Freitag, 3. Mai 2024
Risse im Brockhaus 18

In dem griechischstämmigen Wort Hierarchie soll die Herrschaft stecken. Die Postmoderne benutzt es hauptsächlich für das Problem der Rangordnungen, die ja oft als Hemmschuh der Begeisterung von sogenannten Mitarbeitern empfunden werden. Ich denke jedoch, Herrschaft und Rangordnung stellen lediglich zwei Seiten derselben Medaille dar. Schließlich ist die Herrschaft offensichtlich immer ein Phänomen aus der Unten-Oben-Klemme, in der sich vermutlich schon die Neander-talerInnen befanden, nachdem sie sich dummerweise einmal auf den sogenannten Aufrechten Gang eingelassen hatten. Die von den Herren angeheuerten AufpasserInnen sitzen in den Wach- und Bürotürmen, und das Land, auf dem die Türme stehen, ist verbrieftes Eigentum dieser Herren, die allmählich auch ein paar Damen in ihrem Club dulden, etwa die kürzlich gestreifte Susanne Klatten.

Es gibt sie also noch, die Herrschaft. Und zwar so überreichlich und alles durchdringend, daß man Brockhaus‘ ohne Zweifel von der APO beflügelten, wenn nicht sogar von Adorno-SchülerInnen verfaßten Eintrag (von 1989) über die Hierarchie mit einiger Verblüffung zur Kenntnis nimmt: »Hierarchische Strukturen werden heute zunehmend kritisch gesehen. Gefragt wird, inwiefern sie mit den Prinzipien von Demokratie und Mitbestimmung vereinbar sind. Sozialpsychologisch gesehen, können sie in allen Lebensbereichen der Entwicklung autoritärer Persönlichkeiten Vorschub leisten und die Entfaltung der – untergebenen – Einzelpersönlichkeiten hemmen.« Na, habe ichs nicht gewußt! Da ist die Hemmung schon. Der erfolgreich angepaßte Adorno-Schüler hat heutzutage für Reibungslosigkeit zu sorgen. Er muß Verkehrsformen erfinden, die den Argwohn zerstreuen, Politik und Marktgeschehen könnten nach wie vor von Rangfolgen, somit von Herrschaft geprägt sein. Die Erfindung »Sozialer Plattformen« fürs Internet war schon fast ein Geniestreich von ihm. Da tobt sich die Mitsprache aus. Notfalls werden sie zensiert oder verboten.

Andernorts pries ich einmal die Gepflogenheit leibhaftig beisammen sitzender oder stehender Kommunarden, ihrer Versammlung die Kreisform zu geben. Im Kreis ist jeder vom anderen gleich weit entfernt. Da der Kreis gewöhnlich in einer Ebene liegt (in der Horizontalen), läßt er auch keine Wachtürme oder erhöht aufgestellten Rednerpulte zu. Ich persönlich benötigte allerdings einige Zeit um dahinter zu kommen, daß damit hierarchische Verhältnisse noch keineswegs »automatisch« ausgehebelt sind. Denn die Menschen sind nicht gleich. So haben sie auch in rhetorischer und schauspielerischer Hinsicht unterschiedliches Rüstzeug mit in ihre Gruppe gebracht. Und das setzen die geborenen WortführerInnen gnadenlos ein. Auf diese Weise gelingt es ihnen zuweilen, die Gruppe zu beherrschen, und mag sie zehnmal im Kreis sitzen oder stehen.

Allerdings wird die anarchistische Kommune gegen solche Gefahr die Wachsamkeit schärfen. Das Problem der »Dominanz« gewisser Leute kommt auf den Tisch, und wenn sie sich nicht bessern, dürfen sie gehen. Im Büro von Joschka Fischer oder Daniel Cohn-Bendit finden sie immer einen verlockenden Mitarbeiterplatz. Im Büro von Sahra Wagenknecht wird es genauso kommen, da muß man kein Prophet sein.

In meinem Fall hat sich als gutes Erziehungsmittel die Faustregel erwiesen, lieber erst mal den Mund zu halten. Dafür besser Hinhören. Und siehe da, oft wird die eigene »Meinung«, die man für ungeheuer wichtig hält, längst von anderen, genauso oder sogar weniger begabten Rednern vorgebracht. Somit völlig überflüssig, nun auch noch seinen Senf dazu zu geben. Nicht selten ist das ohnehin nur der Befürchtung geschuldet, zu wenig »präsent« zu sein. Durch Schweigen und Zuhören ist man oft viel mehr dabei.



Wie ich wieder einmal sehe, können Ungeheuer ausgesprochen reizvolle Namen haben, beispielsweise die japanische Trabantenstadt Higashiōsaka. Sie hat rund eine halbe Million EinwohnerInnen. Wörtlich übersetzt heißt sie etwas schnöder »Ost-Osaka«. Laut Brockhaus wurde sie 1967 »durch Zusammenlegung der Städte Fuse, Hiraoka und Kawachi« geschaffen. Diese drei Städte waren den Japanern also noch zu winzig. Osaka selber soll mit 2,7 Millionen Einwohnern, nach Tokio und Yokohama, die drittgrößte Stadt Japans sein. Allerdings stellt sie lediglich das »Herz« eines Ballungsraumes dar (Keihanshin genannt), der gegenwärtig, je nach Definition und Quelle, 17 bis 24 Millionen EinwohnerInnen umfaßt. Nebenbei ist Osaka auch im Preisniveau wolkenkratzerhaft: nach Tokio soll sie die zweitteuerste Stadt der Welt sein.

Hier könnte ich meine Bemerkungen zur Hierarchie sicherlich nahtlos fortsetzen, aber vielleicht ist das eher überflüssig. Wie will man denn Städte mit 10 oder 20 Millionen EinwohnerInnen ohne Herrschaft beherrschen? Wer mir das verrät, bekommt den nächsten Lewis-Mumford-Preis. Man wird vielleicht einwenden, mit Hilfe von Digitalisierung und also Automatisierung sei das durchaus machbar. Eben! Die JapanerInnen laufen ja jetzt schon wie Roboter durch die Straßenschluchten. Sie tragen nur Atemschutzmasken im Gesicht, damit man ihnen das Gequälte nicht so leicht ansieht. Im übrigen liegt natürlich auf der Hand, wer die ganze Steuertechnik einer Megastadt befehligt.

Um ehrlich zu sein, wundere ich mich lediglich, daß diese Steuertechnik bislang noch vergleichweise selten von sogenannten Terroristen oder Hackern lahmgelegt worden ist. Aber keine Bange, das wird sich bald ändern. Die künftigen Kriege werden ja sowieso nicht mehr mit Raketen oder Drohnen geführt, weil sich diese zu leicht abfangen lassen. Sie werden kräftig »digitalisiert«, bis sie kein Mensch mehr sieht. Dann wird Frieden auf unserem ausgehungerten und verseuchten Planeten herrschen.



Den berühmten Schauspieler und Kabarettisten Dieter Hildebrandt spart Brockhaus selbstverständlich nicht aus. Dagegen dürfte kaum einer den Fall des ungleich weniger berühmtem Münchener Sportjournalisten Bernd Hildebrandt kennen. Das war Dieters Bruder. Dieser Mann erlag im April/Mai 2004 mit 62 Jahren einer Krebserkrankung. Spaßmacher Dieter Hildebrandt äußerte sich bald darauf in einem autobiografischen Buch zu dem Fall.* Bis dahin war sein Bruder, der Sportreporter, auch mir kein Begriff gewesen.

Nach Hildebrandts Darstellung im Buch war Bruder Bernd von den Bossen der Münchener Abendzeitung (AZ) und dem mächtigen Bayern-Manager Dieter Hoeneß im Rahmen von Drogen-Vorwürfen gegen den designierten Bundesfußballtrainer Christoph Daum (* 1953) als Sündenbock mißbraucht worden. Bernd hatte seinem langjährigen Arbeitgeber einen Knüller geliefert – der Arbeitgeber entzog ihm jedoch sofort die Rückendeckung, als sich die Gegenseite als zu stark erwies. Für diesen Mißbrauch hätten sich das Boulevardblatt und der Bayern-Boß nie entschuldigt, schreibt der Kabarettist 2007. Offenbar hält er diese Herren für mitschuldig an Bernds frühem Tod. Dessen hartnäckiger, nebenbei kostspieliger Kampf um seinen guten Ruf hätte die Erkrankung sicherlich verschärft, läßt Hildebrandt durchblicken. »Seine Kollegen, die Belegschaft und der Betriebsrat standen auf seiner Seite.« Dennoch habe der Bruder auch diesen Kampf (gegen die Bosse der »eigenen« Zeitung und den Clubmanager) verloren. Dabei hatten sich jene Vorwürfe gegen Daum sogar als berechtigt erwiesen. Sie waren auch für Daums Arbeitgeber, den DFB, recht peinlich, hatte dieser doch gerade den »Kampf gegen Doping« auf seine Fahnen geschrieben. Nun warf er Daum (2000) die »Rote Karte« an den Kopf. Trotzdem zogen die Zeitungsbosse und der Clubmanager den Schwanz vor Daums Staranwalt ein, der gewaltige Bußgelder angedroht hatte. So wälzten sie die Verantwortung, auch nach Ansicht Dritter aus der Branche, eiskalt auf »das schwächste Glied in der Kette«, eben den Sportreporter ab. Die Zeitungs-bosse verpaßten ihm einen Maulkorb und drohten nun ihrerseits ihm Sanktionen an.

Soweit ich sehe, ist Dieter Hildebrandt für solche Vorwürfe nie belangt worden, im Gegenteil. Selbst Bild gibt sie wieder (»Hoeneß hat meinem Bruder Leid angetan«, 15. Juli 2007, gez. sh). Der Münchner Merkur versichert anläßlich des Todes des »kleinen« Bruders: »Zwar war er mit den Stars – ob Beckenbauer, Müller, Breitner, Hoeneß – gut bekannt, angebiedert hat er sich indes nie. Sondern stets als scharfsinniger, kompromissloser Schreiber die notwendige Distanz bewahrt. Ein vorbildlicher Repräsen-tant seines Berufsstands somit.« (3. Mai 2004)

Trifft die Sache zu, bestätigt sie freilich nur die weitgehend bekannte Tatsache, daß sowohl im Profisport wie im Mediengeschäft mit harten Bandagen zu Werke gegangen wird. Dieter Hildebrandt starb übrigens erst (2013) mit 86 Jahren. Christoph Daum lebt noch, ringt freilich neuer-dings, wie er Ende 2022 mitteilte, nicht etwa mit Sport-reporter Bernd Hildebrandt, vielmehr mit Lungenkrebs.

* Dieter Hildebrandt (mit Bernd Schroeder), Ich mußte immer lachen, Köln 2006, hier Buchclub-Ausgabe 2007, S. 158–62



Um 2000 – ich war noch als Raumausstatter in einem südhessischen Handwerksbetrieb beschäftigt – tappte ich mit verrenktem Hals durch ein riesiges Würzburger Treppenhaus, um das größte zusammenhängende Deckenfresko der Welt zu bestaunen. Der Kenner weiß Bescheid: Tiepolo in der Residenz. Zu meinen vielen Vorläufern zählte der Brite Andrew Marbot, von dem ich damals allerdings nichts wußte. Ich habe Hildesheimers Biografie über ihn erst um 2010 gelesen. Marbot war ein wohlhabender Müßiggänger. 1825 nach Italien unterwegs, legt er Abstecher nach Weimar, Kassel und Würzburg ein. In Weimar erwirkt er eine Audienz beim Dichterfürsten und die Liebesgunst von dessen Schwiegertochter Ottilie von Goethe. In Kassel bewundert er Rembrandts Gemälde.

Wie mein Zwerglied Künstlerglück beweist*, habe ich die MalerInnen stets um die Möglichkeit beneidet, jederzeit von ihrer Staffelei aus sieben Schritte zurückzutreten, um sich ihr werdendes Werk einmal aus gehöriger Distanz anzuschauen. Das nützt bei Manuskripten oder Computern nichts. Wie ich jedoch durch Marbot sehe, ist dieses Glück auch den Schöpfern von Deckengemälden versagt. Da hat der alte Tiepolo für mehrere Jahre, außer im kältesten Winter, Tag für Tag auf einem turmhohen Holzgerüst auf dem Rücken zu liegen, um die ausgedehnte weiße Fläche Quadratmeter für Quadratmeter (im ganzen 677) mit den Ausgeburten seiner Phantasie zu bedecken, ohne jemals mehr als 60 oder 80 Zentimeter Abstand zu haben. Wie will man bei dieser Malweise die Proportionen der Figuren und die Ausgewogenheit des gesamten Freskos wahren? Weder Marbot noch sein Biograf Wolfgang Hildesheimer (1916–91) verraten mir den Trick.

Vielleicht ist diese Unterlassungssünde noch verzeihlich. Schlimmer finde ich die vollständige Abwesenheit dessen, was der Weimarer Schriftsteller und Maler Armin Müller vermutlich die Soziale Frage genannt hätte. Marbot hat weder Geldsorgen noch einen Blick für die Nöte zahlreicher Mitmenschen. Politik interessiert ihn keinen Pfifferling. Sein ganzes Denken kreist um Kunstwerke und die sie hervorbringenden Gemütsregungen – die stets in luftleerem Raume stattzufinden scheinen. Das Milieu der KünstlerInnen beläuft sich auf Kulisse. Man könnte es austauschen; Marbots Nabelschau bliebe die gleiche. Gewiß, die Blutschande mit seiner Mutter bewegt ihn ebenfalls, aber auch sie hat keine soziale Dimension, sieht man von der Befürchtung Was sollen die Leute von uns denken? ab, die sich bekanntlich durch alle Klassen und Jahrhunderte zieht. Für mich ist Marbot ein Taugenichts, eine Null – zumal die »Blutschande«, mit der er sich ziert, auf mich wenig glaubhaft wirkt. So würde er sich denn auch nicht zu Unrecht von Kind auf bis zu seinem Selbstmord als Versager fühlen. Es ließe sich einwenden, so war er eben. Dafür könne ja der Biograf nichts, daß dieser Marbot ein Windbeutel gewesen sei. Doch der Einwand geht im Falle dieses Buches von 1981 fehl, weil Hildesheimer seinen Romantiker namens Marbot, diesen angeblichen Zeitgenossen und Bekannten von Leuten wie De Quincey, Lord Byron, William Turner, Delacroix, Leopardi und eben auch Goethe, von vorne bis hinten erfunden hat.

Seltsamerweise warf ich diese merkwürdige Prosaarbeit nicht etwa nach 20 oder 50 Seiten in die Ecke. Man ist ja vorgewarnt: eine fiktive Biografie. Zudem zeigt sich rasch, sie ist keinewegs glänzend geschrieben. Sie mutet uns manche Holprigkeiten und Verschrobenheiten (ihres Autors) zu. An vielen Stellen können wir dem Biografen »nicht ganz folgen«. Gleichwohl lesen wir mit Neugier, Verblüffung, Schmunzeln und sogar Hochachtung weiter. Es stellt nämlich eine beinahe unglaubliche Leistung dar, eine solche Biografie von hieb- und stichfestem Wahrheitsgehalt zu erfinden. Warum macht sich Hildesheimer nur diese Mühe, fragt man sich in einem fort ungläubig. Warum tüftelt er all diese »nachprüfbaren« Dokumente, Ereignisse, Daten aus? Was gibt ihm die Kraft und die Disziplin, diesen Windbeutel Marbot durch ein ganzes Buch zu führen? Das Buch hat einen rundum ab-sonderlichen Charakter – und durch sein streng »wissen-schaftliches« Gebaren wird das nur unterstrichen. Darin liegt seine nicht unbeträchtliche Komik, nehme ich an.

Brockhaus erwähnt es übrigens lediglich mit dem Titel in der Fußnote. Vielleicht herrschte gerade Bier- und Lachverbot in der Redaktion, wie später das Niesverbot wegen Corona. Jetzt legen Sie sich bitte flach: Eben höre ich von Manova, die französische Regierung plane allen Ernstes die Einführung des neuen Straftatbestandes »Anstiftung zum Verzicht auf medizinische Behandlung« … Man soll nicht mehr vor der Impfung warnen!** Das geben sie selbstverständlich nicht zu. Sie erfinden lieber eine neue Absonderlichkeit. Da lacht man sich doch tot.

Was mir zunächst gefiel, war Marbots Haltung zum Tod. Er empfindet ihn ausdrücklich als demütigend. Mit Leopardi, den er in Italien trifft, ist er sich darüber einig, man sollte doch erwarten, die Anhäufung von Lebenserfahrung führe zu irgendeiner Krönung – stattdessen halte sie diese Schmach der Abdankung für uns bereit. In der Überzeugung, durch den Freitod könne ihr entgegen gewirkt werden, will ihm Leopardi allerdings nicht mehr folgen. Das erachtet Marbot als inkonsequent. Obwohl es ihm nichts mehr zu bieten habe, hänge Leopardi offensichtlich noch am Leben. »Wahrscheinlich hat er nicht den Mut, den letzten Schritt zu tun. Er ist zu feige.« Marbot selber tut diesen ernsten Schritt wenig später, mit knapp 30.

Für mein Empfinden ist allerdings schon das Wort Freitod ein Witz. Wie kann etwas frei sein, das im Zusammenhang mit diesem »lebenslänglichen Erpreßtwerden zum Tode« steht, wie Kreuder es einmal nannte, also der denkbar größten Nötigung? Gar nichts ist auf Erden frei. Weder habe ich um Großmäuligkeit oder Jähzorn, noch hat Leopardi um Feigheit gebeten. Den Drang am Leben zu bleiben – oder die Angst, es zu verlieren – kennt so gut wie jeder, möge er selbst keine Arme und keine Beine mehr haben. Entschließt sich einer zum Selbstmord, dann in der Regel aufgrund großer Verzweiflung. Die nähme man vielleicht noch Marbots Mutter ab (die mit ihm »Blutschande« trieb), doch Marbot nicht. Sein Selbstmord wirkt aufgesetzt, obwohl sich Hildesheimer bemüht, seinen Helden als Versager hinzustellen, freilich nicht aus den von mir genannten Gründen. Für ihn versagt Marbot, weil er es nie bis zum eigentlichen Kunstschaffen bringt. Marbots Sache ist das Zuschauen.

Nun gut: da schwindet die Neugier irgendwann – bis man sich aus Überdruß und Langweile umbringt. Diese raren SelbstmörderInnen bewundere ich. Sie bringen sich nicht aus Not, vielmehr der Tugend zuliebe um.

* Aufnahme kuenstlerglueck (mp3, 1,268 KB) , Reitmeier solo 2012
** Michel Chossudovsky auf https://www.manova.news/artikel/strafbare-kritik, 28. März 2024




Der Justizmord an dem 36jährigen US-Wanderarbeiter, Gewerkschafter und Liedermacher schwedischer Herkunft Joe Hill (1879–1915) steht der berühmten Haymarket-Affäre (von 1896) nicht viel nach, es gab nur weniger Tote. Gleichwohl erwähnt Brockhaus diesen Hill überhaupt nicht. Man schob dem staatlicherseits unbeliebten Mann, der mit seinen Instrumenten und seinen witzigen Agitprop-Songs in den USA von Küste zu Küste zog, einen im Winter 1913/14 in Salt Lake City, Utah, verübten Mord an dem ihm völlig unbekannten Lebensmittelhändler und Ex-Polizisten John Morisson und dessen Sohn Arling in die Schuhe. Offenbar war der Kramladen von zwei mit roten Halstüchern maskierten bewaffneten Männern überfallen worden. Dabei zog sich auch ein Angreifer eine Schußwunde zu. Gestohlen wurde nichts. Auch sonst war ein Motiv nicht ersichtlich, jedenfalls was Hill angeht. Aber er hatte, bei einer lokalen Silber- oder Kupfermine eingestellt, wieder einmal agitiert, zeigte eine Schußwunde, zu der er weitgehend schwieg, und besaß ein rotes Halstuch. Wie es aussieht, hatte er sich just in der Mordwoche mit einem Nebenbuhler oder Ehemann wegen einer »Weibergeschichte« angelegt, die er ungern ausbreiten wollte. Nach den meisten Quellen verschwieg er deshalb auch den Namen des Rivalen.* Die Polizei ließ andere Verdächtige fallen und spitzte sich bei ihren »Ermittlungen« nur noch auf Hill. Das Gericht trumpfte dann beispielsweise mit einem Brief des Polizeichefs von San Pedro in Kalifornien auf: »Mir gelangte zur Kenntnis, daß Sie einen Joseph Hillstrom wegen Mordes verhaftet haben. Sie haben den richtigen Mann. Er ist gewiß ein unerwünschter Bürger.«**

Es gab weltweite Proteste. Selbst der schwedische Konsul und US-Präsident Woodrow Wilson setzten sich für ein Wiederaufnahmeverfahren ein. Der Oberste Gerichtshof von Utah verweigerte es jedoch. Gnade lehnte Hill ab. Er wollte Gerechtigkeit. So wurde er im November 1915 im Hof des Gefängnisses von Salt Lake City erschossen. Beim Begräbnis waren mindestens 30.000 Leute auf den Beinen. Das Schicksal des singenden Tramps ging seinerseits in zahlreiche Songs jüngerer Kollegen ein. Besonders populär wurde der Titel von Alfred Hayes und Earl Robinson I Dreamed I Saw Joe Hill Last Night, weil ihn Joan Baez 1969 in Woodstock vortrug.

* Rod Owens, »Don't mourn … Organize!«, sopos 12/2015: https://www.sopos.org/aufsaetze/56841c2fd2089/1.phtml.html
** Airen, »Barde des Klassenkampfs«, Spiegel, 4. September 2015: https://www.spiegel.de/geschichte/joe-hill-wanderarbeiter-saenger-und-gewerkschafts-ikone-a-1050210.html




Brockhaus kennt nur die »Himmelfahrt«. Der habe ich aber schon als Halbwüchsiger etwas Handfestes für meinen Bauch vorgezogen: das urdeutsche Gericht Himmel und Erde. Dessen Name ist fast noch köstlicher als das Futter selbst: Apfelmus oder gedünstete Apfelschnitzen zu Kartoffelbrei. In Nordhessen kamen in der Regel noch in reichlich Butter gedünstete Zwiebelringe hinzu, seltener Bratwurst, gebratene Leber oder sonst ein Fleisch. Das war weniger eine Frage des Geschmacks, vielmehr des Geldbeutels. Bei meinen Großeltern, wo ich als Schüler wohnte, gab es meistens nur sonntags Fleisch – aber sonntags gab es Himmel und Erde nicht. Dafür morgens ab 10 die Himmelfahrt, in der Bettenhäuser Kirche.

Später, nach Überwindung einiger Verkrampfungen, gelang mir das Abheben von unserem Planeten hin und wieder im Verein mit der einen oder anderen Partnerin. Das deutete ich 2012 in dem folgenden, solo aufgenommenen Zwerglied an: himmel und erde (mp3, 940 KB) . Wenn Sie von mir wissen wollten, welcher Verlust mich empfindlicher träfe, der von der Kochkunst meiner Großmutter Helene oder der von den erwähnten Partnerschaftsveranstaltungen, gäbe es in meiner Antwort kein Zögern.



Der polnische Schriftsteller Marek Hłasko (1934–69) starb mit 35. Brockhaus gibt in Klammern Selbstmord an. Freilich hat das Lexikon keinen Platz dafür, Hłaskos Ende mit dem Tod eines Landsmanns zu verknüpfen, nämlich des Arztes und Jazzmusikers Krzysztof Komeda (1931–69). Diesen kennt Brockhaus ohnehin überhaupt nicht (Band 12). Hłasko soll sich im Juni 1969 in Wiesbaden mit Hilfe von Schlaftabletten und Alkohol umgebracht haben, nachdem ihn die Nachricht von Komedas Tod erreicht hatte, der Ende April in Warschau einer Hirnblutung erlegen war. Die beiden waren eng befreundet. Der traurige Witz dabei: Die Freunde hatten sich zu Beginn des Jahres auch gemeinsam in Los Angeles aufgehalten, wo Hłasko bereits seit 1966 lebte. Dort widerfuhr ihnen eine Art Unfall. Ich umreiße die Vorgeschichte so knapp wie möglich.

Komeda war von Roman Polański, einem anderen Freund, um Musik zu Rosmary's Baby gebeten worden. Der Film kam 1968 in die Kinos und wurde rasch berühmt. Daneben genießen einige Platten, die Komeda mit Kollegen aufnahm, darunter die LP Astigmatic, zumindest in Polen Kultstatus. Nun waren sowohl der Hollywood-Regisseur wie der im Januar 1968 zugereiste Komponist mit Schriftsteller Hłasko befreundet, der sich hier als Drehbuchautor versuchte. So ergab sich zwangsläufig manches Trinkgelage zwischen den drei Landsleuten und halben oder ganzen »Dissidenten«. Hłasko etwa war 1958 als »Verräter am Sozialismus« in Polen verfemt worden. Er vagabundierte und randalierte anschließend als »der polnische James Dean« durch Westeuropa, sprach eifrig dem Alkohol zu und verheiratete sich beiläufig (1961) mit der deutschen Schauspielerin Sonja Ziemann*, die mancher vielleicht aus Frank Wisbars Kriegsfilm Hunde, wollt ihr ewig leben von 1959 in Erinnerung hat. In LA war Ziemann wahrscheinlich schon nicht mehr mit von der Partie. Sie ließ sich spätestens 1969, in seinem Todesjahr, von dem hitzigen Hünen Hłasko scheiden.

Eben diesem soll im Dezember 1968, wohl bei einer Party oder einem feuchtfröhlichen Ausflug, ein folgenschweres Mißgeschick unterlaufen sein. Als der »bärenstarke« Hłasko den schmächtigen Komeda im Überschwang auf die Arme nahm, um ihn wieder einmal hochleben zu lassen, kam dieser so unglücklich zu Fall, daß er mit dem Kopf aufschlug und über starke Schmerzen klagte. Nach Neujahr fiel Komeda trotz (oder wegen) einer Gehirnoperation ins Koma. Im April in ein Warschauer Krankenhaus überführt, starb er ebendort, knapp 38 Jahre alt, noch im selben Monat, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Während das Unglück nie amtlich geklärt wurde und die Angaben über die Umstände voneinander abweichen**, wird offenbar nirgends ein Verdacht auf böse Absicht geäußert. Von Hłasko überliefern einige Quellen, darunter die englische Wikipedia, die Ankündigung: »Wenn Krzysztof stirbt, gehe ich auch.« Danach hätte Brockhaus richtig gelegen. Andererseits sei nicht auszuschließen, der Pole habe sich eine heftige Mischung aus Alkohol und Schlaftabletten versehentlich zugeführt. Enge Freunde glaubten nicht an Selbstmord. Allerdings hatte Hłasko, soweit ich weiß, schon vor dem Mißgeschick in LA und seiner Scheidung von Ziemann Selbstmordversuche und Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken hinter sich. Und noch früher, mit fünf, hatte er seinen Vater verloren.

* https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/sonja-ziemann-und-marek-hlasko
** Bert Noglik, »Ein Lyriker des Klanges«, Jazz-Zeitung, 2006/04, S. 13: https://www.jazzzeitung.de/jazz/2006/04/portrait-komeda.shtml




Das Hochhaus ist ein vertikaler Zwitter, nur nicht so preiswert und ungefährlich wie das bekannte Mittagsmahl Himmel und Erde. Es gehört zugleich der Sphäre Bodenspekulation (Grundstückspreise!) und der Sphäre Größenwahn an. Von beiden Gesichtspunkten zeigt sich die Spalte im Brockhaus so gut wie unbeleckt. Immerhin erwähnt er die »repräsentativen« sogenannten Geschlechtertürme in Städten des italienischen Mittelalters und teilt außerdem mit, der Ausdruck »Skycraper« (Wolkenkratzer), für mich geradezu genial, sei um 1880 in den USA aufgekommen. Einige schnödere Probleme des Hochhausbaus opfert er der Platznot, wenn nicht seiner Kurzsichtigkeit. Sie werden beim »Experten« Dirk Meyhöfer angedeutet, geboren 1950, obwohl er offensichtlich ein Fan von Hochhäusern ist.* Mit dem Architekten Werner Sobek weist er etwa auf die heiklen Fragen des Wasserdrucks in den Versorgungsleitungen, der Koordination der Aufzüge für Legionen von BewohnerInnen, allgemeiner auf den hohen Energieverbrauch, schließlich auf Windböen hin. Ein 800 Meter hohes Gebäude könne unter Umständen eine Auslenkung von einem Meter und mehr haben.

Natürlich bleibt auch nicht aus, daß der studierte Architekt und Stadtplaner Meyhöfer die WTC-Doppeltürme von New York City, damit die politische Sphäre streift. Sie seien 2001 »als Machtsymbole des kapitalistischen Westens von Terroristen mit entführten Flugzeugen zerstört« worden. Ich kenne einige andere Experten, möglicherweise etliche Tausend, die es für unmöglich halten, solche Wolkenkratzer durch Flugzeuge oder gar durch Bürobrände zum nahezu senkrechten Einsturz zu bringen. Den zeigen ja die vorhandenen Filme. Somit bleibt eigentlich nur die Sprengung. In der Tat stürzte damals auch der benachbarte Turm WTC 7 ein, obwohl er noch nicht einmal von einem blinden Geier getroffen worden war. Meyhöfer kann dem Vogel glatt die Hand reichen.

Mag in der Hochhausbranche auch um jeden Quadratzentimeter Grundstück gefeilscht werden – in der Höhe scheut man keine Kosten. Und die Kosten für solche kühnen, anfälligen Gebäude, die inwischen schon 400 bis 900 Meter messen, dürften, volkswirtschaftlich betrachtet, riesig sein. Aber das Volk findet es in Ordnung. Auch Meyhöfer verliert über diesen Gesichtspunkt so gut wie kein Wort. Dafür versichert er, rein theoretisch seien inzwischen sogar 2.000 Meter hohe Häuser kein Problem mehr. Nur müsse es vielleicht doch nicht unbedingt sein. Er nennt gemischte oder alternative Konzepte des Städtebaus – die Städte selber, als immer ausgedehntere, furchteinflößende Zusammenballungen, kratzt er mit keinem Komma an.

Mit den Flugzeugen drängt sich noch ein Gesichtspunkt auf, den ich neulich (2022) in meiner kleinen Betrachtung über Türme vernachlässigt habe. Allerdings steckt er in meinen Bemerkungen zur ungehemmten Verkleisterung von Hauswänden, Friedhofsmauern, Alleebäumen und so weiter, siehe bei Bedarf im Register unter »Raum, Öffentlicher«, so mein Stichwort. Nun geht es um die unbedenkliche Beschlagnahme des Luftraums. Meines Wissens gibt es keine eingetragene bundesdeutsche Partei, die in ihrem Programm davor warnte. Der Luftraum scheint den Bürgermeistern, den Staatsministern und selbstverständlich der Industrie zu gehören, die sich beispielsweise an Windrädern, Hochhäusern und am gesamten Luftverkehr eine goldene Nase verdient. Über meinem Häuschen kreuzt alle paar Wochen ein wohl aus Gotha kommender Hubschrauber auf, der anscheinend mit Nachwuchspiloten Nachtflug trainiert. Es ist jedesmal die Hölle, 20 bis 30 Minuten lang. Gegen Friedrichswerth (im Norden) bietet sich mir beim Radausflug eine langgestreckte Anhöhe dar, die mit Dutzenden Windrädern gespickt ist. Der ekelhafte Anblick weckt den Fluchtinstinkt, doch die BetreiberInnen versichern mir, wenn ich stets 150 Meter Abstand hielte, würde ich nicht vom Sattel geblasen. Hätte ich den routierenden Schatten eines solchen riesigen Masten in meinem Garten auszuhalten, würde ich mich mit verzweifelten Hechtsprüngen zu meinen Maulwürfen in die Erde eingraben. Aber der amtliche Irrsinn der Väter und Mütter unserer Unmengen an Energie verschlingenden Groß-städte hat Methode. Sie ruhen erst, wenn die »Skyline« ihrer Städte keine Lücken mehr aufweist, also einem erdballumspannenden Nagelbrett für die fürs Sonnen-system zuständigen Fakire Gottes oder des Satans gleicht.

15 Seiten weiter macht uns Brockhaus mit der südunga-rischen Zungenbrecher-Stadt Hódmezővásárhely bekannt, 5 ½ Zeilen. 1987 habe sie 54.000 Einwohner-Innen aufgewiesen. Dabei war sie im 18. Jahrhundert von den Türken zweimal zerstört worden! Vielleicht hätte man den Türken dafür einen Umweltschutzpreis verleihen sollen. Das wollten die Ungarn aber nicht – sie bauten die Stadt immer wieder auf. Allerdings gibt es noch Hoffnung. Laut englischer Wikipedia hat die Stadt inzwischen 44.000 EinwohnerInnen, folglich schon 10.000 weniger.

* Dirk Meyhöfer am 23. Oktober 2022: https://www.deutschlandfunk.de/hochhaeuser-megahaeuser-high-rises-zwischen-himmel-und-erde-100.html



Der zwirbel- und vollbärtige schwedische Maler und Akademieprofessor Johan Frederik Höckert (1826–66) soll mit 40 einer Krankheit erlegen sein – jedenfalls keinem Brand. Als sein »Hauptwerk« bildet Brockhaus das späte Gemälde Der Schloßbrand in Stockholm am 7. 5. 1697 ab. Viel ist darauf nicht zu sehen. Aber wer weiß, gerade darin könnte ja der Reiz des Werkes bestehen. Offenbar brach das Feuer in der Nacht aus. Die HerrscherInnen scheinen ihr Schloß gerade zu verlassen. Sie wirken eher griesgrämig als von Panik befallen. Immerhin hat ein Kammerdiener eine kleine mit Eisen beschlagene Holztruhe, die vermutlich Geld, Schmuck und unterschriftsreife Todesurteile enthält, und die Zofe zwei Schoßhündchen gerettet. Wer es darauf anlegt, kann diesen Details womöglich eine sozialkritische Tönung verleihen. Vielleicht wäre es aber ungerecht, Höckert zu verhöhnen. Er soll auch aus dem Volks- und Landleben geschöpft haben, so dieses fleißige Mädchen.



Gab sein Schwarzweiß-Fernseher in meinen Knabenjahren um 1962 dummerweise auch einmal am Sonntagvormittag den Geist auf, schmeckte meinem Großvater Heinrich der Hack- oder Kasseler Braten zu Mittag jede Wette nur halb so gut. Er versäumte den Internationalen Frühschoppen mit Werner Höfer (1913–97) nämlich nie. Diese bundesweit beliebte Sendung kam gleich nach dem Bettenhäuser Dorfkirchen-Gottesdienst. Mein Großvater saß im Kirchenvorstand. In dem Flimmerkasten dagegen erörterten fünf oder sieben angesehene Journalisten aus fast genausoviel Ländern unter Höfers Leitung eine immer andere wichtige tagespolitische Frage. Vielleicht hatte es meinem Großvater, der selber Lehrer war, hauptsächlich die etwas schulmeisterliche, ansonsten stockbiedere Gesprächsführung Höfers angetan. Oder dessen Erscheinungsbild. Der namhafte Journalist begnügte sich stets mit einer unvorteilhaft wulstigen Krankenkassen-brille und sah überhaupt wie ein Onkel Doktor aus, der kein Wässerchen trüben konnte. Das erwies sich erst spät als Trugschluß, wie ich zu meiner Verblüffung sogar den 6 ½ Zeilen im Brockhaus entnehmen kann. Immerhin lebte der Mann ja 1989 noch. Zwei Jahre früher habe Höfer »nach Vorwürfen wegen seiner publizistischen Tätigkeit in der national-sozialistischen Zeit« seinen Vorzugs- und Vorzeigeposten im Internationalen Frühschoppen geräumt. Man hatte endlich ein paar braune Hetzartikel des gestandenen NSDAP-Mitgliedes Höfer (1933) ausgegraben, die sogar die Hinrichtung eines »wehrkraftzersetzenden« jungen Pianisten guthießen. So inszenierte man einen Nachspann zur »Affäre Filbinger« (1978), obwohl die DDR schon viel früher auf Höfer eingehackt hatte. Allerdings war Höfer bereits ähnlich gut versorgt wie der schwäbische Ministerpräsident – ein Bundesverdienstkreuz von 1973 eingeschlossen. Höfer wurde noch 84.

Sein Frühschoppen, erstmals 1952 ausgestrahlt, hatte es in 35 Jahren auf 1.874 Folgen gebracht.* Dieser Latte zum Trotze meint Welt-Autorin Kleikamp, das sei noch Qualität gewesen; folglich pinkelt sie Talkshows an. »Seit vielen Jahren geht es in den alles überwuchernden Runden des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks eigentlich nur um die Selbstdarstellung von Politikern und Aktivisten. Ernsthaft an der Sache orientiert dagegen war …« Wahrscheinlich liegt Kleikamp gar nicht so falsch. Mögen die versammelten Herren (Damen selten) auch schon damals mit ihren Argumenten nie die Grenzen der geheiligten Freien Marktwirtschaft durchbrochen haben, hielten sie eben doch ihren Geltungsdrang und ihre Eitelkeit in einem Maß am Zügel, das sich heutige Medien-konsumenten sicherlich gar nicht mehr vorstellen können.

Dabei schließe ich die Online-Blätter ein, zum Beispiel die Welt. Man kann sich vor Hinweisschildern, Frauen im Büstenhalter, brandneuen Nachrichten und weiß der Teufel welchen selbstlosen Angeboten kaum noch retten. Ein Naturwunder an Konzentrationsfähigkeit, wer sich da noch dem aufgerufenen Text widmen kann.

* Antonia Kleikamp am 30. August 2022: https://www.welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article240747357/Werner-Hoefer-So-stolperte-der-Wirt-des-TV-Fruehschoppen.html



Vom Tubisten Gerard Hoffnung (1925–59) bietet Brockhaus sogar einen Cartoon aus dessen eigener Produktion. Es geht da um einen berühmten, besessenen, vermutlich auch eitlen Dirigenten, der auf seinem Podest, von links nach rechts, immer kleiner wird. Der musikalische Deutsch-Brite war nämlich auch Karikaturist. Als Pimpf in Berlin hatte er noch keine Tuba gespielt. Vielleicht wurde er erst auf der britischen Insel zum Exentriker. Man hatte ihn 1938 wie viele andere jüdische Kinder nach England verschickt. Er hatte insofern Glück, als sein Onkel Bruno Adler dort schon Lehrer war und ein Jahr darauf auch seine Eltern nachkommen konnten. Die Familie ließ sich in London nieder, wo Hoffnung die Highgate School besuchte und in seinem Elternhaus die Gäste zeichnete. Im folgenden gelang es ihm, sich für etliche Jahre wechselweise als Lehrer, Musiker, Büttenredner, Karikaturist, Rundfunksprecher, während des Krieges auch als Milchflaschenwäscher in einer Molkerei über Wasser zu halten. Bald ließ er jedoch, wie bereits angedeutet, durch einen bemerkenswerten Brückenschlag zwischen Musik und Bildender Kunst aufhorchen: mit gezeichneten Parodien aus dem Konzertleben, die noch heute Lacherfolge ernten. Sie erschienen auch in Büchern unter Titeln wie Scherzando und Hoffnungslos. Hoffnungs eigenes Hauptinstrument, die Tuba, weist da plötzlich einen Zapfhahn auf, damit sich der arme Backenbläser öfter ein Bier hinter die Binde kippen kann. Gleichwohl spielte Hoffnung die Tuba gut genug, um Ralph Vaughan Williams‘ Tuba Concerto (1954) zu geben und im seriösen Londoner Morley College Orchestra mitzuwirken. Sein Haus entwickelte sich allmählich zum Salon für KünstlerInnen, Literaten und Freunde aller Art.

Seinen durchschlagenden Erfolg hatte der anspruchsvolle Witzbold 1956 aufgrund einer Idee, zu der ihn wahrscheinlich die April Fool's des Liverpooler Flötisten Fritz Spiegl anregten. Hoffnung verstieg sich nun dazu, in der Londoner Royal Festival Hall neuartige Konzerte zu veranstalten, die originelle Musik, beispielsweise von Malcolm Arnold, Francis Baines, Francis Chagrin, Aaron Copland, Franz Reizenstein, William Walton, mit ausgefallenem Dirigat und clownesken Einlagen der MusikerInnen boten. 1958 wurde bereits vor den ersten Orchestertönen ein Hustender erschossen und auf einer Bahre davongetragen. Die Leute waren schockiert – und lachten. Diesen Erfolg konnte der Impresario Hoffnung allerdings keine drei Jahre mehr genießen, weil ihn 1959 ein Tod durch Hirnblutung ereilte.

Die beliebte Reihe The Hoffnung Music Festival wurde dann noch für einige Zeit von der Witwe des 34jährigen fortgeführt, Annetta. Ein Jahr zuvor – schon drei Stunden nach der Ankündigung des Konzertes waren sämtliche Eintrittskarten vergriffen – hatte sie in der Royal Festival Hall am Nebelhorn gesessen. Die beiden hatten sich 1950 bei Roland Emmett kennengelernt, der wie Hoffnung für Punch zeichnete. Nebenbei war Annettas Mann, seit 1955 Anhänger der religiösen Quäker-Bewegung, nicht nur für schräge Töne gut gewesen. Er trat gegen Rassismus und atomare Rüstung, für Homosexuelle und Tierschutz ein. Das Jagd- oder Waldhorn etwa fand er geeigneter, auf einen Ständer montiert dem Virtuosen, der ins Mundloch blinzelt, als Weltraumteleskop zu dienen. Als Quäker hatte er auch regelmäßig Häftlinge betreut. Annetta Hoffnung versichert 2011, nach dem unerwartetem Tod ihres Mannes hätten dutzendweise entsetzte Häftlinge angerufen, die nun ohne das gemeinsame Gelächter auskommen mußten, das ihre Zellen bei jedem Besuch Hoffnungs erschüttert hatte. Das Paar hatte zwei Kinder. Während Tochter Emily Bildhauerin wurde, blieb Sohn Benedict der Musik treu: als professioneller Orchester-Schlagzeuger.*

Der Zeichner Hoffnung hatte die Pauken einmal als auf dem Rücken sich kugelnde Schildkröten gegeben, die ihre eigenen Bauchfelle betrommeln, während sie sich über die Ränder ihrer Panzer anfeuernd zunicken. Damit deutete er – vermutlich unbeabsichtigt – zugleich die ungesunden, zuweilen auch lebensgefährlichen Verrenkungen an, denen sich BerufsmusikerInnen zu unterziehen haben. Musikphysiologen schätzen deshalb, mindestens 50 Prozent aller OrchestermusikerInnen litten an gesund-heitlichen Schäden, die unmittelbar auf ihre Berufspraxis zurückzuführen seien. Bei den BlechbläserInnen leuchtete das selbst Laien unmittelbar ein. Diese KünstlerInnen deformieren nicht nur ihre Münder; sie setzen auch ihre Hirne enorm unter Druck. Ich nehme deshalb an, der vielgerühmte englische »klassische« Musiker und Lehrer John Fletscher (1941–87) zog sich nicht zufällig im besten Mannesalter eine schwere Gehirnblutung zu, die ihn, mit 46, ins Gras beißen ließ. Sein Instrument war das von Hoffnung gewesen, die Tuba.

* Von der Witwe stammt anscheinend auch eine üppige Webseite über den verstorbenen Gatten: https://gerardhoffnung.com/biography/, o.J.



Das nette nordhessische Städtchen Hofgeismar (bei Kassel) hat sogar noch immer einen Bahnhof, dafür jedoch keinen Ligaclub des Snookersports mehr. Von diesem Verlust erfährt man natürlich nicht durch Brockhaus. Den Snookerclub gibt es freilich noch, wie mir ein freundlicher Aktiver auf Anfrage mitteilt. Um 2000 hatte sich der Hofgeismar Snooker Club sogar bis in die 2. Bundesliga hochgeschossen. 2004 verpaßte er aber den sogenannten Klassenerhalt, und bald darauf blieb er dem Spielbetrieb der Liga überhaupt fern. Er hatte zuviele bewährte Spieler verloren. SpielerInnen gab es in dem Provinzclub sowieso nie. Noch heute habe man, bei 33 Mitgliedern, nicht eine Frau im Club.

Ein Makel liegt auch in der räumlichen Enge des einzigen heimischen Snookersalons. Er hat nur zwei Tische. Das reichte inzwischen für die 2. Bundesliga, die mindestens drei verlangt, ohnehin nicht aus. Das »spielerische Potential« für solche höheren Aufgaben hätte man dagegen inzwischen wieder, versichert mir der Gewährsmann. Jetzt sei geplant, sich zur neuen Saison 2024/25 wieder in der Hessenliga anzumelden. 2006 errang der SC sogar den Pokal des Hessenmeisters. Und wenn er das erneut schafft und in der 2. Bundesliga anklopft ..?

Ich wüßte ja eine Lösung zur Behebung der Platznot des Clubs. Man müßte nur den Bürgermeister Torben Busse, vor allem jedoch die Kirchenbosse von ihr überzeugen. Im heimischen Park Gesundbrunnen gibt es seit 1790 dieses ansehnliche Gebäude, ursprünglich Sommerresidenz der kurfürstlichen Trottel aus Kassel. Brockhaus erwähnt es sogar. Seit 1952 sei es »Tagungsstätte« der Hofgeismarer Evangelischen Akademie.



Dieser Maler Holbein kommt im Brockhaus nicht vor. Vielleicht war er zu schwach? Das mag ja sein. Aber er war stark auf den Beinen, nämlich von Jugend an leidenschaftlicher Wandersmann. Deshalb hätte ich ihn durchaus aufgenommen, zumal er auch im Guinness Buch der Rekorde fehlen dürfte. Der unweit von Waltershausen gelegene Inselsberg ist immerhin gut 900 Meter hoch. Friedrich Holbein (1856–1940), sozusagen Waltershäuser Lokalmatador, bestieg ihn im Lauf seines Lebens geschlagene 2.244 mal.

So prunkt es selbstverständlich auch auf einer Tafel an dem Häuschen in der Bornpforte 8, das Holbein bewohnt hatte. Eine Kunstschule hatte er nie besucht. In seinen Anfängen bemalte er zunächst Puppenköpfe für die einheimische Spielwarenindustrie. Dann bat ihn der Landsmann und Reiseschriftsteller August Trinius, ab 1890 Waltershäuser, um Buchillustrationen. Das schlug ein. Bald kam Holbein auch im berüchtigten Leipziger Familienblatt Die Gartenlaube zum Zug. Nun konnte er sich Leinwand und Ölfarben leisten. Ich selber kenne nur das hübsche Ölgemälde, auf dem er 1884 den hiesigen Töpfersturm verewigte. Damals war die Wetterseite mit roten Biberschwänzen verkleidet; heute sind es ringsum graue Schieferschindeln. Der spitzbedachte Turm wird inzwischen vom einzigen Waltershäuser Buchhändler bewohnt, bei dem Sie natürlich auch Sigmar Löfflers mehrbändige Stadtgeschichte erwerben können.

Nach diesem wertvollen Werk* waren Holbeins Aufstiege »ursprünglich Geschäftsreisen: er wollte seine im Inselsberg-Gasthof ausgestellten Bilder an das Reisepublikum verkaufen.« Somit war der Künstler weder geborener Rekordjäger noch Masochist. Er hatte einfach aus der Not eine Tugend gemacht. Dem Wahlwinkler Heimatkundler Wolfgang Möller zufolge** fand Holbeins letzter Aufstieg am 7. April 1940 statt – mit immerhin 84 Jahren. Drei Monate später war der Künstler tot.

* Band II, Ausgabe Erfurt 2000, S. 203
** »Waltershäuser Geschichtsverein erinnert an Friedrich Holbein«, Thüringer Allgemeine, Ausgabe Gotha, 24. März 2021




Betzy Holmberg Deis (1860–1900) war die Tochter finnisch-norwegischer Eltern, die in Düsseldorf lebten und beide Maler waren, Anna und Werner Holmberg. Der Vater steht mit sechs Zeilen im Brockhaus. Leider erlag er schon sechs Monate nach Betzys Geburt, erst 29 Jahre alt, der Tuberkulose. Daraufhin zogen die beiden Frauen in Annas norwegisches Elternhaus. Ende 1880 wechselten sie jedoch gemeinsam nach Leipzig, weil Betzy dort Musik (Komposition) studieren wollte. Ich folge hier ausschließ-lich einem erst kürzlich verfaßten englischsprachigen Aufsatz*, den ich mit mehr Glück als Geschick im Internet aufgetrieben habe. Die Autorin ist Finnin.

Zu Betzys Lehrern zählte Carl Reinecke. 1883 ging sie, auf Unabhängigkeit von der männlich geprägten Schulmusik bedacht, nach Norwegen zurück und verfaßte ihre erste Symphonie. Die gilt als verschollen. Einige Kammer-musiken sind dagegen gedruckt. 1883/84 weilte Betzy auch in Rom. Sie erlebte hier und dort Aufführungen ihrer Werke. Mutter und Tochter wohnten unter anderem in Leipzig und Kopenhagen, ab 1891 jedoch in Hamburg, und da wird es verhängnisvoll. In Hamburg habe die 32jährige (1892) den dort ansässigen dänischen Kaufmann (Johann) Heinrich (Ludwig) Deis geheiratet. Kurz darauf hätte sich das Ehepaar aber schon wieder getrennt. Wie es aussehe, riß sich Heinrich Deis Betzys Geld (oder das Geld ihrer Mutter) unter den Nagel und verschwand an einen unbekannten Ort in Dänemark, teilt Välimäki mit. »Laut einer Zeitungsankündigung von 1895 leitete Anna Holmberg ein Gerichtsverfahren ein, in dem sie Heinrich Deis aufforderte, seine Schulden zurückzuzahlen, aber offensichtlich ohne Erfolg.«

Damit springt die Autorin in den April 1900. Damals sei die ehemalige Komponistin in Hamburg gestorben. Warum oder woran, lesen wir nicht. Betzy war erst 40. Zwar führt Välimäki den Todesanzeigentext der Mutter an, wonach Betzy »friedlich und ruhig« dahingegangen sei. Das könnte allerdings eher eine Beruhigung der Mutter selber oder der lieben Bekannten gewesen sein, möchte ich anmerken. Ferner schreibt Välimäki, anscheinend habe Betzy bereits mit ihrer Verheiratung [beziehungsweise dem raschen Scheitern ihrer Ehe] ihr künstlerisches Schaffen eingestellt. Von einigen Todesanzeigen und Erwähnungen in Sammelwerken abgesehen, habe es auch keine Veröffentlichungen über Betzy mehr gegeben.

Für mich sind diese biografischen Kahlstellen geradezu niederschmetternd. Das ist jedoch, soweit ich sehe, am wenigsten Välimäki anzulasten, die im Gegenteil anscheinend so gut wie alles zusammengekratzt hat, was irgend aufzutreiben war. Ihr Porträt weist immerhin über 100 Fußnoten auf. Im Internet wird Susanna Välimäki, geboren 1970 in Turku, Finnland, als Musikwissenschaft-lerin und Professorin der Universität Helsinki geführt. Ihr Erscheinungsbild ist mir unbekannt. Dafür bringt sie Fotos von ihrem frühverstorbenen Gegenstand. Himmel, was für eine hübsche, auch witzige Komponistin! Jetzt haben die Würmer sie schon bis auf die Knochen verspeist, befürchte ich. Wobei es mich nicht verblüffen würde, wenn die Würmer der Scham und des Grames bereits seit des Gatten Vertrauensbruchs in ihr genagt und so entweder eine todbringende Krankheit, vielleicht auch gleich einen Selbstmord begünstigt hätten. An dem »Vertrauensbruch« war vermutlich auch ihre eigene Einfalt gehörig beteiligt. Aber dies alles ist Spekulation.

* Susanna Välimäki, »Composer Betzy Holmberg Deis«, https://www.idunn.no/doi/full/10.18261/smn.48.1.3, 7. November 2022



Ich belästige Sie mit dem sächsischen Mediziner Martin Blochwitz (1602–29), weil er ein großer Holunderfreund war. Er kam aus wohlhabender Familie in Großenhain, machte seinen Doktor der Medizin in Basel und ließ sich 1628 in Oschatz, damals 3.500 EinwohnerInnen stark, als »Stadtphysikus« nieder, also gleichsam als Amtsarzt. Das Städtchen an der Döllnitz liegt auf halbem Wege zwischen Leipzig und Dresden. Nach Krüger-Mlaouhia war Blochwitz auf der Hohen Straße mit einem »Geschirr von fünf Pferden und drei Knechten« aus dem damaligen Hayn eingetroffen. Doch schon ein Jahr darauf sei er, 27jährig, gestorben, möglicherweise an der damals in Sachsen wütenden Pest, man weiß es nicht genau. Jedenfalls habe ihm da auch der geliebte, von ihm hochgepriesene Holunder nicht mehr geholfen.*

Blochwitz‘ Arbeit Anatomia Sambuci, zwei Jahre nach seinem Tod von seinem Bruder Johann herausgegeben, gilt noch heute als wichtiges, erstaunlich gründliches Standardwerk über den Holunder. Es behandelt Botanik, Zubereitungsarten und Heilanwendungen des bekannten Busches, der bei uns Ende Juni an jeder Straßenecke blüht, weshalb man bequem seine Nase in ihn stecken kann, weil die weißen Doldenblüten recht lieblich duften. Mein Großvater Heinrich setzte aus den getrockneten Blüten Jahr für Jahr unermüdlich eine Art Limonade an, die wir »Holundersprutz« nannten, wobei er es zur Freude der Bettenhäuser Zahnärzte nicht an Zucker fehlen ließ. Blochwitz‘ Heilempfehlungen sollen, Wikipedia zufolge, auf so gut wie alles abzielen: Brust- und Gebärmutter-erkrankungen, Erfrierungen, Geschwulstleiden, Infektionskrankheiten, Lungen-, Magen-, Darm-, Milz- und Gallenerkrankungen, psychische Erkrankungen, Schlaganfall und Lähmungen, Steinleiden, Schwindsucht, unklares Fieber und Schmerzen, Vergiftungen, Verletzungen, Wurmbefall – und ja, sogar Zahnschmerzen.

Vor ungefähr 30 Jahren beging ich in einem Herbst beim Wandern aus Durst den Fehler, die kleinen, blauschwarzen Beeren des Holunders in mich hineinzustopfen. Das ließ ich rasch sein, weil mir auf der Stelle schlecht wurde. Jetzt weiß ich, man sollte die Beeren nie roh essen, weil sie ein Gift enthalten. Davor warnt selbst Brockhaus, den ich damals allerdings noch nicht besaß. Dafür kannte ich Olbas bereits, aber ich hatte das Fläschchen dummerweise nicht dabei. Sonst wäre meine Leidenszeit von zwei Stunden auf zwei Minuten verkürzt worden. Ein paar Tropfen dieses Destillats aus Pfefferminz-, Cajeput- und Eukalyptusöl wirken fast immer Wunder – gerade so, wie Blochwitz zufolge der Holunder. Sie glauben es nicht? Ja, wenn Sie ungläubig sind, hilft ihnen überhaupt kein Medikament. Und noch weniger hilft Ihnen eine Atemschutzmaske – wie neuerdings sogar prominente Leute einräumen, die mit ihrem Coronawahn gewisse MahnerInnen noch 2021/22 in die Isolation und die Verzweiflung zu treiben wünschten.

Nebenbei soll Bruder Johann Blochwitz, Physikus in Großenhain, gleichfalls schon frühzeitig heimberufen worden sein: 1634 mit 29. Auch in seinem Fall wird die Pest verdächtigt. Die neue Pest waren just die Corona-gesundheitswächterinnen. Darauf komme ich noch zurück.

* Kathrin Krüger-Mlaouhia, »Warum ein neuer Holunder Blochwitz heißt«, sächsische.de (Dresden), 26. Juli 2013: https://www.saechsische.de/plus/warum-ein-neuer-holunder-blochwitz-heisst-2626673.html



Brockhaus gibt Max Hoelz (1889–1933) als »Politiker« aus. Er selber hatte sich einmal (oder wiederholt) als »Kesselheizer der Revolution« bezeichnet. Mit knapp 44 endete er im Wasser, obwohl er ein ausgezeichneter Schwimmer gewesen sein soll. Brockhaus sagt (1989), die Todesumstände seien ungeklärt.

Der stämmige Sachse war überhaupt das Gegenteil eines Intelektuellen. Er kam aus einfachen, ja rohen ländlichen Verhältnissen, wurde Kommunist und schwang sich 1920/21 zur führenden Gestalt »linksradikalen« proletarisch-bäuerlichen Aufruhrs im Vogtland und im Raum Dresden-Halle auf. Diese Rebellion, die keineswegs vor Gewaltakten gegen Fabrikanten, Bankiers, Schloßherren und Bürgermeister zurückschreckte, dafür manche Beute unter die Armen streute, wurde bekanntlich im März/April 1921 von den Truppen des sozialdemo-kratischen Reichspräsidenten Ebert niedergeschlagen. Unter dem erlogenen Vorwand, er habe einen Gutsbesitzer erschossen, landete Hoelz, auch »Robin Hood des Vogtlands« und schwarzroter »General« des mitteldeutschen Aufstands genannt, im Gefängnis. Urteil: Lebenslänglich. Nach endlosen Schikanen, aber auch zahlreichen prominenten Fürsprachen 1928 amnestiert, ging Hoelz im nächsten Jahr, angeblich auf höchste Einladung hin, in die Sowjetunion. In seiner Besprechung einer jüngsten Hoelz-Biografie (von Norbert Marohn) behauptet Horst Groschopp*, die damalige internationale Kampagne zur Freilassung des »nervösen Tatmenschen« habe ungefähr die Kragenweite »Sacco und Vanzetti« besessen und Hoelz berühmt, freilich wohl auch überheblich gemacht. Zwar versichern viele ihm gewogene Quellen, Hoelz sei ein schöner, anziehender Kerl, zudem Alkoholfeind gewesen, doch Hinweise auf weniger schöne Züge vermeiden sie zumeist. Nach Groschopp/Marohn neigte er zum Jähzorn, war unberechenbar, dafür rechthaberisch. Er hatte sich eben in jungen Jahren von der Bibel gelöst – um bei den kommunistischen Übervätern zu landen.

Allerdings fiel er in der geheiligten Sowjetunion, wo er zahlreiche Vortragsreisen unternehmen durfte, gleichwohl zunehmend dem Zweifel anheim. Den Staatswächtern von der GPU war er vermutlich von Anfang an ein Dorn im Auge, weil er immer schon starke »anarchistische« Tendenzen gezeigt hatte, und nun gewann er Einblick in die fragwürdigen Lebensbedingungen der »befreiten« Arbeiter und Bauern und hielt offenbar auch mit seiner Kritik nicht zurück. Zudem soll er Mißfallen durch wiederholte Prügeleien erregt haben. Vielleicht fühlte er sich von sogenannten Journalisten oder anderen Schnüfflern bedrängt oder einfach zu stark. Stalin, der ihm einmal Audienz gewährte, hatte ihm ja durchaus imponiert; vermutlich ähnelten sich die beiden nicht nur in der Statur. 1933 muß es, unter Vorwänden, eine Art Verbannung des schillernden Gastes nach Nischni Nowgorod gegeben haben. Diese Großstadt, damals Gorki mit Namen, liegt rund 400 Kilometer östlich von Moskau an der Mündung der Oka in die Wolga. Ebendort, in der Oka, fand man Hoelz Mitte September des Jahres als Wasserleiche an einem gerade eingerüsteten Brücken-pfeiler eingeklemmt. Nach offizieller Verlautbarung war er verunglückt; beim Baden oder beim Fahren in einem brüchigen Kahn vielleicht …

Ulrich Breitbach behauptet**, man habe Hoelz‘ (zweite) Ehefrau Traute daran gehindert, sich der geborgenen Leiche zu nähern, sie habe jedoch aus der Distanz festgestellt, der Hinterkopf ihres Mannes sei mit einem Tuch abgedeckt gewesen. »Sehr viel später, in den neunziger Jahren, erklärte die Witwe, der GPU-Chef von Gorki habe sich des Mordes an Max Hoelz gerühmt. Hoelz sei von GPU-Leuten in einem Boot mit Pistolenknäufen bewusstlos geschlagen und dann in den Fluss gekippt worden.« Wie es aussieht, haben wir dergleichen Diskussionsbeiträge wie Kiesel in der Oka, nur nicht die Schwanzflosse eines Beleges. Marohn dagegen, so Groschopp, lege sich, der schlechten Aktenlage entsprechend, nicht fest, halte also auch ein Unglück oder einen Selbstmord nicht für ausgeschlossen.

* »Ein freidenkerischer Rebell«, Humanistischer Pressedienst, 2. April 2015: https://hpd.de/artikel/11525
** https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-kesselheizer-der-revolution, 12. September 2008




Und wieder hat Brockhaus einen kleinen Mann übersehen, der hoch hinaus wollte. Vermutlich war der südtiroler Alpinist, Steilwandskifahrer und Fachjournalist Heini Holzer (1945–77) bereits als Hirtenbub statt Heinrich verkleinernd Heini genannt worden, und dabei blieb es auch. In der Tat wurde er nie größer als ungefähr 1 Meter 50, die Angaben schwanken. Was Wunder, wenn er dann den Lehrberuf des Kaminfegers ergriff, an dem er angeblich auch noch festhielt, nachdem er als Seilpartner von Berühmtheiten bekannt geworden war. Seit 1960 übte er seinen Brotberuf im Dorf Schenna bei Meran aus, wo er dann auch begraben wurde. Natürlich kam er bei seiner Zwerggestalt auch hervorragend durch die Kamine, die in unbewohnten Gebirgen zu finden sind. 1970 begann er sich allerdings auf Steilwandabfahrten per Skiern zu spezialisieren. Eben bei diesem besonders selbstmörde-rischen Treiben kam er im Juli 1977 als 32jähriger um, als er den Versuch, die Nordostwand des knappen Viertausenders Piz Roseg (Graubünden, Schweiz) hinabzusausen, mit einem gewaltigen Sturz bezahlte.

Holzers frühe Ehe war schon eher zerbrochen, aus verständlichen Gründen. Neben seiner wagemutigen Besessenheit werden so manche weibliche Seilpartner-innen angeführt, die er bei seinen eigenständigen Klettereien bevorzugt hatte. Zur Begründung hatte er auf deren geringes Gewicht als der idealen Entsprechung zu seiner eigenen Leichtgewichtigkeit verwiesen. Er hatte keine 50 Kilo gewogen. Einem Gedenkartikel von 2007 zufolge* verabscheute der Stiefsohn eines Trunkenboldes Alkohol, nahm stattdessen vorwiegend Milch zu sich. Was ihm an Hünenhaftigkeit fehlte, machte er nach anderen Quellen durch schier unwiderstehlichen Charme wett. Zwar sei er ein eigensinniger Mensch und ein Eigenbrötler gewesen; gleichwohl habe er erstaunlich viele Freunde gehabt – so Alpinist Toni Hiebeler in einem Nachruf auf Holzer, bevor er selber (1984 per Hubschrauber) in Slowenien zu Tode stürzte.

Holzer hatte übrigens sowohl das Profitum wie den Rückgriff auf motorisierte »Aufstiegshilfen« a lá Sessellifte oder eben Hubschrauber abgelehnt. Der Hirtenbub war Naturbursche geblieben. Er pflegte seine Abfahrten stets gewissenhaft vorzubereiten und notfalls auch zu verschieben. Gleichwohl blieben sie Wahnsinn, was sich womöglich LeserInnen, die wie ich nie Fernsehen gucken, gar nicht richtig klarmachen. Seine letzte Abfahrt hatte ein Gefälle von über 50 Grad. Nachdem er auf dieser Schrägen aus unbekannten Gründen, wenn auch von einer Berghütte aus beobachtet, gestrauchelt war, stürzte er nach Feststellung der Kantonspolizei 55o Meter tief an den Fuß der betreffenden Gebirgswand. Er soll auf der Stelle tot gewesen sein, kein Wunder.

* Dorfzeitung Schenna, Nr. 8, 28. August 2007, S. 9
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