Montag, 4. März 2024
Risse im Brockhaus 11

Die kleine portugiesische Kreisstadt Elvas liegt auf einem Hügel unweit der Grenze zu Spanien. Ihr berühmter 7 ½ Kilometer langer, zum Teil vierstöckiger Aqueduto de Amoreira, 1498–1622 auf römischer Basis in zahlreichen Bögen erbaut, ist laut Brockhaus noch heute »in Funkti-on«. Es handelt sich natürlich um eine Wasserleitung – freilich eine künstliche. Im Flachland wäre sicherlich einige Mühe entfallen, aber die Stadtgründer wünschten eben eine mehr oder weniger uneinnehmbare Festung zu errichten. Da heißt es Brücken bauen und Fässer buckeln. Im nordhessischen Städtchen Wolfhagen hatten sie ein ähnliches Problem. Auch Wolfhagen, Burg voran, thront auf einem Hügel. Nach Görlichs Stadtgeschichte* stand der mittelalterlichen Siedlung innerhalb des Mauerrings überhaupt keine Quelle zur Verfügung. Irgendwann erschloß man eine vor dem Teichtor, doch dann hieß es, wie schon angedeutet, immer noch Wasserschleppen. Brach Feuer aus, winkte Wolfhagen die Hölle. Und es brach öfter aus. Nach und nach führte man Wasser aus der Umgegend in Leitungen heran, doch das alles war äußerst aufwendig, da ja zumindest streckenweise kein natürliches Gefälle zur Verfügung stand. Der heutige Schlaumeier knurrt vielleicht: Einfach Pumpen nehmen! Die pflegen allerdings bis zur Stunde auch nicht vom Himmel zu fallen: man muß sie herstellen, einbauen, betreiben.

Der »Siedlungs-Masochismus«, den ich der Menschheit neulich schon bescheinigt habe (Chaltschajan, Folge 7), trug also auch im Hinblick auf die Wasserversorgung gehörig zu unserer Belästigung bei. Besonnene Leute hätten sich niemals auf einem Bergrücken oder in einer Wüste niedergelassen. Aber die Leute waren von militärischen Rücksichten oder sogenannten Rentabili-tätserwägungen oder einfach vom Wilden Watz getrieben. Im besten Fall handelten sie planlos. Ich verwahre mich hier gegen die verbreitete Ansicht, die typischen Chaoten dieses Planeten seien die Anarchisten. Solche Chaoten haben wir vielmehr mit all den kleinen und großen Geschäftemachern am Hals. Die modernen Kapitalisten sind die Oberchaoten. Wie ich Motteks Wirtschaftsge-schichte Band II entnehme, war auch der Eisenbahnbau in Deutschland um 1850 keine planvolle Angelegenheit. Er lag zunächst überwiegend in privaten kapitalistischen Händen – und die verfuhren selbstverständlich gemäß ihrer Standortinteressen und Gewinnerwartungen. Nur wenn Verlustgeschäfte drohten, wenn ihnen der Bahnbau also zu teuer oder »unrentabel« vorkam, riefen sie schon damals gern nach dem preußischen Staat. Und so ist es bis heute geblieben. Gewinnbringendes wird privatisiert, Unergiebiges sozialisiert.

* Paul Görlich, Wolfhagen. Geschichte einer nordhessischen Stadt, Wolfhagen / Kassel 1980, S. 572–77



Der Mediziner Hans Eppinger (1879–1946), ab 1933 Professor in Wien, sei Mitbegründer der neuzeitlichen Pathophysiologie gewesen. Sein Hauptaugenmerk habe der Leber gegolten. Ende der Brockhaus-Durchsage. Also nicht etwa: Ende der Freiheit. Klee zählt Eppinger zu den führenden Internisten des »Dritten Reiches«. Parteimitglied 1938. 1944 [oder 43 ?] auch er im Beirat des Gesundheitsfunktionärs Karl Brandt. Im KZ Dachau habe er die Meerwasser-Versuche an »Zigeunern« angeleitet. Davon gibt es im Internet Beschreibungen. Ende 1946 brachte sich Eppinger um, wohl weil ihm Anklage in Nürnberg winkte. Sein Mitstreiter bei den Dachauer Foltermaßnahmen Wilhelm Beiglböck bekam dort 15 Jahre. Die wurden aber bald auf 10 verringert – und schon Ende 1951 wurde Beiglböck als »begnadigt« aus dem Landsberger Gefängnis entlassen. Er durfte Arzt bleiben. 1957 erschien ein Konferenz-Beitrag von ihm: Hans Eppinger zum Gedächtnis. Grüße an den betreffenden Verlag. Aber ähnlich übel dürfte sein: Wie kann man Sadisten wie Eppinger in einem seriösen Universallexikon noch im Jahr 1988 als unbescholten hinstellen? Sogar sein Selbstmord bleibt unerwähnt.



Wie sich versteht, zieht es den geborenen Siedlungs-Masochisten auch gern in Gebiete, die für häufige Erdbeben bekannt sind. Überlebt er dann mal eins, kehrt er aus dem Krankenhaus und der Notunterkunft gleich wieder zurück, weil sich zwei oder gar fünf Erdbeben in seiner Biografie doch viel besser ausnehmen, von den Honoraren für Interviews einmal abgesehen. Brockhaus hat die fraglichen Gebiete auf einer Weltkarte mit roten Punkten markiert – und der »italienische Stiefel« glänzt ganz ordentlich mit roten Punkten.

Die auch von Künstlern und anderen Touristen geschätzte Insel Ischia im Golf von Neapel hat ebenfalls einen roten Punkt. 1883 war hier die Freundschaft von zwei jungen Gästen aus dem Norden besiegelt worden. Adolf Ginsberg, Sohn eines jüdischen Schulleiters, kam aus Niedersachsen. Es mangelte der Familie nicht an »Vermögen«, wie man ja sagt, doch dafür fehlte Ginsberg von Geburt an das Gehör. Er wurde Maler. Angeblich sind seine Werke sämtlich verschollen. Bei seiner Jugend können es freilich nicht allzuviele gewesen sein; er starb mit 26. Auch sein gleichaltriger Freund Gottlieb Boss aus Muri bei Bern, ein bereits mehrmals ausgezeichneter schweizer Maler, der zuletzt in Rom tätig war, mußte daran glauben.* Die Freunde hatten sich auf Ischia in der Villa Verde einquartiert. Dort wurden sie am Abend des 28. Juli 1883, gegen 22 Uhr, jäh verschüttet. Die Insel war von einem kurzen, heftigen Erdbeben heimgesucht worden. Dabei wurden rund 1.200 Häuser zerstört, viele weitere beschädigt, und mehr als 2.300 Menschen getötet. Schwerverletzt wurde damals der spätere Philosoph Benedetto Croce, 17. Aber auch dessen Eltern und seine Schwester Maria kamen just unter den Trümmern der im meistbetroffenen Badeort Casamicciola gelegenen Villa Verde um. Croce selber wurde noch 86.

Irre ich mich nicht, schlug das jüngste Erdbeben auf Ischia im August 2017 zu. Es soll jedoch leicht gewesen sein; es gab »nur« zwei Tote. Im November 2022 zogen dafür schwere Unwetter heran, die auch Schlammlawinen auslösten. Man spricht von mindestens 10 Toten, darunter mehrere Kinder. Hauptsorge der Einheimischen sind so oder so die Touristen: weil sie vielleicht wieder abgeschreckt werden.** Das Vermögen, sich eine Volkswirtschaft ohne Tourismus vorzustellen, ist in der Postmoderne scheints nur noch Schimpansen oder Kolkraben gegeben.

* Hans-Michael Körner (Hrsg), Große Bayerische Biographische Enzyklopädie, Band 1, München 2005, S. 211
** https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.erdbeben-auf-ischia-warum-italien-aus-bisherigen-erdbeben-nichts-gelernt-hat.8aa30492-f001-4051-a6fb-675255bbcdf5.html, 22. August 2017




Ähnliche Schreckensvisionen rufen bekanntlich Volks-wirtschaften mit von Automobilen leergefegten Straßen hervor. Diese Einleitung wird sich gleich erklären. Dabei waren dem Ornithologen und Afrikaerforscher Carlo von Erlanger (1872–1904) Kolkraben keineswegs fremd. Der Junge hatte sich bereits im Park der elterlichen Villa Carolina für die Vögel erwärmt. Vater Wilhelm, Jurist aus einer Frankfurter Bankiersfamilie, auch Jägersmann, hatte sich im nahen Ingelheim (bei Mainz) niedergelassen, wo er durch fleißige Ankäufe zum größten Grundbesitzer des Rhein- und Weinstädtchens geworden war.* Trotzdem hat Brockhaus diesen Clan übergangen. Den Sohn drängte es nach Studium und Militärzeit (Leutnant der Reserve) in die Ferne. Damit hatte er gute Aussichten, in Afrika zu sterben, doch überstand er nicht weniger als drei Expeditionen, die ihn zuletzt bis zum Äquator (in Somalia) geführt hatten, unbeschadet – um einen Tag vor seinem 32. Geburtstag in Salzburg durch einen Autounfall umzukommen.

Die Sache ging durch die Wiener und Ingelheimer Presse, weil der junge Baron von Erlanger als Naturforscher einige Veröffentlichungen und Sammlungen sowie einen in Berlin stattgefundenen Gedankenaustausch mit dem Kaiser vorzuweisen hatte: dort hatten sich beide Herren 1902 auf der Deutschen Geweihausstellung getroffen. Sie liebten eben beide das edle Weidwerk und Garderobenhaken aus Hirschhorn. In Salzburg saß Von Erlanger zwei Jahre darauf, am 4. September 1904, neben seinem chauffie-renden Vetter in einem Automobil, das in einer Kurve am Hotel Kaiserin Elisabeth mit einer »Tramway« zusam-menstieß. Besonders die Ingelheimer Presse unterstrich nur zu gern die Behauptung des Vetters, der Lokomotiv-führer der gemeingefährlichen Dampfstraßenbahn habe es versäumt, »das an dieser Stelle unbedingt notwendige Glockenzeichen« zu geben. Die »Tramway« fuhr dem Baron so heftig in die Seite, daß er noch am Unglückstag verstarb.

Wohl hätte der Senior kaum finanzielle Gründe gehabt, einen Rechtsstreit zu fürchten, zumal er ja Jurist war, aber davon ist in den Quellen nicht die Rede. Der verstorbene Filius kam unter beträchtlicher Anteilnahme in die Ingelheimer Familiengruft. Der Vetter bekam vielleicht Seelenmassage, eher Hausverbot.

* Angelika Schulz-Parthu, Carlo von Erlanger, Ingelheim 2004, bes. S. 4 und 24



Erstaunlicherweise kehrt Brockhaus die Wetterfahnen-natur des Politikers Fritz Erler (1913–67) nicht unter den Teppich. Einst Sozialist und Antifaschist, habe er sich in der Nachkriegszeit »vom entschiedenen Gegner der Wiederbewaffnung Deutschlands zu einem konsequenten Befürworter einer aktiven Verteidigungspolitik der BRD im Rahmen der NATO« gewandelt. Mein Wohlgefallen wird lediglich durch die haarsträubende Formulierung dieser Bemerkung getrübt. Man muß den Befürworter »konsequent« und die Verteidigungspolitik »aktiv« aufblasen. Es handelt sich genau um die einschüchternde und verlogene Phraseologie, die postmoderne PolitikerInnen von der Pike auf zu erlernen haben. Erler selber wäre selbstverständlich davon begeistert, daß sein Parteifreund Boris Pistorius neuerdings in jedem dritten Absatz seiner Verlautbarungen als bundesdeutscher »Verteidigungsminister« die unumgängliche Verbesserung der Kriegstüchtigkeit unseres Volkes anmahnt. Deshalb malte sein Chef, Kanzler Olaf Scholz, auf einer Tagung von Offizieren prompt die Aussicht an die Tafel, den Wehretat spätestens ab 2028 von jetzt 52 Milliarden auf bis zu 80 Milliarden Euro jährlich aufzustocken (SZ 10. November 2023). Das nenne ich saftig. Widerführe eine solche Steigerung um mindestens 25 Prozent meiner Kleinstrente, könnte ich es gar nicht verkraften. Möchten Sie im übrigen Näheres über Erlers Wandel wissen, suchen Sie bitte meinen Beitrag Ankommen von 2022 auf.



Wieder etwas gelernt: Erotomanie ist laut Brockhaus »Liebeswahn«, somit »ein paranoider Zustand«, bei dem sich der Betroffene einbilde, von einer unbeteiligten Person begehrt zu werden. In meinem Musterfall war der Unbeteiligte ein 34 Jahre alter Geiger der Dresdener Hofkapelle. Gustav Adolf Gunkel (1866–1901) betätigte sich zudem als Musiklehrer und Komponist. Im März 1901 wurde er nach einem Konzert* in der Hofoper, bei dem er mitgewirkt hatte, auf der Heimfahrt nach Blasewitz (bei Dresden) in der Straßenbahn von der 49jährigen Ex-Gattin eines österreichischen Dampfschiffahrt-Direktors Theresia Jahnel erschossen, die inzwischen, seinetwegen, gleichfalls in Blasewitz wohnte und die zwar nicht seine Geliebte, jedoch seine glühende Verehrerin war. Die Dame hatte zwei in einem Blumenstrauß versteckte Revolver mit sich geführt und ihr Opfer im Hinterkopf getroffen. Ihr angeblicher Versuch, sich dann auch selbst zu richten, vielleicht mit dem zweiten Revolver, sei vereitelt worden, hieß es damals in einem Bericht der Münchner Neuesten Nachrichten. Die Mutter zweier Kinder habe den jungen Geiger »mit rasender Leidenschaft« verfolgt. Bernd W. Seiler ergänzt**, sie habe Gunkel mit teuren Geschenken überhäuft, die dieser dummerweise annahm, während er die Dame selber, als Geliebte, verschmähte. Als ihr nun auch noch eine bevorstehende Verlobung Gunkels zu Ohren kam, machte sie entsprechende Drohungen wahr und griff in ihrer wahnhaften Liebe und Eifersucht zu dem erwähnten Blumenstrauß. Sie wurde verhaftet und später in eine österreichische Irrenanstalt eingewiesen. Zusätzlich soll sie, mit ihrer wenn auch abgewandelten Geschichte, als »Ines Rodde« von Thomas Mann in seinen Roman Doktor Faustus gesteckt worden sein.

* Man gab eine Oper von Gunkels Zeitgenossen August Bungert, nämlich Teil 2 (Nausikaa) der Odyssee (laut Katrin Bicher, https://blog.slub-dresden.de/beitrag/2020/03/25/die-ermordung-des-gustav-adolf-gunkel, 25. März 2020)
** »Ines und der Trambahnmord«, in: Vergessen. Entdecken. Erhellen, Hrsg. Jörg Drews, Bielefeld 1993, S. 183–203




Brockhaus kennt nur einen Pianisten Christoph Eschen-bach. Meiner dagegen spielte sein Stück auf dem Rücken seiner lieben Landsleute. Daneben zählt Eberhard Eschenbach (1913–64) zu den wenigen Faschisten, die erst mit Hilfe des demokratischen Straßenverkehrs zu ihrer Strafe kamen. Die meisten wurden allerdings überhaupt nicht bestraft. Eschenbach, seit 1941 Partei-mitglied, war bis ungefähr Kriegsende Kriminalbeamter und SS-Hauptsturmführer in Danzig gewesen. Dann verdrückte er sich gen Westen. Die Demokratie machte ihn sofort (September 1945) zum Leiter der Mordkommission bei der Lübecker Kripo und ab 1947 zum Chef der Kripo in Flensburg. Das anfangs noch übliche »Spruchkammer-verfahren« hatte ihn entlastet und damit bis in die Fußzehen und Haarspitzen hinein »entnazifiziert«. Prompt wurde er 1954 nach Wiesbaden ins BKA berufen, wo er sich im Range eines Regierungskriminalrats ausgerechnet Ausbildungsfragen widmete.*

10 Jahre später, inzwischen zum »Oberregierungskrimi-nalrat« aufgestiegen, wurde der 51jährige das Opfer eines »ungewöhnlichen Verkehrsunfalls«, der sich im April 1964 gegen Mitternacht auf der Autobahn bei Darmstadt ereignete.** Zwei Kollegen, die auf dem Rücksitz saßen, und sogar der Fahrer des Dienstwagens kamen mit leichten Verletzungen davon. Von einem Lastzug auf der Gegenfahrbahn hatte sich ein vier Zentner schwerer Zwillingsreifen gelöst und war erstaunlicherweise über die Büsche und den Blendzaun des Mittelstreifens bis zur Kühlerhaube des Polizeifahrzeuges geflogen. Eschenbachs vorderer Beifahrerplatz soll drastisch zusammengestaucht worden sein. 13 Stunden nach dem Unfall sei der BKA-Ausbilder und Vater dreier Kinder gestorben.

Bemerkenswerterweise spart der WK-Artikel nicht mit Lob auf Eschenbachs Wirken, wobei er freilich Eschenbachs Hauptsturmzeiten wohlweislich total ausklammert, wie man in diesem Fall vielleicht sagen darf. Dafür betont er (gezeichnet ih) Eschenbachs Herzlichkeit im Umgang mit Menschen und seinen Humor unter Kollegen. So wäscht man in Wiesbaden Führungspersonal der Nazi-Polizei rein.

* alles nach Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Ffm 2005, S. 140, sowie Wikipedia
** »Lastzug-Rad erschlägt Wiesbadener Kriminalbeamten«, Wiesbadener Kurier, 14. April 1964




Brockhaus würdigt die Espe, auch Zitterpappel genannt. Bei uns in Nordhessen hieß sie meist Aspe. Trotz ihrer eher ausladenden Krone verrammelte sie einem nie die Welt, war es doch auch eine lichte Krone. Mich beim Wandern an einem sonnigen, fast windstillen Herbsttag einem mit hohen Aspen besetzten Feldrain zu nähern, stimmte mich stets andächtig. Ich vernahm das Rascheln dieser Bäume auf 300 Meter, denn auch der leichteste Wind rührte in ihnen. Selbstverständlich sah ich auch ihre in der Sonne flirrenden, am Saum gezahnten, rundlichen gelben Blätter. Deren A & O sind die »langen, seitlich zusammenge-drückten Stiele«, wie Brockhaus weiß. Deshalb »zittert« Aspenlaub so leicht. Da bot es sich an, den Knaben und Mädchen vom Lande weiszumachen, der ganze Baum zittere – und wie sich versteht, tat er es aus Angst. Er hatte Angst vorm lieben Gott, vor Hexen, vor Äxten und dergleichen mehr. Gutsherren und Landesfürsten fürchtete er natürlich auch. Man durfte diese Herrschaften nicht reizen, sonst wurden sie wütend und verdoppelten dem Vater die Anspännerfron. Die wenigsten Väter kamen auf die Idee, man könne die Äxte vielleicht auch einmal an die Schloßtürme legen.



Vor gut 10 Jahren stellte ich einen Bericht über meinen fehlgeschlagenen Plan, einige ehemalige Oberhäupter meiner ehemaligen »Partei« um mich zu versammeln, in meinen Blog: Die Kaderschmiede bleibt dicht. Die besagte »Partei« hatte sich um 1970 von der in Hamburg residierenden Sekte KPD/ML abgespalten, deren ZK-Chef Ernst Aust den Roten Morgen herausgab. Unsere Abspaltung wurde meist KPD/ML-ZB oder KPD/ML-Rote Fahne genannt, nach unserem neuen »Zentralbüro« und unserem neuen »Zentralorgan«. Wir, die Rote-Fahne-Leute, thronten in Bochum, also im Herzen des proletarischen Ruhrgebiets, lag uns doch, im Gegensatz zu den Aust-Leuten, die Massenarbeit am Herzen. Die Aust-Leute schworen mehr auf Abwarten & Teetrinken, also Theorie und Schulung. Im Grunde stritt man sich zweifelsohne um die Haare im Barte des Propheten und wetteiferte um den dickeren Katalog an Schimpfworten. Oft nannten wir unsere Erzfeinde klangvoll Ezristen. Die Anspielung auf »Trotzkisten« war gewollt. Unfreiwillige Quelle des Namens war ein Häuptling der Roten Garde, der Jugendorganisation der Hamburger Mutter- oder Vaterpartei. Ich glaube, der junge Funktionär, geboren 1951, wirkte damals vor allem in Westberlin, wo er wohl auch zur Schule gegangen war. Er hieß Ezra Gerhardt und hatte noch einen zwei Jahre älteren Bruder, Titus. Das waren die gemeinsamen Kinder von Renate und Rainer Maria Gerhardt. Gegen Renate und Rainer nehmen sich die Namen der Sprößlinge sicherlich wie Edelsteine zwischen Eisenbahnschotter aus.

Brockhaus schreibt den alttestamentarischen, heute ziemlich ungebräuchlichen Vornamen Ezra bevorzugt mit s, also Esra. Aber das ist ja egal, ich lernte »unseren« Ezra sowieso nie persönlich kennen. Seinen Erzeuger Rainer Maria Gerhardt (1927–54) allerdings auch nicht; denn er lag längst unter der Erde. Ursprünglich Versicherungs-kaufmann, hatte sich Gerhardt spätestens nach Kriegsende als Gasthörer an der Uni in Freiburg im Breisgau für Moderne Lyrik erwärmt, voran die nordamerikanische, darunter die von Ezra Pound. In der Prosa schätzte der Nachwuchs-Literat James Joyce und Arno Schmidt. Westdeutsche Schriftsteller wie Curtius, Andersch, Enzensberger lobten Gerhardts poetischen Blickwinkel, und so wagte er es im Verein mit Übersetzerin und Gattin Renate, in seiner Heimatstadt Karlsruhe einen Poesie-Verlag zu eröffnen. Offenbar strandete das Unternehmen rasch im Ruin. Ob sich Gerhardt vor allem deshalb mit 27 Jahren (1954) umbrachte, kann ich nicht beurteilen. Alfred Andersch soll dazu bemerkt haben*, der »ebenso begabte wie gefährdete junge Mann«, der zeitweise in einem Zelt wohnte, sei »vom eisigen Wind des wirklichen Hungers, der Schulden, der inneren Schwierigkeiten und von der Kälte des Wartens auf ein Echo« ausgelöscht worden, »das er, ein sehr Ungeduldiger, nicht vernahm.« Demnach fühlte er sich verkannt, wie so viele. Jedenfalls ließ er, je nach Quelle, 20.000 bis 40.000 DM Schulden zurück – von den beiden Söhnchen nicht zu schweigen.

Renate Gerhardt, die Witwe, scheint sich später in West-berlin als Übersetzerin und Verlegerin durchgeschlagen zu haben. Sie starb 2017, gut 90 Jahre alt.** Die beiden Söhne dürften noch leben. Wie es aussieht, haben sie gleichfalls künstlerische Wege beschritten, ohne dabei je berühmt zu werden. Ich habe lange überlegt, ob ich sie anschreiben und um Auskünfte bitten sollte, denn die Quellenlage ist wieder einmal schlecht. Ich verzichte jedoch darauf. KünstlerInnenkinder sind grundsätzlich sehr schwierig, von ihrer Befangenheit einmal abgesehen, und warum sollten Ezra und Titus eine Ausnahme darstellen? Zumal in dem Alter, in dem sie jetzt sind? In meinem. Aber ich bin kein KünstlerInnenkind. Schließlich waren meine Eltern Landwirtschaftshelferin und Radiobastler, sodaß ich mich mit der Brechstange durchaus nach wie vor meiner »proletarischen Herkunft« rühmen kann …

* »Rainer Maria Gerhardt« bei https://www.literatur-live.de/gerhardt/index.htm
** https://trauer.tagesspiegel.de/traueranzeige/renate-gerhardt




Den anscheinend bekannten Satz Esse est percipi (lat. Sein ist Wahrgenommenwerden) schreibt Brockhaus mit etwas mißbilligendem Tonfall dem »radikalen Sensualisten« George Berkeley zu. Der fromme irische Gelehrte setzte ihn 1710 in Umlauf. Aber das interessiert mich nicht die Bohne. Entscheidend ist: der Satz ist grundlegend und goldrichtig, solange man ihn auf den Menschen als soziales Wesen beschränkt. Nur weist er leider auch auf eine der größten Klemmen des Menschen hin. Auf der einen Seite stelle ich ohne Aufmerksamkeit durch Mitmenschen nicht mehr als einen Schatten meiner selbst, ja noch nicht einmal so viel wie ein Pflasterstein dar. Den kann man achtlos treten. Unsereins quietscht immerhin ab und zu auf, weil ihm die Resonanzlosigkeit bereits die Luft abschnürt. Auf der anderen Seite jedoch bringt einem die Aufmerksamkeit durch Mitmenschen so gut wie garantiert Fluten an Ärger ein. Der liebe Mitmensch mißversteht, verfälscht, vertröstet, belügt und betrügt, hintergeht, verrät und quält mich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit. Tut er es aber nicht beziehungsweise noch nicht, foltert mich bereits das Wissen, er könnte es tun. Denn der von mir beschriebene Mißbrauch ist ja die Regel, wie ich nach beinahe 74 Jahren leider feststellen muß. Man wird also, je nach dem eigenen Naturell, wählen müssen: Folter durch Geselligkeit oder Folter durch Einsamkeit. Das Gewählte wird dann als »kleineres Übel« verniedlicht. Ich bemerke jedoch vorsichtshalber, meine schlechten sozialen Erfahrungen schließen keineswegs die Überzeugung ein, der einzige gute Mensch auf der Welt sei ich. Auch ich habe meine Fehler und Schwächen. Nur zwei Charakterzüge wird mir niemand jemals vorwerfen können: Hinterhältigkeit und Unzuverlässigkeit. Danach können Sie gern meine ehemaligen Mitkommunarden oder die äußerst wenigen Freunde fragen, die mir noch geblieben sind.



Aus Gründen, die Brockhaus beschweigt, wurde der belgische Maler Henri Evenepoel (1872–99) nur 27. Dadurch verpaßte er Ruhm und Reichtum, nehme ich an. Er scheint ein zündender Zwitter aus Plakatkünstler und Cartoonist gewesen zu sein. Er war 1892 nach Paris gegangen, um an der Kunstakademie sowie im Atelier des Malers Gustave Moreau zu lernen. Meist malt er Menschen und Alltagsszenen, und denen gewinnt er stets Komik ab. Platzt zum Beispiel die Einfalt in Person als Dame in Rot ins Cafe, müssen die restlichen Damen, links und rechts neben ihr, unweigerlich mit den Zähnen knirschen und ihre Krallen an den Marmortischplatten wetzen. Selbst eine unaufgeregte Marktszene aus Blida, Algerien, ist für mein Empfinden hintergründig witzig. Im November 1897 war Evenepoel wegen Tuberkulose von seinem Vater, einem Brüsseler Regierungsbeamten, Amateurpianisten und Musikkritiker, nach Algerien geschickt worden, zwecks Überwinterung und Gesundung. Aber vielleicht sollte Henri auch von Louise ferngehalten werden, argwöhnt die niederländische Wikipedia. Mit seiner verheirateten Kusine Louise De Mey, die bereits zwei Kinder hat, unterhält der Maler eine vermutlich nervenaufreibende Liebschaft. Prompt zeugen sie (1894) auch noch Sohn Charles, den sie immer vor dem Vater der Stiefgeschwister »verstecken« müssen, behauptet der erwähnte Eintrag. Aus Algerien heimgekehrt, landet Evenepoel erste Ausstellungs- und Verkaufserfolge. Überdies scheint der Kusine endlich die Scheidung zu winken. Nun kommt aber makabererweise Typhus ins Spiel – auch ein Witz. Ich nehme an, das Bakterium hat Evenepoel in Algerien oder auf der Rückreise angefallen. Jedenfalls versichern alle Quellen, daran sei er gestorben. Hier und dort wird auch angedeutet, der Maler habe sich am Gängelband seines »herrschsüchtigen« Erzeugers befunden. Und die Mutter starb bereits 1874 – da war Evenepoel erst ein Knirps von zwei gewesen. Er dürfte es somit in mancher Beziehung recht schwer gehabt haben. Umso erstaunlicher jener komische Zug seines Werkes.



Das Talent der jungen Braunschweiger Malerin Käthe Evers (1893–1918) soll hier keine Rolle spielen. Im Brockhaus kommt sie sowieso nicht vor. Die Lehrers-tochter hatte ein Kunststudium in München durchlaufen. Bereits 1915 kamen (angeblich) ihre Freunde Albert und Hermann Hamburger als Kriegsfreiwillige an der Front um. Ob sie selber nun (1917?) genauso bereitwillig in die Rüstungsproduktion ging, ist nach freundlicher Auskunft des Braunschweiger Theatermanns Gilbert Holzgang nicht ganz klar. In einem Vortrag erläuterte er dazu 2018: »Es gab gerade in den bestgestellten Kreisen Frauen, die bereitwillig monotone, anstrengende, sogar gefährliche Fabrikarbeit auf sich nahmen, um ihren Teil zum Sieg Deutschlands beizutragen. Die Kriegslage war so prekär, das Denken so stark von der totalen Mobilisierung aller Kräfte geprägt, dass die Frauen – man kann sagen freiwillig – einen Beitrag leisten wollten. Die Möglichkeit sich der staatlich organisierten Frauenarbeit zu entziehen, bestand.« Die Malerin wurde in Heimatnähe in einer im Harzort Rübeland gelegenen Pulverfabrik* eingesetzt. Als diese am 10. Januar 1918 zum Teil in die Luft fliegt, bleiben 14 Tote plus neun Schwerverletzte auf der Strecke. Später kamen wahrscheinlich noch zwei Tote hinzu. Ironischerweise wirkt die verlinkte Ansichtskarte ähnlich wie das Werk der nur 24 Jahre alten Künstlerin, die sich dem »Pointillismus« verschrieben hatte. Die meisten Leichen soll man gar nicht mehr ordentlich wiedererkannt haben: zerfetzt, atomisiert.

Evers‘ Engagement erinnert mich stark an die Heldin von Meta Scheeles Roman Frauen im Krieg von 1930. Die Schriftstellerin selber, Scheele, kam mit 37 in einer faschistischen Tötungsanstalt um. Das jüngste Opfer der Explosion in Rübeland soll die einheimische Frida Schneider gewesen sein, 16 Jahre alt. Während wir über Evers sicherlich wenig wissen, wissen wir über Schneider gar nichts.

Am 13. Juni 1935, nun unter der Hakenkreuzflagge, gibt es einen »Arbeitsunfall«, wie die Kripo später befindet, der über Wittenberg (an der Elbe) eine riesige schwarze Wolke zu Martin Luther in den Himmel steigen läßt. In einer Munitionsfabrik des WASAG-Konzerns sind 27 Tonnen TNT-Sprengstoff in die Luft geflogen. Dieses Unglück** sorgte für jeweils rund 100 Schwerverletzte und Tote. Vermutlich waren sie kaum ausnahmslos über 39 Jahre alt, nur geizen die Quellen auch ausnahmslos mit Namen. »Reichspropagandaminister« Joseph Goebbels eilte mit anderen Nazigrößen zum »Staatsbegräbnis« in die heute großkotzig und aufdringlich so genannte anhaltische »Lutherstadt« – um den Hinterbliebenen die »herrliche Gewißheit« einzutrichtern, ihre Angehörigen seien zu Tode gekommen, »auf daß Deutschland lebe«. Leider scheint es recht zählebig zu sein.

* https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%A4the_Evers#/media/Datei:Ruebeland_Pulverfabrik_Ansichtskarte_um_1910.JPG
** Steffen Könau, »Munitionsexplosion bei Wittenberg: Vor 80 Jahren kommt es zum verheerenden Unglück«, Mitteldeutsche Zeitung 12. Juni 2015: https://www.mz.de/mitteldeutschland/munitionsexplosion-bei-wittenberg-vor-80-jahren-kommt-es-zum-verheerenden-ungluck-2040122




Wollen Sie sich über den sogenannten Impressionismus verbreiten, besorgen Sie sich vielleicht das eine oder andere schlaue, oft auch dicke Buch über ihn. Während Sie das Buch studieren, pflücken Sie sich Hinweise oder Erkenntnisse, die Ihnen bedeutsam erscheinen, heraus, um sie in ein Heft einzutragen oder um wenigstens die betreffenden Stellen, mit Stichwort, auf Ihrem zum Buch gehörenden Zettel zu vermerken. Vielleicht teilen Sie auch Ihrer Freundin etwas weniger poetisch mit, Sie hätten sich jetzt das Wichtigste herausgeschrieben. Aber beides ist, nach Brockhaus, falsch. Sie müssen Ihr vielmehr beiläufig verkünden, es sei Ihnen endlich gelungen, den verdammten Schinken zu exzerpieren. Das kommt aus dem Lateinischen. Jetzt wird Ihre Freundin Sie, wieder nach Brockhaus, als Bildungssprachler bewundern und vor lauter Einschüchterung gar nicht mehr wagen, Sie zu fragen, um was es in dem Schinken eigentlich gehe. Oder beim Exzerpieren.

Ich habe andernorts schon einmal die Unsitte des Online-Magazins Manova beklagt, die Beiträge in der Regel wie ein Huhn zu rupfen, um den lieben »Rezipienten« das angeblich Wichtigste daraus eingerückt, fettgedruckt und auch noch rot angestrichen nach Art von Merksätzen in den Mund zu schieben. Jetzt können Sie mitreden. Jetzt reden alle, dank dieses kleinen Triumphes der Oberflächlichkeit, dasselbe. In wenigen Jahren wird uns Manova die ganzen Beiträge ersparen, indem es uns nur noch die Merksätze wie Indianerfedern hinters Stirnband steckt. Eine Anhängerin des Blattes wollte mir einmal in einer Email weismachen, diese »Aufbereitung« diene doch sehr vorteilhaft nur der »Strukturierung« der oft langen, oft öden Texte. Jedenfalls hatte sie auch dafür das passende Fremd- und Verblödungswort in der Tasche, Strukturierung.

Bei meinem, eingangs geschilderten Verfahren wird allerdings die je eigentümliche Leseart des »Rezipienten« gerettet. Jeder hält schließlich etwas anderes aus dem dicken Schinken für wichtig und bemerkenswert. Jeden-falls, solange er noch nicht ampelmäßig gleichgeschaltet ist.



Um den niederländischen Maler Carel Fabritius (1622–54) behandeln zu können, ohne am Schicksal der Malerin Käthe Evers anzuknüpfen, muß man schon ein ziemlich dickes Fell haben. Brockhaus hat es. Fabritius war freilich kein Pointillist. Ein Selbstporträt in Öl, um 1645 entstanden, zeigt den jungen Künstler mit prächtigen und sicherlich auch echten braunen, schulterlangen Locken. Schließlich war er auch kein Barockkönig. Immerhin, mit ungefähr 20 Jahren war er Schüler oder Mitarbeiter des Amsterdamer Meisters Rembrandt geworden und hatte sich kurz darauf auch schon verheiratet: mit Frau Aeltje Herrmensdr van Hasselt. Hat er auf seinem Selbstporträt gleichwohl keinen Grund zum Lachen, liegt es vielleicht daran, daß er 1642 sein erstes Kind und ein Jahr darauf, bei der Geburt des dritten Kindes, auch seine Frau verlor. Das Würmchen starb ebenfalls. So nahm er seine ihm noch verbliebene Tochter Aeltje an die Hand und ging oder fuhr mit ihr in seine Heimatgemeinde Midden-Beemster zurück, wo sein Vater Schulmeister war. Der Ort auf dem Polder liegt rund 20 Kilometer nördlich von Amsterdam. Ob Fabritius weiter bei Rembrandt beschäftigt war, ist ungewiß. Jedenfalls plagen ihn öfter Geldsorgen, von denen ihn leider auch die Heirat mit der Delfter Witwe Agatha van Pruyssen im Jahr 1650 nicht erlösen kann. Vermutlich auf deren Wunsch läßt sich die Familie in Delft nieder (südlich von Amsterdam), wo sich Fabritius ab Oktober 1652 im Meisterbuch der St. Lukasgilde als Maler eingetragen findet. Niemand warnte ihn vor diesem Umzug. Auch die Delfter Kirchtürme tun es nicht, die sich nach der kommenden Katastrophe geradezu unverschämt aus den Ruinen und Aschehaufen recken werden.

Fabritius schafft in diesen drei oder vier Delfter Jahren nur wenige, aber heute hochgelobte, da über Rembrandt hinausführende Gemälde. Jeder sagt, er hätte ein ganz Großer werden können. Es kam nicht dazu, weil Delft am 12. Oktober 1654 um kurz nach 10 von einem Knall erschüttert wurde, der angeblich noch auf der 150 Kilometer entfernten Insel Texel zu hören war. Durch die Fahrlässigkeit des Arsenalverwalters Cornelius Soetenser, der die Schwarzpulvervorräte mit einer Funken sprühenden Laterne in Augenschein genommen hatte, war ein staatliches, eigentlich geheimes und auf die Engländer gemünztes Munitionsdepot im altehrwürdigen Pulverturm explodiert. Die Wucht des Delfter Donnerschlags – nach Angaben der Behörden durch rund 40 Tonnen Schwarzpulver bewirkt – zerstörte, neben dem Turm, 500 Gebäude der Stadt schwer bis vollständig und tötete, von den zahlreichen Verletzten einmal abgesehen, ähnlich viele EinwohnerInnen. Zu diesen zählte auch der 32jährige Fabritius, der in seinem Haus und Atelier in der Doelenstraat gerade den ehemaligen Küster der Delfter Oude Kerk Simon Decker porträtiert hatte. Zudem hielten sich, neben seinem Lehrling Martias Spoors, auch zwei Familienmitglieder im Haus auf, die in den Quellen unterschiedlich oder gar nicht benannt werden. Möglicherweise befand sich entweder seine Frau Agatha oder aber seine Schwiegermutter Judick van Pruyssen darunter. Alle fünf Anwesenden kamen um.

Daneben dürften, vom Küster-Porträt einmal abgesehen, etliche weitere, im Atelier verwahrte Arbeiten des Meisters verloren gegangen sein. Zu den wenigen Ausnahmen zählt der im Todesjahr entstandene Distelfink (Stieglitz), ein Ölgemälde, das heutzutage durch Reproduktionen massenhaft verbreitet ist. Der betrübte Vogel hat ein goldenes Kettchen am Bein – sein Schöpfer flog in die Luft. Die Szenerie mit den erwähnten frivolen Kirchtürmen wurde von Fabritius‘ Kollege Egbert van der Poel überliefert, der das Bild der Verwüstung damals auf über 20, meist ähnlichen Gemälden festhielt. Den Vordergrund bilden StädterInnen, die Trümmer oder Leichen fortschaffen. Van der Poels Gemütszustand beim Malen möchte man nicht geteilt haben, denn unter den Todesopfern der Katastrophe befand sich auch ein Kind dieses Künstlers.



Zu meiner Genugtuung erinnert Brockhaus an den Faden, auch Klafter genannt. Er sei früher ein weitverbreitetes Längenmaß gewesen. Im Schnitt der Quellen, die ich bemüht habe, mißt er gut 1,8 Meter. Man hat ihn einst von den waagrecht ausgespannten Armen eines Erwachsenen abgeleitet. Sobald ein erwachsener Mensch in der Nähe war, konnte man sogar in der Wüste einen Strick aus dem Kamelgepäck ziehen, um damit die Entfernung von einer Oase bis zur nächsten zu messen. Will man den langen Strick nicht zerschneiden, macht man halt im Fadenabstand Knoten hinein. Schon eine kleine »Rationalisierung«. Im Ergebnis kommen wir bei dieser Meßmaßnahme auf 12.374 Faden, macht woanders rund 22 Kilometer. Somit ist der Faden weder künstlich noch exakt. Sollte Sie dieses Thema interessieren, gehen Sie bitte in meinem Nasen-Anhang zu A-14 (Zählen) und 15 (Zollstock).



Unter Fähre zählt Brockhaus diverse Arten auf, darunter auch Seil- oder Kettenfähren. Wie die arbeiten, muß man allerdings den Briefkastenonkel der Kasseler Post fragen. Zu den östlichen Ausläufern der Fuldametropole gehörten Wolfsanger und Sandershausen. Zwischen diesen Siedlungen floß eben die Fulda. Die nächste Brücke gab es erst in der Stadt, am Fuldahafen. Was also tun? In meiner Knabenzeit, die ich in der genannten Gegend verbrachte, war die Angelegenheit geradezu abenteuerlich. Am Fuldaufer in Sandershausen gab es einen Pfahl, den eine alte Bratpfanne krönte. Am Pfannenstiel hing außerdem eine alte Suppenkelle. Wollte man nun »übergeholt« werden, mußte man auf die Pfanne hauen. Prompt ging jenseits, in Wolfsanger, die Tür des recht abgeschieden gelegenen Fährhauses auf. Der baumlange, schon halbglatzige Fährmann schlurfte zum Ufer, machte seinen Kahn los und kam zu uns. Da der Kahn bis zu zwei Dutzend (stehende) Leute aufnehmen konnte, hatte es der hagere Fährmann nicht einfach, sofern ihn Gesangs- oder Schützenvereine bemühten. Er bewegte sein Fahrzeug nämlich mit Hilfe eines »Verholstabes« ausschließlich durch Armkraft. Durch die Öse des Stabes lief ein Drahtseil, und an diesem zog er, die Öse verkantend, seine Fähre über den Fluß. Möglicherweise mußte er das Seil vor Fahrtantritt erst spannen. Ich glaube, in der Regel hing es beträchtlich durch, damit andere Schiffe nicht gestört oder gar zum Kentern gebracht wurden. Spätestens 1970 wurde dieser Fährbetrieb eingestellt.

In meiner Zeit kostete die Überfahrt 30 Pfennig, wohl unabhängig von der Fahrgastkopfzahl. Diese Gebühr bezahlte natürlich mein Großvater Heinrich aus der ehemaligen Werkssiedlung Salzmannshausen, denn bei dem wohnte ich. Salzmann war eine große Weberei in Kassel-Ost, also nicht etwa der Pädagoge aus Walters-hausen-Schnepfenthal. Ich kannte die Fabrik, 1891 aus rotem Backstein erbaut, sogar von innen, weil ich dort zuweilen Ferienarbeit leisten durfte. Am interessantesten war es immer in den Lagerräumen, wo sich die Tuchballen stapelten. Die luden dazu ein, sich ein wenig auszustrek-ken, damit die Arbeit nicht etwa ihren Feriencharakter einbüßte. Man durfte sich nur nicht erwischen lassen. Das waren meine Anfänge als Klassenkämpfer.

Heute würde ich mir nach dem Posten des Wolfsange-rischen Fährmanns alle 10 Finger lecken. Man hat jeden Tag etwas Kontakt zu seinen Mitmenschen, aber im wesentlichen seine Ruhe. Man rostet gleichwohl nicht ein, wegen der Ackerei am Seil. Bleibt die Kundschaft wegen Hitze aus, setzt man sich in seinem Gärtchen auf eine schattige Bank; bleibt sie wegen Regen aus, widmet man sich dem Gitarrespiel oder seiner Schreibarbeit. Bei Sturm schließt man flugs die Fensterläden – und damit den ganzen Betrieb. Die Stadt Kassel bezahlt ja. Denn ich würde auf einem Festanstellungsvertrag bestehen. Das gilt freilich nur für den Fall kapitalistischer Verhältnisse.



Da die schwedische Journalistin Cats Falck (1953–84) ziemlich wahrscheinlich über durchaus hohe Politik stolperte, hätte Brockhaus sie (1988) ruhig aufnehmen können. Sie war zuletzt für die Nachrichtensendung Rapport des Ersten Schwedischen Fernsehens tätig gewesen. Wie es aussieht, war sie gegen Ende 1984 großangelegten illegalen schwedisch-ostdeutschen Waffengeschäften auf der Spur. Kollegen gegenüber machte sie auch entsprechende Andeutungen. Übrigens wurden diese Geschäfte möglicherweise etwas später, 1986, vom schwedischen Regierungschef Olof Palme gestört oder gar unterbunden, weshalb er, wie manche glauben, im selben Jahr erschossen worden ist. Aber vorher war Sozialdemokrat Palme durchaus in sie verwickelt, meinen etliche BeobachterInnen. Mit Ostberlin hatte er guten Kontakt.

Was nun Falck angeht, traf sie sich 1984 an einem fast frostigen Novemberabend mit ihrer nur geringfügig älteren Freundin Lena Gräns (32) zum Essen im beliebten Stockholmer Restaurant Öhrns Hörn. Anschließend spurlos verschwunden, wurden die beiden jungen Frauen erst Monate später, im Mai 1985, auf dem Grund des in der Nähe liegenden Hammarby-Kanals gefunden – tot. Die Leichen steckten in Gräns Auto, wobei freilich Falck am Steuer saß, die Stöckelschuhe trug und ihren Freunden zufolge ohnehin eine schlechte, noch ungeübte Fahrerin gewesen sei, zu der ein solches Verhalten schlecht passe. Dagegen führen andere die halbe oder ganze Flasche Rotwein ins Feld, die den beiden Frauen das Essen bereichert haben soll. Außerdem seien die Straßen schlüpfrig gewesen. Diese Stimmen bezweifeln auch die angebliche »heiße Spur« der unerfahrenen Journalistin und halten Falck eher für eine Aufschneiderin. Das kommt natürlich vor. In der Tat räumt auch Arne Lapidus vom Boulevardblatt Expressen Falcks Ehrgeiz ein.* Sie war bei Rapport »nur« Programmsekretärin, wünschte vielleicht mit einer Enthüllungs-Reportage zu glänzen. Allerdings tauchten ihre für den Fall wesentlichen, womöglich von einigen Leuten gefürchteten Aufzeichnungen im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen ähnlich unter wie damals Gräns weißer Renault – sie sind verschwunden, behauptet Lapidus mit dem Buchautor Christoph Andersson. Daneben scheint unklar zu sein, was die Freundinnen gerade in der abseitigen Hafengegend zu suchen hatten. Für Fahrunterricht hätten sie sich kaum ungünstigere Bedingungen aussuchen können: Dunkelheit und Straßenglätte. Von daher war der »Unfall«, den die Polizei der Öffentlichkeit aufband, doch eher unwahrscheinlich.

Die meisten BeobachterInnen nehmen denn auch an, die Sache war arrangiert. Manche glauben, der Versenkung im Kanal sei eine Entführung und Betäubung oder gar Tötung der Opfer vorausgegangen. Laut schwedischer Wikipedia stellten die Obduzenten der Leichen einige Merkwürdig-keiten fest. Zum Beispiel fanden sich keinerlei Spuren von einem Versuch der am Kai Abgestürzten, sich aus ihren Gurten und dem Auto zu befreien. Stattdessen hätten sie erstaunlich »ordentlich« in ihren Sitzen gelehnt. Gleichwohl gaben die Obduzenten der Annahme »Tod durch Ertrinken« den Vorzug. So oder so, es kam zu verschiedenen Verdächtigungen, teils in einem anonymen Brief, ansonsten in etlichen Zeitungsartikeln sowie Vernehmungen, aber letztlich wurden die Ermittlungen sowohl der schwedischen wie der deutschen Polizei spätestens 2006 eingestellt. Ob auf Wink »von oben«, ist nicht bekannt. Alle KennerInnen des Falles halten ihn jedenfalls für ungeklärt.

Ein Verdacht wies nach Ostdeutschland. Tatsächlich hatte die DDR-Führung durch Waffenschmuggel an Staaten oder Kampfverbände, die zum Teil reaktionär sein durften wie sie wollten, viele begehrte Millionen an Devisen eingestrichen.** Sie schreckte also keineswegs vor kriminellen und blutigen Machenschaften zurück. Andererseits sollte man bei entsprechenden Zuweisungen bedenken, wie gern »die Stasi« im Westen als Bock für eigene Sünden vorgeschoben wird. Oder wenigstens damit rechnen, auch im Agentenmilieu kommen mitunter trittbrettfahrende Wichtigtuer vor, wie Lapidus mit einem Beispiel andeutet.

Das betrüblichste Kapitel des Quellenstudenten ist Lena Gräns. Sie scheint völlig nebensächlich zu sein. Man erfährt noch nicht einmal, ob sie eine Berufsausbildung besaß. Laut Lapidus war sie frisch geschieden und hatte sich um ihre Kinder zu kümmern. Die warten jetzt schon ziemlich lange.

* Arne Lapidus, »Dödsgåtan: Cats Falck och väninnan hittades i bilen i hamnbassängen«, 26. April 2018: https://www.expressen.se/nyheter/inloggad/dodsgatan-cats-falck-och-vaninnan-hittades-i-bilen-i-hamnbassangen/
** Patrik Baab / Robert E. Harkavy, Im Spinnennetz der Geheim-dienste. Warum wurden Olof Palme, Uwe Barschel und William Colby ermordet?, Frankfurt/Main 2017, S. 63/64 und 202–10




Der italienischer Mediziner aus Padua Gabriele Falloppio (1523–62) wurde im besten Mannesalter, wohl mit 39, schon selber eine Leiche. Bis dahin hatte der Hochschullehrer für Anatomie, Chirurgie und Pharmazie Hunderte von Leichen seziert und damit, wie viele glauben, wesentlich zur Bereicherung unserer Heilkunst beigetragen. Brockhaus gönnt ihm trotzdem nur fünf Zeilen.

Am meisten hatten es Fallopio anscheinend Ohren, genauer der Bau des menschlichen Gehörs angetan. Außerdem trat er mit bis dahin ungekannten Beschreibungen des weiblichen Eileiters hervor, der deshalb auch als Fallopp‘sche Tube oder Tuba uterina (Fallopii) – im englischen Sprachraum: Fallopian tube – bezeichnet wird. Da verwundert es nicht mehr, wenn ihm auch die erste, so weit bekannt, wissenschaftliche Erwähnung der oft schamhaft verschwiegenen Krankheit zu verdanken ist, die noch bis über Goethe hinaus so manchen Dichter und Denker ins Grab oder an den Rande des Wahnsinns bringen sollte: der Syphilis. Über diese von einem Bakterium verursachte »Französische Krankheit« (De morbo Gallico) schrieb er ein ganzes Buch. Bekanntlich wird sie hauptsächlich bei sexuellen Kontakten übertragen, weshalb sie im Volk auch »Lustseuche« hieß – allerdings gibt man heute weniger den leichtfüßigen deutschen Erzfeinden die Schuld; man nimmt eher an, das Bakterium sei im Dunstkreis von Kolumbus aus Amerika eingeschleppt worden, sozusagen als Rache für die Pocken, den schottischen Whisky und die parlamentarische Demokratie. Als Gegenmaßnahme empfahl der kühne Professor mit Medikamenten und anorganischen Salzen getränkte Leinensäckchen, die man heute Kondome nennen würde. Das wäre etwas für die zeugungstrunkenen Nürnberger Pfeffersäcke gewesen, versicherte Falloppio doch (laut Öncel) bei einem Kongreß, er habe bereits eine Versuchsreihe mit 1.100 Männern hinter sich, von denen sich, aufgrund seines neuen Verhütungsmittels, nicht einer mit Syphilis angesteckt hätte.

Ob der Erfinder aus Padua selber Kinder hatte, ist mir nicht bekannt. Auch sein frühes Ableben liegt im Dunkeln. Die meisten Quellen übergehen es kurzerhand. Die Enzyklopädie Treccani bringt (1994) zwar einen ausführlichen Artikel, der länger als ein Pferdeschwanz ist, aber zum Tod Falloppios speist sie uns, soweit ich sehe, mit zweieinhalb Zeilen ab. Anfang Oktober 1562 sei der Anatom jäh von »Kopfschmerz« ereilt worden, »und die Wucht dieser wahrscheinlichen Pleuropneumonie« habe ihm binnen weniger Tage den Garaus gemacht. Das kursiv Geschriebene soll eine Kombination aus Lungen- und Rippenfellentzündung sein. Dagegen behauptet ein Mediziner aus der türkischen Großstadt Denizli neuerdings*, wenn auch nicht weniger knapp, Falloppio sei schon seit einigen Jahren chronisch sowohl erschöpft wie lungenkrank gewesen. Er tippt auf Tuberkulose.

* Çağatay Öncel, »One of the Great Pioneers of Anatomy: Gabriele Falloppio«, Bezmialem Science 2016; 3: 123-6: https://cms.galenos.com.tr/Uploads/Article_20326/BAS-4-123-En.pdf



Zur Falschmünzerei verweist Brockhaus auf → Geld- und Wertzeichenfälschung, aber der dortige Eintrag könnte Sie nur langweilen. Ich mache Sie stattdessen mit dem schweizer Schlawiner Joseph-Samuel Farinet (1845–80) bekannt. Im April 1880 im Kanton Wallis auf der Flucht, wurde der gelernte Schmied und anerkannte Liebling der einheimischen Frauen in einer Schlucht des Flüßchens Salentze nahe Saillon von Gendarmen eingekesselt. Auf welche Weise der 34jährige dabei zu Tode kam, ist umstritten. Während die Polizei von einem Unfall sprach, weil Farinet abgerutscht und in die Tiefe gestürzt sei, neigte die Bevölkerung zu der Ansicht, die Hüter des Gesetzes hätten den Gauner mit dem roten hängenden Schnauzbart wie eine Gemse abgeschossen. Eine Obduktion verläuft nach Darstellung der Behörden ergebnislos, weil Farinets zertrümmerter Schädel kaum noch kenntlich gewesen sei. Der junge Augenzeuge Camille Desfayes, später Obergerichtspräsident des Kantons, sah dies laut Willi Wottreng* anders: »Ich hob seine Haare auf, und ich sah auf der Stirne ein Loch, in welches ich meinen Bleistift eintauchte. Er kam hinten am Schädel wieder heraus.«

Und welche Schwerverbrechen hatte der Gejagte verübt? Schmuggel und Falschmünzerei. Er hatte mit seinen Gehilfen vor allem 20-Rappen-Münzen hergestellt, die bei der Bevölkerung rasch beliebter als das Papiergeld der Kantonalbank waren. Der angesehene schweizer Autor Charles-Ferdinand Ramuz gab den Verbrecher 1932 in seinem Roman Farinet oder das falsche Geld als Freiheitshelden aus. Für Wottreng fanden die beiden zueinander, weil auch Ramuz das Fälschen liebte, beispielsweise Farinet auf eine Goldader stoßen ließ. Aber große Sympathien genießt der Ganove schon – nicht zuletzt in dem Bergstädtchen Saillon, das mit einem Falschgeldmuseum glänzen kann. Andrej Abplanalp behauptet prompt**, Farinet habe damals so manches Rappenstück unter arme Leute geworfen, sodaß es ihm gelungen sei, sich den Ruf eines »Robin Hoods der Alpen« zu erarbeiten. Neuerdings kursiere im Wallis sogar eine Alternativwährung zum Franken, der Farinet, der in zahlreichen Geschäften als Zahlungsmittel anerkannt werde. Als »Historiker und Kommunikations-Chef des Schweizerischen Nationalmuseums« muß es Abplanalp ja wissen.

Das Geld ist sicherlich ein vertracktes Phänomen. Die Frage, warum es betrügerische Faulpelze wie die Fliegen anzieht, ist allerdings keineswegs vertrackt. Man versuche einmal, eine Salatgurke, eine Kaffeemühle oder ein Chorwerk des schweizer Komponisten Frank Martin zu fälschen – ein mühsames und oft verfehltes Geschäft! Am leichtesten läßt sich selbstverständlich Buchgeld fälschen, deshalb werden die Schlaumeier meistens Bankiers. Zumal in der Schweiz.

* Willi Wottreng, Farinet, Zürich 2008
** Andrej Abplanalp, »Der Geldfälscher aus dem Wallis«, Nationalmuseum CH (Zürich), April 2020 / Januar 2022: https://blog.nationalmuseum.ch/2020/04/farinet-der-meisterfaelscher/




In der vorangegangenen Folge habe ich den reizvollen elsässischen Wallfahrtsort Drei Ähren vorgestellt, wo ein Schmied eine Marienerscheinung hatte. Aber dank Brockhaus kann ich das schon wieder übertrumpfen. In Fátima, einem Städtchen in Mittelportugal, hatten sage und schreibe drei Kinder im Jahr 1917 »jeweils am 13. der Monate Mai bis Oktober Marienerscheinungen, die 1930 von der katholischen Kirche für glaubwürdig erklärt wurden«. Das hätte die UNESCO (gegründet 1945) kaum besser einfädeln können. Flugs wurden die einschlägigen Kirchen, Hotels und Kassenhäuschen errichtet – inzwischen pilgern mindestens vier Millionen Leute jährlich zu dieser »gut geölten Maschine des weltweiten Wallfahrtstourismus«, wie Tilo Wagner für den Deutschlandfunk 2017, also zum 100. Jahrestag der Erscheinungen mitteilt. Jene drei kleinen Pioniere sollen übrigens schlichte Hirtenkinder gewesen sein. Zwar räumt der Sender ein, auch in Portugal hätten sich die katholischen Kirchen im Laufe der Postmoderne eigentlich in rasender Geschwindigkeit entvölkert, zumal von der Jugend. Gleichwohl dürfe keiner es wagen, in Fátima ketzerische Töne von sich zu geben. »Den Glauben und die Marienerscheinung in Frage zu stellen, wird hier nicht als persönliche Meinung akzeptiert, sondern als eine direkte Bedrohung für die lokale Wirtschaft betrachtet.« Kritik an Rüstungsgeschäften ist nur deshalb noch schlimmer, weil sie die globale Wirtschaft torpediert.



Soweit ich sehe, war der Venezianer Giacomo Favretto (1849–87) ein möglicherweise etwas gefälliger Genre-maler. Sein hübsches Ölgemälde Fahrende Musikanten soll um 1882 entstanden sein. Der Sprößling eines kinder-reichen Schreiners oder Zimmermanns war von einem Grafen gefördert worden. 1878 Paris-Reise (Weltaus-stellung), eigene Austellungs-Erfolge bereits ab 1873. Eine »schwere Krankheit« bringt ihm allerdings schon mit knapp 30 (1877) den »Verlust eines Auges« ein und sorgt auch für seinen Tod mit 37.* Favretto, offensichtlich sehr begabt, malt naturgetreu, aber nicht glatt. Seine Szenen haben etwas Flockiges, gar Zerbröckelndes. Brockhaus (vier Zeilen) spricht von »typischem venezianischem Realismus«. Man wüßte natürlich gern, wie sich der Künstler welche todbringende Krankheit zugezogen habe, doch auch das Internet verrät es nicht.

* Rossella Leone im Dizionario Biografico degli Italiani, Volume 45 (1995): http://www.treccani.it/enciclopedia/giacomo-favretto_%28Dizionario-Biografico%29/



Der Russe Pawel A. Fedotow (1815–52) wandte sich erst nach einer Militärzeit, die er (in Sankt Petersburg) als Fähnerich abschloß, der Malerei zu. Im Vergleich zu Favretto war er jedenfalls der bissigere Genremaler. Tatsächlich galt er später als Pionier des kritischen Realismus. Zu Lebzeiten fand er nicht viel Beachtung* – wenn auch gelegentlich, wegen der satirischen Züge seiner Gemälde** und seiner Nähe zu aufmüpfigen Geistern wie Dostojewski oder Herzen, durch die zaristische Zensur. Ob diese auch dabei nachhalf, ihn in einer Irrenanstalt (wohl in Petersburg) zu versenken, kann ich nicht beurteilen. Laut englischer Wikipedia war er in seinen letzten Jahren, die er anscheinend zurückgezogen in seiner Heimatstadt Moskau verbrachte, recht gebrechlich geworden. Er alterte sichtlich und litt an Kopfschmerz und Sehschwäche. Vielleicht ein Fall für Falloppios Leinensäckchen ..? 1852 habe sich zu seiner zunehmenden Melancholie auch noch Liebeskummer gesellt. Ja, mehr noch, fiel Fedotow nun sogar durch »seltsames« Verhalten auf, etwa Geld zum Fenster hinaus zu werfen, obwohl er geringe Einkünfte hatte, und etlichen Damen gleichzeitig Heiratsanträge zu machen. Schließlich holte ihn die Polizei und verfrachtete ihn in die Anstalt. Die dortigen brutalen Kuren trugen nicht gerade zu seiner Genesung bei. Einige Freunde sollen ihn besucht und sich für ihn eingesetzt haben – offensicht-lich vergebens. Ende November lag der 37jährige im Sarg.

* Selbstporträt von 1848: https://en.wikipedia.org/wiki/Pavel_Fedotov#/media/File:Pavel_fedotov_1815_1852.jpg
** Brockhaus bildet die »Brautwerbung eines Majors« ab, um 1851 entstanden

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