Dienstag, 29. November 2022
Schlupflöcher im Schweizer Käse

In seinem Essay Über die Bücher teilt Montaigne mit, seine bevorzugte Lektüre stellten Lebensbeschreibungen dar, darunter wieder besonders jene, die sich »einge-hender mit den Absichten als mit den Begebenheiten befassen, und mehr mit dem, was aus dem Innern kommt, als dem, was von außen geschieht.« Dies dürften am ehsten Autobiografien leisten. Nun habe ich Günther Schwarbergs Erinnerungen Das vergess ich nie wiedergelesen, die 2007, noch knapp vor seinem Tod, erscheinen konnten. Zwar lassen sie an Schärfe, Straffheit und Glanz nichts zu wünschen übrig – doch von sich selber spricht der 1926 geborene Journalist und Buchautor kaum. Gegen ihn ist sogar Victor Serge ein Herzausschütter. Da hilft es nur, Schwarbergs Werk nicht als Autobiografie sondern als bedeutenden Beitrag eines linken »Nestbeschmutzers« zur Zeitgeschichte zu nehmen.

Schwarberg, bei Bremen aufgewachsen, wurde nahezu ununterbrochen angefeindet, gab jedoch nie auf. Vor allem als stern-Redakteur unter Henri Nannen (Herausgeber des Hamburger Wochenblattes bis 1983) konnte er etliche enthüllende, sorgfältig recherchierte Reportagen veröffentlichen, die einiges bewirkten. Am nachhaltigsten erwies sich darunter sein Eintreten für Die Kinder vom Bullenhuser Damm; diese 20 Kinder waren noch im April 1945 im Keller einer Hamburger Schule ermordet worden, nachdem SS-Ärzte grausame Experimente an ihnen durch-geführt hatten. Der verantwortliche SS-Obersturmführer Arnold Strippel wird wie üblich halbherzig verfolgt und nie belangt.

Erschütternd auch der von Schwarberg aufgerollte Leidensweg des Juden Hermann Auspitz. Der Berliner Handlungsreisende hatte in seiner Einfalt um Aufnahme in die NSDAP ersucht, von der er sich ein Ende seines Elends versprach. Er wird europaweit mehrmals eingesperrt und wieder abgeschoben, dabei in einem fort erniedrigt und krankgequält. Zur Krönung wird sein Antrag auf Entschädigung nach Kriegsende mit der bösartigen Begründung abgeschmettert, durch jenen Aufnahmeantrag habe er sich »zu den verbrecherischen Zielen der NSDAP bekannt und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Vorschub geleistet« (Seite 305). Im Falle von angeklagten aktiven Nazis wurde bekanntlich genau umgekehrt befunden, aus ihrer Unterwerfung unter geltendes Unrecht dürfe ihnen kein Strick gedreht werden; gemäß ihrer nationalsozialistischen Gesinnung sei ihnen das Unrecht auch gar nicht als solches einsehbar gewesen. Dergleichen Einsicht wurde erst wieder ab 1989 verschiedenen Repräsentanten des finsteren »Unrechtsstaates« DDR abverlangt. Ekelhaft.

Allerdings fällt Schwarbergs milder Umgang mit DDR und SU auf. Einerseits rühmt er SpanienkämpferInnen, andererseits ging der kommunistische Verrat in diesem Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg an ihm vorbei. Eine autoritär verfaßte DDR, die begierig westliches Wirtschaftswunder nachzuäffen wünscht, hat er nie gesehen. Zwar rügt er etwa das »Mißglücken« der Bodenreform (Enteignung der Junker), doch einen Begriff von der Mammutisierung, etwa durch LPGs, scheint er nicht zu haben. Im Gegenteil erlaubt er sich den Traum, die Kommunisten der »Zone« hätten nach Kriegsende über jene »Macht der Bilder« verfügt, die später beispiels-weise der stern so geballt und gezielt einzusetzen verstand (245). Der östliche PR-Apparat war also unvollkommen. Sonst wären die dummen Bauern scharenweise »freiwillig« in der SED-Schürze untergeschlupft. Hier will Schwarberg befremdlicherweise nicht geduldig argumentieren, vielmehr geschickt manipulieren. Aber er war eben professioneller Journalist.

Zu den Glanzstücken des Buchs, die einen trübsinnig stimmen können, zählt Schwarbergs Erzählung den berüchtigten, nie gefaßten Ausschwitz-Arzt Josef Mengele betreffend. Dem hesssischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer war zu Ohren gekommen, Martha Mengele halte sich in Zürich auf und habe möglicherweise vor, dort gemeinsam mit ihrem Gatten dessen 50. Geburtstag zu begehen. Bauer bat Schwarberg um »Amtshilfe«. Tatsächlich machte der erfahrene Journalist Martha und sehr wahrscheinlich auch Josef Mengele am 4. März 1961 als frische Mieter einer Wohnung in Zürich-Kloten aus. Schwarberg alarmierte die Polizei, die das Haus auch observierte. Doch nach einigem Hin und Her (viele Telefonate oder Fernschreiben mit Bern und Bonn) ließ die schweizer Polizei das Paar aus der Klotener Mietwohnung unbehelligt in einen blauen VW mit Günzburger Kennzeichen steigen und – zum Beispiel – nach Italien reisen. »Noch nicht einmal die Grenzstationen sind benachrichtigt.« Der dickste Hammer: Tags zuvor hatten die FahnderInnen einen Zettel in Martha Mengeles Briefkasten mit der Bitte um Rücksprache im Klotener Gemeindebüro gesteckt. Dadurch habe man eine Reaktion provozieren wollen. Ja, die erfolgte auch prompt: Flucht. Schwarbergs Fazit: »Fritz Bauer muß den Auschwitz-Prozess ohne den Hauptangeklagten Josef Mengele beginnen.«

Schwarbergs Darstellung (224–30) legt den dringenden Verdacht, man habe einen der übelsten Massenmörder der jüngeren Weltgeschichte mit Absicht durch die Lappen gehen lassen, mehr als nahe. Es wäre auch weißgott kein Präszedenzfall gewesen. Grundsätzlich dürfte sich die viertelherzige Verfolgung faschistischer VerbrecherInnen unter anderem einem stinkenden Kuhhandel verdankt haben, wenn ich mich recht an andere kritische Quellen erinnere. Jerusalem sagt hinter vorgehaltener Hand: wir drücken ein Auge über eure Nachsicht mit den Globkes und Mengeles zu, falls ihr unsere Atomwaffen mit Schweigen bedeckt. Bonn nickt.

Wie es aussieht, wurde Schwarbergs Verdacht geraume Zeit später zumindest vom schweizer Nationalrat Jean Ziegler geteilt, brachte der doch am 19. März 1999 im Parlament eine diesbezügliche Einfache Anfrage an die Regierung der Schweiz ein, wie das Internet weiß. Die abwiegelnde Antwort der Regierung ist dreist genug, sich nach Anrichten eines wüsten Amtsdeutsch-Salates auf den Umstand zurückzuziehen, aus den damaligen Polizeiakten gehe nicht hervor, »ob es der Kantonspolizei gelang, die Person Mengeles klar festzustellen und zu identifizieren. Auf jeden Fall fehlen Belege für seine Anwesenheit in Zürich und es fehlen Hinweise, wonach tatsächlich eine konkrete Möglichkeit zu seiner Verhaftung bestanden hätte.« Das stinkt bis nach Rom nach Ausflucht. Schon bei Schwarberg läßt sich die Behauptung finden, der schweizer Staatsanwalt Grob habe im Nachhinein notiert: »Seltsam, warum gerade von diesem Tage kein Überwachungs-rapport vorhanden ist …« Aber der schweizer Regierung von 1999 ist der in ganz Europa seit Jahrhunderten gern geübte Brauch, Fluchthilfe zu leisten und Akten ähnlich gut zu frisieren wie die MinisterInnen, offensichtlich unbekannt. Er hat um die Alpen einen Bogen gemacht. Ob sich Schwarbergs schweizer Zwischenspiel wenigstens in der umfangreichen Literatur über Mengele niederge-schlagen hat? Das wäre so schön wie erstaunlich.

Schwarbergs Buch stellt eine Fundgrube für Doppelmoral, Buchstabengläubigkeit, Spitzfindigkeiten, Lügen, Verleumdungen, Kommunistenhetze und sonstiger Niederträchtigkeit deutscher Nachkriegsgeschichte dar. Etwas unglücklich kommt mir die Erzählform im Präsens vor, die sicherlich die Stetigkeit repressiver deutscher Nachkriegspolitik andeutet, aber die Unterscheidungs-möglichkeiten bei Vor- und Rückgriffen beschneidet. Nehmen wir gleich einen Rückgriff vor: Im März 2003 titelte Bild in Riesenlettern (und wohlweislich in Gänsefüßchen) Tötet Saddam – am 1. Juni 1961, kurz vorm Mauerbau, war das Blatt mit der Schlagzeile Notfalls Krieg erschienen, wie von Schwarberg zu erfahren ist (216). Nur schade und merkwürdig, wie ich finde, daß Schwarberg den verlogenen Überfall der Nato auf Jugoslawien 1999 übergeht. Der auf Libyen blieb ihm erspart. Schwarberg starb, nach schwerer Krankheit, 2008. Die flammenden Aufrufe, das libysche Volk von seinem blutrünstigen Knechter Gaddafi und beiläufig von seinen Bodenschätzen zu befreien, konnten Schwarbergs Krankheit nicht mehr beschleunigen.

Leider behandelt Schwarberg auch das Phänomen, daß die Menschen in zwei Geschlechter unterteilt sind, von denen das eine lange Zeit im Schatten des anderen stand, mehr als stiefmütterlich. Es ist schon viel, wenn er gelegentlich erwähnt, er habe sich mit dieser oder jener Frau verheiratet. Immerhin streift er die aufsehenerregende, 1971 mit stern-Hilfe inszenierte Kampagne gegen das Abtreibungsverbot (§ 218) und deutet sein Befremden über die um 2000 geschneiderten oder geschröderten rotgrünen Kriegsbräute an (271). Diese Mode eroberte rasch die Welt. Den erwähnten Schurken Gaddafi, dem sie einige Monate vorher noch die Hand geküßt hatten, ließen die siegreichen BringerInnen der Menschenrechte (der Nato) am 20. Oktober 2011 einfangen, noch ein wenig quälen und demütigen und dann abknallen wie eine Ratte. US-Außenministerin Hillary Clinton, Stunden nach der Vollzugsmeldung im CBS-Fernsehen mit einer Moderatorin, also mit einer weiteren emanzipierten Frau plaudernd, breitet die Arme aus und strahlt: Wir kamen, wir sahen – er starb!*

Schwarberg erlebte den faschistischen Krieg in Gestalt von Bomben auf Bremen und als blutjunger Funker an der Westfront. In der Folge entging er auch einigen anderen Bedrohungen. Bemerkt er dazu auffallend häufig, »wieder einmal Glück gehabt«, gefällt es mir eigentlich, weil es die haarsträubende Zufälligkeit des Überlebens in Rechnung zu stellen scheint. Doch Schwarberg thematisiert das nie. Alles, was sich nicht klar dem Machtstreben bestimmter gewissenloser Mitmenschen anlasten läßt, beispielsweise Tuberkulose-Bakterien, Autounfälle am laufenden Meter, häßliche Erscheinung eines jungen Menschen, ignoriert oder schluckt er. Die Sinnfrage ist ihm unbekannt. Seine Nase für Philosophie, Kosmologie, Metaphysik ist ungefähr so verkrüppelt wie Frau Clintons Herzmuskel. Das letztere Leiden stellt allerdings das schlimmere dar.

* Gudula Hörr 2016: https://www.n-tv.de/politik/So-versank-Libyen-im-Chaos-article18853481.html
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