigkeit oder dem Nebeneinander von Dingen oder Vorfällen verstört, die sie eigentlich für miteinander unvereinbar halten. Das muß sicherlich nicht so handfest aussehen wie die Beobachtung, die ich einmal vor Jahren mit den Augen eines im Hinterhof am Fenster Stehenden traf – aber auch so etwas kommt durchaus gelegentlich vor. Da sah ich also diesseits der Hofmauer ein fröhliches, seilspringendes kleines Mädchen, während jenseits, auf der dort verlaufenden Gasse, gerade ein fröhlich radelnder kleiner Junge unter einen Lastwagen kam. Selbstverständlich kann der Hof auch in Kalkutta und die Gasse in Los Angeles liegen. Der Hof kann auch, bei vertauschten Rollen, ein Garten oder ein sogenannter Gazastreifen sein. Auch die zeitliche Nähe der beiden Dinge oder Vorfälle ist für das Gefühl, dauernd Zerreißproben beizuwohnen, eher unerheblich. Brockhaus schafft die Nähe jedoch in zwei lückenlos abgedruckten, hier verkürzt angeführten Einträgen nahezu mustergültig. In der Schlucht Babij Jar bei Kiew wurden im September 1941 von Angehörigen eines deutschen Polizeibatallions mehr als 30.000 Juden ermordet. Nach Wikipedia waren es mehr als 33.000, ermordet innerhalb von 48 Stunden. Das müssen Sie sich einmal vorstellen. Der Pariser Tänzer Jean Babilée war ab 1945 Star der »Ballets des Champs-Elysées« von R. Petit. Brockhaus vergißt nicht, seine »große Sensibilität, hervorragende Technik und außerordentliche Sprungkraft« hervorzuheben. Er starb 2014 mit knapp 91.
Nicht jeder Bach plätschert harmlos übers Cembalo. Im Falle des Germanisten Adolf Bach (1890–1972) klingt Brockhaus freilich gerade so. Er sei Professor in Straßburg und Bonn gewesen und habe »grundlegende Untersu-chungen zur deutschen Volks- und Namenskunde« vorge-legt. 1930 gründet er ein Rheinisches Flurnamenarchiv. So das Wesentliche. In den Fußnoten (Publikationen) tauchen allerdings einige Jahreszahlen aus dem »Dritten Reich« auf. Ernst Klee ergänzt: NSDAP seit 1933. Bekennt sich ausdrücklich zum Führer. »Kampflehrstuhl« in Straßburg ab 1941 [wohl bis 1945]; nach Kriegsende dann Professor bezw. Lehrbeauftragter in Bonn … Der dortige neue Führer hieß Adenauer. Dessen Adjutant war bekanntlich Hans Globke, der 1938 als Ministerialbeamter für eine sogenannte Namensänderungsverordnung gesorgt hatte. Sie nahm sich nicht der deutschen Fluren, vielmehr jenen deutlich mehr als 33.000 deutschen Juden an. Bach habe aber ungünstige Beurteilungen seitens der SS einstecken müssen, wissen seine Freunde. 1971, noch rechtzeitig vor seinem Ableben, wird er durch ein Großes Bundesver-dienstkreuz mit Stern geehrt. Also doch nur ein harmloser Mitrinner, wie man scherzen könnte.
Den altindischen angeblichen Philosophen Badarayana (um Chr.) streife ich nur aus musikalischen Gründen. Dieser Yogi muß ein Meister des Gleichklangs gewesen sein, weil sein Name immerhin fünf a‘s aufweist. Tennessee etwa, US-Staat und Fluß, kann nur mit vier e‘s, dafür allerdings mit drei Zwillingsbuchstaben glänzen.
Laut Brockhaus war der Kunsthistoriker Kurt Badt (1890–1973) vorwiegend an der neuzeitlichen Kunst interessiert. Sein Yogi scheint Cézannes gewesen zu sein. Von Hause aus wohlhabend, war er zeitweise Obstgutbetreiber am Bodensee. 1939 wegen jüdischer Wurzeln wohlweislich nach London ausgewichen, kehrte er 1952 wieder in die geschätzte Gegend zurück, diesmal nach Überlingen, wo er auch starb. Nur wegen Überlingen erwähne ich ihn. Die ehemalige Kreisstadt am nördlichen Seeufer scheint nämlich bei diversen Prominenten, darunter viele GeistesarbeiterInnen, ein beliebter Wohnort für den sogenannten Lebensabend zu sein. Diesbezüglich fallen mir, die Nachkriegszeit betreffend, auf Anhieb vor allem Friedrich Georg Jünger und der Kunstkritiker Karl Scheffler ein, auf die ich mich öfter stütze. Ferner gibt mir das Internet interessante Leute wie den Komponisten Justus Hermann Wetzel, den Heilfastenarzt Otto Buchinger und den bedeutend weniger interessanten Schriftsteller Martin Walser an. Der Letztgenannte ist gerade erst im zurückliegenden Sommer – ebendort, in Überlingen, von uns gegangen. Was sie alle nun an Überlingen fanden und finden, habe ich noch nicht herausbekommen. Vielleicht zahlt das Bürgermeisteramt da Prämien? Mir ist auch nicht bekannt, ob sich die Angeführten persönlich kannten oder gar gemeinsam Pläne oder Intrigen schmiedeten. Vielleicht wäre das Stoff für einen Kriminalreißer? Prompt reihe ich noch einen gewissen Walter Frentz ein, der 2004, hochbetagt und anscheinend stets unbehelligt, in Überlingen starb. Der Mann hat viele hübsche Fotos von Adolf Hitler – oder für Leni Riefenstahl gemacht.
Obwohl der Bielefelder Buchdrucker und Verleger Dietrich Baedeker (1680–1716), zuweilen mit d im Vornamen geschrieben, auch nach Brockhaus als »Stammvater« jenes bekannten, ja weltberühmten Verlegerclanes gilt, der ab 1832/35, unter Enkel Karl Baedeker, Koblenz, Reisehandbücher herausbrachte, verrät im ganzen Internet niemand, woran er mit ungefähr 36 Jahren gestorben ist. Vielleicht wüßte es das Bielefelder Stadtarchiv? Wie ich jedoch auf dessen Webseite sehe, will es Geld von mir, pro angefangene 10 Minuten der Bearbeitung einer Anfrage 10 Euro. Wahrscheinlich steckt es meine Kohle dann sofort in das Band der Webseite. Es glänzt mit Grafiken, die zeitgemäß alle paar Sekunden wechseln, damit ich begreife, wie fesselnd Geschichte sein kann. Nebenbenbei ziehe ich mir dadurch, durchs Betrachten der so anregend gestalteten Webseite, endlich Parkinson zu, was zusätzlich die Gesundheitsindustrie erfreut. Also ich sage euch Hannoveranern, ihr könnt mich mal.
Im Frühsommer 1991 wollte mir eine Freundin aus der eben aufgelösten DDR unbedingt Mecklenburg und insbesondere das Seebad Heiligendamm zeigen. Ihr Großvater hatte ihr nämlich gerade eine Kiste mit Büchern vererbt, darunter einen alten, ihrem Reisewunsch entsprechenden Baedeker von 1917. Der dunkelrote Einband wies den Titel in Goldprägung auf. Wie sich herausstellte, war im Eintrag über Heiligendamm ein schräg auf die Ostseeküste zulaufender herrlicher Buchenwald völlig zurecht hervorgehoben worden. Wir hörten viele Vögel und trafen keine Menschenseele. Die verblichenen, klotzigen Kurgebäude der damals noch verlassenen Weißen Stadt am Meer hätten kaum trostloser wirken können. Ein etwas kleineres, verschachteltes Gebäude stand hart an der Steilküste – just wo der Buchenwald auslief. Die ewig tosende See und die schrillen Möwenschreie im Ohr, wäre in dieser »Villa Wilhelmshöhe« womöglich jeder Gast so rammdösig und reizbar geworden wie unser letzter Kaiser und alle fürstlichen Vollidioten vor ihm – und möglicherweise auch Präsident Bush oder Kanzlerin Merkel nach ihm. Die letztere war im Juni 2007 die Gastgeberin des bekannten G-8-Gipfels der Volksverhöhnung. Vermutlich sah sich der Dom des Buchenwaldes ziemlich jäh in einen Tummelplatz joggender Präsidentenleibwächter verwandelt. Würfe man das Geld für die in nur einem Jahr abgehaltenen, stets fruchtlosen UN-, EU- und Gipfelkonferenzen in den Kollektenbeutel jenes Domes, könnte man das ganze Amazonasbecken wieder aufforsten, mit Regenwald.
Ich will nicht behaupten, Brockhaus hätte den süddeutschen Kommunalpolitiker Volker Baehr (1943–81) unbedingt berücksichtigen müssen, aber es wäre jedenfalls theoretisch möglich gewesen. Sein buchstäblicher Fall bahnte sich in der schwäbischen Kreisstadt Ditzingen an, die bis zum Herbst 1980 im restlichen Deutschland vergleichsweise unbekannt gewesen sein dürfte. Nun jedoch geriet zunächst der dortige Oberbürgermeister Alois Lang (CDU) ins Stolpern, waren doch »Grundstücksgeschäfte« ruchbar geworden, die Lang »am Gemeinderat vorbei« gemacht hatte.* Er trat zurück. Ein Jahr darauf, am Montag den 7. September 1981, steuerte sein gewählter, designierter Amtsnachfolger Volker Baehr, ein 37 Jahre alter Volkswirt, Städteplaner und SPD-Politiker, im Morgengrauen und in verzweifelter Verfassung die bei Widdern gelegene, bis 80 Meter hohe Jagsttalbrücke der A 81 an. Baehrs Amtseinsetzung stand erst bevor, weil sie durch den verwaltungsrechtlichen Einspruch zweier weit abgeschlagener Mitbewerber über Monate hinweg sabotiert worden war. Für Lokalredakteur Rainer Schauz** waren Baehrs angebliche »Depressi-onen«, so die Polizei, just dem Sumpf der örtlichen Korruption und der entsprechenden Intrigen gegen Baehrs durchaus lautere Absichten entsprungen, denselben trocken zu legen. Aber der »feinsinnige«, gern Schach spielende neue Oberbürgermeister sei wohl nicht »abgebrüht« genug gewesen, um beispielsweise auch noch die Schläge einzustecken, die ihn auf der für diesen Montag anberaumten Sitzung über die Neuordnung des Baudezernates erwarteten. Die halbe Nacht durch soll er mit seiner Frau Angelika gesprochen haben, einer berufstätigen Lehrerin. Wie aus dem Bekanntenkreis zu hören ist, bemühte sich die Ehefrau vergeblich, ihm das Gefühl des Versagens zu nehmen und ihn gleichwohl zum »Ausstieg« aus der Politik zu bewegen. Sie meldete ihn noch am selben Tag als vermißt. Daraufhin wurde er zerschmettert unter der erwähnten Brücke gefunden. Aussagen von nahen Autobahnbauarbeitern zufolge hatte sich der 37jährige »entschlossen« in die Tiefe gestürzt. Falls ihm der Gedanke an den abzusehenden Schock seiner Angehörigen gekommen war, hatte ihn dieser offensichtlich nicht zurückzuhalten vermocht.
* Franziska Kleiner: »Ungeschönter Blick in die Ditzinger Geschichte«, Stuttgarter Zeitung, 23. Juni 2016
** »Volker Baehrs Brückensturz war tiefe Resignation«, Stuttgarter Nachrichten, 11. September 1981
Auf das Stichwort Fallen vorgegriffen, macht man über dem aufgeschlagenen Band 7 ein langes Gesicht. Brockhaus kennt, in wenigen Zeilen, lediglich jene Käfige, Kästen, Schlingen, wie Wilderer oder häusliche Mäusejäger sie verwenden, und die bekannten Gruben. Sowohl der gewaltige Bereich des politischen wie des psychologischen Fallenstellens bleibt unerschütterlich ausgeklammert. Dabei ist doch der Mensch sehr wahrscheinlich das Tier, das sich ungefähr zu 50 Prozent seiner Lebenszeit mit nichts anderem befaßt, als sich die Welt oder die lieben Mitmenschen durch Feuer und Fallen zu unterwerfen.
Brockhaus bringt es in Band 7 noch nicht einmal fertig, einige andere Tiere zu streifen, die ebenfalls im Fallenstellen keineswegs Waisenknaben sind. Aber in Band 2 tut er es. Dort teilt er uns mit, Bakteriophagen seien »Viren, die Bakterien infizieren und sich in diesen vermehren. Sie besitzen keinen eigenen Stoffwechsel, sondern steuern den ihrer Wirte um und bilden so die zu ihrer Vermehrung notwendigen Enzyme.« Ja, mein Gott, wenn das nicht erstaunlich durchtrieben ist! Oder hatte Gott womöglich gar nichts damit zu tun? Und prompt fährt Band 2 die nächsten ausgefuchsten Fallenstellerinnen auf, nämlich die kleinen Baldachinspinnen. Diese Winzlinge hängen ihren gewebten »Baldachin« kunstvoll wie eine Zimmerdecke zwischen zwei übereinander liegenden Zweigen auf, verbergen sich unter ihm und warten seelenruhig auf die Beuten, die sich im Gewirr der angelegten Stolperdrähte vertun und deshalb in den Baldachin plumpsen. Nun eilt die Spinne händereibend herbei.
Ich erinnere auch an zahlreiche Arten »fleischfressender« Pflanzen und an den hübschen Aronstab, der die Beutetierchen in seine als betörende Blüte getarnte, gleichwohl arschglatte »Fliegenkesselfalle« lockt, damit sie ihn an deren finsteren Grund bestäuben. Ihm selber hatte Gott keine Bestäubungseinrichtung mehr mitgeben können, mangels Zeit. Schließlich hatte er die ganze irrsinnige Vielfalt der Welt in nur sechs Tagen zu erschaffen, wie jeder weiß. Somit spricht vieles dafür, daß die Kunst des Fallenstellens nicht auf unserem Mist gewachsen, vielmehr ein Grundzug allen kosmischen Lebens ist. Wir haben sie lediglich enorm ausgeweitet und verfeinert.
Weiter oben erwähnte ich ja eben erst Ehrenburgs Meinung, Revolutionär Babeuf habe sich einfältigerweise durch Longcamps Inszenierung einer Urkundenfälschung aus der Picardie vertreiben und überdies kräftig verleumden lassen. Berühmt ist die Afghanische Falle, wie der US-Präsidentenberater Zbignew Brzeziński sie einmal nannte. Man hatte die Sowjets 1979 zum Einmarsch in das Wüstenreich verleitet, um sie so weltweit in Mißkredit zu bringen, vom sowjetischen Blutzoll einmal ganz zu schweigen. Ferner fällt mir eine vergleichsweise primitive Begebenheit aus meinem Wirken als Handwerksgeselle der »Freien Marktwirtschaft« ein. Mein Chef wollte zu einer wichtigen Restauratoren-Konferenz reisen, fand aber seine Brieftasche nicht, obwohl er Büro und Laden auf den Kopf stellte. Also kam er zu mir in die Werkstatt, drückte mir den Schlüssel seines schwarzen Mercedes 300 in die Hand und sagte: »Fahren Sie mal eben in meine Zweitwohnung, Herr R., vielleicht steckt die Brieftasche da in irgendeiner Jacke!« Er lebte damals gerade in Scheidung. Befehl war natürlich Befehl – zumal sein Auto trotz des Raketentriebwerkes wie ein Kater schnurrte. Ich fühlte mich also wieder einmal beträchtlich geschmeichelt. Argwohn faßte ich nicht. Prompt durchsuchte ich seine Zweitwohnung vergeblich nach der Brieftasche. Auf der Rückfahrt dämmerte mir freilich: wenn er jetzt behauptet, du hättest die mit Banknoten vollgestopfte Brieftasche selber verschwinden lassen, bist du angeschissen. Denn wie wolltest du ihm das Gegenteil beweisen, solange die Brieftasche nicht wieder auftaucht?
Diese mögliche Falle ging jedoch glücklich an mir vorüber. Er nahm seinen Autoschlüssel mit der beinahe beiläufigen Bemerkung entgegen: »Schon gut, Herr R., Frau Z. hat die Brieftasche inzwischen in meinem Kittel gefunden.« Z. war die Näherin. Er hatte in der Nähstube zugeschnitten und dabei seinen Kittel ausgezogen, weil Frau Z. unterdessen wie der Teufel Gardinen bügelte. Es war ihm zu heiß geworden. Mir, in seiner Zweitwohnung und dann auf der Rückfahrt, auch.
Was soll man zum Balkon schon groß sagen? Brockhaus sagt, er begegne uns im frühen Mittelalter an Burgen. In Deutschland sei er um 1350 in den Wohnbau übernommen worden. Warum, sagt er nicht. Für Brockhaus scheint sich der Sinn von Balkonen von selbst zu verstehen. Man ist zugleich zu Hause und außer Haus und dabei noch vom Bürgersteig aus nicht so leicht zu behelligen. Als ich an Hafenspeichern einmal Gestänge vor Luken sah, die anscheinend zum »Einfangen« der hochgehievten Lasten dienten, entwickelte ich die Vorstellung, ein ganzer familiärer Kaffeeklatsch oder eine vergiftete Konferenz von Kommunarden fiele urplötzlich mitsamt dem Balkonfußboden auf die Straße, um dort zu zerschellen und dergestalt wieder Ruhe einkehren zu lassen. Als Mahnmal stand dann nur noch das schmiedeeiserne Balkongeländer vom Haus ab. Ich kam freilich auch rasch auf widerspenstige Balkone, die sich diesen ganzen Zirkus nicht mehr bieten lassen wollten. So flogen sie eines Herbsttages kurzerhand aus der ganzen Stadt im Schwarm den Rauchschwalben und Störchen nach – gen Süden, wie sich versteht, weil ja sowieso wieder Schnee und Eis drohten.
Ich gehe zu meinem im Vorraum stehenden Kleiderschrank und ziehe daraus Ilse Aichingers grau eingebundenes, schmales Buch Schlechte Wörter von 1976 hervor. »Ich lasse mir nicht mehr Angst machen«, lese ich da, »ich habe genug davon.« Im selben Buch verhehlt sie auch nicht, das Herstellen von Zusammenhängen und die Abgabe von Erklärungen zu verweigern.
Ja, mein Gott, aber warum schreibt denn dann ein Mensch? Um seine LeserInnen vor den Kopf zu stoßen? Aichingers in dem Fundstück versammelte kurze Prosatexte haben einen enormen Sog, aber keinen nachvollziehbaren Sinn. Es darf natürlich gerätselt und emsig ausgelegt werden. In einem Stück grenzt die Beobachterin tatsächlich einheimische von ausheimischen Balkonen ab. Vermutlich sind diese Texte nicht nur dem damals herrschenden Trend zum Hermetischen sondern auch Aichingers Naturell geschuldet. Sie war keine Aufrüttlerin wie zumindest streckenweise ihr Ehemann Günter Eich. Aber Clown. Beim Nachwort des Schöndünsters Heinz F. Schafroth hat man ebenfalls zu lachen. Er breitet gelehrte Sülze über die »leergefegten Räume« in Aichingers Texten aus, die unser Bewußtsein verschärften und erweiterten – die leergefegten Räume. So werden verschärft bedeutende SchriftstellerInnen gemacht.
Vielleicht hätte Aichinger erwidert, der Mensch schreibe für sich. Nun gut – aber sie hatte und hat ein großes Publikum, einen ausgezeichneten Ruf und das entsprechende Einkommen beziehungsweise Erbe. Die Großschriftstellerin, wie ein paar Anarchisten sie angeblich nennen, starb im November 2016. Bis dahin wurden ihr geschlagene 24 Literaturpreise nachgeworfen. Setzen wir im Preisgeld einen niedrigen Schnitt von 10.000 Euro an, kommt sie schon auf 240.000 Euro. Der berüchtigte Volksmund hat für dieses Phänomen den Spruch bereit, der Teufel scheiße immer auf den größten Haufen. Sie wenden vielleicht ein, 240.000 Euro seien nicht gerade überwältigend. Nur hat die Frau auch rund 20 Bücher veröffentlicht, die durchweg ungleich besser gehen als etwa die Werke von Emma Waiblinger oder Gottfried Kapp. Wobei mich ihr wahrscheinlich berühmtestets Buch Die größere Hoffnung, ein früher Roman, keineswegs vom Hocker gerissen hat. Aber jeder muß ihn lesen. Ich sprach von den Erben. Was da an Tantiemen rollt, weiß ich zufällig von einem »Insider« des Literaturbetriebs, weil er einmal einen Essay von mir lobte und mich auch einmal besuchte. Er hatte mit einem Schriftsteller zu tun, der ähnlich erfolgreich wie Aichinger oder Eich war. Die beiden Töchter des Verstorbenen bezogen (um 1990) vom Verlag ihres Erzeugers halbjährlich Schecks, die pro Kopf dem Halbjahresgehalt eines Busfahrers oder eines Lehrers entsprachen. So viel Geld – nur für Bücher? Nein, für nichts. Da können sich vermutlich manche Abkömmlinge leicht wie ein leergefegter Raum vorkommen.
Die Ballenpressen, die bäuerliche Herzen seit einigen Jahrzehnten weltweit höher schlagen lassen, stellt Brockhaus sogar mit Grafik vor. Der zeitgenössische Wanderer wird vor allem die fetten Rundballen aus Stroh und Heu kennen. Ist er sich aber auch über die Unfall-gefahr im Klaren? Falls er nicht wandert, vielmehr fährt?
Der englische Musiker und Hippie Mike Edwards (1948–2010) hatte Piano und Cello studiert und wurde vor allem am zweiten Instrument bekannt. In den 1970er Jahren spielte er es für mehrere Jahre in der damals auch im Ausland vielverehrten Birminghamer Rockband Electric Light Orchestra (ELO), bis ihn fernöstliches Gedankengut erreichte und erleuchtete. Er wurde also frommer Hippie, blieb aber immer auch der unterschiedlichsten Musik treu, so in seinen letzten Lebensjahren im Devon Baroque orchestra. Er lebte südlich von Exeter im Städtchen Totnes unweit des Ärmelkanals, das für seine Kunst- und New-Age-Szene bekannt ist. Am 3. September 2010 auf einer Landstraße südlich von Totnes solo per Auto unterwegs, wurde Edwards‘ Wagen unvermittelt von einem Ding aus der Bahn geworfen, das sich im Nachhinein, allerdings nicht mehr für Edwards, als rund 600 Kilogramm schwere Walze aus Heu entpuppte. Sie war von einem Hügel auf die Straße gerollt – und Edwards kostete dieser Angriff das Leben. Der Ballen hatte zunächst Ewards‘ »Van« gerammt; dann rammte dieser einen weiteren Pkw, der gerade die Unfallstelle passierte. Dessen Fahrer blieb unverletzt. Edwards dagegen, erst 62, soll auf der Stelle tot gewesen sein.
Die Polizei vermutete zunächst, der Ballen sei einem Anhänger oder dem Frontlader eines Schleppers entfallen, doch das stellte sich offenbar als Trugschluß heraus. 2011 oder 12 gab es nämlich ein Gerichtsverfahren gegen die beiden für die am Hang gelagerten Rundballen verantwortlichen Landbewohner Brian Burden, 46, und Russell Williams, 23. Verstehe ich unterschiedliche Quellen richtig, machten die Angeklagten geltend, sie hätten die Ballen eigens quer zum Hang oder auf einer Hangstufe abgestellt, um so die Gefahr ihres Fortrollens zu bannen. Tatsächlich verließen sie das Gericht als freie und unbescholtene Männer.* Anscheinend war der tödliche Zwischenfall als Unfall gewertet worden, der jeden heimsuchen kann. Von daher wäre vielleicht jeder gut beraten, sein Auto lieber verschrotten zu lassen.
* »ELO cellist Mike Edwards hay bale death: Farmers cleared«, https://www.bbc.com/news/uk-england-devon-20399136, 19. No-vember 2012
Im reich bebilderten Eintrag Ballett taucht die Französin Emma Livry (1842–63) nicht auf. Aus einigen Internet-Abbildungen schließe ich, sie war ungefähr so wespen-taillig, flachbrüstig und ehrgeizig wie alle Ballerinen. Nur zeitigte das Streben nach Rampenlicht in ihrem Fall buchstäblich tödliche Folgen. 1860 hatte die blutjunge Künstlerin halb Paris als Schmetterling in Marie Taglionis Ballett Le Papillon hingerissen. Die Musik stammte von Jacques Offenbach. Zwei Jahre darauf kam Livry bei einer Bühnenprobe in der Pariser Oper mit ihrem Kostüm dem sogenannten, damals noch mit Gas betriebenem Rampenlicht zu nahe. Das Kostüm fing Feuer. Livry soll einer lebenden Fackel geglichen haben. Sie erlag ihren schweren Brandverletzungen, erst 20 Jahre alt, im Sommer 1863, wobei freilich auch Behandlungsfehler im Spiel gewesen sein sollen. Zwar war zu ihrer Zeit bereits »Brandschutzkleidung« im Schwange, doch Livry und andere TänzerInnen hatten diese als »zu häßlich und zu steif« abgelehnt. Ein aufgeklärter Tänzer hätte vielleicht gesagt, die Schutzkleidung enge ihn ein, ja sie mache ihn geradezu krank.
Man stelle sich einmal vor, einem afrikanischen Steinzeit-jäger seien plötzlich beispielsweise mittelalterliche Ritter, heutige RadfahrerInnen, ÖlschlicksammlerInnen, Unfallärzte, Feuerwehrleute und andere »Sicherheits-kräfte« begegnet – er hätte entsetzt gedacht, sie kämen vom Mond. All diese teuer (von Löhnen oder Steuern) bezahlten Rüstungen sind auf Seiten ihrer TrägerInnen für Schwitzbäder, Atemnot, Hautausschlag und Herzinfarkt, auf Seiten Dritter für Angst und Grauen gut. Es wird nicht mehr lange dauern, dann trägt auch der gewöhnliche Passant auf der Straße nicht mehr Maske, vielmehr Imker- oder Astronautenkluft, damit die Viren nicht so leicht zustechen können. Frauen in arabischen Ländern sind das bereits gewöhnt. Aber sie kennen eine wichtige Faustregel der Zivilisierung nicht: Je mehr Dinge und Einrichtungen wir zur Steigerung unseres Wohlbefindens erfinden, desto aufwendiger unsere Mühen, uns vor deren verderblichen Auswirkungen zu schützen. Im Falle des Staates fällt das schon fast von Gründung an zusammen. Und sei es, indem die aus dem einen Staat Verjagten oder Ausgetretenen einen anderen Staat gründen, einen sogenannten Freistaat nämlich, wie um 1800 in Nordamerika.
In diesem Sinne spricht die französische Wikipedia weise Worte. Livry wand sich also brennend und schon fast nackt auf der Bühne. Da habe ihre Lehrerin, eben jene ehemalige Tänzerin Marie Taglioni, nach einem Abschminktopf geschrieen und Livry gleich darauf, in dem Glauben ihr zu helfen, mit dem Fett beschmiert. »Das Heilmittel erwies sich als schlimmer als die Krankheit.«
Die Ballung, in sozialpolitischer Hinsicht oft als ganzer Ballungsraum verstanden, auch Agglomeration oder Metropolregion genannt, wird von Brockhaus viel zu dürr behandelt. Man merkt, er hat für die zivilisatorische Tendenz, die ich gern Mammutisierung nenne, kein tieferes Verständnis. Als günstige Auswirkung der Tendenz führt er selbstverständlich die gewaltige Steigerung der auf einem Haufen möglichen »Vielfalt« an Konsum- und Gewinnmöglichkeiten an. Tausend »unnötige« Wege und Schliche entfallen. Ungünstig dagegen wirkten sich die »durch Verdichtung hervorgerufene Flächenknappheit und deren Folgen« aus, voran die Explosion der Grundstückspreise, dann Lärm sowie Wasser- und Luft-verschmutzung. Das war es schon. Die Undurchschaubar-keit unserer Ballungsräume für alle ZweibeinerInnen, die keine PolitikerInnen, Rechtsanwälte oder Steuerberater-Innen sind, kommt nicht zur Sprache. Letztlich führt aber gerade sie zur Unbeherrschbarkeit der Ballungsräume. Nebenbei sind unsere geografischen Klumpen natürlich wunderbare, einträgliche Ziele für sogenannte »Marschflugkörper« oder in Kanalröhren hinterlegte Sprengladungen. Für alle GaunerInnen, die keine PolitikerInnen, Rechtsanwälte oder SteuerberaterInnen sind, stellen sie den idealen Tummelplatz dar, weil sie auf diesem gar nicht mehr auffallen. Die hochgerüstete Polizei ist machtlos. Da helfen auch die riesigen Türwächter-Figuren vor der Bangoker Tempelanlage Wat Phra Keo nicht, die uns Brockhaus auf einem Foto zeigt. Der Ballungsraum Bangok, Thailand, hat derzeit schon gut 14 ½ Millionen EinwohnerInnen. Bevor Sie da im Hi-End Snooker Club eintreffen, wo neuerdings die Ballerinen dieser Billardsportart fast wie am Fließband gebacken werden, sind Sie schon dreimal ausgeraubt und ermordet worden oder eben an der hohen Luftverschmutzung krepiert. Die einzig wirksame Gegenmaßnahme könnte man wohl Entflechtung der Ballungsräume nennen – aber wie diese Maßnahme »nachhaltig« gute Ergebnisse ohne die Zerschlagung der Ballungsräume liefern soll, weiß kein Sozialreformer zu sagen.
Dem ukrainischen Faschisten Stepan Bandera (1909–59) hätte ich ein paar Zeilen gegönnt, wird er doch in der westlichen Ukraine, wahrscheinlich sogar im Berliner Regierungsviertel, bis zur Stunde als bedeutender Widerstandskämpfer (selbstverständlich gegen die Russen) und Held verehrt. Die paar hundert oder tausend Juden, die er im Lemberger Raum unter Deckung der Nazis von der Erde tilgen ließ, können westdeutsche Israelfans nicht beirren: das war ein staatenloses Gesindel damals. Zwar gab es auch Streit zwischen den deutschen Besatzern der Ukraine und dem Sohn eines griechisch-katholischen Priesters Bandera, doch sie verdonnerten ihn nur vorübergehend zu »Ehrenhaft« im KZ Sachsenhausen. Nach dem Krieg durfte er zunächst unbehelligt in München residieren. Aber als er fast 51 war, kam ein angeblicher SU-Agent und ermordete ihn. Er wurde auf dem Münchner Waldfriedhof ehrenhaft begraben.
Immerhin erwähnt Brockhaus in seinen fünf Zeilen über die russische Schriftstellerin Natalja W. Baranskaja (1908–2004) das einzige Buch, das ich von ihr kenne. Und erfreulicherweise behandelt es nicht den russischen Nationaldichter Alexander Puschkin (1799–1837). Der stammte aus blaublütigen und betuchten Kreisen und blieb auch in ihnen, was sich nicht zuletzt, wenn auch tödlich, durch ein Duell bewies, bei dem sich der 37jährige Anfang 1837 in Sankt Petersburg einen Bauchschuß einfing, der ihm zwei Tage später das Lebenslicht ausblies. Wie sich versteht, war es um eine Frau gegangen: Natalja, geboren 1812. Es war die von Puschkin. Ein Geck namens Georges-Charles de Heeckeren d'Anthès, von Beruf Gardeoffizier, hatte Nataljas Schwester Katharina Gontscharowa geheiratet, machte aber gleichwohl weiterhin Frau Puschkin den Hof, die als schönste Frau der damaligen Hauptstadt des Zarenreiches galt. Da blieben, in solchen Kreisen, die Gerüchte über Tändeleien bis hin zum Ehebruch nicht lange aus. Als Herr Puschkin dem Adoptivvater seines angeblichen Nebenbuhlers einen beleidigenden Brief schickte, sah sich Heeckeren gezwungen, den Verfasser zum Duell zu fordern. Allerdings ist diese Version der Angelegenheit umstritten; manche ForscherInnen neigen sogar zu der Ansicht, der »Nationaldichter« sei hier träumenden Auges in eine Falle gelaufen, also einer Intrige oder gar einer Verschwörung aufgesessen. Immerhin hatte Puschkin unter ständiger Beobachtung der zaristischen Geheimpolizei gestanden, weil er als unbequem galt. Außerdem war er stark verschuldet, was wiederum Selbstmordtheorien entgegenkam.
Es lag Baranskaja fern, sich in diesen Streit einzumischen. Eben um ihre damals so früh verwitwete Vornamens-schwester kreist nämlich ihre Novelle Ein Kleid für Frau Puschkin. Der Text erschien 1977 zunächst in einer Zeitschrift. Womöglich hat er mehr Liebreiz als sämtliche Kleider seines Gegenstandes zusammen. Übersetzer war (1982) Wolfgang Kasack. Von Hause aus eher ängstlich, sieht sich die ätherische Heldin mit der Wespentaille eigenen und fremden Schuldvorwürfen ausgesetzt. Sie wird hier aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beobachtet, so von einer nicht von Bosheit freien Freundin, ferner von Geschwistern, Eltern, Dienern, schließlich auch mit ihren eigenen Augen. Durch Baranskajas behutsame, gleichwohl unbestechliche Sprache entsteht dabei ein anschauliches Porträt sowohl der gebeutelten Witwe wie der damaligen »besseren« russischen Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts. Dabei ist das Porträt der Witwe, wie sich versteht, nicht weniger erfunden wie Ivan Makarovs Gemälde von 1849, das vermutlich viele BetrachterInnen für betörend halten.
Den US-Bandleader Walter »Brother« Barnes (1905–40) hätte ich in den Brockhaus aufgenommen, weil er einem Unglücksfall zum Opfer fiel, der Musikgeschichte schrieb. Der dunkelhäutige Jazzmusiker hatte sein Handwerk in Chicago gelernt. Er spielte Klarinette und Saxophon, brachte es aber bald zum Leiter einer Bigband, die unter anderem im heimischen Cotton Club auftrat, den Al Capones Bruder Ralph betrieb. Zudem verfaßt er, wie seine Gattin Dorothy, Zeitungsartikel aus dem Fach, voran für das Blatt The Chicago Defender. Dadurch hilft er ein nicht völlig uneigennütziges Netzwerk afro-amerikanischer U-MusikerInnen und VeranstalterInnen knüpfen. In den 1930er Jahren, nach Plattenaufnahmen mit seiner damaligen Band Royal Creolians, dehnt Barnes seine Tourneen sogar in die Südstaaten aus. 1938 umfaßt sein Orchester 16 MusikerInnen.
Als seine Kings of Swing, wie sie nun heißen, am 23. April 1940 im Rhythm Club in Natchez, Missisippi, auftreten, stehen zufällig ein paar Leute weniger auf der Bühne. Nach den meisten Quellen liegt der Club in einer eher schäbigen, aus Holz gebauten Baracke. Fenster und Hinterausgang sind versperrt, um zahlungsunwillige Gäste fernzuhalten. Als Rauch aufkommt, fällt dem 34jährigen Bandleader möglicherweise der Titanic-Orchester-Trick ein: er läßt nämlich angeblich weiterspielen, um eine Panik unter den dicht gedrängten Tanzpaaren zu vermeiden.* Die letzten Töne des Stückes »Marie« sollen von Trompeter Paul Stott zu hören gewesen sein.
Neben acht oder 10 Bandmitgliedern (je nach Quelle), darunter Barnes und die Sängerin Juanita Avery, fordert das Feuer noch knapp 200 andere Todesopfer. Die meisten wurden vom Rauch vergiftet oder von Flüchtenden niedergetreten. Weitere der über 700 anwesenden Personen erlitten teils schwere Verletzungen. Nur zwei der Kings of Swing kamen mit dem Leben davon, versichern einige Quellen: Schlagzeuger Brown und Bassist Edward. Das Unglück ging in etliche Songs ein, darunter »Natchez Fire« von John Lee Hooker.
* Ted Ownby in der Mississippi Encyclopedia, Stand 2018: https://mississippiencyclopedia.org/entries/walter-barnes/
Als Objekt der Begierde solcher Geistesgrößen wie Karl Marx, Michail Bakunin, Alexander Herzen hätte ich mich bereits beim ersten Kuß mit Grausen von ihnen abgewandt. Ihre Gesichter bestanden im wesentlichen aus Gestrüpp, genannt Vollbart. Das ist Brockhaus keineswegs unbekannt: im Vormärz, um 1830, seien Gestrüppe im Gesicht »Zeichen revolutionärer demokratischer Gesinnung« gewesen. Allgemeiner habe der Bart schon immer als Zierde, Symbol der männlichen Kraft oder als Herrschaftszeichen gegolten. Nur die Mode, wie man ihn trug oder nicht trug, wechselte wie Ebbe und Flut. Sogenannte Würdenträger trugen ihn in der Regel. »Noch im Mittelalter schwor man beim eigenen Bart wie der Muslim beim Bart des Propheten.« Neben jenen Störungen des zärtlichen Miteinanders fehlt Brockhaus freilich auch der Blick für den Bart als Versteck oder auch nur Tarnung. Ich habe schon Frauen ausgeschimpft, weil sie zwar Sonnenbrillen haßten, nicht jedoch Bärte. Ich pflege mit solchen muslimisch verhüllten Zeitgenossen schon seit Jahrzehnten kein Wort mehr zu sprechen. Deshalb bin ich so einsam …
Erstaunlicherweise sind die Techniken der Verweigerung uralt. »Schon der steinzeitliche Mensch verwendete entsprechende Feuersteingeräte zur Abnahme und Pflege des Bartes.« Na also. Schlägt man freilich in Band 18 unter »Rasieren« nach, sitzt man hinsichtlich der entsprechenden Kriminalgeschichte noch immer auf dem Trockenen. Das Rasiermesser hat noch nicht einmal ein eigenes Stichwort. Dabei füllt es, in Mörderhand betrachtet, sicherlich schon ganze Bibliotheken. Und was Selbstmorde angeht, fallen mir allein aus dem 19. Jahrhundert auf Anhieb drei angeblich bedeutende Personen ein, die sozusagen über das Rasiermesser stolperten.
Der britische Marineoffizier und Naturwissenschaftler Robert FitzRoy (1805–65) soll bereits auf dem Forschungsschiff HMS Beagle, das durch Charles Darwin berühmt wurde, ein Ekel gewesen sein. Er war der Kapitän. Als schon gebrechlicher 59jähriger schließlich, im Londoner Marineministerium bei der Postenvergabe übergangen, auch im Meteorologischen Amt unter Druck geraten und wegen seiner unhaltbaren Wettervorhersagen geradezu gehänselt, verfiel er wieder einmal jäh in Trübsinn – und »Raserei«, wie Darwins Biografen Adrian Desmond / James Moore* behaupten. »Am Sonntag, dem 30. April [1865], schnitt er sich in einem Anfall von Verzweiflung im Badezimmer die Kehle durch.«
Den streng genommen nur mutmaßlichen Rasiermesser-Selbstmord des ansonsten eher langweiligen österreichischen Malers und Schriftstellers Adalbert Stifter (1805–68) habe ich erst kürzlich im Zusammenhang mit seiner früh verstorbenen Stieftochter Juliane gestreift.
Damit noch zu einem weiblichen Rasiermesser-Opfer. Die Pariser gelernte Malerin aus wohlhabendem Hause Constance Mayer (1775–1821) war, nach einigen Austellungserfolgen, um 25 Förderin, Schülerin, Partnerin und Geliebte von Pierre Paul Prud'hon, einem 17 Jahre älterern Künstlerkollegen geworden, der von seiner Gattin getrennt lebte. Mayer bahnt ihm nun Wege zu Napoleons Kaiserhof, wodurch er zum gefragten Porträtisten betuchter, meist blaublütiger Leute wird. Das »revolutionäre« Jakobinertum hatte sich der unpolitisch gestimmte Prud'hon, soweit ich weiß, ohnehin nie auf die Fahnen geschrieben. Als seine Gattin um 1800 wegen (angeblichem) »skandalösem Verhalten« in einer Irrenanstalt landet, kümmert sich Mayer auch um Prud'hons fünf Kinder und den Haushalt. Sie haben Atelierwohnungen im selben, staatseigenen Gebäude der Sorbonne und können so, als »Kollegen«, die Form wahren. Gleichwohl wird meist angenommen, Mayer wäre gern offiziell Frau Prud'hon geworden. Doch der promi-nente Maler sträubt sich; er heiratet sie selbst nach dem Tod seiner weggesperrten Gattin nicht. Wahrscheinlich hatte Mayer zudem ihr Schattendasein als Künstlerin erbittert, firmierte doch ihre beträchtliche künstlerische Mitarbeit zumeist unter »Prud'hon«, weil das einträglicher für die gemeinsame Kasse und den Ruhm ihres Geliebten oder Gebieters war. Ferner heißt es in einigen Quellen, auf Betreiben kirchlicher Kreise habe das Kultusministerium Prod'hon oder beiden Künstlern, um 1820, das Atelier gekündigt.
Wer sich auf Mayers grauenvolle Weise umbringt, muß jedenfalls verzweifelt sein. Nach allen Quellen hinterließ die 46jährige anscheinend keine Erklärung, als sie sich an einem späten Vormittag im Mai 1821 nach Verabschiedung einer Schülerin in ihrer Atelierwohnung mit Prud'hons Rasiermesser, wie die englische Wikipedia versichert, die Kehle durchschnitt, während Prud'hon sogar im selben Hause weilte. Knapp zwei Jahre darauf, mit 64, stirbt dieser ebenfalls – ob an gebrochenem Herzen oder schlechtem Gewissen ist umstritten. Allerdings halte ich es auch nicht für ausgeschlossen, schon Mayer habe ihrerseits unter Gewissensbissen gelitten: wegen der erwähnten Abservierung von Prud'hons Gattin, über die sich keine näheren Angaben finden.
* Darwin, 1991, hier deutsche Ausgabe Reinbek 1994, S. 599
Der Merseburger Hausarzt und »Königliche Kreisphysikus und Sanitätsrath« Carl Adolph von Basedow (1799–1854), der sich bereits bei der Bekämpfung heimischer Choleraepidemien verdient gemacht hatte, wurde nicht gerade steinalt. Der nach ihm benannten Klinik zufolge* hatte er sich im April 1854 bei der Leichenöffnung eines wahrscheinlich an Typhus oder Fleckfieber verstorbenen Landbewohners infiziert. Drei Tage darauf sei der emsige Arzt verschieden. »Auch die Leichenfrau und der Knecht, der den Sarg in die Stadt gefahren hatte, starben. Nur der Gerichtsschreiber, der den Vorgang notiert hatte, blieb verschont.« Diese beiden Nachsätze verdanken wir vermutlich der noch nicht restlos überwundenen DDR-Tradition. Erstaunlicherweise ist das Carl-von-Basedow-Klinikum Saalekreis noch nicht »privatisiert«. Träger ist der Landkreis; Aufsichtsbehörde das Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt in Halle. Die Taufe des Merseburger Kreiskrankenhauses auf den Namen Basedows fand bereits am 10. Oktober 1957 statt.
* Bettina Lebek für https://www.klinikum-saalekreis.de/wp-content/uploads/2022/10/Carl-Adolph-von-Basedow-Leben-Wirken-v2.pdf, wohl 2022
Um es gleich zu bekennen: Obwohl ich an der Eder aufgewachsen bin, habe ich meinen Fuß nie in die Kleinstadt Battenberg (Eder) gesetzt. Daran sieht man, wie lang die Eder ist (176 Kilometer). Im Rothaargebirge entspringend, berührt sie Battenberg bald nach ihrem Austritt. Brockhaus macht vor allem auf das gleichnamige Adelsgeschlecht und deren kostspielige Nester aufmerksam, während andere Quellen lieber den Battenbergkuchen hervorheben, den vermutlich die einheimischen Zahnärzte erfunden haben. Aber dies alles schmeckt mir herzlich wenig. Dafür fällt mir ein weitgehend unbekannter westfälischer nazifreundlicher Schriftsteller ein: Max Wegner (1915–44) mit Namen. Wie es aussieht, liebte er für seine Erzählungen oder Dramen die Tarnkappe mittelalterlicher, also historischer Stoffe. Da er zeitweise »Kulturhauptstellenleiter« eines Hammer HJ-Banns gewesen sein soll*, war er wahrscheinlich sogar ein strammer Faschist. Aber die Angaben zu ihm sind äußerst mager, und mein bereits vor einigen Jahren ergangener Notruf an die Archivare und Heimatforscher-Innen des nordhessischen Städtchens Battenberg blieb offenbar schon an der Fulda hängen. Bei und in Battenberg, damals lediglich um 1.500 EinwohnerInnen, soll Wegner nämlich, knapp 29 Jahre alt, Ende Oktober 1944 gestorben und auch begraben worden sein. Warum gerade dann und dort, scheint niemand zu wissen. Bomben sind eher unwahrscheinlich. Vielleicht war der »Agitator« an der Front verwundet und daraufhin beispielsweise zu ländlichen Verwandten gepackt worden. Sollte er aber nur urlaubsweise an der Eder geweilt und dort unglücklich angeeckt sein, sodaß es zu einer Wirtshausschlägerei mit Todesopfern kam, wüßte man gern die Gründe. Vielleicht hätten Fachleute in seiner Kindheitsgegend, Raum Hamm und Unna, Genaueres zu bieten, aber der Korb aus Battenberg reicht mir zunächst.
Ich will die Gelegenheit nutzen, um zwei weitere braune KünstlerInnen zu erwähnen, die jung starben. Zunächst Ines Angelika Mosig (1910–45), wohl eine Berliner Nazi-Mädel-Schriftstellerin und Verlagslektorin, auch Mosigk geschrieben. Ob sie gleichsam eine Rücksichtslose vom rechten Flügel des Fanatismus war, läßt sich aufgrund der schlechten Quellenlage kaum beurteilen. Anfangs verfaßte sie anscheinend hauptsächlich Kinder- und Jugendbücher, zuerst Maria am Zaun, 1937. Die deutsche Wikipedia versichert, Mosigs spätere Werke Fräulein, bitte schreiben Sie! (Roman, 1941) und Mein lieber Mann! (Feldpostbriefe der Autorin, 1942) seien in der SBZ/DDR geächtet gewesen, teilt aber nicht mit, was Mosig, »geschiedene Jewan«, darin propagierte. Ich treibe im Internet einen SA-Sturmführer Kurt Jewan auf, möglicherweise der Ex-Gatte. Er war 1933/34 Häuptling der neuen »Studenten-schaft« der Berliner Universität.** Die Angabe zu Mosigs Ende (mit 34) klingt schon recht heftig. Laut Wikipedia lebte sie zuletzt in der »SS-Kameradschaftssiedlung an der Krummen Lanke« in Berlin-Zehlendorf. Die war meines Wissens um 1938 für Funktionäre und deren »erbgesunde« Sprößlinge angelegt worden. Dort habe sich Mosig, wohl am 25. April 1945, umgebracht. Vorher habe sie jedoch ihre »fünf Monate alte uneheliche Tochter« Bettina erschossen und verbrannt. Das gehe aus Zehlendorfer Sterbeurkunden hervor. Dieses Ende fiel somit ungefähr in die Mitte der berühmten »Schlacht um Berlin«, die vom 16. April bis zum 2. Mai tobte. Dann war die Stadt in sowjetischer Hand, und der hatte sich Mosig vermutlich wohlweislich entzogen.
Auch von dem Nazi-Kinder-Filmdarsteller Arthur Fritz Eugens (1930–44) ist nicht viel bekannt, obwohl er zwischen 1936 und 1942, als Knabe!, an über 20 Kinofilmen mitwirkte. Der Titelliste nach war er, in ideologischer Hinsicht, bestenfalls ein kleiner Heinz Rühmann, also keinesfalls ein Rebell. Eugens letzter Film, dessen Fertigstellung vermutlich schon von Kriegsanstrengungen bedroht war, trug ausgerechnet den Titel Ein Zug fährt ab. Regie: Johannes Meyer. Eugens, der inzwischen 13jährige Kinderdarsteller, starb am 18. Januar 1944 bei einem Eisenbahnunglück in Dahmsdorf-Müncheberg***, Märkische Schweiz. Ein aus Küstrin kommender D-Zug prallte im dortigen Bahnhof, wohl aufgrund eines Irrtums des Fahrdienstleiters, auf einen anderen Personenzug – 56 Tote und rund 160 zum Teil schwer Verletzte. Vermutlich war Eugens nicht das einzige minderjährige Opfer – seiner Eltern, möchte man fast sagen. Ich nehme an, er lebte, in Ufa-Nähe, im Raum Berlin.****
* https://www.lexikon-westfaelischer-autorinnen-und-autoren.de/autoren/wegner-max/
** Christoph Jahr, Hrsg: Die Berliner Universität in der NS-Zeit, Band 1, Franz Steiner Verlag 2005, S. 121
*** https://de.wikipedia.org/wiki/Eisenbahnunfall_von_M%C3%BCncheberg_(1944)
**** Zwei Tage darauf, am 20. Januar, prallte in Porta Westfalica ein Schnellzug Aachen–Berlin auf einen anderen, stehenden Schnellzug. 79 Tote, 64 Verletzte. Das Unglück wurde einem Signal-Fehler des örtlichen Fahrdienstleiters angelastet. Dieser wiederum schimpfte auf die ständig aufheulenden Sirenen für Fliegeralarm, die ihn durchein-ander gebracht hätten (Wilhelm Gerntrup im Mindener Tageblatt vom 20. Januar 2004).
Den Chirurgen Karl Heinrich Bauer (1890–1978) stellt Brockhaus in wenigen Zeilen als hervorragenden Krebsforscher hin. Lehrstühle in Breslau und Heidelberg gibt er ohne Jahreszahlen an. Dann lobt er Bauers »wesentlichen Anteil an der Gründung [1964] des von ihm auch geleiteten Deutschen Krebsforschungszentrums.« Publikationen erst ab 1949. Somit alles in Ordnung? Nach Ernst Klee keineswegs. Er nennt Bauer den »führenden Chirurgen der NS-Zeit« und teilt dessen 1934 geäußerten Vorschlag mit, durch chirurgische Eingriffe auch »Erbübel auszumerzen«. 1944 saß Bauer bereits im Wissenschaftlichen Beirat des Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen Karl Brandt. Auch dieser war Chirurg, freilich ein echter Spitzennazi, 1947 in Nürnberg verurteilt und im nächsten Jahr in Landsberg hingerichtet. Aber Bauer durfte noch 1945, nur wenige Monate nach dem Einmarsch der Amis, Rektor der wiedereröffneten, nun »demokratischen« Universität Heidelberg werden. 1955 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz.
Vielleicht hätte es Brockhaus gut angestanden, diesen Bauer zu übergehen und dafür Fritz Bauer (1903–68) zu würdigen. Der fehlt nämlich in Band 2. Bauer war Jurist und Antifaschist, zuletzt Generalstaatsanwalt in Hessen. Er galt weithin als besonders hartnäckiger Verfolger nazistischer Schwerverbrechen. Vor seinem Wirken zieht sogar das Bundesjustizministerium den Hut, wenn auch eher nur theoretisch: https://www.bmj.de/DE/ministerium/geschichte/fritz_bauer/fritz_bauer_node.html (Stand 2023). Leider mißglückte Bauer 1961 die Ergreifung des berüchtigten KZ-Ausschwitz-Arztes Josef Mengele, was ich kürzlich unter dem Titel Schlupflöcher im Schweizer Käse geschildert habe.
Naheliegenderweise, ohne jedoch auf sie einzugehen, erwähne ich noch zwei weitere fragwürdige Leute, die Brockhaus, nach Klee, ein bißchen zurechtfrisiert hat: den Soziologen Eduard Baumgarten (1898–1982) und den »Vorkämpfer der Euthanasie« Bernhard Bavink (1879–1947). Nebenbei: Etliche weitere brockhäusische Schönfärbungsfälle werde ich kurzerhand unter den Tisch fallen lassen. Bei 24 Bänden sind es nämlich einfach zu viele. In meinem Alter bekommt man davon mehr Überdruß als Zahnweh.
Das Städtchen Beerfelden ist »ein Erholungsort im Odenwaldkreis«, wie Brockhaus verkündet. Neben der Mümlingsquelle am Marktplatz, als »Zwölfröhrenbrunnen gefaßt«, weist das Lexikon in der letzten Zeile sogar auf einen »Galgen von 1597« hin. Der dürfte besonders erholsam gewesen sein. Ich kenne ihn sogar persönlich, stieß ich doch um 2000 überraschend beim Wandern auf ihn. Sie finden die Begegnung unter »Galgenfalter« in meinen vermutlich überwältigend unbekannten Miniaturen Vor der Natur mitgeteilt. Wer nicht versfüßig schwärmt oder »hermetisch« in Rätseln spricht, muß vor dem Tempel deutschsprachiger »Dichtung« in der Hundehütte liegen.
Da wir bereits wiederholt von Hüllwörtern sprachen, hier nur soviel: Das Gerüst auf dem Beerfeldener Galgenhügel ist, mit Säulen und Querbalken, auf dreieckigem Grundriß errichtet worden. Nach verschiedenen Quellen handelt es sich um den ältesten und prächtigsten sogenannten dreischläfrigen Galgen Deutschlands! »Dreischläfrig also, wunderbar. So etwas kann nur dem einschlägigen Galgenhumor entspringen, den wir an unseren Wissenschaftlern schätzen. Nach demselben Muster lügen sie Angriffskriege in Friedensstiftungen um.«
Behälter bestimmt Brockhaus als »formhaltige, in der Regel wiederverwendbare, umschließende Verpackungen zum Transport und Lagern von Gütern«. Für ihn reichen sie also von Salzstreuern und Brotdosen bis zu riesigen Containerschiffen. Aber nicht bis zu den Schiffen selber! Nur die Container sind Behälter. In Band 8 nimmt das Lexikon noch Gefäße, etwa geflochtene Körbe oder aus Ton, später Porzellan gefertigte Blumenvasen hinzu. Immerhin streift es in Band 2 unter der »Babylonischen Kultur« ein Füllgut für Gefäße, das manchem Leser fast makaber anmuten könnte. Es schreibt dort: »… die Lebenserwartung der Erwachsenen lag [um 3.000 v.Chr.] zwischen 30 und 40 Jahren. Man begrub die Kinder in Tonkrügen, die Alten in einfachen Matten oder Ziegelsetzungen unter dem Keller des Hauses.«
Alle von uns geschaffenen übrigen Einrichtungen, die etwas enthalten sollen, läßt Brockhaus, wie freilich auch dessen Konkurrenz, eiskalt unter den Tisch fallen. Dabei haben gerade sie Kulturgeschichte geschrieben. Ich nenne, neben Särgen, Schiffen und Kanälen, lediglich Wagen, Häuser, Städte, Familien, Vereine, Vaterländer, Gott und Begriffe überhaupt. Falls Sie diese Ausweitung nicht zu langweilen droht, gehen Sie bitte in mein Blog-Register, wo die »Behälter« auf immerhin drei Textstellen verweisen.
Unweit meines Häuschens liegt eine Pferdekoppel, die im Sommer regelmäßig von zwei echten Trakehner-Reitpferden benutzt wird, einem Rappen und einem Fuchs. Aber der Fuchs ist im Frühsommer 2022 verstorben. Jetzt bietet der Rappe ein erbärmliches Bild, das selbst mir, dem eingefleischten Eigenbrötler, recht zu Herzen geht. Er trottet mißmutig über seine Trampelpfade, rupft freudlos Gras, wiehert vermehrt kläglicher als ein Kleinspecht und grämt oder langweilt sich offensichtlich zu Tode. Als ich es nicht mehr aushielt, fragte ich seine Herrin, die gerade den Wasserbehälter (!) austauschte: »Könnten Sie dem armen Gaul nicht eine Beistellziege beschaffen?« Sie murrte irgendetwas in ihren Blusenausschnitt, bevor sie sich wieder am Koppelzaun aufrichtete. Im Gegensatz zu Brockhaus schien sie immerhin zu wissen, was eine Beistellziege ist. Und weil auch ich es nachweislich wußte, wagte sie nicht, mich mit der typischen Hochnäsigkeit einer neureichen Gymnasiallehrerin abzubürsten. Sie werde mal sehen, murrte sie und wandte sich dem schon ziemlich glanzlosen Fell ihres Rappen zu. Damit durfte ich ihre mageren Schultern bemitleiden.
Falls Sie nicht im Bilde sind: Das Pferd braucht, als Herdentier, Gesellschaft. Stehen weiter keine Gäule zur Verfügung, sollte ihr sein Reiter eine Ziege zuführen, die auch wieder ein Herdentier ist. Diese Notlösung hat sich schon oft bewährt. Die Beistellziege himmelt das Leitpferd an, und das Leitpferd darf sich einbilden, der Beistellziege ein besonders nobles artgemäßes Leben zu ermöglichen. Denn Trakehner sind nicht billig.
Das weiß natürlich auch die Lehrerin. Wie befürchtet, hustete sie mir was. Bis zu diesem Oktober rührte sie jedenfalls keinen Finger für das Wohlergehen ihres Pferdes oder für die Linderung meines Mitleides. Keine Ziege tauchte an der Koppel auf, nur sie selber, sofern ihr einmal ausnahmsweise danach war, ihr Reitpferd zu reiten. In der Regel hat das Tier bei ihr nur die Aufgabe, ihr und ihrem Gatten, einem Kommunalpolitiker, das Plaudern im Bekanntenkreis zu versüßen. »Ja, das stimmt, wir halten auch Pferde … Sind sogar reinrassige Trakehner, wissen Sie ..?!«
Sollte der Komponist Hans Rott – der im Brockhaus selbstverständlich nicht auftaucht – von Johannes Brahms umgebracht worden sein, wie einige Quellen glauben, dann hießen die Mörder der schwedischen Schriftstellerin Victoria Benedictsson (1850–88) Georg und Edvard Brandes – jedenfalls in den Augen einiger Feministinnen. Der zuerst genannte Bruder war ein angesehener dänischer Gelehrter und Schriftsteller, den jeder Literaturwissenschaftler kennen muß. Die Bonner Dramaturgin Barbara Damm behauptet* allerdings, Benedictssons 1886 veröffentlichter Roman Frau Marianne sei keineswegs nur von dem Starkritiker gerügt worden, der zugleich, für eine kurze, brüchige Zeit, ihr Geliebter war. Benedictssons »unglückliche Liebe« zu Georg Brandes erwähnt Brockhaus sogar; zudem ihren Selbstmord. Im übrigen war das Echo auf den Roman durchaus geteilt. Nur den »Progressiven« im Lande Schweden dünkte er harmlos und sentimental – ein klarer Rückfall, wie sie fanden. Zwei Jahre später war die Autorin tot.
Die Tochter eines verbürgerlichten schonischen Landwirts hatte sich erst mit 30, um 1880, im Gefolge einer langwierigen Beinerkrankung (Reitunfall) aus den Fesseln sowohl ihres freudlos-frommen Elternhauses wie ihres mehr als doppelt so alten Gatten Christian freigestrampelt, der im südschwedischen Hörby Postmeister war und bereits fünf Kinder in die Ehe »eingebracht« hatte. Sie wäre lieber Malerin geworden. Jetzt aber wurde die zweifache Mutter von ihrer ausgedehnten Bettlektüre zum Schreiben verführt. Darin war sie von einem freigeistigen US-Amerikaner namens Charles de Quillfeldt und ihrem neuen jungen Vertrauten Axel Lundegård, Sohn des örtlichen Pastors, ermutigt worden. Schon ihre erste größere Veröffentlichung, noch unter männlichem Pseudonym vorgenommen, die Sammlung wirklichkeitsnaher Erzählungen aus dem südschwedischen Volksleben Från Skåne (Aus Skåne) von 1884, erntete viel Beifall. Ein Jahr darauf erzielte sie mit dem Roman Pengar (Geld) ihren größten Erfolg. Diese jüngste Prosa spiegelte eben ihren Befreiungskampf wieder – einen weiblichen also. Gleichwohl läßt sich in ihrem Tagebuch der Verdacht lesen, sie sei »womöglich eine Frauenhasserin«. Ein antipatriarchaler Vampir war sie jedenfalls nicht, wie ja dann auch Frau Marianne bekräftigte. Fotos verleiten dazu, auf eine kantige und spröde schonische Bäuerin zu schließen. Nach Übersetzer Johannes Wanner** hängten ihr manche Publizisten den Makel der »frigiden Hysterikerin« an.
Leider lernt sie in den literarischen Kreisen von Stockholm und Kopenhagen, in die sie nun eintaucht, auch Georg Brandes kennen. Damm stellt ihn als einen »brillanten Herold der neuen Literatur und verheirateten Lebemann« vor, der sich mit einem Bündel »positivistischer Essays« in ganz Europa berühmt geschrieben habe. »Obgleich Brandes schriftstellerisch durchaus ebenbürtig, hängt Victoria Benedictsson bald als aufmerksame Schülerin und Geliebte an seinen Lippen.« Das ist 1886 der Fall. Doch verschiedenen Quellen zufolge nimmt Brandes sie weder als Geliebte noch als Autorin wirklich ernst. Sie ist eine Anregung für ihn, mehr nicht. Die Enttäuschung mit dem »Rückfall« Frau Marianne kommt hinzu. Brandes‘ Bruder Edvard, ebenfalls Schriftsteller, hatte in seiner eigenen Kopenhagener Tageszeitung Politiken eine vernichtende Kritik veröffentlicht. »Das Todesurteil über meine Schriftstellerei, vielleicht über mich selbst«, trug Benedictsson dazu in ihr Tagebuch ein. Vermutlich war sie rundum verunsichert, beschämt, gekränkt. Im Januar 1888 unternahm sie einen ersten Selbstmordversuch.
Der Umstand, daß sie sich allerdings auch nicht von Georg Brandes lösen konnte, machte sicherlich einen beträchtlichen Teil ihrer Verstörung aus. Eine Paris-Fahrt aufgrund eines Stipendiums der Schwedischen Akademie half ihr nicht auf die Beine. Selbst ihr Mentor Lundegård wußte keine Mittel mehr gegen ihre Lebensmüdigkeit. Im zweiten Anlauf brachte sich die inzwischen 38jährige Schwedin im Juni 1888 in einem Kopenhagener Hotel um. Angeblich durchtrennte sie ihre Halsschlagader mit einem Rasiermesser. Guardian-Autorin Germaine Greer erinnert*** an Prud'hons Geliebte Constanze Mayer, siehe oben, und behauptet zudem, man habe Benedictsson in demselben Hotelzimmer aufgefunden, wo Brandes sie dereinst »verführt« hatte. Der oder die nächste wird uns versichern, auch das Rasiermesser stammte von Brandes.
* http://parapluie.de/archiv/ohr/ausgegraben/ (2005)
** http://www.achius.ch/literatur/achius_benedictsson.htm" (2003)
*** »Death and the maiden«, https://www.theguardian.com/stage/2007/jul/26/theatre3, 26. Juli 2007
°
°