Donnerstag, 10. November 2022
Mücken

Kürzlich fiel mir Alexander von Humboldts Tagebuch vom Orinoko in die Hände – ein Glücksfund. Diese fesselnden, hervorragend geschriebenen Aufzeichnungen wurden von dem später weltberühmten Forscher und Gelehrten ursprünglich um 1800 auf Reisen verfaßt, dabei oft im Boot. Herbert Scurlas rund 200 Druckseiten schmaler Auszug handelt zu ungefähr 10 Prozent von Mücken.

Erfreulicherweise haben auch die selbstgerechten spanischen Missionare unter dieser gewaltigen, vor allem die Flüsse heimsuchenden Plage zu leiden. Bruder Bernardo Zea hatte sich neben der Kirche »auf einem Gerüst von Palmstämmen ein kleines Zimmer gebaut«, das Humboldt und sein Gefährte Aimé Bonpland zum Pflanzentrocknen und Tagebuchschreiben nutzen durften. Die stechenden Insekten, oft Moskitos genannt, halten sich nämlich vorwiegend am Boden, 15 bis 20 Fuß hoch auf. Manche IndianerInnen gehen zum Schlafen auf kleine Inseln inmitten der Wasserfälle, da die Mücken den Dunst nicht mögen. In jenen tiefen Luftschichten bilden die »giftigen Insekten« ihrerseits beinahe einen beständigen Dunst. Sie stechen auch die Eingeborenen, nur zeigen die weniger Schwellungen. Einreiben hilft kaum, desgleichen Qualm oder Gestank. Selbst die bemalten Ruderer schlagen unablässig nach den Biestern. Manche IndianerInnen behelfen sich wenigstens beim Nächtigen mit einem aus Palmfasern gewebten Netz, dem Toldo. Das stellt auch für die Weißen den einzigen halbwegs wirksamen Schutz dar: meist Baumwollnetze. Allerdings sind die Schutzhüllen kaum dicht beziehungsweise mückenfrei zu bekommen, davon abgesehen, daß die winzige Mücke Cafasi auch durch diese Gitter oder Maschen schlüpft. Anzüge nach demselben Muster sind vielfach qualvoll, schlimmer als die berüchtigten Reifröcke der mitteleuropäischen Dame. Flattriges um Kopf und Hände hilft, vereitelt freilich ein frohgemutes Tun. Oft sehnen sich die Einheimischen oder Reisenden auf den Mond. Die Anden täten es womöglich auch schon: ab ungefähr 500 Meter bleiben Mücken und sogar Termiten aus. Auf S. 130* erwähnt Humboldt überdies Fledermäuse als Plagegeister für Mensch und Vieh, sagt aber nicht, ob sie ihn einmal gebissen und gemolken haben.

Merkwürdigerweise übergeht der deutsche Forscher zumindest in diesem Auszug die Gefahr der Krankheits-übertragung fast völlig. Auf S. 187 erwähnt er eine beinahe tödliche Krankheit, mit der sein Genosse Bonpland später in Angostura zu kämpfen hat. Wahrscheinlich hätten »die Ausdünstungen in den Wäldern am Fluß Casiquiare« den Keim zu ihr gelegt. Benennen tut er die Krankheit nicht. Das ist kongenial nebelhaft wie jener Dschungel-Dunst. Nebenbei preist Humboldt wiederholt »den Segen des Ackerbaus« (der im Dschungel meist verkannt werde). Vom übrigen Schwachsinn der Seßhaftigkeit einmal abgesehen, kannte Humboldt die Dünger und Pestizide noch nicht, die heute für mehr Qualen als die Moskitos oder Jaguare sorgen.

Entgegen landläufigem Aberglauben lockt Licht keine Stechmücken an. Weltweit gibt es mindestens 3.800 Stechmückenarten; in Europa nur 104. Gleichwohl können auch in Europa einige Viren durch Stechmücken übertragen werden, so etwa das West-Nil-Fieber und das Chikungunyafieber. Das setzt allerdings komplizierte Prozesse zwischen Erreger und Mücke voraus und scheint von daher eher selten zu sein. Die Boulevardpresse fährt aber schon Spitzen-Virologen auf, die zum Kampf gegen alle Mücken blasen. Der Deckmantel ist bekannt: »Klimawandel«.

Allerdings scheinen noch die heimtückischsten Blut-saugerInnen ihre Bewunderer oder FürsprecherInnen zu haben. Für TierWelt-Autor Matthias Gräub stellen Mückenstiche »kleine Wunderwerke« dar.** Die Mückenweibchen benötigen unser Blut zur Eierbildung. Gefunden werden wir durch Atemluft, Geruch, Blutgruppe. Nach dem Anbohren gebe das Tierchen Speichel in die winzige Wunde, erfahren wir von Gräub. Dadurch werde die Blutgerinnung verhindert. »Der Speichel sorgt auch für die Schwellung und den Juckreiz, der uns am Mückenstich so nervt. Nicht zuletzt ist es auch dieser Speichel, der verantwortlich ist, dass per Mückenstich eine Krankheit übertragen wird.«

In Pentti Haanpääs um 1930 entstandenem Roman Der Teufelskreis ziehen Pate Teikka und Raunio die Mückenschwärme beim Marsch durch Lappland wie einen »Trauerschleier« hinter sich her. »Doch das scharf riechende Kienöl schützte sie im allgemeinen vor Mückenstichen. Wieviel dieser grauen, hartnäckigen Wesen mochte es in den Wäldern und Sümpfen geben! Und wie erbärmlich ihr Leben war! Für die meisten blieb so ein Blutstropfen nur ein Traum. Was für ein Glück für jene, die in die Nähe der beiden umherstreifenden Menschen geraten waren! Und nun gelangte nur giftiges Kienöl in ihre Stechrüssel. Trotzdem hatten sie es eilig, ließen nicht ab, lebten ihr kurzes Leben ungestüm und tapfer.«

Ich persönlich halte es nach vielen Leiden lieber mit meinem Landsmann Hanns Cibulka. In seinem empfehlenswerten Buch Am Brückenwehr von 1994 klagt er: »Die Stechfliegen, diese Gnitzer und Schnaken, ein Leben lang haben sie mich verfolgt. Fast alle waren zart, schlank, hatten lange dünne Beine, sie waren so leicht, daß man sie gar nicht spürte, wenn sie sich auf die Haut setzten. Wohin ich auch kam, überall stieß ich auf diese Zweiflügler. Am Dnepr brachten sie mir das wolhynische Fieber, in Sizilien die Malaria tertiana.« Mit 19 zur Wehrmacht eingezogen, hatte Cibulka zunächst in Polen und der Ukraine, später in Italien am Zweiten Weltkrieg teilgenommen. Auf Sizilien kam er in britische Gefangenschaft. Sein Vater war Appreturmeister in einer Textilfabrik in Jägerndorf, Mähren, zudem Sozialdemokrat gewesen. Moskitonetze hatten sie anscheinend nicht im Programm. In der DDR brachte es der Sohn zum Bibliotheksleiter in Gotha – und einer »Datscha« im Tal der Apfelstädt, die durch den Thüringer Wald fließt. Da gab es vermutlich auch wieder Mücken.

Immerhin setzen einem im Thüringer Wald weder Giftschlangen noch Jaguare zu. Gebietsweise auch Tiger oder Panther genannt, ist der Jaguar die größte Katzenart Amerikas, bis zwei Meter lang. Er gilt als besonders beißstark. Viele Eingeborenen fürchteten und verehrten ihn zugleich. Er klettert und schwimmt auch gut, jagt jedoch meist am Boden. Sein Fell, oft wunderbar goldgelb mit dunklen, ringförmigen, zudem getüpfelten Flecken, sonst einfarbig schwarz erscheinend, wurde und wird vor allem von Weißen begehrt, weshalb er als gefährdet gilt. Sogenannte natürliche Feinde hat er gar nicht – nur eben den Menschen. Heute siedelt er vorwiegend im Amazonasbecken. Humboldt und Bonpland lassen ihre eingeborenen »Helfer« stets mehrere Feuer anzünden und unterhalten, um so ihr Nachtlager (meist Hängematten) zu schützen. In der Regel hält das den Jaguar ab. Man hört ihn dann nur im Dschungel brüllen. Na gute Nacht.

Schätze sich glücklich, wer ausschließlich von Blumen umgeben ist. Auf Klippen in Stromschnellen des Orinoko entdecken Humboldt und Bonpland die Vanille und ernten »außerordentlich lange« Schoten von ihr. Diese hübsche, kletternde, gelb blühende Orchidee lieferte mit ihren bis 30 Zentimeter langen Fruchtkapseln, sofern sie getrocknet werden, jene hohlen schwarzbraunen Stangen, ohne die eingemachter süßer Kürbis für meine Großmutter Helene undenkbar war.

* Ostberliner Ausgabe von 1969, 3. Auflage im Verlag der Nation, Auswahl Herbert Scurla
** https://www.tierwelt.ch/artikel/wildtiere/angriff-mit-sechs-nadeln-404213, 14. Juli 2021

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