Dienstag, 21. November 2023
Risse im Brockhaus 2

Wie viele schon aus dem Alten Testament wissen, streute Gott eines Tages 10 ägyptische Plagen aus, darunter Stechmücken und undurchdringliche Finsternis, um so vom Pharao »die Freilassung der Israeliten« zu erzwingen. Das weiß sogar Brockhaus. Wir sehen an dieser Maß-nahme, der Allmächtige ging stets »realistisch« zu Werke. Normalerweise hätte es ja auch ein Wimpernschlag von ihm getan, wie ich schon einmal in einem Zwerglied bemerkte. Er wollte jedoch überzeugen – und dafür bedarf es eben handfester Argumente, die sogar ein Ziegenhirt versteht.

Was Brockhaus zumindest streckenweise nicht in seiner ganzen Tragweite erfaßt, ist eine seltsame Umkehrung jenes Musters, die seit 1933 in Germanien beobachtet werden konnte. Jetzt ging es darum, die Israeliten, die sich eigentlich im Deutschen Reich pudelwohl fühlten, zum freiwilligen Auszug zu bewegen. Die Pharaonen Abs, Borsig und Hitler wollten die jüdischen Konkurrenten vom Hals haben. So mobilisierten sie Millionen von arischen Kaufleuten und Wissenschaftlern, die den Auszugswillen der jüdischen MitbürgerInnen zumindest zu dulden, oft aber auch noch zu fördern wußten. In hartnäckigen Fällen wanderten die Auszugsunwilligen ins KZ.

Hier bietet es sich an, auf den Chemiker Kurt Alder (1902–58) vorzugreifen, den Brockhaus wieder sehr kurzangebunden behandelt. 1934–36 sei er Professor in Kiel, bis 1940 Forschungsleiter der IG Farben in Leverkusen gewesen. Dann wechselte er auf einen Lehrstuhl an der Uni Köln. 1950 bekam er mit O. Diels den Nobelpreis. Das ist alles.

Wenn der Mann so harmlos war, wie man nun denken könnte, hat er vielleicht in Leverkusen mit Hermann Josef Abs zuweilen in der Kantine Schach gespielt, saß der uns schon bekannte Bankier doch im Aufsichtsrat der einträglichen Farbenfabrik. Die Professur im nahen Köln scheint Alder bis zu einem tödlichen Herzinfarkt gehalten zu haben. Er heimste weiter Ehrungen ein, darunter einen Mondkrater (1979), später auch noch eine Kölner Straße. Die Kurt-Alder-Stiftung der Universität zu Köln vergibt seit 1994 einen Preis an Nachwuchsforscher zu Alders Gedenken.

In einem kritischen, 2002 veröffentlichten Porträt bemerken die Autoren Alexander Fladerer und Reinhard Strey einleitend: »Die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland war auch für die Chemie ein dunkles Kapitel: Die chemische Industrie wirkte bei Hitlers Machtergrei-fung mit. KZ-Häftlinge wurden in Fabriken der I.G. Farbenindustrie AG ausgebeutet. Die Emigration jüdischer und antifaschistischer Wissenschaftler und die Begünsti-gung von Personen, die dem Nationalsozialismus nahe standen, beeinflussten die Forschung. Der unpolitische Forscher Kurt Alder hat in dieser Zeit dennoch Karriere gemacht.«

Im Artikel selber* betonen die Autoren allerdings, Alder sei nie Parteimitglied gewesen. Vielmehr hätten ihm Parteibonzen wiederholt zu geringe Begeisterung für das »Dritte Reich« vorgeworfen. Auch bei der Bewerbung um die Kölner Professur wurden ihm zunächst nachweislich Knüppel zwischen die Beine geworfen. Ein Regierungsrat Demmel verhalf ihm dann doch zu dem begehrten Lehrstuhl. Nachträglich hält ihm Werner Jung vom Kölner NS-Dokumentationszentrum zugute, man könne Alder aus seiner Mitgliedschaft in verschiedenen NS-Organisationen »keinen persönlichen Vorwurf« machen, da doch just darin »eine ganze Generation eine Form des beruflichen und persönlichen Uberlebens gesehen« habe. Ja, das ist leider richtig – und für Einfältige wie mich gerade das Problem. Da paßt sich eben jeder an, so gut er kann. Nur ergattert nicht jeder einen Lehrstuhl oder einen Nobelpreis oder wenigstens ein Straßenschild.

Zum Indologen Ludwig Alsdorf (1904–78) teilt uns Brockhaus noch verwaschener mit, er habe »an den Universitäten Berlin und Hamburg« gewirkt. Nach anderen Quellen tat er es leider als Nazi. Zeitweise war er sogar im Sonderreferat Indien des faschistisch befehligten Auswärtigen Amtes tätig. Laut Wikipedia hielt der Sohn eines Pfarrers, nun Prof. Dr. im akademischen Grad, noch bis 1978 Vorlesungen. Dann sei er, auf Reisen in Ceylon, nach einem Insektenstich gestorben. Da hatte irgend so ein Giftzwerg seinen akademischen Grad überlistet.

* »Kurt Alder – Karriere mit Hindernissen«, Nachrichten aus der Chemie, Band 50 / Heft 5, Mai 2002, S. 584–89



Für das Literaturverzeichnis des Brockhaus-Eintrages Akt kam ich zu spät. Ich konnte meinen Essay »Die Kunst des Wartens« erst um 2000 in den Zeitschriften Muschel-haufen (Viersen) und Der Rabe (Zürich) veröffentlichen. Untertitel: Eine Meditation über das Aktmodell. Eine leicht gekürzte Fassung kann ich auf Wunsch verschicken. Ich vermute nämlich stark, bis zur Stunde wird man vergleichbare nennenswerte Arbeiten über die Schützen Arsch des Aktzeichnens oder Aktbildhauerns kaum finden. Gewiß ist mir diese knapp 10seitige Betrachtung damals im Tonfall etwas zu feierlich geraten, aber aufschlußreich und anregend dürfte sie nach wie vor sein.

Nach der Auflösung unserer Musikgruppe Trotz & Träume im Jahr 1982 ernährte ich mich (in Westberlin) 10 Jahre lang als hauptberufliches (»selbstständig tätiges«) Künstlermodell. Neben der Kunsthochschule wirkte ich auch an zahlreichen Volkshochschulen, einigen privaten Kunstschulen und am Lette-Verein. Ich wurde auch von Künstlern privat engagiert. Meine wichtigsten, mir liebsten Kunden waren Silke Kruse, Günter Scherbarth, Jo Hagège, André Bednarczik und Fritz Weigle, genannt F. W. Bernstein. Dagegen hatte ich mit Robert Gernhardt erst später in literarischen Belangen zu tun. Er hievte zum Beispiel jene »Meditation« in das renommierte Züricher Raben-Taschenbuch, weil er sie einfach für bemerkenswert hielt. Er war ja auch Zeichner und Maler. Den entschei-denden Anstoß zu einer essayistischen Auseinanderset-zung mit meinem eher ungewöhnlichen Brotberuf, der mit allerlei Belastungen verbunden war, verdanke ich dem Lyriker und Übersetzer Klaus-Jürgen Liedtke, der damals zum Trotz & Träume-Freundeskreis gehörte.

Dem Finanzamt Wedding in Westberlin waren um 1980 lediglich die Modelle aus den 1-Zeilen-Inseraten von B.Z. oder Bild und die Modelle von Yil Sander oder Wolfgang Joop geläufig. Wir einigten uns darauf, ich sei als Künstlermodell tätig. Die gewaltigen Einkünfte aus meiner merkwürdigen »unternehmerischen« Tätigkeit beliefen sich auf durchschnittlich 1.200 Mark pro Monat. Mein Sachbearbeiter schüttelte den Kopf: »Davon kann keiner leben.« Das hätte er 20 Jahre später einmal den Millionen Opfern der staatlichen Erwerbslosen- und Rentenpolitik erzählen sollen – die rotgrüne Regierung hätte ihn sofort für einen Friedenseinsatz in Jugoslawien oder Afghanistan rekrutiert!

Er aber schob mir meine Steuerklärung mit der Aufforderung wieder zu: »Dann beweisen Sie das erst mal!« Den Trend zur Umkehr der Beweislast witternd, schob ich meine ausgefüllten Formulare selbstverständlich sofort zurück – er könne mir gern beweisen, daß man von 1.200 Mark nicht leben kann. »Schlagen Sie mich zum Beispiel tot oder schicken Sie mir ein Rudel Schnüffler ins Haus, ich werde ihnen sämtliche Kleiderschränke öffnen.«

Wie sich versteht, hätten sie in meinem einzigen Kleiderschrank kaum etwas hängen gesehen. Trotzdem hätte ich mich nicht als »Aktmodell« registrieren lassen können. Zum einen nannten sich auch einige Huren oder Strichjungen Aktmodelle, zum anderen stand ich gar nicht so selten durchaus bekleidet Modell, etwa für Porträts, Bewegungsstudien oder Figurinen. Für die angehenden ModedesignerInnen zu arbeiten, entpuppte sich sogar als meine härteste Belastungsprobe. Da ich mir die jeweils hoffähigen Klamotten weder leisten konnte noch wollte, wurde ich vielbelächelt. Ich hielt mich an meiner anderweitigen Beliebtheit als Aktmodell fest. Ich hatte es nicht nötig, meine leibhaftige Erscheinung mit ihren aberwitzigen Fähnchen zu verbrämen. Man könnte hier mehr als nur Stolz wittern, nämlich Arroganz. In der Tat war ich nicht frei von ihr, wußte es aber immerhin. So hielt ich mich immer strenger dazu an, meine angenehme Gestalt und meinen Sinn für Bewegungsabläufe nicht etwa als mein Verdienst zu begreifen. Ich verdiente ein paar schäbige Mäuse mit Geschenken des Zufalls – mehr nicht. Wenn sich in meiner ganzen Persönlichkeit im übrigen das »Sparsame« (auch asketisch oder spartanisch genannt) immer stärker ausprägte, entsprach es nur dieser Haltung. Der schlichte Mensch – und der schlichte Text wurden meine Religion. Meine ersten nennenswerten literarischen oder journalistischen Arbeiten erschienen erst während meiner Zeit als Raumausstattergeselle, um 1998. Im Frühjahr 2000 begann dann meine Kommunezeit.

Nach meinem Wirken als angeblicher »Frontman« der Musikgruppe stand mein Draufgängertum zunehmend auf tönernen Füßen. Unruhe, Ängstlichkeit, Selbstzweifel und ein wachsendes Bewußtsein meiner Unzulänglichkeit trugen zu meinem Rückzug aus dem Modell-Geschäft bei. Ich wollte mich nicht länger ausstellen. Ich floh dem Brennpunkt geballter Aufmerksamkeit – es schmerzte zu sehr. Als Schriftsteller beobachte ich.



Der ungewöhnlich helle Stern Aldebaran weise einen 36fachen Sonnendurchmesser auf, teilt Brockhaus vor knapp 40 Jahren mit. Inzwischen scheint dieser sogenannte »Rote Riese« im Sternbild Stier schon wieder deutlich gewachsen zu sein, spricht doch Wikipedia von einem »nahezu 45fachen« Sonnendurchmesser. Er leuchte sage und schreibe 150 mal heller als unsere Sonne. Allerdings ist er 67 Lichtjahre von uns entfernt. Das sind schlappe 633,82 Billionen Kilometer. Trotzdem ist er noch zu sehen – selbst ohne Fernrohr, versichern mehrere Quellen. Ich selber schlafe ja nachts, sehe ihn also nie.

Wie »Rote Riesen« oder »Schwarze Löcher« wirklich beschaffen sind, falls es sie überhaupt gibt, weiß natürlich kein Mensch. Sie sichern freilich viele tausend astronomische Arbeitsplätze. Überdies könnte sich ein nachdenklicher Bewohner des Berliner Regierungsviertels fragen, ob wir nicht naheliegendere und brennendere Schwarze Löcher hätten, beispielsweise in Nahost. In diesem Fall wären lediglich rund 3.500 Kilometer zu überwinden.

Die US-Astronomin Adelaide Ames (1900–32) steht nicht im Brockhaus. Wer weiß, was sie noch alles entdeckt hätte. Sie war seit 1923 im Observatorium der Harvard-Universität in Cambridge, Massachusetts, angestellt. Im Sommer 1932 erholte sich die laut Fotos anscheinend bildhübsche, dunkelhaarige junge Wissenschaftlerin, Tochter eines höheren Offiziers der US-Army, von ihrer Jagd nach Galaxien in den Sternbildern Coma und Virgo in einem Camp am Squam Lake, New Hampshire. Bei einer Kanufahrt mit einer Kameradin Ende Juni kenterte das Boot, heißt es im Magazin Popular Astronomy aus demselben Jahr.* Warum, verrät das Magazin nicht; die Frage nach dem Wetter oder dem Gemütszustand der Kanuten war ihm zu abwegig. Immerhin weiß es, beide Frauen waren als gute Schwimmerinnen bekannt. So strebten sie gen Seeufer, die Kameradin voran. Als sich diese einmal umwandte, sei die 32jährige Astronomin nicht mehr dagewesen, so das Magazin. Weitere Zeugen, außer der namenlosen Begleiterin, werden nicht erwähnt. Ames Leichnam sei erst nach tagelanger Suche aus dem See gefischt worden. Wurde er untersucht? Ich nehme es ja an; nur steht mir die damalige Tagespresse, New York Times eingeschlossen, nicht zu Verfügung. Als US-Krimiautor hätte ich wahrscheinlich Unheil gewittert.

** »Research Astronomer Lost by Drowning«, Vol. 40, 1932, p. 448/49



Zur italienischen Opernsängerin Lucia Aliberti aus Messina teilt Brockhaus in Klammern mit, das Geburtsdatum werde von ihr nicht angegeben. Demnach weilte sie 1986 noch unter uns. Ich glaube fast, hier liegt ein doppeltes Armutszeugnis vor. In dem einen wird dem Sopran jede Menge Eitelkeit, Minderwertigkeitsgefühl und Dummheit bescheinigt; in dem anderen dem Universallexikon nur das letzte, die Dummheit. Denn es wäre ja wohl gelacht, wenn sich das Geburtsjahr eines angehenden Opernstars nicht beschaffen ließe. Aber die eine Dummheit nimmt eben Rücksicht auf die andere Dummheit. Schlägt man heute im Internet nach, springt einem die Jahreszahl 1957 geradezu ins Gesicht. Demnach geht die Künstlerin, die sich Fotografien zufolge für unwiderstehlich attraktiv zu halten scheint, inzwischen auf die 70 zu. Hoffentlich haben Sie 2008 ihren Auftritt in der Dresdener Semperoper nicht verpaßt.



Der berühmte russisch-französische Schachspieler Alexander Aljechin (1892–1946) starb mit 53 Jahren nahe Lissabon, somit weder in Rußland noch in Frankreich. Warum, dürfen Sie Brockhaus nicht fragen. Das hätte den Eintrag von knapp fünf Zeilen unnötig aufgebläht. War der langjährige Weltmeister womöglich an einem Granatsplitter verendet, ob von der Westfront oder aus der Hotelküche?

Aus dem Internet läßt sich ein Foto fischen, das wohl schon oft reproduziert wurde. Von ihm her könnte man glauben, der untersetzte, derb gestaltete Slawe mit der hohen Stirn (fast wie Lenin) sei in seinem Armlehnstuhl beim einsamen Speisen in einem Zimmer des Hotel do Parque in Estoril, Portugal, lediglich eingenickt. Er ist aber tot. Ein Kellner hat Alexander Aljechin vormittags als Leiche vorgefunden. Verletzungen oder gar Verwüstungen sind nicht zu sehen. Im Gegenteil, ein säuberlich aufgebautes Schachbrett auf dem Beistelltisch deutet an, welcher Sport hier wieder einmal ein »Genie« verloren hat. Um 1930 hatte Aljechin das weltweite professionelle Schachgeschehen fast nach Belieben beherrscht. Selbst bei seinem Tod war er noch amtierender Weltmeister, obwohl er sich seit einer empfindlichen Niederlage gegen den Holländer Max Euwe im Jahr 1935 auf dem absteigenden Ast befand. Und der britische Schachverband hatte ihm soeben, im März 1946, seine Bereitschaft mitgeteilt, ihm in London einen Titelkampf gegen seinen Landsmann Michail Botwinnik zu ermöglichen. Angesichts einer solchen Chance legt man wohl kaum Hand an sich selbst, es sei denn, man schlottert vor Angst, das ersehnte Match am Ende zu verlieren.

Wäre Aljechin ein Hasenfuß gewesen, hätte es ihm wohl eher zur Zierde gereicht. In meinen Quellen kommt er nämlich, was den Charakter angeht, ziemlich schlecht weg. Der Sohn eines adeligen, sehr wohlhabenden russischen Offiziers neigte zu Geltungssucht, Jähzorn und Unaufrichtigkeit. Zu seinem angeblich um 1925 an der Pariser Sorbonne erworbenen juristischen Doktorhut fand sich nie die passende Doktorarbeit. Selbst in seinen veröffentlichten Schachanalysen nahm er gern kleine Fälschungen vor, um sein Genie in noch besseres Licht zu rücken.* Aljechin haßte sowohl Juden im allgemeinen wie bestimmte Schachrivalen im besonderen. In politischer Hinsicht war er Opportunist, was bedeutete, er schlug sich jeweils auf die Seite des Stärkeren. Nach der siegreichen Revolution versuchte er es zunächst mit den Sowjets, zog es dann aber 1921 wie so viele, in der Regel enteignete Personen aus seinen Kreisen vor zu emigrieren. Auf die Seite der Nazis schlägt er sich 1941, nachdem sie begonnen haben, den »Bolschewismus« vor Ort, in Rußland also, aufzurollen. Er absolviert zahlreiche Turniere im jeweiligen faschistischen Machtbereich und läßt sich mit Nazi-Größen sehen. Seinen Wohnort verlegt er freilich schon bald, von Prag aus, gen Westen, um nicht etwa seinerseits mitaufgerollt zu werden. Er läßt sich zunächst im francistischen Spanien, dann im benachbarten, mit diesem verbündeten Portugal nieder.

Wie sich versteht, kamen nach der Verbreitung jener Fotografie aus dem portugiesischen Park-Hotel auch Mordtheorien auf (die nie verstummten). Estoril, ein Seebad für Betuchte nahe Lissabon, war damals zugleich ein Tummelplatz für Geheimagenten aller Lager – Lager, zwischen denen Diktator Salazar trotz seiner engen Beziehungen zu Franco und den Briten eifrig lavierte. Offiziell war Portugal »neutral«. Vielleicht hatten die Alliierten Aljechin zur Strafe für seine faschistischen Umtriebe Gift ins Abendessen gemischt? Oder hatten antifaschistische Rächer aus der französischen Resistance zugeschlagen, die ihm zum Beispiel Grace geb. Wishaar übelnahmen? Aljechin war mehrmals verheiratet, angeblich durchweg mit Frauen, die ihn im Alter deutlich übertrafen. Die letzte Gattin (1934) war 16 Jahre älter als der berühmte Schachweltmeister. Grace Wishaar, verwitwet, stammte aus den USA, verstand sich als Bildende Künstlerin, spielte daneben selber ausgezeichnet Schach, doch ihr größter Zugvorteil dürfte ihr beträchtliches Vermögen gewesen sein. So besaß sie in Frankreich einen Landsitz in der Normandie und ein Atelier in Paris.

Die meisten Quellen habe ich, befremdlicherweise, vergeblich danach befragt, wo sich die Dame denn im Winter 1945/46 befunden habe, während ihr Gatte in seinem vornehmen, wenn auch schlecht geheizten Hotelzimmer (das Foto zeigt den Speisenden im Mantel) über Vereinsamung und sogar über Armut klagt. Schließlich erfahre ich im Eintrag der englischen Wikipedia über Grace Alekhine geb. Wishaar, im Gegensatz zu ihrem aus Frankreich verbannten Gatten habe sie vom dortigen Vichy- und Besatzerregime keine Ausreisepapiere bekommen und deshalb, von ihrem Pariser Studio aus, notgedrungen versucht, ihre Besitztümer einigermaßen zusammenzuhalten. Ihr Schloß bei Dieppe hatten sich die Nazis bereits unter den Nagel gerissen. Nach dem Krieg soll es ihr unter US-Schutz gelungen sein, es zu verkaufen. Davon hatte freilich ihr im Armlehnstuhl frierender Gatte nichts mehr. Wishaar starb 1956 in Paris mit knapp 80.

Die meisten Quellen halten einen Mordfall für unwahrscheinlich und betonen, es seien dafür auch nie Belege beigebracht worden. Was natürlich in humanen Zusammenhängen nahezu immer im Spiel ist, nicht nur bei Aljechin, das ist der Wille zur Verschönerung, sprich zum Betrug.** So weist der Schachhistoriker Edward Winter*** auch im Hinblick auf das erwähnte bekannte Foto, das offenbar in vier Varianten um die Welt ging und noch geht, auf gewisse Ungereimtheiten hin. Da zeigen sich kleine, möglicherweise in der Tat unerhebliche Unterschiede, etwa eine Zeitung neben Blumenvasen betreffend, die mal dort liegt, mal nicht. Und zu jenem günstig im Vordergrund plazierten Schachbrett versichert der damalige portugiesische Schachmeister und Freund des Toten Francisco Lupi, es sei erst zum Zwecke der Aufnahme in die Szene geschoben worden. Freund Lupi war damals kurz nach der Entdeckung der Leiche ins Hotel gerufen worden. Der Fotograf, Luís C. Lupi, war zufällig sein Stiefvater, Leiter des portugiesischen AP-Büros und Mitarbeiter der PIDE, Salazars Gegenstück zu GPU, Gestapo und so weiter.

In der Regel traut man dem offiziellen Befund. Unter Leitung des angesehenen Pathologen Dr. Asdrúbal d’Aguiar war damals nämlich eine Autopsie der Leiche vorgenommen worden. Danach war Aljechin bei dem betreffenden Mahl an einem Bissen Fleisch erstickt, der sich in seinem Kehlkopf fand. Also wohl ein Mißgeschick? Einige Quellen nehmen eher einen Herzanfall als Todesursache an, der dann das Stück Fleisch an der Fortbewegung hinderte. Immerhin war der überaus trink- und rauchfreudige und vielfach angefeindete alternde Champion seit Jahren mindestens leber- und magenkrank. Aber das dürfte Jacke wie Hose sein, kommt es doch so oder so dem eingangs zurückgewiesenen Selbstmord ziemlich nahe.

* Laut dem Nürnberger Schachspieler und Journalisten FM Johannes Fischer, Jahrgang 1963, siehe »Brillantes Schach und menschliche Schwächen, o.J. auf https://karlonline.org/kol18.htm
** Für Egon Friedell (Kulturgeschichte der Neuzeit, 1927–31, einbändige Sonderausgabe 1974, S. 796) feierte die »endemische«, nebenbei auch ausgesprochen geschwätzige »Verlogenheit« bereits vor rund 2.500 Jahren bei den Hellenen Triumphe, womit er Winckel-manns »klassizistischem« Ideal der »edeln Einfalt und stillen Größe« eine kräftige Ohrfeige versetzt.
*** Wohl Engländer, Jahrgang 1955, siehe »Alekhine's Death«, 2003/2023, online https://www.chesshistory.com/winter/extra/alekhine3.html




Zwar hat der Berner Philologe Oskar von Allmen (1898–1932) keine lehrbuchreife Lehrstuhlkarriere gemacht, aber gerade deshalb erwähne ich ihn. Er könnte künftigen Ehrgeizigen wie Kurt Alders, siehe oben, als abschreckendes Beispiel dienen. Brockhaus läßt ihn lieber aus.

Von Allmens Vater soll »nur« Zimmermann und Hotelier gewesen sein. Der Sohn dagegen studierte. Zunächst Gymnasiallehrer, trug ihm die Universität 1932 sogar eine Außerordentliche Professur an, »ohne die übliche Habilitation von ihm zu verlangen«, wie der Historiker Edgar Bonjour in seinen Erinnerungen auf Seite 56/57 betont.* Von Allmen sei sein engster Freund gewesen, teilt er rund 50 Jahre nach dessen Tod mit. Sie hatten schon gemeinsam Abitur gemacht. Dann unterrichteten sie am selben Gymnasium und legten auch den neuen Schulweg oft gemeinsam zurück. Den Ruf an die Universität habe der Freund jedoch als »unerwartete wissenschaftliche Überforderung« empfunden; deshalb sei diese Bürde zu einem »Quell unsäglichen Leidens« geworden, »das ihn nun täglich heimsuchte. Äußerungen jener Wochen tönten wie ein Aufschrei des gepreßten Herzens.« Schließlich habe den Freund »die Zuversicht in sein Können vollkommen« verlassen: er habe sich, 34 Jahre alt, »in der Nacht vor der ersten Vorlesungsstunde«, mit seinem Ordonnanzgewehr, erschossen.

Bonjour fährt fort: »Hätte diese Verzweiflungstat durch rechtzeitigen Beistand nicht verhindert werden können? fragten sich die erschütterten Freunde. Erst mit zunehmenden Jahren erkannte ich, daß die Ursachen eines Suizides nicht so sehr in äußeren Verhältnissen als vielmehr in der Veranlagung des Selbstmörders liegen. Von Allmen litt an tiefen, geheimen Problemen, denen er nicht gewachsen war.« Damit verläßt Bonjour das Thema. Möglicherweise geht Näheres aus den Freundesbriefen hervor, die er einige Jahre später, 1987, veröffentlichte. Bonjour, vom selben Jahrgang wie Von Allmen, brachte es noch auf 92.

Leider war der Verlust des Freundes noch nicht der härteste Schlag für Bonjour. 1957 verlor der Historiker eine 13jährige Tochter, Christine Bonjour. Sie hatte einige Monate schwer zu leiden. Ihr Vater war inzwischen an die Baseler Universität berufen worden, und damals sei in Basel die Kinderlähmung (also das Poliovirus) umgegangen, schreibt Bonjour auf S. 282. Die Tochter zählte zu den Todesopfern.

* Hier in der 3. Auflage, Basel 1984



Die Allongeperücke, laut Brockhaus meist aus wallendem blondem Haar gefertigt, bewies zugleich die Dickfelligkeit und die Schlitzohrigkeit der vornehmen Männer des Barocks. Für Höflinge war sie unerläßlich. Max von Boehn fügt jedoch in seiner aufschlußreichen, bissigen Modegeschichte hinzu: »Es gab bald niemanden, der nicht die pomphaft majestätische Wolkenperücke angenommen hätte, trotz ihres hohen Preises und der hohen Steuern, die zum Beispiel 1698 in Preußen darauf gelegt wurden. Sogar die Geistlichkeit beider Konfessionen trug die Allongeperücke. Sie mußten sie beim Messelesen abnehmen, weil der Kopf die Weihen zu empfangen habe. Schließlich brachte man, um dieser Unbequemlichkeit abzuhelfen, in der Perücke eine kleine Klappe an, welche während der Messe gestattete, die Tonsur zu entblößen.«

Die Hitze unter der Perücke wurde oft beklagt. Zu Hause hängte man sie sofort an den Nagel und trug stattdessen Mütze oder Tuch. Hüte wurden nun, wegen der Sperrigkeit der Perücke, kurzerhand unter dem Arm getragen. Das wurde auch um 1800 beibehalten, obwohl die Perücken schon entfallen waren. 1764 schilderte eine Lexikon 115 Perückensorten. Zeitweise verlangte die Mode das Pudern von Perücke oder Zopf, wozu die Vornehmen eigene Puderstübchen hatten. Der Graf Brühl besaß 1.500 Perücken. Dazu soll sein König, Friedrich der Große, bemerkt haben, »viel für einen Mann ohne Kopf«.

Ich füge gleich noch die kleine, in der Regel trapezförmige Almosentasche hinzu. Sie wurde im späten Mittelalter gewöhnlich am Gürtel getragen – wohl von beiden Geschlechtern, sofern sie nur gut betucht waren. Brockhaus weiß sogar: »Wegen ihrer meist kostbaren Seidenmaterialien und Stickereien fanden sie vielfach auch als Reliquienhüllen Verwendung.« Was taten Graf oder Bischof jedoch, wenn im Almosentäschchen plötzlich unvermutet Ebbe herrschte, weil Diener Johann wieder einmal geschlafen hatte? Dann schenkten sie natürlich das Täschchen selber weg. »Da, nimm schon, aber verhökere das Ding nicht sofort! Stecke die Almosen hinein, die du noch empfängst, damit sie dir nicht immer verloren gehen!«



Die antiken, meist ovalen Amphitheater, voran das Kolosseum in Rom, dürften bekannt sein. Sie wurden später von Stierkampf- und Fußballarenen nachgeahmt, freilich kräftig aufgeblasen. Laut Brockhaus sind die antiken Exemplare »besonders vollständig« in bestimmten Städten des Mittelmeerraumes erhalten. Das riecht verdächtig nach Tautologie, weil ein Ding entweder vollständig oder aber unvollständig ist. Ich hätte »besonders gut« oder »weitgehend lückenlos« erhalten vorgezogen.

Laien verwechseln die Amphitheater gelegentlich mit den Griechischen Theatern. Das waren die »unvollständigen«, oft nur halbkreisförmig angelegten Arenen. Von den ansteigenden Rängen blickte man mehr oder weniger günstig auf die Bühne hinab, die den Halbkreis verriegelte. So oder so hatten die damaligen Zuschauer und VolksunterhalterInnen das Problem mit dem Himmel, von dem mal die Sonne stach, mal der Regen prasselte. Hier und dort soll man sich bereits mit Sonnensegeln oder gar Regenplanen beholfen haben. Während jedoch das Kolosseum »nur« 20.000 Leuten Platz bot, haben wir heute Freiluft-Sportarenen, die 70.000 oder weit mehr als 100.000 Leute fassen. Ich bin überfragt, was die nun gegen Sonnenstich und Schnupfen machen. Wahrscheinlich klatschen und jubeln sie.

In meiner thüringischen Zwergrepublik Konräteslust (2010) beschließt die Vollversammlung den Bau einer Freilichtbühne im ehemaligen Schloßpark. Sie soll immerhin 3.500 Leuten Platz bieten. Die Zwergrepublik im ehemaligen Städtchen Konradslust (bei Gotha) umfaßt lediglich 3.000 Leute, Säuglinge und gebrechliche Greise eingeschlossen. Diese Randgruppen nehmen ja an den Plenen zumindest teilweise gar nicht teil. Somit denkt man auch an Gäste, die sich vor allem im Sommer recht zahlreich in der Republik an der Nesse einstellen.

Die Monatsplenen finden in der ehemaligen Stadtkirche statt, einem barocken Zentralbau, der neuerdings zum Altar und der Orgel hin hufeisenförmig gebaute, ansteigende Ränge aufweist. Ein Hauptaugenmerk der Konstrukteure lag auf der Akustik. Tatsächlich versteht man von der Plenumsleiterin, die nebenbei auf dem ehemaligen Altar sitzt, selbst auf den obersten Rängen auch dann jedes Wort, wenn sie im Plauderton spricht. Dagegen entsinne ich mich etwas peinlich berührt unserer sogenannten Massendemonstrationen im Ruhrgebiet um 1970. Als zentraler Orgleiter der maoistischen KPD/ML-Rote Fahne war ich meist der Hauptagitator. Ich hockte also in unserem klapprigen VW-Bus, um den sich vielleicht 80 Leute scharten, auf dem Beifahrersitz und brüllte unsere Schlagworte ins Mikrofon. Durch die Dach-Lautsprecher wurden sie noch zu dem letzten, in einem Randgebüsch schlummernden Lagerarbeiter der Dortmunder Hoesch-Stahlwerke und zu Gründervater Leopold Hoesch persönlich in dessen Grab gebracht.

Vielleicht hätten wir in der unverstärkten Hörweite sogar einen wichtigen Gradmesser dafür, ob ein bestimmtes Gemeinwesen noch als basisdemokratisch und »gewaltfrei« gelten kann oder nicht. Ob Agitprop-Lärm, Rockkonzerte in jenen Riesenarenen, Conférenciers der jährlich mich beglückenden Thüringen-Rundfahrt der RadrennsportlerInnen – hier wird selbstverständlich Gewalt ausgeübt, und zwar keine geringe. Überschlagen Sie einmal, was geschähe, wenn man der postmodernen kapitalistischen Demokratie schlagartig sämtliche Mikrofone, Lautsprecher und Verstärker wegnähme. Sie bräche auf der Stelle zusammen. Doch wohin mit dem ganzen beschlagnahmten Krempel? Nach China.



Der Schwede Dan Andersson (1888–1920) war ein bedeutender »Dichter«. Das ist für Brockhaus natürlich viel wichtiger als der Umstand, daß Andersson aufgrund einer haarsträubenden, von ihm nicht verschuldeten gesundheitspflegerischen Maßnahme nicht alt werden sollte. Davon weiß Brockhaus nichts.

Andersson kam aus armseligen Verhältnissen: geboren im Schulhaus des Dorfes Skattlösberg in Dalarna, Mittel-schweden, wo vorwiegend Bergbau, Holzeinschlag und Köhlerei betrieben wurde. Nachdem sich seine frommen Eltern, die LehrerInnen Augusta und Adolf Andersson, zwischenzeitlich, seit 1905, nur mühsam in Mårtenstorp als KöhlerInnen und Bauern versucht hatten, bezog die sechsköpfige Familie um 1910 ein winziges Häuschen am Rande Skattlösbergs, genannt Luossastugan. Es wurde später in ein schmuckes Museum verwandelt, in dem sogar noch die Gitarre Dans bewundert werden kann. Er soll auch Akkordeon und Geige gespielt haben. Andersson wird als großer, schlanker Mann mit dunklem Haar, blauen Augen und ausdrucksstarkem Mund beschrieben. Er habe sich würdevoll oder gemessen, aber offenbar nicht eckig bewegt. Ein verhinderter christlicher Jugendleiter vielleicht.

Während sich seine Eltern neuerdings vornehmlich mit Schuster- und Buchbindearbeiten über Wasser hielten, wenn ich richtig verstanden habe, ging auch Sohn Dan verschiedenen handfesten Gelegenheitsarbeiten nach, etwa in einer Papierfabrik oder als fahrender »Ritter« des (anti-alkoholischen) Templerordens, bildete sich (1914/15) an der Brunnsviker Volkshochschule, arbeitete streckenweise als Hilfslehrer und strebte wenig erfolgreich an, sich als Übersetzer (Rudyard Kipling, Charles Baudelaire) und Poet zu ernähren. Anderssons Erzählungen und Gedichte fanden erst nach seinem Tod ein größeres Echo; manches davon ging in den Kanon der schwedischen Arbeiter- und Volksliedliteratur ein. Er litt oft unter Geldmangel. 1917 stellte ihn das Göteborger sozialdemokratische Blatt Ny Tid als Redakteur ein, wenn auch nur für ein Jahr. 1918 heiratete er Olga Turesson, die in Süd-Dalarna als Dorfschullehrerin tätig war.

Anderssons erstes Buch Köhlergeschichten war 1914 erschienen. Anfänglich romantisch-naturalistisch orientiert, scheint ihn später vordringlich die metaphysische Not des Volkes beschäftigt zu haben. In seinem Gedicht Der Bettler von Luossa, das sehr beliebt sein soll, besingt er über neun Strophen hinweg Landstreicher, Bettler, manches Wunderding / »und seine Sehnsucht eine ganze Mondnacht lang«. Der Löwenanteil der Verse kreist allerdings* um eine erwünschte Erlösung aus den irdischen Fesseln, die wenig dinghaft vor Augen gestellt wird. Man versteht es aber auch wieder, bittet er doch den Herrn, die Erde fortzunehmen, damit etwas komme, »was vordem niemals war!« Nach einigen Kritikern war der eifrige Schopenhauer-Leser Andersson einer Verschmelzung aus christlicher und fernöstlicher Heilsgewißheit auf der Spur. Ivan Aguéli hätte ihn wohl kaum ausgelacht, falls sie nicht ohnehin in Verbindung standen.**

Im Spätsommer 1920 nach Stockholm gereist, da er sich eine Anstellung bei der Zeitung Social-Demokraten erhofft, übernachtet Andersson im Hotel Hellman in der Bryggaregatan. Zu seinem Unglück war ihm nicht bekannt, daß sein Zimmer mit der Nummer 11 eben erst vom Hotelpersonal durch Aussprühen mit Cyanwasserstoff von Wanzen und anderen Insekten befreit und anschließend entgegen den Vorschriften nicht ausreichend gelüftet worden war. So zog sich der 32jährige Mystiker in der Nacht zum 16. September eine Vergiftung zu, der er am nächsten Nachmittag erlag. Möglicherweise war er schon angeschlagen, denn Petri Liukkonen behauptet, 1910 habe man Andersson wegen Tuberkulose vorzeitig aus dem Militärdienst entlassen.*** Andererseits soll es unter den Hotelgästen noch ein zweites Todesopfer gegeben haben, schreibt Wikipedia, nämlich den Versicherungsinspektor Elliot Eriksson aus Bollnäs. Es war also kein reiner Dichtertod.

* Laut Übersetzung bei https://anacreon.de/dichter/andersson-omkring-tiggarn-fran-luossa.php
** Der beachtliche Maler aus Sala, Västmanlands län, hatte sich vom Anarchisten zum »Wandersufi« gemausert. 1917 kam er, mit 48, unter etwas unklaren Umständen an einem spanischem Bahndamm um.
*** Eintrag im https://authorscalendar.info/danander.htm, Stand 2020




Das einstige Land des Deutschen Reiches Anhalt, zwischen dem Hohen Fläming und den Flüssen Mulde und Saale gelegen und von Dessau aus regiert, war eher klein und unbedeutend. Das wurmte natürlich diverse Fürsten und Herzöge des Kleinods. Oft mußten sie sich in ihrer Existenznot in ausheimische Dienste begeben, vor allem preußische. Ein jüngster Sproß des adligen Hauses Anhalt, den Brockhaus prompt übergeht, fand sich sogar als Krämer in einem Alpennest wieder. Dabei galt Friedrich Prinz von Anhalt (1938–63) vor seinem betrüblichen Unfall mit 25 Jahren bereits als Chef des alten Geschlechts. Soweit ich weiß, hatte sich seine Familie, nach empfindlichen Ostgebietsverlusten, um 1950 in Garmisch-Partenkirchen eingebürgert, kurz GAP, wo auch Friedrich wohnte und einstweilen als Autoverkäufer bei einem NSU-Händler angestellt war. Zumindest in dieser Hinsicht war sein Ende standesgemäß: Autounfall. In der Nacht vom 7. zum 8. Oktober 1963 in GAP verunglückt, wurde der Prinz, laut damaliger Lokalpresse* aufgrund eines gebrochenen Halswirbels querschnittsgelähmt, nach München gebracht, wo er aber schon am 9. Oktober verstarb. Er sei in der Unglücksnacht aus Richtung Murnau gekommen und südlich des Eschenloher Tunnels, »vermutlich wegen zu hoher Geschwindigkeit und glatter, nasser Fahrbahn«, aus einer leichten Rechtskurve getragen worden und vor einen Baum geprallt. Die Begleiterin des Prinzen hatte Glück: sie sei mit geringfügiger Kopfverletzung davongekommen. Der mit wr gezeichnete Artikel schließt mit der kühnen oder speichelleckerischen Behauptung, der Familie des Verunglückten gelte »besondere Teilnahme«, habe sie doch »zu Kriegsende ein schweres Schicksal bei der Vertreibung von ihren Gütern erlitten« und außerdem »vor einiger Zeit« bereits ein anderes Mitglied durch tödlichen Unfall verloren. Dem gehe ich aber nicht auch noch nach.

* »Ein junges Leben ausgelöscht«, Garmisch-Partenkirchner Tagblatt, 10. Oktober 1963



Unfallopfer Wolfgang Anheisser (1929–74), Sohn der Opernsängerin Margot Menzel, wurde auch nicht eben alt. Brockhaus übergeht auch ihn. Als Bariton nach dem Krieg selber an etlichen renommierten deutschen Opernhäusern beschäftigt, spielte Anheisser nebenbei auch Kitsch über Linden vorm Vaterhaus und letzte Rosen auf der Heide ein, aber mehr könnte ich ihm, bei dem dürftigen biografischen Material, nicht vorwerfen. Im Gegenteil: »Der Mauer« zum Trotz, errichtet 1961, trat der BRD-Bürger auch wiederholt in der Ostberliner Staatsoper Unter den Linden auf. Das war sicherlich ein unangepaßtes, mutiges Unterfangen, zumal sich sein Vater Siegfried – Musikwissenschaftler, Mozartforscher und außerdem Musikredakteur beim Kölner Rundfunk – für die Nazis erwärmt hatte, wie bei Diether Steppuhn zu lesen ist.* Anneliese Rothenberger soll ihrem jüngeren Kollegen noch zu seinen Lebzeiten bescheinigt haben, ein in seiner Branche »selten vertrauenswürdiger Mensch« zu sein – eine »ehrliche Haut vom Scheitel bis zur Sohle«.

Weitaus weniger vertrauenswürdig dürfte ein Balkon gewesen sein, der am Neujahrstag 1974 Kulissenbestand-teil einer Aufführung von Millöckers Bettelstudent im Kölner Opernhaus war. Welche Rolle der 44jährige Anheisser zu spielen hatte, bleibt mir unklar. Jedenfalls hatte die Inszenierung für seine Rolle einen Sprung von jenem Balkon vorgesehen, der knapp vier Meter über der Bühne schwebte. Auf ihm mußte Anheisser zunächst singen. Kaum herausgetreten, riß jedoch, angeblich dank »schlampiger« Verrichtung von Bühnenarbeitern**, ein Halteseil, worauf der Bariton in die Tiefe stürzte. Beim Aufprall seien die zum Gesangseinsatz mit Luft vollgepumpten Lungen Anheissers zerstört worden, hieß es in der Kölner Lokalpresse. Eine Operation in der Uniklinik konnte ihn nicht mehr retten. Am 5. Januar versagte das Herz.

Von einem denkbaren polizeilich-juristischen Nachspiel ist mir nichts bekannt. Ich finde auch keine Aussagen seiner Gemahlin Betty Henriette. 2009 bekam der Verunglückte in Köln-Deutz eine Straße.

* »Nun ist‘s aus ...«, online https://literaturkritik.de/id/10245 (Nr. 12/2006)
** Christina Matte, »Die Verehrer«, Neues Deutschland 4. Januar 2014, online https://www.nd-aktuell.de/artikel/919767.die-verehrer.html




Neben Knoten und Schraube dürfte der Anker zu den einfallsreichsten Verbindungsweisen des Menschen zählen. Dabei stellt er im Grunde nur eine Klammer dar, wie schon die Sorten Anker andeuten, die beispielsweise zwei senkrecht stehende Verschalungen miteinander verbinden. Der Schiffsanker übertrumpfte einst das schlichte Verfahren, das Boot durch ein Seil, an dessen Ende ein dicker Stein verknotet war, mitten auf dem Wasser festzumachen. Brockhaus bildet das verbreitete Modell des eisernen »Stockankers« ab. Der Stock sitzt quer zu den beiden hakenförmigen »Flunken« (Armen) am Schaft. Durch Zug an der Ankerkette legt sich der Stock flach, wodurch sich ein Flunken in den Gewässerboden eingräbt. Der Sturm heult, aber das Schiff liegt fest. Man darf diese Bemerkung zu Ankern als Ergänzung meiner Betrachtung über den Knoten auffassen. Sie erschien 2005 in der von Jürgen Engler herausgegebenen Anthologie small talk im holozän.

Selbst wenn wir davon absehen, daß Ankerketten hin und wieder auch rissen, läßt sich das waghalsige Unternehmen »Schiffahrt überhaupt« wohl kaum als besonders sicher rühmen. 1878 stieß der mit 800 Leuten überfüllte Ausflugraddampfer Princess Alice, wohl aufgrund eines Fahrfehlers des Kapitäns, auf der Themse mit dem riesigen Kohlefrachter Bywell Castle zusammen. Die Alice brach in zwei Stücke und sank innerhalb weniger Minuten. Es gab rund 640 Tote, überwiegend Frauen und Kinder. Von den Verletzten und Schockierten schweigen wir großzügig. Der Untergang der Titanic 1912 ist bekannt – 1.500 Tote. 2011 kamen beim Untergang des heillos überfüllten tansanischen Fährschiffes Spice Islander I unweit von Sansibar mindestens genauso viel Menschen um, laut Statista vom August 2021 sogar 2.967. Und bereits 1987 war die gleichfalls überfüllte philippinische Fähre Doña Paz nahe Mindoro mit einem Tanker zusammengestoßen. Amtliche Todesopferzahl: Knapp 4.400.

Eine Schätzung sämtlicher Todesopfer der Schiffahrtsge-schichte kann ich nicht finden. Es dürften aber einige Millionen sein. Schon 255 v.Chr. fielen schlagartig bis zu 100.000 Tote an, weil starke Stürme bei Sizilien die gesamte römische Kriegsflotte zertrümmerten, 384 Schiffe einschließlich der gekaperten karthagischen Kähne.

Viele Schiffe gingen »natürlich« bei sogenannten Forschungsreisen oder im Rahmen von Auswanderung drauf, und das bereits in der Antike oder in unserem Mittelalter. Dabei wäre es gelogen zu behaupten, in Germanien sei es eben immer viel zu eng gewesen. Um 800 hatten wir keine zwei Millionen Hanseln hier, die in den riesigen Urwäldern eher zu vereinsamen drohten. Die wahren Antriebe für Ausflucht oder Ausweitung dürften freilich bekannt sein: Dreck am Stecken, Habgier, Neugier. Allein um seine Neugier zu stillen, setzt der dünnfellige Zweibeiner mehr oder weniger bedenkenlos sein Leben beziehungsweise das von ein paar Hundert Mitmenschen aufs Spiel. So gesehen, fällt jede Art von Schiffahrt unter Extremsport. Achten Sie einmal darauf: Genügsamkeit ist in den jüngsten Jahrzehnten teils zum Fremdwort, teils zum Schimpfwort geworden.



Den »Roten Riesen« Aldebaran, siehe oben, können wir schon wieder übertrumpfen. Antares aus dem Sternbild Skorpion ist nämlich ein »Roter Überriese«, wie Brockhaus mitteilt. Danach hat der Kerl, 360 Lichtjahre von uns entfernt, 285fachen Sonnendurchmesser und 10.000fache Sonnenhelligkeit. Bei Wikipedia hat er bereits einen Durchmesser von einer Milliarde Kilometer. Dagegen sind die Sonne (1.392.700 km) und unsere Erde (12.742 km) nicht mehr als Staubkörnchen. Aber das ist ein schwacher Vergleich, wie ich zugeben muß.

Zu der vielgestaltigen Problematik unseres Vordringens in völlig unsinnliche – und möglicherweise auch unsinnige – Makro- und Mikrobereiche gehört das Versagen unseres Vorstellungsvermögens. Eine Länge von einer Milliarde Kilometer ist unvorstellbar. Warum? Weil wir keine echten Vergleichsmöglichkeiten haben. Ein Marathonlauf um unseren Äquator (40.030 km) hilft da wenig. Sie bekommen schlicht keinen Gefühlseindruck davon, was eine Strecke von einer Milliarde Kilometer bedeutet. Wenn Sie deshalb auf einer inner- oder außergalaktischen Reise ein paar Raketenstufen, Satelliten und ihr Leben verlieren, besteht weiter kein Grund zur Aufregung. Denn das merken Sie gar nicht.

Erfahrene Journalisten, die innerirdische Vergleiche anstellen wollen, haben es in dieser Hinsicht einfacher. Über den weltweiten täglichen Verlust an Regenwald durch Abholzung alarmieren sie uns kurzerhand – und immer wieder – mit dem Hinweis, das entspräche, je nach Quelle, einer Fläche von 2.ooo oder gar 12.000 Fußball-feldern. Aber leider merken wir noch nicht einmal das.



Der Brockhaus-Eintrag über Anthroposophie ist nicht übel. Immerhin deutet er einige krause Züge der grundsätzlich idealistisch angerührten, sonst freilich in allen Farben schillernden Mixtur an, die der Schriftsteller beziehungsweise Prediger Rudolf Steiner seiner Mitwelt vor ungefähr 100 Jahren verabreicht hat. Dagegen mißfällt mir der Eintrag zu den Waldorfschulen in Band 23. Er erweckt den Eindruck, es ginge den dortigen Pädagogen vornehmlich um neue und bessere Unterrichtsmethoden. In Wahrheit ist ihr Hauptanliegen, ihren Schäfchen eben jene Mixtur in die Venen zu jagen und dadurch alle eventuell vorhandenen Antikörper, vor allem antiautoritäre, in die Flucht zu schlagen. Peinlicherweise waren die Waldorfschulen im Erscheinungsjahr 1994 bei diversen Linken oder Alternativen schon durchaus beliebt. Beim Staat sind sie es bis zur Stunde – er wird schon wissen, warum er sie öfter lobt und deftig subventioniert. Wissen Sie es nicht, schlagen Sie mein Steiner-Porträt in den Nasen der Weltgeschichte nach.

Eine recht seltsame Anhängerin des Gurus aus dem österreichischen Kaiserreich war die nahezu unbekannte süddeutsche Ärztin Helene von Grunelius (1897–1936). Ich vermute stark, ihr früher Tod geht auf das Konto ideologischer und emotionaler Konflikte, denen sie nicht gewachsen war. Leider ist man in ihrem Fall rundum auf Vermutungen angewiesen. Die wenigen Internetquellen stammen offensichtlich von Leuten, die kein Interesse daran haben, die weiße Weste Rudolf Steiners zu beflecken, des weisen Gründers der anthroposophischen Bewegung, der 1925 gestorben war. Grunelius hatte den Meister wenige Jahre früher noch persönlich bei Kursen kennengelernt, die er abhielt. Sie war auch von ihrem Straßburger Elternhaus her für die Anthroposophie gestimmt. Zunächst Ärztin in Stuttgart, wirkte sie ab 1935, also nur noch für eine kurze Lebenszeit, in einem anthroposophisch geprägten Sanatorium, das bei Pforzheim im Schwarzwald lag. Dort stellte sie ihre Arbeit schon im folgenden Jahr ein und trat eine wohl ziemlich überstürzte Reise nach Italien an. Sie kam aber nur bis Basel, weil sie »gesundheitlich zusammenbrach«, wie das Universal-Lexikon Wikipedia so allgemein wie möglich mitteilt. Daran starb sie im Dezember, 39 Jahre alt.

Immerhin gelangt man über Wikipedia zu einem vom Mediziner und Steiner-Anhänger Peter Selg verfaßten Porträt der Ärztin, das etwas genauer wird.* Danach wurde das schwarzwälder Sanatorium Burghalde (im Frühjahr 1935) unter Mitarbeit von Grunelius vom Ehepaar Eugen und Lili Kolisko eröffnet. Nach »nur einem Jahr« habe sich Eugen K., der rund vier Jahre älter als Grunelius war, jedoch entschieden, nach London zu gehen, um dort ein anderes anthroposophisches Projekt aufzubauen. Dadurch habe Grunelius ihre »Pläne und Hoffnungen« jäh durchkreuzt gesehen. Sie habe es abgelehnt, das Sanatorium ohne Kolisko zu leiten, und sich »in sehr angegriffenem Gesundheitszustand« auf ihre »gehetzte« Italienreise begeben.

Spätestens an dieser Stelle muß es in jedem skeptischen Hirn klingeln. Zunächst hatten wir ja im Deutschland jener Jahre, seit 1933, ein faschistisches Regime. Das war ersichtlich imstande, das schwarzwälder Sanatorium, wie so manches andere aus dem anthroposophischen Tätig-keitsfeld, trotz offizieller Ächtung der antroposophischen Bewegung zu dulden oder gar zu fördern. Dabei gab es in beiden Lagern jeweils recht unterschiedliche Auffassungen über die Nähe oder Ferne voneinander, wie etwa der US-Historiker Peter Staudenmaier betont.** Übrigens erwähnt Staudenmaier auch den Umstand, daß die Anthropo-sophen im faschistischen Italien erheblich bessere Karten als in Deutschland hatten. Somit ist nicht auszuschließen, Grunelius habe ihre Italienreise, zumindest unter anderem, just aus diesem Grund angetreten. Möglicher-weise war sie ja deutlich nazi-freundlicher gestimmt als Kolisko, der sich schließlich auch noch rechtzeitig aus Deutschland absetzte. In dieser Hinsicht muß natürlich auch die naheliegende Frage erlaubt sein, wie die vergleichsweise junge Ärztin denn nun zu ihrem Chef und Mitstreiter Eugen Kolisko (1893–39) oder zu Lili Kolisko (1889–1976) oder zu beiden gestanden habe? Die Gattin war wohl vier Jahre älter als ihr Mann. Sollte hier ein übliches Liebes- und/oder Konkurrenzdrama mitgespielt haben? Jedenfalls muß auch die Frage erlaubt sein, wie glücklich oder unglücklich Grunelius um 1935 gewesen sei, sieht man einmal von der Erfüllung ab, die sie (angeblich) in ihrer therapeutischen Sanatoriumsarbeit fand. Meine Quellen interessiert das nicht.

Im Wikipedia-Artikel über Eugen Kolisko taucht immerhin weiterer Zündstoff auf, wenn auch nur andeutungsweise. »Die Auseinandersetzungen nach dem Tode Steiners führten 1934 zu Koliskos Entlassung aus der Stuttgarter Waldorfschule und 1935 zur Trennung von der Anthroposophischen Gesellschaft. 1936 emigrierte er nach England, wo er eine anthroposophische Universität gründen wollte.« Bald darauf starb er jedoch, mit 46, »während einer Zugfahrt«. Wie und warum, wird nicht gesagt. Obwohl Eisenbahnzüge oft die unterschiedlichsten Überraschungen bergen und viele Fenster und Türen haben. Hier führt aber ein Porträt Koliskos aus der Feder Joop van Dams weiter***, wenigstens ein bißchen weiter. Der Niederländer ist gleichfalls Mediziner und Steiner-Anhänger. Ihm zufolge hatte der klein und zart gebaute Arzt, Chemiker und Waldorflehrer Kolisko von Kind auf einen steifen linken Arm. Er zählte anfangs zum engsten Steiner-Kreis. Er war lesewütig und eher ungesellig. Van Dam bestätigt das Zerwürfnis Koliskos mit der »offiziellen« Anthroposophie um 1930, erhellt es mir freilich wenig. Wahrscheinlich war Kolisko bezüglich der Weltlage pessimistischer gestimmt als seine Ex-Genossen. Von dem Projekt im Schwarzwald habe er sich eine vielgefächerte »therapeutische Provinz« versprochen, Landwirtschaft eingeschlossen. Das sei jedoch »nicht zustande« gekommen. »So emigrierte er …«, schreibt Van Dam. Ein kühner, nichtssagender Übergang. Über die Gründe von Koliskos Scheitern (in nur einem Jahr!) dürfen wir ähnlich rätseln wie über die Frage, in welcher Gestalt wir dereinst wiedergeboren werden. In London packte Kolisko die Aufbauarbeit für seine Universität mit Hilfe von Gesinnungsgenossen und offenbar auch seiner Frau Lili schwungvoll an, wogegen ihn eine USA-Vortragsreise im Frühjahr 1939 enttäuscht und ermüdet habe. Auf dem Weg zu einem westlich von London gelegenen Institut sei er plötzlich einem Herzschlag erlegen. Er sei in seinem Zugabteil allein gewesen. Gottseidank, keine lästigen Zeugen! Denkbare finanzielle und erotische Gesichts-punkte klammert der Text aus.

Möglicherweise findet sich Näheres in einem »Lebensbild« Eugen Koliskos, das seine Gattin Lili, die ungleich älter wurde als er, verfaßt und (1961) veröffentlicht haben soll.**** Vielleicht sogar Näheres über Von Grunelius? Vielleicht wohlwollendes, vielleicht gehässiges? Oder sollte sie sich gar zu der anteilnehmenden Vermutung aufschwingen, Helene von Grunelius‘ Sterben in Basel müsse ein verflucht einsames, kaltes Geschäft gewesen sein?

* Forschungsstelle Kulturimpuls (Dornach, CH), o. J.: https://biographien.kulturimpuls.org/detail.php?id=287
** Ansgar Martins / Peter Staudenmaier, »Anthroposophie und Faschismus«, 7. Juni 2012: https://hpd.de/node/13507
*** Forschungsstelle Kulturimpuls, o. J.: https://biographien.kulturimpuls.org/detail.php?&id=207
**** Wie es aussieht, vergriffen. Ich finde derzeit nur zwei antiqua-rische Angebote – für 52 und für 120 Euro plus Versandkosten. Das muß ja ein Edelstein deutschsprachiger Prosa sein.




Angeblich ertrank der Grieche oder Kleinasiate Antinoos († 130) in der betörenden Blüte seiner Jugend, die durch unzählige Bildnisse verewigt worden ist, im Nil. Ungefähr 15 bis 20 Jahre alt, war er der legendäre Lüst- und Günstling des römischen »Kaisers« Hadrian gewesen. Ob er diese Position aus freien Stücken oder gezwungener-maßen bekleidete, weiß niemand, von Brockhaus ganz zu schweigen. Wahrscheinlich ging Antinoos von einer kaiserlichen Barke über Bord. Über die Umstände und Gründe seines Todes liegen Erzählungen in allen denk-baren Variationen vor, nur keine Fotos. Möglicherweise hechtete er sich in den Nil, um sozusagen Hadrians Flossen zu entkommen. Als gesichert gilt lediglich, daß Hadrian an der Unglücksstelle umgehend eine ganze Stadt errichten ließ, Antinoupolis. Würde mir nach meinem Ableben jemand eine Fußmatte oder gar eine Hundehütte stiften, wäre es schon viel. 2010 ging eine Marmorbüste, die angeblich den Anlaß jener Stadtgründung zeigt, in New York City für knapp 24 Millionen Dollar* über den Auktionstisch.

* Matthias Schulz, »Göttlicher Buhlknabe«, Spiegel, 6. Dezember 2010: https://www.spiegel.de/spiegel/a-732880.html



Das göttliche, in die sorgsamen Hände der USA gelegte Apollo-Programm ist sattsam bekannt. Angeblich führte es 1969 zur ersten Landung eines Menschen auf dem Mond, wie damals sogar »live« im Fernsehen zu bewundern war. Gut 15 Jahre später hat Brockhaus von allerlei Zweifeln an diesem Glauben noch keinen Furz gerochen. Im Gegenteil feiert er das Unternehmen mit Hilfe aufwendiger grafischer Darstellungen als Meilenstein in der Eroberung des Weltraums. Inzwischen schlagen sich jene Zweifel in Stapeln von Aufsätzen und Büchern nieder. Sollte Sie das Thema interessieren, können Sie zu Fabricius, Johannes gehen.



Eine Apotheke, laut Brockhaus auf griechisch Lager oder Speicher, stapelt bekanntlich vornehmlich Geld. Für den bayerischen Botaniker Johann G. Hargasser (1785–1824), der allenfalls 39 wurde, stellte sie sich freilich als alpine Fata Morgana heraus. Nach etlichen Lehrjahren und seinem erst 1821 begonnenen Pharmazie-Studium in Landshut hatte Hargasser eine Stelle als »Gehülfe« in der Salzburger Hofapotheke angetreten. Seine Freizeit scheint er vorwiegend seiner Leidenschaft für die Alpenflora gewidmet zu haben. Sie brach ihm denn auch das Genick – angeblich jedenfalls, wie vorsichtshalber gesagt werden muß.

Der Vorfall von Ende August 1824 wird in einem Bericht* aus demselben Monat geschildert, den Freund oder Verehrer Rudolph Hinterhuber verfaßte, offenbar** Sohn eines zeitweiligen Lehrherrn und Förderers Hargassers. Allerdings war der junge Hinterhuber, von seiner Befangenheit einmal abgesehen, nicht vor Ort. Er stützt sich wohl seinerseits allein auf den Bericht eines namentlich nicht genannten Bergführers, der Hargasser begleitete. Ziel war der Gipfel des rund 2.500 Meter hohen Gölls in den Berchtesgadener Alpen. Während des Aufstieges habe Hargasser seinen Führer auf einen oberhalb der Ofneralm (1.250 m) vorspringenden Felsen nach einer dort herabhängenden Pflanze ausgeschickt. Zurückgekehrt, war Hargasser angeblich wie vom Erdboden verschluckt. Rufe blieben erfolglos. So kehrte der Mann vor dem Einbruch der Dunkelheit notgedrungen wieder um. Aufgrund schlechter Witterung gelang es einem Suchtrupp erst nach einigen Tagen, Hargasser »auf den sogenannten Ofnersande« am Fuß einer Steilwand zu finden – »zerschmettert«. Er sei offensichtlich abgestürzt.

Aus seiner zerbrochenen Taschenuhr wurde geschlossen, Hargasser sei noch anderthalb Stunden umhergeirrt, nachdem der Führer ihn vermißt hatte. Vielleicht ist deshalb nicht von Geräuschen des Absturzes die Rede. Warum der Botaniker auf eigene Faust loszog, bleibt ebenfalls unerwogen. Nach einer entsprechenden Andeutung Hinterhubers ließe sich natürlich behaupten, angesichts der nächsten hängenden Pflanze hätte ihn das Jagdfieber vom Führer weggetrieben. Die familiären Verhältnisse des Verunglückten werden nicht gestreift. Vermutlich war er Junggeselle. Hinterhuber rühmt seine »hinreißende Vorliebe für Botanik« und seine »wahrhaft deutsche Biederkeit«. Einen Eindruck vom Temperament oder Gemüt des Verstorbenen bekommt man eigentlich nicht – wie so oft.

* Flora oder Botanische Zeitung (wohl ein Wochenblatt), Regensburg, 7. Jahrgang, Nr. 35 vom 21. September 1824, unter »III. Todesfälle«, im Sammelband S. 557–60
** Salzburgwiki: https://www.sn.at/wiki/Rudolph_Hinterhuber




Den zunächst nazifreundlichen Manfred Baron von Ardenne (1907 –97) stellt uns Brockhaus mit Vergnügen vor, fand er, als führender Nuklearphysiker, doch nach Kriegsende auch in Suchumi (SU) und Ostberlin beziehungsweise Dresden Unterschlupf. Wie Ernst Klee* betont, war Von Ardenne immerhin nie Parteimitglied der NSDAP gewesen. Damit verstieß seine freundliche Aufnahme im Osten nicht gegen die SED-Richtlinie, keine Nazis mit Parteiausweis zu beschäftigen. Das ist selbstverständlich übler Formalismus, aber man brauchte den Wissenschaftler eben, solange man fest entschlossen war, den Westen auf technologischem Gebiet einzuholen. Und das war man durchaus. Denn der Zweck heiligt die Mittel, auch für Kommunisten. Dabei steuerte der vor allem in der Elektronik bewanderte Baron nicht nur zahlreiche nützliche Beiträge zur Kernphysik, sondern auch zur Funk- und Fernsehtechnik und zur medizinischen Bombardierung bei. Das Ergebnis können wir heute genießen, sofern uns der Arzt in eine postmoderne Folterkammer einweist, um unsere Arthrose, unseren Krebs oder unsere noch nicht restlos ausgemerzten Abwehrkräfte zu bekämpfen. Und das tut der Arzt mit Handkuß, wie jeder weiß. Schließlich bekommt er von jedem Foltermeister Prozente. Von Ardenne selber wurde mit Ehrungen, Einkünften und Vorrechten überhäuft. In Dresden durfte er in einer Villa residieren, die man eigentlich nur als Schloß bezeichnen kann. Hier ein Foto von 2011. Ich nehme stark an, andere Bonzen wie etwa Alfred Kultur-Kurella, der zeitweise in Leipzig wirkte, haben ihn um dieses am Elbhang gelegene Anwesen wiederholt beneidet. Bei seinem Tod mit 90 Jahren konnte der Baron des Opportunismus auf mehr als 600 Patente zurückblicken.

* Das Personenlexikon zum Dritten Reich, S. Fischer Ffm, 5. Auflage April 2015
°
°