Mittwoch, 30. November 2022
Nasen Anhang 9—16

A-9 Auf der Schweinsblaseninsel (Teil 3 einer Romanskizze von 2017, →Hattemer)

Mit der völligen Gleichberechtigung der Geschlechter ist es noch lange nicht getan. Was zunächst über Bord geworfen werden muß, ist der Wahnsinn, den wir »Liebe« nennen, und gleich anschließend gilt es, die Festung oder Folter-kammer namens »Familie« zu schleifen. Genau zu diesem Zwecke hatten einst viele 68er die Ärmel aufgerollt. Ihre Kraft bezogen sie aus Schriften von Bronislaw Malinowski, Margaret Mead, Wilhelm Reich, Charles Bettelheim, Erich Fromm, Reimut Reiche und dergleichen. Doch wer würde sich heute noch mit solchem Gedankengut befassen? Und sich gar von ihm anregen lassen? Nicht die Färberlaus siegte, aber Rotgrün.

Auf der Schweinsblaseninsel geht es freundlich und freizügig zu. Männer und Frauen vergnügen sich je nach Wunsch und Gelegenheit. Ob dabei auch nennenswert homosexuell verfahren wird, wie in der Antike oder im Mittelalter, könnte ich nicht sagen. Jedenfalls gibt es Herzenswärme und Gefallen aneinander, was grundsätzlich alle oder fast alle InsulanerInnen einschließt und zunächst nichts mit Sexualität zu tun hat. Wird diese aber gepflogen, sind selbstverständlich Verhütungsmittel im Spiel. Solche waren sowohl in der Antike und im Mittelalter wie bei zahlreichen Stammesgesellschaften bekannt, wie unter anderen Heinsohn/Steiger betonen.*

Gleichwohl sorgen die InsulanerInnen für regelmäßigen Nachwuchs. Sie zeugen Kinder, wenn es die Rate der Sterbefälle als angezeigt erscheinen läßt. Dafür sind Winke mit dem Zaunpfahl auf den Dorfversammlungen denkbar. Solche Winke werden am ehsten von Insulanerinnen aufgenommen, die »leicht« gebären, womit sie anders veranlagten Insulanerinnen die Folter des Gebärens ersparen. In der Regel werden die Winke auch von mehreren Insulanerinnen gleichzeitig aufgenommen, damit das Säugen der Kleinkinder nicht zum einsamen und letztlich verheerenden Geschäft wird. Die uns vertraute Kleinkinderstube dürfte nämlich die entscheidende Wiege sowohl jenes Wahnsinns der »Liebe« wie der Autoritätshörigkeit darstellen. Sie züchtet Verehrungstrieb und Unterwerfungssucht. Durch gemeinschaftliches Aufziehen wird dagegen vermieden, den Säugling an Mutter und Vater zu ketten. Nach Uschi Madeisky, die von den Mosuo aus Südwestchina berichtet**, lassen sich, etwas später, auf diese Weise sogar Trotzalter und Pubertätskrisen vermeiden. Das Kind wird befähigt, sich seine »Bezugspersonen« nach Lust und Gelegenheit zu erwählen. Allerdings leben die chinesischen Bauern und Fischer in Großfamilien (Clanen) zusammen, dabei alle unter einem Dach, was mir beides nicht sonderlich schmeckt. Bei mir steht dem Kind grundsätzlich eine rund 100köpfige Dorfgemeinschaft zur Verfügung. Solange es Säugling und Kriechling ist, lebt es im Mütterhaus. Anschließend trennt es sich von den drei oder fünf Müttern und wechselt ins Kinderhaus.

Das Kinderhaus ist eine kunterbunte, aufregende Sache. In der Regel dürfte es rund ein Dutzend Kinder zwischen drei und 13 Jahren beherbergen. HüterInnen des Hauses sind, bei monatlicher Ablösung, stets zwei Erwachsene, die auch in ihm übernachten. Sie stellen keine »ErzieherInnen«, vielmehr SchlichterInnen dar. Auf der Schweinsblaseninsel gibt es keine Erziehung. Nach einer wichtigen Grundein-sicht Hubertus von Schoenebecks*** haben wir Kindern Eigenverantwortlichkeit, Würde und Achtung nicht anders wie Erwachsenen zuzugestehen. Sie wissen schon, was sie wollen und was für sie gut ist. Wir Erwachsenen wissen es keineswegs besser. Wir haben nur die gröberen Macht-mittel und die durchtriebenere Rhetorik. Die Achtung des kindlichen Willens bedeudet selbstverständlich nicht, daß wir ihm nicht öfter aus eigenem Interesse Grenzen setzen müßten. Die Konfliktbehandlung läuft hier nicht anders wie unter Kommunarden. Erfreulicherweise brandmarkt Von Schoenebeck auch den »Lernzwang« in der herkömmlichen Schule. Dagegen stellt er die Familie nirgends mit auch nur einem Komma in Frage. Im Gegenteil, in einem seiner positiven Beispiele dürfen Schulkinder und ihr Lehrer begeistert »Hochzeit« und »Ehe« spielen. Ich schlage vor, Roy Black singt dazu Ganz in Weiß

Heinsohn/Steiger scheinen Von Schoenebecks »antipädagogische« Warte zu teilen, heben sie doch einmal, wenn auch am Rande, die geringe Ängstlichkeit der (zu ihrer Zeit noch immer weitgehend kollektiv aufgezogenen) israelischen Kibbuzkinder hervor. Sie beruhe auf der allgemeinen Wertschätzung, die ihnen im Kibbuz entgegengebracht werde. Auf der Schweinsblasen-insel werden die bereits genannten Häuser, das große Gemeinschaftshaus eingeschlossen, von einem Jugendhaus, einem Haus der Mitte und einem Altenhaus ergänzt. Jeder Dorfbewohner ist in einem dieser Häuser »stationiert«, mit einem Stammschlafplatz und persönlicher Habe. Die Grenzen sind jedoch fließend und durchlässig. Es gibt stets ein paar überzählige, eher kleine Schneckenhäuser, sodaß sich Leute, auch Paare und Zirkel, spontan zurückziehen können. Dafür gibt es eine »Besetzt«-Markierung. In den Schlafhäusern stehen lediglich »Teeküchen« zur Verfügung, denn die täglichen Hauptmahlzeiten (morgens und frühabends) sind ja kollektive, im Gemeinschaftshaus stattfindende Einrichtungen, wie ich schon früher sagte. Wer für den Abend kocht, wird morgens auf den Arbeits- und Mußebesprechungen festgelegt, je nach Tagesprogramm der InsulanerInnen. Ich halte diese gemeinschaftlichen Mahlzeiten für wichtig. Nach dem intimen Gesauge an der »eigenen« Mutterbrust gibt es doch nichts Schädlicheres als dieses uns wohlbekannte hamsterartige und neidvolle Bruzzeln, Hocken und Tuscheln an der je »eigenen« Feuerstelle. Ehe und Familie müssen verabschiedet werden, weil sie Clandenken züchten, gruppenhaftes oder völkisches Zu- und Angehörigkeitsgefühl, halsstarriges Pochen auf das sogenannte Eigene. Sie sind die wesentlichen Brutstätten von Hader, Streit, Konkurrenz und Kapitalismus. Wahrscheinlich läge man nicht falsch, wenn man die sogenannte Kernfamilie als Keimzelle des Krieges in all seinen Formen begriffe.

Das mag ja alles sein, höre ich die EinwerferInnen, aber den Kinderwunsch und die Liebe lassen wir uns nicht nehmen. Dazu sage ich, eure brennenden Kinderwünsche und eure glühende Liebe sind beides romantischer Ziegenkäse. Nach Heinsohn/Steiger war »der Kinderwunsch« vor der Neuzeit hauptsächlich ökonomisch und damit gesellschaftlich begründet gewesen. Man legte es auf Erben, MitarbeiterInnen, AltenversorgerInnen an. Kinderwünsche, die turmhoch über die Triebe oder Träume eines Pavianweibchens und das Imponiergehabe eines Pavianmännchens hinausgingen, wurden belächelt, wenn nicht gar verhöhnt. Und so auch mit der Liebe. Zwar versichert Peter Farb****, selbst die vergleichsweise sehr primitiven WüstenbewohnerInnen Shoshone aus dem US-Südwesten hätten »die romantische Liebe« durchaus gekannt, jedoch als »eine Art Wahnsinn«, der nur Jugendliche befalle, mit Nachsicht behandelt. Er gehe vorüber und mache dann dem Zweckbündnis Ehe Platz. Im gegenwärtigen Europa wird er jede Wette nicht so schnell vorübergehen, obwohl hier die Ehe nur noch nach Art der Potemkinschen Dörfer am Einstürzen gehindert werden kann. Das bereits angeführte »Kernige« an der »festen« Paarwirtschaft ist zu wichtig. Niemand wagt die glühende Kette des neuzeitlichen Liebesgestammels anzufassen, um sie endlich über Bord zu werfen. Angenommen, Sie nähmen sich einmal alle in den drei jüngsten Jahrzehnten veröffentlichten CDs vor und strichen sämtliche Liebes- und Liebeskummerlieder – Sie stünden vor einem Riesengebirge aus weitgehend leeren CD-Schachteln. Die Sache mit der Leere meine ich im Ernst. Für mich dient unser schöner Firnis vom Liebes- und Familienleben in erster Linie dazu, die Hohlheit unserer Köpfe, unserer sozialen Beziehungen und selbstverständlich auch unseres Erwerbslebens zu übertünchen. Er erspart uns das Erschrecken vor uns selbst.

Im ersten Teil erwähnte ich eine unglückliche Verliebtheit des Mark und einen sogenannten Traumfänger. Dieser besteht bei einigen US-Indianerstämmen meist aus einer kreisrund gebogenen Weidenrute mit einer Bespannung, die an ein Spinnennetz erinnert. Zusätzlich baumelt amulettartiger Schmuck am unteren Bogen. Über dem Bett hängend, soll dieses geweihte Gerät die guten Träume zum Schläfer oder zur Schläferin durchlassen, die schlechten dagegen abfangen, wenn ich richtig verstanden habe. Ein solches Gerät bekam Mark von jener Angebeteten geschenkt, der seine Verehrung gar zu lästig war. Er hatte ihr versichert, sie sei wundervoll, er könne nicht ohne sie leben, er werde sie bestimmt auf Händen tragen, freilich nie zu anderen – Sie werden diesen Sermon zur Genüge kennen. Die junge Frau besprach den Traumfänger, den sie für Mark gebastelt hatte, mit dem Sermon und schärfte dem Gerät ein, dergleichen streng abzuweisen. Sie hingen diesen neuen Traumfänger gemeinsam über Marks Bett im Jugendhaus auf. Wenn das Gerät genug herausgefiltert habe, möge sich Mark bitte wieder bei ihr melden, sagte sie zu ihrem Verehrer, bevor sie zum Strand huschte. Sie war mit ein paar Leuten zum Muschelfang verabredet.

* Die Vernichtung der weisen Frauen. Studie über Hexenverfolgung und Menschenproduktion, ursprünglich 1985. Erweiterte Ausgabe München 1989.
** »Mütterliches Prinzip ist besser«, Frankfurter Rundschau,
3. Januar 2016
*** Kinder der Morgenröte, Norderstedt 2004. Allerdings ist Von Schoenebecks Einsicht nicht neu, wie ich aus einer Studie des anarchistisch gestimmten Volkswirtschaftlers Walther Borgius schließe, die 1930 in Berlin erschien: Die Schule – ein Frevel an der Jugend. Obwohl nur schwer zu den Perlen deutschsprachiger Prosa zählbar, ist dieses Werk aufgrund seiner Pionierleistungen empfehlenswert.
**** Man's Rise To Civilization / dts. Die Indianer, 1968 / 1988, S. 44




A-10 Ansturm auf Pingos (2020, →Hundbiß)

Das Problem der Vermassung der Menschheit* gibt mir wieder einmal eine Romanidee ein, die sehr wahrschein-lich nicht zu realisieren ist, jedenfalls nicht von meinem bescheidenen Kaliber. Sie baut auf der Annahme auf, die freie Inselrepublik Pingos habe bis in jüngste Zeit, 2015 vielleicht, durchgehalten und dabei auch ihre Unabhängig-keit und ihren Charakter bewahren können. Pingos, gesprochen ungefähr »Piehngus«, kommt in meiner letzten Schlackendörfer-Geschichte vor, Handlungszeit 1965/66. In der nördlichen Ägäis unweit der »kasto-nischen« (griechischen) Küste gelegen, umfaßt sie rund 5.000 Leute, die längs der umlaufenden Inselbahn in einigen Küstenortschaften leben. Es gibt keine »Streit-kräfte«, vielmehr sind sämtliche Grundorganisationen der Republik bewaffnet. Was werden nun die BewohnerInnen des südlichen Dorfes X für lange Gesichter machen, wenn an ihrem Strand ein großes Schlauchboot landet, das mit mindestens 50 mehr oder weniger schwarzen und abgezehrten Gestalten vollgestopft ist? Wie sich rasch herausstellt, kommen sie aus Libyen und suchen hier, nach entbehrungsreicher Irrfahrt, Asyl – oder auch sonstwo ihr Glück.

Es liegt auf der Hand, daß die Ankunft von afrikanischen Flüchtlingen in einer kleinen anarchistisch gestimmten Inselrepublik wie Pingos gewaltige Probleme aufwirft, nicht zuletzt moralische. Zurückschicken kann man sie kaum. Wer wollte diese Menschen? Wo würden sie nicht schikaniert? Andererseits hat Pingos mit Grund sehr strenge Aufnahmebestimmungen. Es kann sich weder Dutzende oder gar Tausende von zusätzlichen hungrigen Mäulern noch neue Mitglieder leisten, die wahrscheinlich kaum den geringsten politischen und charakterlichen Anforderungen genügen. Bekanntlich flüchten auf den Booten nicht unbedingt die aufgeklärtesten und uneigennützigsten BewohnerInnen Afrikas. Wie soll man auf einen Schlag Dutzende von Konsumsüchtigen, Karrieristen, schnöden Gaunern oder auch nur seelisch und körperlich Zerrütteten verkraften?

Gewiß sind fürs erste Notlösungen denkbar. Vielleicht verwandeln sich diese sogar in Zündstoff, der einem Roman, der keine heile Welt vorgaukeln möchte, nur willkommen sein kann. Die schwarzen »Gäste« könnten sowohl mit lästigen wie angenehmen Überraschungen aufwarten: etwa Diebstahl hier, Bereicherung durch praktische Vorschläge dort; ein sexueller Übergriff – eine neue Liebe für ein Mauerblümchen; eingeschleppte Krankheit – Heilkunde aus dem Busch und dergleichen mehr. Weitere Konflikte werden sich selbstverständlich aus der Erörterung des Hauptkonflikts ergeben. Vielleicht sprechen sich etliche RepublikanerInnen für eine unbarmherzige Abschiebung aus. Andere zerfließen vor Mildtätigkeit. Neoliberale oder kommunistische Blätter aus aller Welt werden Pingos mit Häme und Verleum-dungen übergießen. Vielleicht gibt es sogar vereinzelte einheimische Gewalttaten gegen die Flüchtlinge. Immerhin ist die gesamte Republik bewaffnet, wie ich oben betonte.

Schon diese Steiflichter deuten jedoch auf nichts weniger als eine Zerreißprobe hin, die der kleinen Inselrepublik mit der jüngsten weltweiten Auswanderungswelle bevorsteht. Hinzu kommt freilich ein schlechter Witz. Danach wird die erste Überraschung ja sehr wahrscheinlich keineswegs auch die letzte bleiben. Begegnet man nämlich der ersten Fuhre von 50 oder 70 Leuten mit Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, kommen über kurz oder lang die nächsten Fuhren, weil sich die Angelegenheit in Windes-eile bis zum Kap der Guten Hoffnung herumspricht. Schließlich schreiben wir 2015, da gibt es Satelliten-fernsehen und Mobiltelefone. Ergo wird die Inselrepublik jede Wette von einer wahren Flüchtlingswoge überspült. Wehrt sie sich dagegen, wird sie unweigerlich militarisiert, verroht – und zerstört. Tut sie es nicht, erhalten wir das gleiche Ergebnis.

Ein weiteres Problem sehe ich in mir selbst, dem Autor. Es betrifft die Figuren der Flüchtlinge. Ich traue mir nicht zu, mich hinreichend in ihre Lage und ihre Haut zu versetzen und sie entsprechend überzeugend handeln zu lassen. Anton Tschechow, Martin Andersen-Nexö, Robert Merle hätten es gekonnt. Allgemeiner gesprochen, bin ich vom Naturell her ohnehin weder ein begnadeter Erzähler noch ein begnadeter Psychologe. Ich bin der letzte Aufklärer und der letzte Enzyklopädist. Nach mir die Sintflut.

* Bezug auf eine früher vorausgegangene Betrachtung mit dem Titel »Raum ade«



A-11 Gewaltmonopol des Staates (Um 2007, →Katte)

Seine Beschwörung durch sämtliche »demokratische« Regierungen ist zunächst verlogen, weil sich diese merkwürdigerweise stets mit dem Streichholz-, Zucker- und Zeitungsmonopol verbündet wissen. Die Staatenlosen dagegen stellen immer ökonomische Nieten dar – oder umgekehrt. Mit anderen Worten: eine sehr wesentliche Gewalt wurzelt bereits im Privat- wie im Staatseigentum an Produktionsmitteln und Ländereien, von dem bekanntlich viele Menschen ausgeschlossen sind. Auf dieser Ebene hat sie mit Polizeiuniformen noch keinen Zipfel zu tun. Am 20. Mai 2010 rutschte dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) eine Bemer-kung heraus, die es vermutlich nie in die Geschichts- oder Soziologiebücher bringen wird. Mit Erwin Pelzig, dem Chef einer beliebten Unterhaltungs-Sendung des ARD-Fernsehens, über Demokratie plaudernd, räumte Seehofer etwas verlegen ein: »Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt; und diejenigen, die gewählt werden, haben nichts zu entscheiden.«

Maßgeblich sind diskrete Machthaber wie Josef Ackermann von der Deutschen Bank – oder wie Kurt Freiherr von Schröder, der 1921, durch eine günstige Heirat, Teilhaber des Kölner Bankhauses J. H. Stein geworden war. 12 Jahre später, am 4. Januar 1933, lud dieser Schröder Papen und Hitler zu einem kleinen Nachtimbiß ein. Nur VerschwörungstheoretikerInnen behaupten, dabei sei der Sturz der Regierung Schleicher erörtert worden. Nach vollbrachtem Umsturz griff Schröder Hitlers Partei auch als Großspender unter die Arme. Zum Dank konnte er SS-Brigadeführer und Mitglied im Stab Reichsführer SS werden und seine Aufsichtsratsposten bis 1945 auf über 30 verdoppeln. In meiner Brockhaus Enzyklopädie (Band 19 von 1992) wird dieser Schröder so diskret behandelt, daß er gar nicht darin vorkommt. Das gleiche gilt übrigens für Waldemar Pabst (Band 16), den Chef des Mordkommandos gegen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Wer hat sich da möglicherweise gegen was verschworen?

Diese diskreten Machthaber, zunehmend auch Macht-haberinnen, stehen nie zur Wahl. Ihr zusammengeraubtes oder erbmäßig erschlichenes Kapital genießt päpstlichen Segen und den amtlichen Schutz ewig verhangener Denkmäler. Gegen ihre multinationalen Verflechtungen ist der Staat ein Kartenhaus. Prompt ist dieser so freundlich, ihnen unablässig Zinsen für Kredite, einen »Öffentlichen Dienst« nach dem anderen und neuerdings auch milliardenschwere »Rettungspakete« in den Rachen zu schmeißen. Davon geben sie dann wieder gnädig Kredite. Alle Details der entsprechenden Verordnungen und Verträge hält das Regierungspersonal wohlweislich geheim – auch vor den Pensionsberechtigten im Bundestag.

Die diskreten MachthaberInnen vernebeln die Welt durch ihr Gerede von »Wirtschaftlichkeit«, verstecken sich hinter kunstvoll verschachtelten Aktienpaketen, schicken bestochene ManagerInnen, MinisterInnen, Gutachter-Innen, RechtsverdreherInnen vor und lassen jede Sozialkritik von einem Bertels- oder Diekmann als »Verschwörungstheorie« verhöhnen oder als »Gutmenschentum« durch den Dreck ziehen. Und mit dem Pochen auf das »Gewaltmonopol« des »demokratischen« Staates gaukeln sie uns nebenbei vor, außerhalb von Polizeiknüppeln und Maschinengewehren gebe es keine Gewalt. Doch der Staat selber übt diese bereits durch eine Bürokratie aus, die Tag für Tag die Mußestunden, Hoffnungen, Lebenspläne zahlreicher kleinen Leute zerstört. Ein Pharmaziemanager übt sie verheerend aus, indem er bestimmte Pillen, die in Afrika recht nützlich wären, mangels »Gewinnerwartung« nicht produzieren läßt. Ein Lehrer kann einen Schüler allein durch schlechte Benotung zu chronischem Asthma oder in den Selbstmord führen. Der Bürger terrorisiert sein Kind, ohne jemals auch nur eine Ohrfeige zu bemühen. Vorwürfe unter Freunden treffen wie Huftritte. Einer wirft den Schuh – und der andere, der ihn sich anzieht, nutzt die bekannte »Opferrolle« zu erpresserischen Zwecken.

Es war natürlich schon immer das Werk von Demagogen, »die« Anarchisten stets als Menschenfresser mit Sprengstoffgürtel zu malen. Leute wie Michail Bakunin, Alexander Berkman, Victor Serge stellen revolutionäre Gewalt unter hohen Rechtfertigungsdruck. Das nimmt zuweilen schelmische oder groteske Züge an. So verkündet Bakunin, jede Gewalttätigkeit zwischen freien nationalen Föderationen sei zu unterbinden – wohl mit Paketschnur oder mit Samthandschuhen. Unsere winzigen anarchistischen Kommunen haben dasselbe, übrigens schon von Orwell gesehene Problem. Wie gewährleisten sie die Befolgung des selbstgewählten Reglements? Werden Vereinbarungen hartnäckig mißachtet oder unterlaufen, können sie ja schlecht den üblichen »Druck« machen, indem sie Essensrationen kürzen, Büroschlüssel wegschließen oder Polizei ins Haus holen. Also bleibt ihnen nur, anders zu sanktionieren. Böse Zungen sprechen mitunter von Psychoterror, aber es ist das andere Leben.

Eine gewaltlose Menschenwelt ist undenkbar. Auch die Freie Räterepublik muß ihre Angehörigen vor »Rechtsbrechern« schützen. Auch der Kommunarde hat sein Kind daran zu hindern, auf die verkehrsreiche Straße zu laufen. Droht als Sturmschaden ein Baum in den Hof zu stürzen, fällt er ihn, obwohl erst in einer Woche wieder Plenum ist. Dort setzt er, wenn nicht beißenden Spott, seine Überzeugungskraft ein. Am liebsten führt er die Waffe der Aufrichtigkeit – die mitunter kränkt, gelegentlich auch tötet. Für dieses Spektrum der Gewalt hatte der ehemalige burmesische Bezirkspolizeichef und Spanienkämpfer George Orwell einen guten Blick. Deshalb stellte er 1947 (zu Tolstoi) fest: »Der Unterschied, auf den es wirklich ankommt, ist nicht der zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit, sondern zwischen der Neigung zur Machtausübung und der Abneigung dagegen.«

Versucht sich demnach ein überzeugter Anarchist den Drang zum Rechthaben und Herrschen abzugewöhnen, heißt das noch lange nicht, er werde bei jeder Zumutung auf Gewalt verzichten. Den Beitrag zum Weltfrieden leistet er so wenig wie Partisan und Pazifist es tun.



A-12 Ihr tut mir Leid / 20 Jahre Rechtschreibreform (2016, →Klaunig)

Mit ihrer Nummer 15 des Vorjahres, erschienen im August 2015, schwenkte auch die oft erfreulich kritische, roteingeschlagene Zweiwochenschrift Ossietzky ein. Sie schreibt jetzt ebenfalls »reformiert«. Sie wolle damit vor allem der Verwirrung aller schulpflichtigen und jüngeren LeserInnen vorbeugen, hieß es kurz und befremdlich zur Begründung. Die Zeit hätte dazu wahrscheinlich höflich angemerkt: endlich hat auch dieses Blättchen, nach uns Großen und der Jungen Welt, »klein beigegeben«. So steht es in einem Interview mit Ex-Kultusminister Zehetmair, auf das ich noch zurückkommen werde.

Dafür fand am 1. August 2015, somit zufällig zur selben Zeit, ausgerechnet die FAZ zu ungewohnten antiautori-tären Tönen.* In Gestalt ihrer Berliner Korrespondentin Heike Schmoll zog sie die niederschmetternde Bilanz eines »obrigkeitlichen Gewaltaktes der Kultusbürokratie«. Gemeint war eben die jüngste, ab 1996 eingeführte, »mehrere Milliarden teure« deutsche Rechtschreibreform, die sich dann durch beflissene wiederholte »Nachbesse-rungen«, so das widerliche Modewort, noch verheerender auswirkte, als sie schon vom Kern her war. Für gewisse Verlage und HerausgeberInnen von Wörter- und Schulbüchern, ja selbst von sogenannten Klassikern, stellte sie allerdings ein Segen dar. Duden und Wahrig etwa, kraft ihres quasi-amtlichen Monopols schon immer eine Kuh, die nie versiegenden Honig gab, bekamen nun auch noch goldene Hufe.

Für Schmoll hat die Reform zugleich für Chaos und Uniformierung gesorgt. Die neuen Schreibungen hätten zahlreiche Möglichkeiten feiner Unterscheidungen »sprachlich und gedanklich planiert«. Ähnlich äußerte sich kurz zuvor, am 30. Juli, Steffen Könau in der Mitteldeutschen Zeitung. Aus seiner Sicht hat die Reform nicht weniger als die Auflösung der sprachlichen Verbindlichkeit bewirkt. »Das Ergebnis ist jeden Tag auf Whatsapp, Facebook, Twitter und den Diskussionsforen der Nachrichtenportale zu besichtigen. Regellosigkeit ist die Regel. Nach dem Komma und all den anderen Satzzeichen stirbt die Grammatik, sterben Satzbau und der Anspruch, Gedanken geradeaus zu formulieren.« Damit das Chaos perfekt wird, bieten Duden wie Wahrig in vielen Fällen Wahlmöglichkeiten an, setzen jedoch die Prioritäten unterschiedlich, sodaß sich die Konkurrenz jener beiden GralshüterInnen auch in den »Hausorthographien« zahlreicher renommierter Blätter oder Anstalten fortsetzen kann – FAZ eingeschlossen, wie ich einer Ankündigung vom 2. Dezember 2006 entnehme.

Das Reformergebnis »Orientierungslosigkeit« könnte so manchem Hirten, der gern Schafe regiert, durchaus gefallen – und womöglich fällt es auch kaum mehr auf, weil ja den Schafen das Denken zunehmend von Computern und Robotern abgenommen wird. Die werden immer »autonomer«. Bald werden sie die Texte nicht nur automatisch richtig, sondern automatisch selber schreiben. Das entlastet die Schafe. Nun finden diese die Muße, ihre sogenannte Übergewichtigkeit zu bekämpfen, indem sie wie die Affen in den Bäumen turnen. Man erwäge einmal, was uns seit zwei Jahrzehnten schon alles unter dem beflügelnden »fortschrittlichen« Deckmantel der Reform übergebraten worden ist: lauter Rückschritte. Die Reform der Streitkräfte machte Deutschland, Frauen eingeschlossen, wieder kriegslüstern; die (Riester-)Reform der Rente machte die RentnerInnen ärmer und die Versicherungskonzerne fetter; die Reform des Arbeitsmarktes – ich erspare mir das. Ich fürchte schon seit längerem, in kapitalistisch verfaßten Demokratien könnten sämtliche staatlich geleiteten »Reformen« eigentlich nur zwei Ergebnisse haben: mehr Unterdrückung oder mehr Chaos. Wobei wahrscheinlich das zweite Ergebnis in vielen Fällen wiederum der Herbeiführung des ersten Ergebnisses dient.

Etliche BeobachterInnen, die wie Schmoll und Könau den inzwischen herrschenden »Wirrwar« beklagen, erinnern an die einstigen Beteuerungen der ReformerInnen, ihnen liege vor allem die Vereinfachung der Rechtschreibung am Herzen. Ja eben – ihre Verflachung … Tatsächlich sei aber das Gegenteil eingetreten. So hat sich durch Mißbildungen wie »Missstand« oder »Schifffahrt«, zottelhaarige Mammuts wie »Aftershavelotion«, Wendungen wie »einer steht Denkmal artig vor dem Bundeskanzleramt« (also nicht etwa ungehorsam), Einsparung von Kommas, Angebot des Wählens zwischen Varianten und ganz allgemein die verstärkte Beliebigkeit in der Rechtschreibung die Lesbarkeit der Texte nicht erhöht, sondern verringert. Darin aber liegt eigentlich der Sinn einer allgemeinverbindlichen Rechtschreibung: sie will nicht etwa recht behalten, wie man bei ihrem irreführenden Namen denken könnte; sie will uns vielmehr entlasten. Indem sie Verkehr und Verständnis sowohl vereinfacht wie erleichtert, ermöglicht sie uns a) die Konzentration auf den Geist des Textes, b) die Befassung mit anderen Aufgaben. Der Mensch hat ja weißgott Wichtigeres zu tun, als mühsam durch die jeweilige Variante der Rechtschreibung zu stolpern und sich dabei endlos Beulen und Kränkungen einzufangen. Oder als in den Bäumen zu turnen …

Aber die ReformerInnen beteuerten auch, ihnen liege das Wohl unserer SchülerInnen am Herzen. Die Fehlerquote in den Diktaten und Aufsätzen sei viel zu hoch. Und nun – haben sie es geschafft? Ja, nach Auskunft verschiedener Studien, die Dankwart Guratzsch am 7. November 2013 in der Welt anführt, ist es den Reformern tatsächlich gelungen, die Fehlerquote im Schnitt zu verdoppeln. Kurz darauf, am 15. November, gibt Guratzsch im selben Blatt einen kurzen historischen Abriß der Reform und weist dabei die vielgehörte Lüge zurück, es habe ein breites Bedürfnis nach ihr gegeben. Vielmehr sei sie von einem Häuflein fanatischer Linguisten und unter Bemühung des Ost-West-Konfliktes losgetreten worden. Zeitgenössische deutschsprachige SchriftstellerInnen haben sie jedenfalls nie erbeten, wie wahrscheinlich schon hinlänglich die Latte von Namen unter der Frankfurter Erklärung von 1996 beweist.** Aber gerade diese Fachleute wurden nun nicht etwa in die maßgeblichen Gremien der ReformerInnen gebeten. Vielleicht war die AkademikerInnenquote unter den SchriftstellerInnen noch zu niedrig.

Übrigens wird die Liste der UnterzeichnerInnen, aus alphabetischen Gründen, von Ilse Aichinger angeführt, die es allen (Schulbuch-)Verlagen ausdrücklich untersagte, ihre Texte für den Abdruck umzufrisieren. Ob sich die Verlage an dieses Verbot hielten und halten, steht auf einem anderen Blatt. Ich kann es kaum überprüfen, weil ich seit Jahrzehnten keinen Zugang mehr zu unserem Schulsystem habe. Am besten, man schafft es ab, dann erübrigt sich auch die Frage, für welche Rechtschreibfehler unsere Schulen Strafanstalten sein sollen. Der St. Gallener Schullehrer Stefan Stirnemann wies 2013 auf Verfälschungen von »Klassikern« durch sogenannte renommierte Verlage hin.*** Die Stadtbücherei in Bad Dürrheim, Schwabenland, nahm im August 2015 auf Geheiß des Regierungspräsidiums eine deftige »Aussortierungsaktion« vor, bei der es nur noch erstaunt, daß die betreffenden, zu wenig gelesenen oder aber falsch geschriebenen Bücher nicht sofort auf einem Scheiterhaufen landeten. Im Zeichen des erwähnten Ost-West-Konfliktes könnte man sich hier auch an die Stalinisten erinnert fühlen, die nach jeder Kehrtwende in der Generallinie eine rückwirkende Umschreibung der Geschichtsbücher verordneten. Einige Werke brockten sich ihre Ächtung wegen ungebührlichen »Wordings« ein, weil in ihnen beispielsweise »Hexen« oder 10 oder 20 kleine »Negerlein« vorkamen. Aftershavelotion und Wording! Das ehrt die deutsche Sprache ohne Zweifel viel mehr als ein Neger. Solche hirnrissigen Zensurmaß-nahmen fördern mit der Geschichtslosigkeit und Unselbstständigkeit die Dummheit. Sie entsprechen übrigens dem bekannten Verfahren, unliebsame Parteien, zum Beispiel faschistische, zu verbieten, statt den Geist oder die Wirtschaftsweise zu bekämpfen, von denen sie getragen werden.

Wen wundert es, wenn man selbstkritische Äußerungen im Lager der BefürworterInnen und VerwalterInnen der Reform mit der Lupe suchen muß. Bernd Busemann, damals Kultusminister in Niedersachsen, räumte im August 2004 in einer amtlichen Verlautbarung ein: »Sprache und Rechtschreibung sind etwas Fließendes, das man dem Volk nicht mit einem politischen Beschluss verordnen kann.« Er tat es immerhin pflichtschuldig mit Doppel-s. Johanna Wanka, damals Kultusministerin von Brandenburg, ließ sich Ende 2005 von Spiegel-Journalisten**** das Eingeständnis abringen: »Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.« Hans Zehetmair, damals bayerischer Kultusminister, machte sich kürzlich, in der Zeit 31/2015, sogar persönliche Vorwürfe. »Die Nation wäre nicht zerbrochen, wenn wir nichts gemacht hätten. Wir hatten und wir haben drängendere Probleme.« Doch das sind Ausnahmen. Am 16. November 2015 wies Albrecht Müller auf seinen NachDenkSeiten auf den Triumph der Tendenz in unseren westlichen »Demokratien« hin, weder für wichtige Entscheidungen breite Zustimmung zu suchen noch die sich häufenden Fehlentscheidungen in wichtigen Fragen auch nur ansatzweise zu kritisieren, nachdem sie sich als Schlag ins Wasser erwiesen haben, oder gar ihre TrägerInnen zu bestrafen. Ich glaube jedoch, Müller macht sich noch Illusionen. Wenn er hier von »Fehlentscheidungen« spricht, liegt er falsch. Noch nie haben Herrschende zuungunsten des Volkes »Fehler« gemacht. Sie machen dies alles absichtlich. Riester wußte, wen er mit seiner Rente füttert, und Schröder/Fischer wußten, warum der Balkan mit Bomben zertrümmert werden muß. Wer von ihnen Selbstkritiken und Korrekturen erwartet, macht den Bock zum Gärtner. Und die Schafe schauen zu diesem Gärtner empor.

Sind wir schon bei Fehlern, möchte ich die Bemerkung wagen, auch so manche GegnerInnen der Rechtschreib-reform waren und sind nicht gegen sie gefeit. So berufen sie sich auffällig oft auf die »Logik«. Friedrich Georg Jünger (Sprache und Denken, 1962) hat mir dagegen schon vor Jahren eingebläut, Sprache habe keine Logik. Vielmehr sei sie ein Gebilde, das alle Logik, alle Exaktheit und alle Widersprüche umfaßt. Weit davon entfernt, sie zu beseitigen, hilft sie »lediglich«, die Widersprüche aufzudecken. Wahr sind die Phänomene, nie dagegen ihre Namen. Eine Unterbindung mag etwas mit Fesselung zu tun haben; sie kann jedoch genauso gut oben stattfinden. Drei Jahrzehnte, und wir fänden die Oberbindung normal. Gewisse bellende Vierbeiner statt dog oder Matz Hund zu nennen, ist weder natürlich noch logisch oder unlogisch. Es verdankt sich vielmehr einer willkürlichen, wenn auch stets gewachsenen gesellschaftlichen Übereinkunft.

Eignet aber der Sprache keine Logik, dann auch deren Schreibung nicht. Das ist nur logisch. In einer Erläuterung zum Wort »tragisch« versichert mein antiquierter Brockhaus (Band 22 von 1993), es bedeute u.a. »schicksalshaft«. Mein sogar noch etwas älterer Duden (von 1983) schreibt dieses Wort jedoch ohne s, nämlich »schicksalhaft«. Man könnte vermuten, der damalige Brockhaus-Korrektor habe auf die Analogie mit »schicksalsgläubig« oder »schicksalsschwer« vertraut – zwei Wörter, die der genannte Duden in der Tat mit s schreibt. Alle drei Worte sind Adjektive und weisen nach dem fraglichen s oder nicht-s einen Konsonanten auf. Aber Duden, der alte, schreibt sie verschieden. Nun will ich nicht ausschließen, eifrig studierte Linguisten, Grammatiker oder SprachwissenschaftlerInnen wüßten hier eine Regel oder deren Ausnahme aus dem Hut zu zaubern, die auch diese Unregelmäßigkeit »logisch« erklärt. Alle Umtriebe dieser Art halte ich allerdings für von Doktorhüten gekrönte Haarspaltereien. Für mein Empfinden handelt es sich sowohl bei der Sprache wie beim Problem ihrer Schreibung um ein derart komplexes und letztlich unbegreifliches Phänomen, daß es sterblichen Menschen niemals gelingen wird, sie auf eine Weise handhabbar zu machen, die sogar Computer und Roboter begreifen. Das teilen Sprache und Schreibung natürlich mit vielen anderen Phänomenen. Gieße ich aber beispielsweise das Wort »Klima« und meinen Hohn über die Weltreligion des 21. Jahrhunderts aus (die da Kampf dem Klimawandel heißt), komme ich niemals zum Ende. Oder ins Blatt.

Eine Abschweifung muß ich mir noch herausnehmen. Führte ich eben »dog oder Matz oder Hund« an – wo bleiben denn dann die Hündinnen, bitteschön? Auf meiner Webseite behauptete ich bereits 2012, es wäre um 1995 ungleich notwendiger gewesen, Tonnen an Schaffenskraft und viele Millionen DM in den Versuch zu stecken, das grammatische Defizit hinsichtlich der Rolle der Frau zu beheben oder wenigstens das Bewußtsein für dieses Defizit zu schärfen. In dieser Hinsicht herrscht bis zur Stunde tote Hose. Nie ist das im Grunde soziologische Problem der patriarchalen Durchseuchung der deutschen Sprache auch nur annähernd so rege diskutiert worden wie die sogenannte Rechtschreibreform. Aber der Wildwuchs mit allen furchtbaren Binnen-I's, Binnen-Unterstrichen oder Binnen-Löchern gedeiht, und wenn wir so weitermachen, sind wir im 22. Jahrhundert nicht bei der nächsten Weltreligion, vielmehr bei der absoluten Unlesbarkeit angekommen.

* https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/kommentar-chaos-im-schreiben-und-denken-13729172.html
** https://home.uni-leipzig.de/horst-rothe/rechtfra.htm
*** Just Ossietzky bringt inzwischen (Nr. 11/2022, S. 364) auch Friedensworte, die Bertolt Brecht 1952 verfaßte, in reformierter Schreibweise.
**** Jan Fleischhauer / Christoph Schmitz, »Hit und Top, Tipp und Stopp«, Nr. 1/2006: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45168987.html


Nachträgliche Anmerkungen

Zum eben verfluchten »Binnen-I«: Ich pflege in dieser Hinsicht einen persönlichen Kompromiß. Ich bringe das Binnen-I allenfalls in Wort-Situationen, wo es die gewohnte Grammatik nicht geradezu vergewaltigt und den Sprachfluß nicht furchtbar hemmt, und ich bringe es keineswegs mit Vollständigkeitsdrang, vielmehr lediglich, um immer mal wieder an »das andere Geschlecht« und die offene Frage seiner grammatischen Behandlung zu erinnern. Ich sage also unter Umständen »LehrerInnen«, niemals jedoch »LinguistInnen«.

Zur eingangs angeführten Tirade Heike Schmolls gegen die quasi-preußische Ministerialmanier, in der uns die »Reform« von der Kultusbürokratie verordnet wurde, passen ergänzend ein paar Sätze des Historikers und Essayisten Friedrich Dieckmann. Um 1790, bemerkt er in seinem Buch Deutsche Daten von 2009, hätten sich Verleger und Autoren »auf der Basis neuster Sprach-wissenschaft« auf eine vereinheitlichte Rechtschreibung geeinigt, die sich in den folgenden 200 Jahren durchgesetzt und bewährt habe. Diesem »Konsens der Zuständigen« – und nicht umgekehrt – seien die Schulen und Ämter gefolgt. Das umgekehrte, uns von den jüngsten »Reformern« zugemutete Vorgehen wäre, so Dieckmann, »nicht bei Spaniern, Franzosen oder Engländern – in keinem vergleichbaren Kulturvolk« möglich gewesen.

Aber den Deutschen, so wieder von mir, kann man ja sogar »Revolutionen« verordnen, wie uns Bismarck, Ebert und Gauck bewiesen haben.

Verwünschung 2018

Ob reformiert oder nicht – unsere Rechtschreibregeln sind grundsätzlich zum Lachen. Schreibt man das eigentlich groß oder klein? Allein zum »lachen/Lachen« bringt mein Duden (von 1983) Dutzende von Unterscheidungen, die man mühsam nachschlagen und erwägen muß. Neulich versuchte ich die Geheimnisse der je nach »Fällen« und sonstwas unterschiedlichen Beugung (= Formverände-rung) von Eigenschaftswörtern, etwa »groß / größer / des großen«, zu ergründen, wobei es, laut Heringer, Gram-matik und Stil, Ffm 1989, auch noch mal »schwache«, mal »starke« Endungen (und, im Reihungsfalle, »parallele Deklinationen«) gibt – nach zwei Stunden strich ich meine Groß- und Kleinsegel. Ich begreife es einfach nicht. Es ist die Groteske der Zivilisation, der Ausdifferenzierung, der Feinschmeckerei. Auf meiner Schweinsblaseninsel würden sie sich vor Lachen am Boden wälzen, wenn einer oder eine der Inselchronik mit solchen Spitzfindigkeiten zu Leibe rücken wollte. Für die Päpste der Rechtschreibung, führende ReformgegnerInnen eingeschlossen, meistens LehrerInnen, ist die Groteske Pfründe und narzißtischer Jungbrunnen. Bei denen hat die Rechtschreibung die Stelle der »überwundenen« Religion eingenommen. Vergölte man unseren Schülern und Schülerinnen allein die Zeit, die sie aufs Rechtschreiben verwenden, wären sie schon nicht mehr auf Bafög oder Hartz IV angewiesen. Nähme man auch Schadenersatz für all die Kopfschmerzen, Magenkrämpfe, Gewissensqualen hinzu, die sich der Undurchsichtigkeit der orthographischen Phänomene verdanken, hätten sie bereits das »Ruhegeld« eines Kultusministers oder doch wenigstens eines Lehrers, der mal vier Jahre im Bundestag absaß, im Sack.

Gewisse Vereinbarungen sind sicherlich unerläßlich, sonst läse der eine »Hütte«, der andere »Hüte«. Warum aber bekommt nur der Schuhladen einen sogenannten Dehnungslaut, nicht dagegen die Schule? Und aus welchem Grund sollte die Großschreibung beider Einrichtungen unerläßlich sein? Oder die sorgsame Unterscheidung zwischen »manch gutem« und »manch guten« Buch beziehungsweise Büchern, je nach Genus, Kasus, Numeri und so weiter? Oder die Pflicht, zwischen zwei durch »und« verbundenen Hauptsätzen ein Komma zu setzen? Der einzige Grund kann die Forderung nach Verständlichkeit, Klarheit sein. Oder gäbe es weitere unabdingbare Gründe? Aber ich fürchte, mit jener Forderung mischt sich sofort das Bedürfnis nach Auslegung, Abgrenzung, Profilierung, poetischer Gestaltung usw. ein. Um diese Flut einzudämmen, bedarf es dann doch wieder des Katalogs oder Kanons, gerade wie in der Rechtsprechung, die sich bekanntlich unaufhaltsam aufbläht. Wahrscheinlich ist es ein Teufelskreis.

Jedenfalls in der deutschen Sprache, die bekanntlich zu den kompliziertesten Sprachen dieses Planeten zählt. Sind die Chinesen also weniger gebildet und feinfühlig als wir Nachfahren von Kaiser Wilhelm, Max Schmeling und Angela Merkel, soll doch das Chinesische wohltuend »flexionsarm« sein? Oder als die Briten, die, soweit ich weiß, bei den meisten Wörtern und Wortarten völlig auf Beugung verzichten? Bauen wir schnell einen Beispielsatz. »Sie stellte den Krug in den Schatten eines Baumes und griff erneut zu ihrer geliebten Sense. – She placed the pitcher in the shade of a tree and reached for her beloved scythe again.« Ja, das ist natürlich ärgerlich: wählen wir der Fairneß halber auch einen »Er«, müßten wir auch im Englischen nach ihrer/seiner Sense unterscheiden, also nach dem Geschlecht der handelnden Person. Wahrscheinlich ist der Beispielsatz ohnehin zu einfach. Man (!) hätte eine Miniatur aus meinem Reigen »Vor der Natur« nehmen sollen. Ich fürchte jedoch, bei Poetischem oder Philosophischem versagen meine Englischkenntnisse. Vom Esperanto ganz zu schweigen.

Man macht sich übrigens selten klar, wie künstlich bereits das »normale« Deutsche ist. Von Hause aus gab es gar keine deutsche Sprache. Zwischen Ostsee und den südtiroler Alpen wurden vielmehr zahlreiche germanische Mundarten gesprochen, die dem jeweiligen Fremden schlicht ein Rätsel waren. Noch heute ist ja eine Verständi-gung zwischen einem mecklenburgischen und einem allgäuer Bauern ohne Bemühung des »Hochdeutschen« oder eben des Englischen nahezu unmöglich. Im Zuge des Mittelalters und der anbrechenden Neuzeit wurden diese Dialekte durch das sogenannte Hochdeutsche wie durch eine frühe Dampfwalze plattgemacht. Das »durchaus künstlich konstruierte Idiom« des Hochdeutschen war ein Akt der Globallisierung und der Folter. Es führte millionen germanische SchülerInnen geradewegs in die »Hölle der Rechtschreibung und Grammatik«, wie schon einer vor bald 90 Jahren fluchte.*****

Mit meinem Ausflug ins Englische hat sich auch noch die leidige Geschlechterfrage in die kurze Erörterung eingeschlichen. Noch vor wenigen Jahrzehnten wurde der Deutsche nicht von ihr gequält. Der Schriftsteller und Kunstkritiker Karl Scheffler erwähnt in seinem 1946 veröffentlichten Lebensrückblick Die fetten und die mageren Jahre, zu Zeiten Kaiser Wilhelms habe im Berliner Westend von Freitag auf Samstag »jeder fünfte Mann« das schmale braune Heft von Hardens Wochenschrift Zukunft in der Hand gehalten. Die emanzipierten Damen mit den kecken Ponyfrisuren hielten es vielleicht zwischen ihren Füßen. Im 1967 veröffent-lichten Roman Licht über weißen Felsen, der in einem US-IndianerInnen-Reservat spielt, dürfen Farmerin Mary Booth »Ratsmann« für Ökonomie und Studentin Victoria »Dichter« werden, ohne sich den Widerspruch der Autorin Liselotte Welskopf-Henrich einzuhandeln. Sie lebte in der DDR. 1991 (Band 15) versichert der wiedervereinigte Brockhaus nebelhaft, Emmy Noether sei als »die bedeutendste Mathematikerin« des 20. Jahrhunderts anerkannt. Da dürfen wir rätseln, ob hier die männlichen Mathematiker schon einbezogen sind, was Noethers Bedeutung natürlich enorm erhöhte. Diesen Nebel darf sich heute zumindest in kritischen Kreisen keiner oder keine mehr leisten – und sei es, er oder sie mutierte dadurch zum Umstandskrämer oder zum steilen Zahn (Indianer- und MathematikerInnen).

***** Walther Borgius: Die Schule – ein Frevel an der Jugend, Berlin 1930, Teil II »Grundsätzliches«, Kapitel »Die deutsche Sprache«



A-13 Ein neuerlicher Fall Unbefleckter Empfängnis (Um 2007, →Kolomak)

So die Überschrift eines taz-Artikels vom 8. September 1980, den ich getrost zusammenfassen kann, weil er mir ohnehin viel zu lang geraten war. Eine liebenswerte Bergmannstochter hatte sich zu spät von mir scheiden lassen. Allerdings nur knapp; es ging lediglich um 48 Stunden. Wegen eines unerwarteten vorzeitigen Fruchtblasensprungs fiel die unschuldige winzige Sara, die C. mit ihrem neuen Lebensgefährten M. gemacht hatte, mit jenen 48 Stunden in einen Zeitraum von 302 Tagen, den das BGB hinter sämtliche rechtskräftige Scheidungsurteile geschaltet hat, um gescheiterte Ehemänner für möglichen verspäteten Nachwuchs haftbar machen zu können. Sara war, im November 1979, schon nach 300 Tagen ausgeschlüpft. Somit hatte ich Taugenichts, der sich nur mühsam am Hals seiner Gitarre über Wasser halten konnte, unversehens eine Tochter namens Sara mit allen üblichen Rechten und Pflichten.

Verständlicherweise lehnte ich alles ab. Und da C. und M. auf meiner Seite standen, sah ich der Ausfechtung dieses Falles zunächst recht gelassen entgegen. Sie hatten eidesstattlich erklärt, Sara gemeinsam am Ufer der Ruhr gezeugt zu haben; C.s Ehemaliger H., seit Jahren wohnhaft in Westberlin, sei nicht zugegen gewesen. Außerdem meinte ich noch ein unschlagbares As in Form zweier Bescheinigungen im Ärmel zu haben, die mir im Herbst 1977 – zwei Jahre vor Saras Geburt – von einem niederländischen und einem Kreuzberger Arzt ausgestellt worden waren. Danach war ich in Amsterdam fachkundig »sterilisiert« und nachgewiesenermaßen zeugungsunfähig gemacht worden. Der Nachweis, den ich mir in einer Toilette jenes Kreuzberger Arztes abzuringen hatte, brachte mir übrigens als Nebenprodukt ein flottes Liedchen ein. In meiner Einfalt hatte ich mir weiter keine Gedanken darüber gemacht, auf welchem Wege sich wohl die Harmlosigkeit der nach wie vor in mir lauernden Samenflüssigkeit überprüfen lasse. Deshalb überrum-pelten mich die weiblichen Sprechstundenhilfen nicht schlecht, als sie mir ein leeres Glas in die Hand drückten und auf die Klotür nickten. Bei den Kneipenhinterzimmer-auftritten von Trotz & Träume sorgte mein Titel »Verdammtes Spermiogramm« in der Regel für Heiterkeit.

Nur das Rudel aus Bochumer Gerichtskasseneintreibern und Richtern (beiderlei Geschlechts) zeigte sich von all dem über rund zwei Jahre hinweg nicht die Bohne beeindruckt. Sie setzten alles daran, mich trotz meiner Sterilität in Weißglut zu bringen. So hatte ich C. zuliebe zunächst das Sorgerecht an die Mutter abgetreten – prompt sollte ich auch noch Gebühren für diese Übertragung zahlen! An der grotesken Rechtslage rüttelte dieser Akt ohnehin nicht, wie mir bald dämmern sollte. Diesbezüglich beriefen sich meine WidersacherInnen selbstverständlich auf ihre Vorschriften, in diesem Fall die Paragraphen 1591–93 BGB. In einem Gerichtsbeschluß vom Sommer 1980 unterstrichen sie dabei die staatstragende Rolle der Buchstaben-, Fristen-, Zahlengläubigkeit: »Darauf, ob der Beteiligte zu 2.) [das war ich] tatsächlich der Erzeuger des Kindes sein kann, kommt es nicht an. Die kraft Gesetzes bestehende Vermutung seiner Vaterschaft kann nur durch ein im Rahmen eines Ehelichkeitsanfechtungsverfahrens ergehendes Feststellungsurteil beseitigt werden. Das gilt selbst dann, wenn sich alle Beteiligten über die Nichtehelichkeit des Kindes einig sind.«

Somit blieb mir nur der liebe Klageweg. Im Sommer 1982 sprach mich das Bochumer Amtsgericht von allen Verpflichtungen frei, weil ich wohl doch nicht für das Riesenbaby, das offenbar zwei Jahre lang in C.s Bauch eingekerkert gewesen war, verantwortlich gemacht werden konnte. Da Sara die Beklagte war und damals noch meinen Namen trug, kann ich mich heute immerhin damit brüsten, ich hätte schon einmal meine eigene Tochter vor Gericht gezerrt. Nach dem Urteilsspruch wurde sie standesamtlich umbenannt. Auch C. heißt seit Jahrzehnten nicht mehr R.

Jene zitierte Perle der Gerichtsprosa strahlt ja wohl unmißverständlich aus: falls es noch welchen hat, darf das Volk den gesunden Menschenverstand getrost in der Pfeife rauchen. Nur auf das Gesetz kommt es an. Folterknechte oder Soldaten dürfen auch sagen: auf den Befehl. Carl Zuckmayer erwähnt in seinen Erinnerungen, wie er sich bei Kriegsende 1918 als Leutnant mit der roten Armbinde des Arbeiter- und Soldatenrates in Begleitung seiner Mutter über Tage hinweg von ihrer Heimatstadt Mainz nach Bremen durchzuschlagen hat, wo Bruder Eduard schwer verwundet und bewegungsunfähig in einem Lazarett liegt. Dank ihrer Zähigkeit treiben sie sogar einen Arzt auf, der die dringend erforderliche Operation durchführt. Eduard wird gerettet. Als Pointe erfahren wir jedoch, der Zug, der Eduard von Frankreich nach Deutschland brachte, habe bei seiner schneckenhaften und für Eduard qualvollen Fahrt Richtung Bremen auch in Mainz Aufenthalt gehabt. Vom Bahnhof zu Eduards Elternhaus wären es mit der Trage keine fünf Minuten gewesen. Doch so sehr er die Sanitäter auch anflehte – sie weigerten sich ihn auszuladen, weil dafür »keine Order« vorlag.

Ein Kriegsende später wiederum kamen Tausende von Faschisten aller Ränge ungeschoren davon, weil sie sich ganz im Sinne dieser Buchstabengläubigkeit auf ihre »Befehle« berufen konnten. Die Frage von Gut / Böse / Willensfreiheit / Gewissen hatte weniger Bedeutung als ein Komma. Wer diese beschämenden Vorgänge nicht kennen, glauben oder sie einfach nur vergessen haben sollte, kann sie beispielsweise in Büchern des Bochumer Hochschul-lehrers Norbert Frei nachlesen, der sie »moralisch unerträglich, geradezu infam« nennt. Diese Lektüre-empfehlung gilt auch für das dortige Amtsgericht.



A-14 Zählen (2011, →Konrad)

Das Zählen ist der einzige irdische Bereich, in dem die Menschen immer und stets problemlos zu Übereinstim-mung kommen. Hebe ich meine gespreizte Hand, zweifelt niemand daran, daß sie fünf Finger besitzt. Betreibe ich, wegen der Pelze, eine Siebenschläferfarm, werde ich mich selbst mit einem Inspektor des Landwirtschaftsministe-riums (das mich subventioniert) darauf einigen können, ich hielte in meinen Käfigen derzeit 496 Tierchen, denen ich früher oder später das Fell über die Ohren zu ziehen gedächte.

Allerdings muß die Voraussetzung einer klaren Eingrenzung oder Definition der zu zählenden Objekte gegeben sein. Eine Zaunlatte ist eine Zaunlatte, das weiß jeder – somit zählen wir an Ihrem Garten 187 Latten. Auch bei dem Inspektor und mir dürfte gesichert sein, daß wir unter »Siebenschläfern« dieselbe Tierart verstehen. Heikel wird es mitunter bei Demonstrationen. Die Anmelder-Innen und die Polizei kommen beim Zählen der TeilnehmerInnen oft zu unterschiedlichen Ergebnissen, weil AusländerInnen und Großmütter für die Polizei nicht unter die Demonstranten, vielmehr unter die Abschiebekandidaten der betreffenden Stadt fallen. In Stuttgart müssen besonders viele AusländerInnen und Großmütter leben, wie sich im Herbst 2010 bei den massenhaften Protesten gegen das Bahn- und Wahnprojekt S 21 zeigte: die Polizei zählte sie nie mit.

Eine Erklärung der Wurzeln des Zählens wie auch seiner Verläßlichkeit ist mir in noch keinem klugen Buch begegnet. Sollten sie als ähnlich selbstverständlich erachtet werden wie das Zählen selbst? Ich nehme an, sie stecken in unserem Körper, der sich vor einigen Hunderttausend Jahren zum Aufrechten Gang entschlossen hat. Die erste Eins sind wir. Betrüblicherweise können wir uns sogar einsam fühlen, wenn wir inmitten einer Horde leben. Die Horde besteht aus 25 oder aus knapp sieben Milliarden Einzigartigen, je nach dem. Damals, als es noch eher 25 waren, fing die Sache mit der Abgrenzung und dem Mehr an. Die Freunde mußten von den Feinden unterschieden werden; die Jagd vom Ackerbau; der Krieg vom Frieden. Zählen verliest: »die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen«, wie es in einem bekannten Märchen heißt. Was überwiegt? stand jetzt die Frage. Welche Seite ist stärker? Nicht nur Linsen, auch Tote und Nochwehr-tüchtige können ja gezählt werden.

Wie Roger Caillois in seinem gut 50 Jahre alten Klassiker über Die Spiele und die Menschen andeutet, fielen die Zahlen nicht gleich so brutal vom Himmel oder von den Pyramiden, wie sie uns im Kapitalismus zusetzen. Die ersten Pythagoräer hätten beispielsweise noch konkrete Zahlen benutzt. Diese Zahlen besaßen Form und Gestalt, etwa von Dreiecken oder Achtecken. Außerdem hätten ihre Zahlen Sequenzen gebildet, »die durch die Beziehung der drei musikalischen Hauptakkorde beherrscht wurden. Schließlich waren sie mit unterschiedlichen Kräften begabt. Die 3 entsprach der Ehe, die 4 der Gerechtigkeit, die 7 der Gelegenheit …« Noch heute wittern die Siebenschläfer jede Chance, eine kostenlose Unterkunft bei einem Menschen zu finden, den sie terrorisieren dürfen. Was die Zahlen verschärft, ist ihr Abstraktionsgrad. Der Nato-Bomberpilot, der dem libyschen Volk die Freiheit bringt, bekommt die verbrannten oder fehlenden Gesichter der 27 Toten, die er auf dem Gewissen hat, nie zu sehen. Für ihn sind sie Statistik.

Die Unangefochtenheit des Zählens ist umso bedauer-licher, als das Zählen in einer nichtkapitalistischen Gesell-schaft völlig überflüssig wäre. Wird nicht mit dem Ziel produziert, zu tauschen und aufgrund dieser Transaktion einen Gewinn zu erzielen – was sollte ich da noch zählen? In einer egalitären Gesellschaft (die kein Privateigentum an Produktionsmitteln kennt) wird geteilt statt getauscht. Der Gedanke des Äquivalents (für die drei Sieben-schläferpelze erwarten wir sieben Pfund Kirschen) ist ausgestorben. Selbst für die Planwirtschaft, die DDR-BürgerInnen genossen oder verwünschten, hat die egalitäre Gesellschaft keinen Bedarf. In jener waren das Zählen und das Züchtigen selbstverständlich unverzicht-bar. Wer die Pläne gestaltet und verwaltet, beherrscht die Menschen.

Die Menschen, wie sie sich unsereins erhofft, nehmen ihre Belange in die eigenen Hände und peilen »Bedarf« über den Daumen an. Sie sind bescheiden, umsichtig, großzügig, hilfsbereit. Mangelt es in einem Jahr an Kirschen, geben sie sich mit Kartoffeln zufrieden. Geht der benachbarten Lebensgemeinschaft der Traktor kaputt, kommen sie entweder mit ihrem eigenen Traktor oder in Kompaniestärke angerückt, um die Kartoffellese zu gewährleisten. An wessen Tisch in der Arbeitspause Streuselkuchen gegessen wird, und wer diesen Kuchen gebacken hat, ist unwesentlich, denn allen gehört alles. Das Zählen ordnet zu. Das Zählen spaltet. Es ist die furchtbare Waffe der Eigennützigen.



A-15 Zollstock (2007, →Konrad)

Die meisten HandwerkerInnen würden sich nackt fühlen, ragte ihnen nicht aus irgendeiner Tasche ein Zollstock heraus. Der Diplomatenkoffer meines letzten Chefs – ein Raumausstattermeister – hieß im Belegschaftsjargon Ausmeßkoffer. Er hatte stets drei Zollstöcke zu enthalten, weil der Chef mindestens einen davon garantiert beim Kunden liegen ließ. Damit drohte er nichts Geringeres als seine Seele zu verlieren.

Der Bodenverleger wird vielleicht einwenden, bevor er Linoleum bestelle, komme er nicht umhin, das betreffende Zimmer genau auszumessen. Das trifft sicherlich zu – solange wir Geldwirtschaft haben und Linoleum sündhaft teuer ist. Wenn nicht, täte es doch eigentlich auch ein Abmessen mit Schritt und Fuß. Was die Volkswirtschaft allein durch die Einstellung der Produktion von Zollstöcken, Bandmaßen und Laserstrahl-Meßgeräten einsparte! Da fielen ein paar Fuß Linoleumverschnitt gar nicht mehr ins Gewicht.

Das gleiche gilt selbstverständlich auch für andere Meßgeräte wie beispielsweise Waagen. In den vier zentralen Depots der thüringischen Zwergrepublik Konräteslust, wo ver- und geteilt statt verkauft wird, ist es völlig wurscht, ob einer für seine Wohngemeinschaft drei oder vier oder 3,27 Pfund braunen Rohrzucker mitnimmt. »Bummelt« er auf seinem Fußweg zum Depot, bricht die Republik auch nicht zusammen. Wir dagegen beten die Beschleunigung und infolgedessen Uhren an. Um eine Wiese abzuschreiten, brauche ich Zeit. Da aber Zeit Geld geworden ist, nehme ich das Bandmaß oder den Laserstrahl – deren Erfindung, Entwicklung und Herstellung ihrerseits Zeit kostet. Alle antiquierten Maßeinheiten waren dem menschlichen Körper oder dessen sinnlichem Wirkungsbereich entlehnt: Tagesritt, Elle, Fuß, Zoll. Ein Zoll maß ungefähr eine Daumenbreite. Aber auch Sack, Faß, Eimer. Jeder wußte, wie schwer ein Eimer mit Wasser oder Getreidekörnern war.

Nun sehe ich durchaus ein, daß man die Höhe eines zu errichtenden Wolkenkratzers nicht in Ellen und den Bedarf an Beton nicht in Fässern angeben kann. Sehe ich aber den Wolkenkratzer ein? Ist er beherrschbar? Ist er unverzichtbar? Entsprechendes gilt für Errungenschaften der Verkleinerungskunst, etwa die Armbanduhr, das Handy oder das Speicherkärtchen im Format eines Fingernagels. Sowohl diese Miniaturen wie der Wolkenkratzer und der Genfer »Teilchenbeschleuniger« sind Ausgeburten krankhaft quantitativen Denkens. Sie stehen und fallen mit genauster Meßkunst, während es bei den Balken und Pfosten des Germanischen Langhauses aus der Jungsteinzeit und noch der Bauernhäuser unseres Mittelalters auf ein paar Zentimeter nicht ankam. Das ließ sich ausgleichen – und wenn nicht, stürzte das Haus auch nicht ein. Es war lediglich geringfügig schief.

Das gleiche gilt für Möbel oder Leiterwagen. Heute jedoch kommt es auf Bruchteile eines Millimeters an, weil die Quantifizierung aller Produktion zur Freude der Fabrikanten und AktienbesitzerInnen die Normierung aller Produkte ermöglichte; und umgekehrt. Nur das Normierte ist wiederholbar. Nur das Normierte gestattet Massenproduktion. Nur das Normierte machte uns zu einer grauen Masse, in der ein jeder gegen jeden anderen austauschbar ist – gerade so wie die Ersatzteile der Maschinen, deren Anhängsel wir geworden sind. Nur der normierte Mensch kann nach Strich und Faden belogen und gnadenlos ausgenutzt werden. Er läuft reibungslos – mit.



A-16 Unendlichkeit (Um 2000, Tagebucheintrag Botts aus »Schnee von gestern«; →Krieger)

Koestler schreibt, mit 14 sei er auf das Problem der Unendlichkeit gestoßen, das ihm noch lange zu schaffen machen sollte. Mir erging es kaum anders. Als Knabe nahm ich an einem Zeltlager der Jungen Pioniere im Harz teil. Am östlichen Dorfrand gab es einen Anger, auf dem ich zuweilen in der Abenddämmerung hockte, um das Verschwinden der Sonne hinter den jenseits gelegenen Wäldern zu verfolgen. Der Sonnenuntergang hatte sich nämlich als angemessene Kulisse für meine Niedergeschlagenheit herausgestellt. Möglicherweise handelte es sich, genauer gesagt, um Selbstmitleid. So hatte ich keinen »richtigen« Vater vorzuweisen. Oder ich ahnte, trotz meines Ehrgeizes – ich war schon zum Gruppenratsvorsitzenden aufgestiegen – den Aufgaben und Positionen, die ich mir anmaßte, leider nicht ganz gewachsen zu sein; hier drohte Überforderung. Vielleicht kam auch eine Zurückweisung seitens des zarten, blonden Knaben Clemens hinzu, in dessen Schlafsack man liebend gern gekrochen wäre. Aber dies alles ist hinreichend beschrieben worden. Hier geht es um Unendlichkeit.

Von Knabenleid erfüllt, sah ich den roten Sonnenball hinter dem Saum der Wälder versinken. Was lag dahinter? Vielleicht das Meer. Dann kamen der Horizont und vermutlich der Mond. Was aber lag hinter diesem? Der Weltraum. Angeblich hatte er noch unzählige andere Sonnen, unzählige andere Milchstraßen, ungeheuerliche Entfernungen zu bieten. Aber was kam dann? Eine riesige Wand – und dann nichts mehr? An dieser Stelle hakte es regelmäßig in mir aus; das war geradezu hörbar. Weiter konnte ich nicht mehr denken. Und das war bestürzend: man fiel in so etwas wie ein Loch, ohne sich von diesem Loch die geringste Vorstellung machen zu können. Denn zu einem Loch gehört ja wieder irgendein Drumherum. Wo aber sollte dieses nun wieder enden? Um mit Koestler zu sprechen, war es eine »unerträgliche Tortur für den Verstand«.

Trotzdem läßt sich noch ein wenig dazu sagen. Beide Fälle muten uns »nichts« zu. Wie es im Loch hinter der Weltraumwand nichts gibt, besagt ja die Rede von der Unendlichkeit des Weltraums, es gebe nichts anderes. Beides übersteigt unsere Vorstellungskraft. Nur muß man leider zugeben: ohne das Nichts geht es offenbar auch nicht. Dringend auf »etwas« angewiesen, können wir dieses Etwas (das Sein) nur behaupten oder leben in Abgrenzung zu eben dem Nichtsein. Das Nichtsein ist natürlich der Tod. Oder »die absolute Kälte des Weltraums«, wie Canetti metaphorisch polterte. Und wir ängstigen uns vor diesem Phänomen, obwohl oder vielmehr weil wir nicht das geringste von ihm wissen. Denn Gefahren, die ich kenne, sind bereits halb entschärft. Legt mir Zülch einen Snooker, weiß ich, was er damit beabsichtigt, und ich kann versuchen, seine finsteren Pläne zu durchkreuzen. Was jedoch sollte ich gegen den Tod tun? Nichts.
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