Sonntag, 26. März 2023
Adolf, Juliane, Lili

Adolf Grillparzer, geboren um 1800, war ein nahezu unbe-kannter Bruder des berühmten Wiener Dramatikers Franz Grillparzer. Angeblich war Adolf eher »kleptomanisch« als dramatisch begabt. 1817, wohl noch keine 18, ertränkte er sich in der Donau. Zwei Jahre darauf erhängte sich die Mutter der Brüder. Über den lieben Franz sind wir »natürlich« gut im Bilde. Folgt man der Berliner Germanistin Dagmar Fischer*, hatte der künftige Wortkünstler ein fast eheliches Verhältnis zu seiner schwermütigen Mutter, die mit Sorgen, dann Krankheit und Geistesverwirrung geschlagen wurde. Der Vater, ein der Aufklärung verpflichteter und anscheinend hochver-schuldeter Wiener Advokat, war bereits 1809 gestorben. Franz bringt es bis zum Hofkammerarchiv-Direktor und schon zu Lebzeiten gefeierten Dramatiker. Trotz Neigung zu Neurasthenie und Melancholie wird er 81.

Über Adolf ist im Internet so gut wie nichts zu finden, Fischer eingeschlossen. Immerhin zitiert Fischer aber die auf einen Zettel gekritzelten »ergreifenden« Abschieds-worte des jüngeren, 17jährigen Bruders. Lieber Franz oder Mama wer es findet, da ich immer mehr in das Stehlen hineingekommen wäre, so habe ich den Entschluß gefaßt, mir selbst das Leben zu nehmen. Viel belogen habe ich die Mama und den Franz, doch ich bitte um Verzeihung, und mir nicht zu fluchen […]. Bruder Franz streift in seiner 1853 verfaßten Selbstbiographie zunächst die »gute Stimme« Adolfs – und beläßt es kaltblütig dabei, wenn ich nichts übersehen habe!** Auch für ihn ist Adolfs frühes Verstummen demnach nicht der Rede wert. Laut Franz erhielt der Bruder zumindest zeitweise Gesangsunterricht, um vielleicht als Hofsängerknabe aufs Kaiserliche Konvikt zu gelangen. Ob er noch anders (erwerbs-)tätig war und warum er »ins Stehlen kam«, scheint niemanden zu interessieren. Aus Bemerkungen Fischers schließe ich, Franz hielt den Bruder für schuldig und mißraten und weinte ihm keine Tränen nach. Die Wiener Grillparzer-Gesellschaft macht mich freundlicherweise, auf Anfrage, auf drei Anmerkungen in der »historisch-kritischen« Werkausgabe von 1913 aufmerksam. Eine Stelle gibt getreulich den ganzen Wortlaut des Abschiedsbriefes wieder. Eine andere*** spricht in der Tat von »Mißhelligkeiten zwischen den Brüdern«, die wohl als »ein Vorspiel der Selbstmordkatastrophe« aufgefaßt werden könnten. Nur wird dies alles leider nicht erläutert und nicht weiter kommentiert.

In Gerhard Scheits Rowohlt-Monografie**** über Franz G. wird dessen jüngster Bruder (laut Register) mit knapp drei mitleidlosen Zeilen gestreift. Er war eben vergleichsweise unwichtig. Aber er dürfte denselben gefühlskalten, abweisenden Vater (von insgesamt vier Söhnen) gehabt haben, und es wäre doch interessant zu wissen, warum er dann nicht auch einen ähnlich erfolgreichen Weg wie Franz einschlagen konnte. Ein knappes Jahr vor Adolfs Gang in die Donau war Franz, 26, durch die Uraufführung seines Stücks Die Ahnfrau schlagartig berühmt geworden. Wer weiß, ob das für den »Taugenichts« nicht ein zusätzlicher Stachel gewesen war. Diese Vermutung legt auch der Wiener Musikwissenschaftler Max Graf nahe, wenn er (1910) behauptet, Adolf habe sich ebenfalls als Stückeschreiber versucht, sei damit jedoch, »weniger dichterisch begabt als sein Bruder«, gescheitert.*****

Demnach könnte sich eine Variante der langbärtigen Geschichte von Kain & Abel zwischen den Brüdern abgespielt haben. Das ist schließlich ein wichtiger Grundton der Musik, die auf diesem Planeten gespielt wird: Konkurrenz. Doch wie immer auch, die nahezu vollständige Funkstille in der Adolf-Grillparzer-Forschung ist schlicht niederschmetternd. Da setzt man seit Jahrzehnten wahre Heere von Studenten, Doktoranden und Professoren auf Franz Grillparzers schaurigen Schinken Die Ahnfrau oder auf Franz Grillparzers Magengeschwüre an – das Elend eines unbedeutenden 17jährigen lockt keinen müden Hund hinter den Kachelöfen hervor.

* Dagmar Fischer, Franz Kafka, der tyrannische Sohn, Ffm 2010, S. 123–26
** http://www.zeno.org/Literatur/M/Grillparzer,+Franz/Autobiographisches/Selbstbiographie
*** http://www.literature.at/viewer.alo?objid=372&viewmode=fullscreen&scale=3.33&rotate=&page=418
**** Gerhard Scheit, Franz Grillparzer, Reinbek 1989, in der 4. Auf-lage von 2008 auf S. 48
***** Max Graf, »Die innere Werkstatt des Musikers«, in: Bernd Oberhoff (Hrsg): Psychoanalyse und Musik, Gießen 2002, S. 31



Wer sich mit Juliane Mohaupt befassen will, kommt leider auch nicht ganz an Adalbert Stifter (1805–68) vorbei. Der dicke österreichische Pädagoge, Maler und Schriftsteller war auf beiden zuletzt genannten Gebieten vornehmlich Landschafter. Dabei zog er dem Ungewöhnlichen oder auch nur Lautstarken erklärtermaßen das Unscheinbare vor. Wäre er damals nicht erst 12 gewesen, hätte er den Tod seines Vaters Johann trotzdem nicht gemalt. Der böhmische Leinweber und Flachshändler geriet am 21. November 1817 bei Windstille unfallweise auf einer Schotterstraße bei Wels in Oberösterreich unter sein mit Flachs beladenes Pferdefuhrwerk, sodaß er erschlagen wurde oder erstickte. Der Wagen war umgekippt. Warum, ob zum Beispiel die Pferde scheuten, etwa wegen Eisglätte oder Schneeballbeschuß, soll den spärlichen zeitgenössischen Angaben nicht zu entnehmen sein. Das war also schon einmal ein schlechter Start für den Knaben Adalbert. Immerhin durfte er sich bilden und eine Hochschule besuchen. Mit Amalia Mohaupt heiratete er die hübsche, ziemlich ungebildete Tochter eines verarmten Offiziers im Ruhestand. Sie war Putzmacherin und wollte offensichtlich noch mehr hermachen. Zum Leidwesen Stifters schenkte sie ihm, anscheinend aus unklaren Gründen, keine Kinder. So nahm das Ehepaar (1847) eine angeblich halb verwilderte, sechs Jahre alte Nichte Amalias auf, eben Juliane Mohaupt.

Um Julianes Herkunft und Kindheit aufzuhellen, haben sich Stifters Biografen Roedl und Matz*, soweit ich sehe, nicht gerade ein Bein ausgerissen. Sie stammte aus dem Festungsstädtchen Peterwardein im österreichisch-ungarisch-serbischen Grenzgebiet. Ihr Vater Philipp, Amalias Bruder, war offenbar Unteroffizier, machte jedoch als Kriegsversehrter nur noch in einem Pulvermagazin Dienst. Bei vier Kindern lebte die Familie überaus ärmlich. Dann, im Herbst 1845, starb auch noch die Mutter. Woran oder warum, ist nirgends zu lesen. Möglicherweise an ihrem Gatten, dem herabgesunkenen Soldaten? Wir wissen es nicht. Man teilt uns noch nicht einmal ihren Vornamen mit. Aber Gatte Philipp lebt auch nicht mehr lang. Rund ein Jahr nach Julianes Übersiedelung zu den Stifters nach Linz stirbt der 41jährige in einem Wiener Invalidenhaus. Ob und wie dies alles Juliane berührte, erfahren wir erst recht nicht.

Dafür lassen die Biografen kaum einen Zweifel daran, daß Juliane so gut wie keine Pflegeelternliebe erfuhr. Sie war, neben anderen Lakaien, etwa einer Köchin, vor allem ein preiswertes Dienstmädchen. Was Wunder, wenn sie mindestens zweimal ausreißt. Die Stifters wohnen in Linz an der Donau, wo der Alte zu allem Unglück (Julianes) auch noch Schulrat ist, reicht sein Kunstschaffen doch nicht zur Deckung der gehobenen bürgerlichen Lebensführung aus. In der Erscheinung wird die »zigeunerhafte« Ziehtochter als blond und braunhäutig beschrieben. Von ihren Begabungen und Wünschen erfährt man dagegen rein gar nichts. Sehr wahrscheinlich wurde sie von der Stiefmutter auch wiederholt geschlagen. 1859, inzwischen 18, ist die Herumtreiberin schon vier Wochen überfällig. In der Wohnung hatte sie den als »rätselhaft« empfundenen Zettel hinterlassen: Ich gehe zu meiner Mutter in den großen Dienst. Dann wird sie tot am Donauufer gefunden, wohl ertrunken. Die meisten Quellen nehmen einen Selbstmord an.

Stifter hatte diese Vermutung immerhin selber, wie Thomas Ettl (2014) in einer ausführlichen Betrachtung** belegt. In einem Brief an seinen Verleger gibt Stifter sogar ein paar (angebliche) Wesenszüge Julianes preis. Die üppige, oft als schön empfundene Juliane sei zuletzt grundsätzlich gesund und fröhlich gewesen. Sie tanzte und sang im ganzen Haus. Ettl merkt freilich an, sonst sei sie eher schweigsam oder gar verstockt gewesen. Außerdem wurde sie leicht rot. War sie vielleicht verliebt? In der Tat führt Roedl Stifters Mutmaßung auf jähes »heftig gestörtes Geschlechtsleben« an, also Liebeskummer. Belege dafür hat offensichtlich niemand. Die Mutmaßung klingt auch stark nach einer heute so genannten Schutzbehauptung. Jedenfalls teilt Stifter in dem erwähnten Brief mit, kleinere Störungen vor Julianes Abtauchen hätte das Ehepaar nicht ernst genommen, was immer das gewesen sein soll. Möglicherweise zählte die Nachricht vom Tod Josephines dazu, einer älteren Schwester Julianes, zuletzt Dienstmädchen in Wien. Dort war Josephine, im selben Jahr 1859, an Typhus gestorben. Ob sich die Schwestern sahen und vielleicht Trost gespendet hatten, ist nirgends zu erfahren.

Irre ich mich nicht, ist oder war Autor Thomas Ettl, geboren 1942, als Psychoanalytiker in Frankfurt/Main tätig. Der eine wird seine Studie vielleicht gewohnt spitzfindig und abenteuerlich, der andere anregend klug nennen. Etwas weitschweifig ist sie bestimmt. Ettl merkt an, bei solchen Selbstmorden seien oft entweder Liebesnöte oder Mißbrauch des Mädchens im Spiel. Er verweist ferner auf Züge von Zorn und Gewalttätigkeit bei dem Knaben Adalbert, die auch Matz streift. Der gesetzte Stifter selber dementiert keineswegs, denn laut Ettl verkündet er: »Wir alle haben eine tigerartige Anlage.« Der Ziehvater habe jedoch Juliane gegenüber kein Schuldgefühl gehabt, nimmt Ettl an. Der Vorfall sei Stifter »lediglich« überaus peinlich gewesen. Sein Ruf, sein hohes Selbstbild (auch als Pädagoge) und sein Frauen- und Idyllenideal drohten Schaden zu nehmen. Selber schon unehelich gezeugt, brachte es Stifter ja nie zu eigenen Kindern. Auch in vielem anderen dürfte er sich als gescheitert vorgekommen sein, die literarische Karriere eingeschlossen.

Gewiß behauptet Ettl nicht, Stifter habe die Ziehtochter eines schlechten Tages zu Boden geworfen und ihr die Kleider vom Leib gerissen. Der Psychologe weist aber auf die explosive Familienlage hin, und das vermeiden sowohl Roedl wie Matz. Dem Verleger gegenüber schwärmt Stifter von Juliane als einer »blühenden Rose« – und die sitzt ihm nun Tag für Tag an der häuslichen Tafel gegenüber, ohne daß er mehr als an ihrem Duft hätte schnuppern dürfen. Amalia dagegen wurde, wie er selbst, immer aufgeschwemmter. Für Ettl hat Stifter das reizvolle, knackige Mädchen, neben dem Sauerbraten, mindestens unaufhörlich mit den Augen verschlungen, wenn auch zähneknirschend, kam er doch wahrscheinlich nie so richtig an es heran. Vermutlich kränkelte Stifter auch deshalb zunehmend. Um 1854 entfaltet sich, parallel zur pubertierenden Rose, Stifters vielerörtertes »Nervenleiden«. Dann kommt auch noch eine hartnäckige Augenlidentzündung hinzu, für Ettl natürlich ein gefundenes Fressen. 1859 endet die Rose, die Stifter so begehrlich betrachtet hatte, in der Donau.

Fehlt noch das immer bedrohlichere Leberleiden Stifters. Dessen Prosaerzeugnisse sind mir persönlich entschieden zu langweilig, aber auf dem Gebiet der Eß- und Trinkkultur war er anscheinend ausgesprochen stark. Als sich zu seiner zermürbten Leber auch noch ein Grippevirus gesellte, hielt es der 62jährige nicht mehr aus und brachte sich am 26. Januar 1868 auf dem Krankenlager mit einem Rasiermesser eine Wunde an der Halsschlagader bei. Er starb zwei Tage darauf, ohne noch einmal zu Bewußtsein zu kommen. Der witzig benamte Hausarzt des Völlerers und Säufers, Carl Essenwein, schrieb »Zehrfieber infolge chronischer Leberatrophie« in den Totenschein, wofür er wahrscheinlich*** zwei Gründe hatte: Erstens wäre Stifters Tod vermutlich auch ohne den nicht gerade mörderischen Schnitt in Kürze eingetreten; zweitens bestand in Linz die ungeschriebene Übereinkunft, Selbstmorde prominenter und katholischer Mitbürger sowieso nach Kräften zu vertuschen.

Ich muß noch einen Umstand berühren, der mir bei Roedl ganz übel aufgestoßen ist. Schon 1860, rund ein Jahr nach Julianes Tod, schaffen die Stifters, wieder aus Ungarn, eine andere Nichte heran, Katharina Mohaupt. Sie sei »so häßlich wie ihre Schwester hübsch gewesen [..], dafür eignete sie sich besser als diese für die Hausarbeit. Sie blieb als Dienstmädchen bei dem freudlosen Ehepaar.«
(S. 120)

Immerhin nennt Roedl, der mit dem ehrenvollen Prädikat »häßlich« so freigiebig ist, Stifters Gattin Amalia unverblümt »geistlos« und »engherzig«. Vermutlich hätte auch noch »hartherzig« und »bösartig« gepaßt. Matz schreibt dafür wenig Schmeichelhaftes zum Gatten. »Auffallend ist, welch minimale Rolle das Mädchen in den zahlreichen Briefen spielt, wie ihre Existenz geradezu übergangen wurde.« Juliane habe ohne Zweifel gespürt, den Stiefeltern nur ein »unzureichender Ersatz« für das ihnen versagte eigene Kind zu sein (S. 269). Wenn Sie also mich fragen, waren mindestens zwei Waisenkinder der Familie Mohaupt aus Peterwardein mit dem respekt-erheischenden Linzer Erzieher und Künstler Adalbert Stifter echt geschlagen.

* Urban Roedl, Adalbert Stifter, Rowohlt-Monographie, ursprünglich 1965, hier 17. Aufl. 2005, sowie: Wolfgang Matz, Adalbert Stifter, Göttingen 2016
** »Die Juliana und der Stifter-Bertl«, Juni 2014: http://docplayer.org/51632112-Thomas-ettl-die-juliana-und-der-stifter-bertl-adalbert-stifter-als-heilpaedagoge-und-tigerartiger-ziehvater-mit-spinnwebe-auf-dem-kopf.html.
*** Elisabeth Buxbaum (Hrsg): Adalbert Stifter: Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben (1844), Wien 2005, Kommentar S. 346–49



Lili Cappellini (1909–28) hieß neuerdings so fremdlän-disch, weil sie entgegen dem Wunsch ihres liberal gestimmten Vaters Arthur Schnitzler – ein Wiener Arzt und Schriftsteller, der viel auf Psychoanalyse hielt – einen schönen, strammen italienischen Faschisten geheiratet hatte. Ob sie bald darauf nach einer Pistole griff, weil die Kälte des Gatten sie entsetzte oder aber aufgrund angeborener Melancholie, Magersucht, Exentrik und dergleichen mehr, ist unter Biografen und Romanschrei-bern, die sich nur zu gern mit ihr oder ihrem berühmten Vater beschäftigten, umstritten. Übrigens erschoß die 18jährige (in Venedig) nicht Arnoldo, den Gatten, vielmehr sich selbst.
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