Sonntag, 23. September 2018
Handbuch der SelbstmörderInnen
Auch das Manuskript mit diesem Titel, geschrieben 2016, ist inzwischen auf Eis gelegt. Ich ziehe hier aber das Vorwort/Nachwort (gekürzt) und im Anschluß drei Einzelfälle aus ihm.

Vorwort. Der junge Komponist Thomas March war nur auf seinem Fachgebiet ein „Neuerer“. Dagegen machte er, indem er sich umbrachte, wie Millionen vor ihm seinen Eltern Schande. Wenigstens habe er ihnen nicht auch noch das angetan, sich durch den Kopf zu schießen, denkt sein Cousin Lambert, der die Wohnungstür aufgebrochen hat. So wahrte Thomas wenigstens sein Gesicht …

Bringt sich kurz darauf Thomas' Mutter Johanna um, hat sie wiederum ihrem zurückbleibenden Mann Heinrich March* Schande gemacht. Diesen befällt angesicht der im Bett liegenden Leiche Bitterkeit. „Also waren wir dir nichts wert, dachte er. Du fandest nichts in uns, was dich zurückhalten konnte. Nichts.“ Da könnte man sich fragen, wer hier der größere Egoist sei, die Selbstmörderin oder der Witwer. Beim Ehepaar Nadja und Josef Stalin dürfte der Egoismus Parität besessen haben. Leider erschoß sich nur Nadja – Ende 1932, rücksichtsvollerweise ins Herz. Falls sie es selber war.

Der Titel des Werkes ist von Seeligers Handbuch des Schwindels inspiriert. Erwarten Sie deshalb um Gottes willen keine Betriebsanleitung für Ihr Vorhaben, sich umzubringen. Dazu fehlt es mir bislang entschieden an eigener Erfahrung. Aber das Werk wird Sie an- oder abregen und möglicherweise zu fruchtbaren Forschungen auf eigene Faust verleiten.

Nun ein paar allgemeine Hinweise zum Thema. In der Antike ist der Selbstmord vorwiegend anerkannt, teils sogar schon in Mode – wie später in gewissen roman-tischen Kreisen, siehe etwa den berühmten Doppel-Selbstmord Vogel/Von Kleist. Verpönt ist Erhängen. Der antike Sklave jedoch darf überhaupt keinen Selbstmord begehen, schließlich gehört er sich gar nicht selbst. Damit wird klar, was alle Götter, Leute, GesetzgeberInnen bewegt, die Selbstmord geächtet wissen wollen: sie wünschen den unterwürfigen Menschen. Er soll nicht gegen den Ratschluß der Götter, gegen sein Schicksal, gegen den sogenannten natürlichen Tod, schon gar nicht gegen das staatliche Besteuerungs- oder Beschäftigungs-programm aufbegehren. So hielt es natürlich auch das fromme europäische Mittelalter, das einträgliche Kriege mit großem Bedarf an Kanonenfutter und Kanonenbauern, dazu den Kapitalismus und damit das Industrieproletariat heraufdämmern sah. Heute träumen die Personal- und Arbeitsamtschefs von Massenselbstmorden á la Jonestown, 300 Stück 1978. Nur unter Rittern galt der Selbstmord unter Umständen als Heldentat. Sie waren eben keine leibeigenen Bauern. Auch die meisten islamischen Gesellschaften verdammen den selbstmörde-rischen Eingriff ins Schicksal, es sei denn, der betreffende, mit Sprengstoff gegürtete Täter wird zum Märtyrer umgedeutet, ist also mitnichten verwerflicher Selbstmör-der, vielmehr Wohltäter. Buddhismus und Hinduismus bieten ein ähnlich widersprüchliches Bild; im Grunde warnen sie aber eher vor dem Selbstmord. Besonders heikel und entsprechend umstritten scheint die Frage zu sein, ob der Selbstmörder die Bürde, vor der er floh, mit dem Tod verliere oder aber nach seiner absehbaren Wiedergeburt erneut auf dem Buckel habe. In Japan gilt der Selbstmord ziemlich eindeutig als hoffähig. Er ist keine Sünde, zuweilen sogar Ehrenpflicht – um genau jener Schande der Marchs zu entgehen, nur umgekehrt. Streckenweise wird er regelrecht kultiviert, Stichwort Seppuku. Den angenehmsten Umgang mit Selbstmord pflegen die meisten indianischen Kulturen. Oft ist er „tabufrei“, somit jedem selbst überlassen. Die Überzeu-gung, als SelbstmörderIn sei man im Jenseits genauso glücklich wie die anderen Gestorbenen, soll weit verbreitet sein. Nur der Sioux habe, so las ich irgendwo, nach einem Selbstmord dafür zu büßen, im Jenseits natürlich.

Diese Übersicht gemahnt an eine Erkenntnis der Aufklä-rung, die heutzutage nur zu gern wieder totgeschwiegen wird: Es gibt keine Werte und Urteile, die überall und zu allen Zeiten gültig wären, also keine Werte und Urteile „an sich“. Das läßt sich auf allen Ebenen des Seins verdeutlichen. Was soll ein Eskimo mit einem Pferd; ein Araber dagegen mit einem Schlittenhund? Diese Vierbeiner genießen unterschiedliche Wertschätzung. Was nützt mir mitten in der Wüste ein Goldbarren, wenn ich noch nicht einmal einen Brotkanten habe? Es kommt also sowohl auf die Lebenssituation wie auf die jeweils gültigen gesellschaftlichen Übereinkünfte an. Die meisten IndianerInnen machten sich aus Gold gar nichts. Uns verursacht ein Goldbarren im Safe ein gutes Gefühl, weil sich die Weißen vor Jahrzehnten darauf einigten, Gold als gute Deckung ihrer wackligen Währungen anzusehen. Es hätte auch Silber, Braunkohle oder Möhrensalat sein können. Weder das eine noch das andere wird uns freilich etwas nützen, wenn sich Betriebsunfälle wie in Tscherno-byl und Fukushima häufen, das längst „globalisierte“ Ungeheuer Deutsche Bank zusammenbricht oder der emsig geschürte Dritte Weltkrieg ins nukleare Stadium übergeht. Komme ich dem durch Selbstmord zuvor, ist mir mein Schutz wichtiger als mein Leben.

Dank der Aufklärung sind Selbstmordversuch und Beihilfe zum Selbstmord in den meisten mitteleuropäischen Ländern, soweit ich sehe, immerhin nicht mehr von Strafe bedroht. Aber diesseits dieser grundsätzlichen Bestim-mungen hagelt es Verordnungen und Versuche, jene zu durchlöchern. Deshalb gehen seit vielen Jahren auch die Wortschwälle ausgiebiger ethischer Debatten auf uns nieder, in denen jeder Hinterbänkler aus dem Bundestag, jeder Bild-Kolumnist und jeder Zoologe, der einen Doktortitel besitzt, ausmessen darf, welche Hilfestellungen beim Selbstmord noch mit unseren westlichen Wertvor-stellungen zu vereinbaren seien und welche nicht. Darf „Sterbehilfe“ organisiert sein? Darf sie nur „passiv“ oder auch „aktiv“ geleistet werden? Dürfen sich Ärzte über den Hyppokratischen Eid hinwegsetzen, der wahrscheinlich schon so verbindlich auf den Gesetzestafeln stand, die Gott Moses überreichte, wie die Anordnung, Iran dürfe keine Atomwaffen haben, Israel dagegen sehr viele? Und so weiter. All diese Debatten, Ausfeilungen und Kommissi-onen, denen die Überwachung des Selbstmordgeschehens obliegt, sind überflüssig wie die Unzahl unserer Automar-ken (die fleißig für Tote und RollstuhlfahrerInnen sorgen) und auch genauso sündhaft kostspielig. Ich habe schon früher dargelegt, warum sich libertäre Gemeinschaften oder Gesellschaften nicht mit der Buchstabengläubigkeit und einem darauf fußenden Rechtssystem beschweren sollten. Es erdrückt jede Eigenverantwortung und verhindert phantasievolle Lösungen, die auf den jeweiligen Konfliktfall zugeschnitten sind. Es pumpt die Mücken durch die Instanzen, bis sie in Gestalt von Elefanten zu einer Frage der berüchtigten Staatsräson geworden sind.

Die Republik Konräteslust hat keinen Staat. Trägt der knapp 70jährige Phil Mönninger so schwer an den Folgen seines Herzinfarktes, daß er nicht mehr leben will – wen sollte das etwas angehen? Bestenfalls seine Mitbewohner-Innen im Walnußhaus. Stimmen sie ihn nicht um, werden sie seinen Willen selbstverständlich achten. Und der Arzt, der ihm die „stents“ in die Herzkranzgefäße setzte, wird ihm nun das geignete Gift verordnen und ihm erläutern, wie es einzunehmen ist. Da dies alles offen besprochen wird, braucht niemand ein schlechtes Gewissen zu haben. Da Phil versichert wird, man habe sogar schon Z. als seinen Nachfolger im Bahnhofscafe im Auge, braucht auch er sich keine Sorgen mehr zu machen. Möchte er allein sterben? Nein, er fände es schöner, wenn ein paar Leute um ihn wären. Das sorgt für Scherz und Trost. Jemand hält seine Hand. Flötist Achim Dömmersbach, schon vor dem Herzinfarkt Phils Gast, wird ihm noch einmal den Bolero spielen.

Soweit eine Variante. Viele andere sind denkbar und in wirklich freien Republiken auch erlaubt. Das schließt Fälle ein, wo Zweifel aufkommen, ob der Betroffene wirklich frei seinen Willen bekunde, oder wo er es aus Krankheits-gründen gar nicht mehr kann. Dann handeln eben noch andere. Wie immer sie handeln, sie haben sich nur untereinander und ihrem Gewissen gegenüber zu verantworten. Dritte geht das nichts an. Die Fälle müssen unter den Betroffenen bleiben. Lasse ich mich morgen von einem Freund erschießen, ist der Polizeipräsident von Gotha doch nur betroffen, weil er sich einbildet, „den Staat“ oder „die öffentliche Ordnung“ oder „das Recht“ zu verkörpern. Er verkörpert blutrünstige Schimären.

Leider scheint es für einen Selbstmord ähnlich viele Methoden wie Gründe zu geben. Ich erwähnte einmal einen 58jährigen, der sich 2007 zur Winterszeit in die Kanzel eines Hochsitzes für Jäger im niedersächsischen Solling zurückzieht, um dort langsam, über Wochen hinweg, zu verhungern und zu erfrieren. Glaubt man Ehrenburgs Babeuf-Roman, machten sechs nicht mehr rechtgläubige Konventsdeputierte aus Toulon, auf die die revolutionäre Guillotine wartete, kurzen Prozeß: sie stoßen sich mit demselben, von Hand zu Hand gehenden Dolch ins eigene Herz. In einem Roman von René Ehni erschießt sich die Hauptfigur, wählt also Thomas Marchs Methode – unter welchen Umständen, teilt Simone Beauvoir in ihren Erinnerungen Alles in allem nicht mit. Dafür bemerkt sie in der für sie typischen Altklugheit, damit habe Ehni für seinen snobistischen Helden, der an der Frage nach dem Sinn seines Lebens litt, die leichteste Antwort gewählt. Wieviel schwerer ist es doch, einen Selbstmord hübsch zu malen, so wie Beauvoirs Landsmann Decamps es verstand! Beauvoirs altkluger Wesenszug leuchtet uns allerdings ein, wenn sie versichert, sie habe sich bereits mit 40 als alte Frau gefühlt. Aber umgebracht hat sie sich nie, das wäre ihr zu einfach gewesen. Ins gleiche Horn hatte schon der Dramatiker und Soldat Theodor Körner geblasen, nachdem sich Heinrich von Kleist (1811) erschossen hatte. Er zählte den Selbstmord unter die „Kindereien, wozu weder Mut noch Kraft gehört“. Sollte Seeliger, wie so viele Menschen, nicht schwindelfrei gewesen sein, hätte ihn bereits der Gedanke daran umgebracht, einen im 5. Stock seines Plattenbaus gelegenen Fenstersims zu erklimmen, um sich in die Tiefe zu stürzen. So geschehen im Oktober 2016 in Schmölln, Thüringen. Noch weniger schön liest sich natürlich das Ende von Darwins Kapitän FitzRoy, ich sage nur: Rasiermesser und Kehle. Ein Verhungern ohne Erfrieren halte ich immerhin für vorstellbar, obwohl es ziemlich schmerzhaft sein dürfte. Jener Niedersachse hatte in einem Heft getreulich festgehalten, wie nacheinander seine inneren Organe rebellierten und ausfielen und wie weh das tat. Aber das Leben, wie es sich meist so schön hinzuziehen pflegt, tut eben oft weher.

Meine Liste von Selbstmordfällen, die ich im Laufe einiger Jahre mit Hilfe von Nachschlagewerken, biografischen Verzeichnissen und Medienberichten angelegt habe, umfaßt rund 800 Personen. Davon habe ich für dieses Werk rund 280 Fälle ausgewählt. Schon die Liste stellt freilich nicht mehr als ein Klacks dar. Denn allein pro Jahr bringen sich (derzeit) weltweit mindestens 800.000 Menschen um, die gescheiterten Selbstmordversuche nicht eingerechnet. Wieviele werden es erst im ganzen gewesen sein, seit Adams und Evas Sündenfall! Nur heißt eben nicht jeder Adam oder Cato der Jüngere (erdolcht sich 46 v.Chr. bei Karthago in Afrika) und bringt es aufgrund seiner angeblichen Bedeutung in die Nachschlagewerke und Listen. Der dunkelhäutige Jugendliche vom Schmöllner Fenstersims war von Beruf „Flüchtling“. Er brachte es wenigstens in die Lokalpresse. Kurz und schlecht: die meisten SelbstmörderInnen, die ich vorstelle, gelten als mehr oder weniger prominent. Viele von ihnen sind beispielsweise KünstlerInnen oder PolitikerInnen, also gewissermaßen schon von Hause aus Verrückte. Viel interessanter und aufschlußreicher wäre es zu beobachten und zu untersuchen, warum und wie sich sogenannte normale Menschen umbringen. Aber die will man eben gar nicht beobachten – oder sie wollen selber gar nicht beobachtet sein. Vor einigen Jahrzehnten brachte sich ein 46jähriger, sogar angesehener deutscher Orgelbaumeister in seiner Provinzstadt um. Niemand, Stadtarchiv und Lokalpresse eingeschlossen, weiß Näheres oder behauptet diese Unzuständigkeit jedenfalls. Um Auskünfte gebeten, teilt mir eine jüngere nahe Verwandte des Orgelbau-meisters mit, „ehrlich gesagt“ sei sie über meine Anfrage „schockiert“. „Auf diese Familientragödie hat die Welt nicht gewartet. Sie ist etwas persönliches und sicher nicht für die breite Öffentlichkeit. Aber für jemanden der alles mit allen teilen möchte ist das wahrscheinlich nicht verständlich.“ Gruß X.

Auf den Gesichtspunkt der sogenannten Privatsphäre gehe ich andernorts ein.** Was ich der Verwandten aber immerhin hoch anrechnen muß: sie blieb nicht völlig stumm, sie erklärte sich. Die Regel sieht anders aus. Und ob sich irgendein R. durch die Menge der Ignoranz, die er als Nachforscher erntet, entmutigt oder gekränkt fühlen könnte, ist der Welt offensichtlich egal. Das ist seine Privatsache.

* Roman von Friedrich Georg Jünger, Stuttgart 1979
** Im Band über Türme bei Susanne Lothar


Nachwort. Neulich kam mir ein Spiegel-Artikel aus 2007 unter, der von den bekanntlich nicht seltenen Hinrich-tungen mittels Giftspritze in dem freiheitsliebendsten Land der Erde, den USA, handelte. In China ist es vermutlich kaum anders. Es komme dabei auch deshalb immer wieder zu ausgefallenen Grausamkeiten, weil die Betäubung vor oder bei der Hinrichtung versage. Das liege mal an schlampiger Verabreichung, häufiger aber daran, daß die für den subjektiven Fall angemessene Auswahl und Dosierung der Betäubungsmittel sehr schwierig, im Grunde sogar unwägbar sei. Dasselbe Problem hat ersichtlich jeder Selbstmörder, der sich zu vergiften beabsichtigt. Im mittelalterlichen Häuptlingtum der Natchez (am Mississippi) scheint die Sache noch unbedenklicher gewesen zu sein. Starb Große Sonne, hatten ihm „selbstverständlich“ seine Frauen, Wächter, Bedienten in den Tod zu folgen. Doch auch in der restlichen Bevölkerung wurde um das Privileg gewetteifert, Große Sonne auf seinem letzten Weg zu begleiten. Jeder, der ihm also freiwillig folgte, verließ sich auf ein Gebräu aus Tabak und auf seine Freunde oder Verwandten. Jenes ließ ihn das Bewußtsein verlieren; diese erwürgten ihn. Auch die Frauen dieser hartgesottenen Prä-Südstaatler fackelten nicht lange. Fuhr der Blitz in einen Tempel, mußte die Gottheit besänftigt werden – indem die Frauen auch noch ihre Säuglinge in die Flammen warfen.*

Somit kann ein schlecht erwogener und ausgeführter Selbstmord leidvoller sein als das Übel, das ihn veranlaßt hat. Das schließt natürlich auch das drohende Scheitern des Selbstmordversuches ein. Neben den eingangs erwähnten 800.000 Suiziden jährlich kommt es nach Schätzung der WHO überdies zu „mehreren Millionen“ Selbstmordversuchen jährlich, also zu Fehlschlägen. Und nicht selten haben diese für den Gescheiterten äußerst unangenehme gesundheitliche und soziale Folgen, von Gewissensqualen einmal abgesehen. Konnte er beispiels-weise vorher noch durchs Zimmer schlurfen, hockt er nun im Rollstuhl. Und so weiter. Kann er aber doch noch laufen, wird der Gescheiterte, soweit ich weiß, zumindest in Deutschland wegen „erheblicher Selbstgefährdung“ sofort in die Psychatrie gesteckt. Aufgrund seines Suizidversuches wird ihm nämlich eine psychische Erkrankung unterstellt, die zu diagnostizieren, zu bekämp-fen und möglicherweise zu heilen ist – wahrscheinlich mit Medikamenten und Methoden, von denen der Gescheiterte bei seinem Suizidversuch nur träumen konnte.

Ich wäre also der letzte, der Empfehlungen darüber abgäbe, ob und wie sich einer das Leben zu nehmen hätte. Ich empfehle jedoch zweierlei. Erstens würde ich versuchen, meine Mitmenschen sowenig wie möglich in Mitleidenschaft zu ziehen. Sie haben nämlich mein Hirn von der Kühlerhaube ihres Wagens oder von der Wand meiner Mietwohnung zu kratzen und ein Dutzend schlafloser Nächte zu durchstehen, in denen ich ihnen erscheine.** Möglicherweise wäre es ideal, sich zum Zwecke des Umbringens in abgelegene Gefilde zu verziehen, etwa in eine kaum bekannte Höhle, wo man vielleicht erst nach Jahren entdeckt wird, und dann nur als säuberlich abgenagtes Skelett. Da hätten sich auch gleich die Bestattungskosten erledigt. Aber wieviel Mühe und Geld dürfte es dafür heutzutage verschlingen, solche abgelegenen Gebiete und unbesuchten Höhlen überhaupt noch aufzutreiben und zu erreichen!

Zweitens empfehle ich, sich die Sache rechtzeitig zu überlegen und gegebenenfalls gewisse Vorkehrungen zu treffen. Eine jüngere Bekannte hat mich ausgelacht, weil ich mir „jetzt schon“ den Kopf über den „Ernstfall“ zerbreche. Sie will lieber warten, bis sie gelähmt oder erblindet, völlig aufgelöst oder bereits halb verblödet ist. Oder bis sie von einer Drohne aufgepickt wird, die sie in einen netten Folterkeller ausführt, wo es türkische Spezialitäten und knackige junge BKA-Mitarbeiter gibt. Ich kann sie aber nicht wirklich verurteilen, denn ich war auch einmal jung und unsterblich. Zudem ist das Ganze eine Frage des Naturells. Der eine liebt die Vorsorge, der andere die Überraschung.

Man könnte im Falle meiner Bekannten freilich auch ein Ausweichen wittern. Mein Eindruck nach getaner Arbeit ist nämlich der, aller Aufklärung zum Trotze sei die Mißbilligung des Selbstmordes, ja bereits die Mißbilligung einer Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstmord nach wie vor verbreitet und tief verwurzelt. Dafür sehe ich im wesentlichen zwei Gründe: Angst und Anmaßung. Die Angst geht der Auseinandersetzung aus dem Wege, weil alles, was mit dem Tod zusammenhängt, unerfreulich, vielleicht sogar erschütternd oder erschreckend ist. Die Anmaßung, die dem Selbstmord etwas Anrüchiges verleiht, kommt von der uralten beliebten Überzeugung, der Mensch sei besonders wertvoll, sein Fortleben sei für das Wohlergehen des Universums unabdingbar. Damit trifft sich diese Mißbilligung nebenbei mit der über Jahrhun-derte, besonders vor der Schwelle zum Kapitalismus gepflogenen Ächtung und Verfolgung der Geburten-kontrolle.*** Wo jedoch steht jene Wertzuweisung geschrieben, außer in anmaßenden und dummen Büchern? Eher ist doch das Gegenteil der Fall. Unser Planet und ein paar Nachbarplaneten werden aufatmen, sobald wir endlich verschwunden sind.

* Peter Farb: Man's Rise To Civilization, USA 1968, hier als Die Indianer, München 1988, S. 195/197
** Zuganhaltern empfehle ich zugabeweise mein Zwerglied schock lass nach (mp3, 938 KB)
*** Heinsohn/Steiger: Die Vernichtung der weisen Frauen, 1985, Neuausgabe München 1989

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