Mittwoch, 20. Juni 2012
Ein richtiger Dichter
Umfang 12 Druckseiten. Erstveröffentlichung (des Hauptteils) 2009 in Nr. 152 der Zeitschrift Die Brücke.


Die „Heiterkeit“, die ihm gelegentlich bescheinigt wird, finde ich bestenfalls in seinen Erzählungen. Wenn seine essayistische Prosa – drei sogenannte Romane einge-schlossen – durch Klarheit besticht, ist es doch keine sommerliche. Mit ihr stellt sich ein schwermütiger und hellsichtiger gelernter Jurist den Verhängnissen, die er heraufziehen sieht. Als er 1928 seinem älteren Bruder Ernst nach Berlin folgt, betätigt er sich bereits über-wiegend als Gelehrter und Schriftsteller. Während die Gedanken seiner Freundin Luise „häuslich“ sind, laufen die von Friedrich Georg Jünger auf den Verdacht hinaus, das Haus werde gerade „abgebrochen“. So steht es in Jüngers zweitem Erinnerungsbuch Spiegel der Jahre, das sich hauptsächlich der Berliner Zeit widmet, die 1942 endet. Er läßt sich in Überlingen am Bodensee nieder. Vielleicht brauchte er drückende Wassermassen und wallende Nebel, wuchs er doch in Niedersachsen am sogenannten Steinhuder Meer auf. Genau das war sein essayistisches Geschäft: den Nebel vertreiben.

In dem Städtchen am Bodensee wird Jünger (1977) auch sterben. Er war von Hause aus sicherlich nicht unbegütert, doch heißt es, in Überlingen habe er sich – als Schrift-steller – nur über Wasser halten können, weil seine Frau Citta im Erdgeschoß des gemeinsamen Hauses einen kunstgewerblichen Laden betrieb. Der Beobachter des allgemeinen Abbruchs verschmäht die Häuslichkeit also keineswegs. Heute weist eine kleine Tafel neben dem Schaufenster nicht etwa auf Citta, vielmehr auf den „Dichter“ Jünger hin. Ich halte es schon seit Jahren für eine Hundsgemeinheit, deutsche WortkünstlerInnen zu spalten, indem man ungefähr 98 Prozent von ihnen als SchriftstellerInnen bezeichnet, zwei dagegen zu „Dichtern“ erhebt. Dieser Wortadel wird neben den Gebrüdern Jünger vor allem von Aichinger, Hacks und Handke repräsentiert. Wer deren Schaffen kennt, weiß, daß es hier keineswegs um die vielleicht noch sinnvolle Unterscheidung zwischen Prosaschreibern und Lyrikern geht. Im übrigen hätte ich selbst den Lyriker Friedrich Georg Jünger nicht an der „Dichter“-Tafel plaziert. Seine in erstaunlicher Masse verfertigten (und verlegten!) Gedichte sind überwiegend ein nachgeahmter Schwulst, dem jede faßbare Vorahmung abgeht.

Die Ahmung ist ein grundlegender Begriff aus Jüngers Untersuchung Die Spiele von 1953 – für meinen Ge-schmack sein schönster großer Essay. Er grenzt hier die nach- und vorahmenden Spiele von den Geschicklichkeits- und den Glücksspielen ab. In der Ahmung hat er Darstel-lung und Beschwörung zusammengezogen. Sie zeigt sich genauso am mit Puppen spielenden Mädchen wie auf dem Theater. Sie zeigt sich auch in der Stierkampfarena, womit Jünger meinen Geschmack allerdings verfehlt. In seiner Verherrlichung des angeblich ausgewogenen Kräfte-messens zwischen Stier und Matador übergeht er sowohl die Qualen des Stieres wie die Tatsache, daß diesem das befremdliche Spiel aufgezwungen wird. Bei freier Wahl hätte der Stier dem Selbstmord vielleicht die blühende Pampa vorgezogen. Hier lugt natürlich der heldisch gestimmte Jünger hervor, der am Ende sogar den Niedergang des Spiels Krieg beklagt. Die in jeder Hinsicht furchtbaren, Raubbau treibenden Materialschlachten im großen Stil lehnt der bekannte Kritiker der Perfektion der Technik selbstverständlich ab. Immerhin hat er am Ersten Weltkrieg noch freiwillig bis begierig teilgenommen; von schwerer Verwundung (1917) bleibt eine dauerhaft steife rechte Schulter zurück. Eine befremdliche „nationalrevo-lutionäre“ Phase Jüngers endet erfreulicherweise rund 15 Jahre später mit seinem Erschrecken vor dem totalitären und „gemeinen“ Charakter der faschistischen Bestre-bungen. Jünger möchte den ehrenhaften und ebenbürtigen Krieg. Mit welcher Droge ihm der Vater – ein Apotheker – den unstillbaren Wunsch, sein Leben aufs Spiel zu setzen, eingeimpft hat, läßt sich Jüngers Jugenderinnerungen Grüne Zweige nicht entnehmen.

Zum guten Krieg gesellt sich am Schluß der Spiel-Unter-suchung noch der gute Fürst – Jünger will ihn wiederha-ben. In einer gutgelaunten, womöglich gar heiteren Skizze einer „Welt des Spiels“ versichert uns der Liebhaber antiker Mythologie, in dieser Welt käme es wieder zu „Herrschern, die geliebt werden könnten, da sie ein Mindestmaß an Zwang ausübten. Sonnenkönige würden wieder erscheinen, und man würde sie vergolden wie die zwecklosen Kuppeln von Domen und Palästen.“ Hier fiel mir unwillkürlich Werner Bergengruens Reformationszeit-Roman Am Himmel wie auf Erden ein, in dem uns der brandenburgische Kurfürst Joachim ganz im Sinne Jüngers als Wohltäter gegeben wird. Der melancholisch gestimmte Joachim ringt immer schwer mit sich, während seine Schergen Köpfe rollen lassen. Mehr davon später.

Jüngers umfangreiche Untersuchung der Perfektion der Technik – im wesentlichen schon 1939 entstanden – beschreibt die moderne Welt als rastloses Verzehrwerk, das sich – qua Organisation – immer mehr und immer entlegenere soziale und natürliche Ressourcen einverleibt. Mensch und Material verkommen zur Funktion, um den Selbstlauf des gefräßigen Molochs zu garantieren. Lewis Mumford tauft ihn in seinem zwischen 1964 und 1970 erschienenen Werk Mythos der Maschine „Megama-schine“, ohne Jünger zu nennen. Allerdings führt er im Literaturverzeichnis Jüngers The Failure of Technology an, ein Teildruck, der 1949 in den USA herauskam. Die vollständige, stark erweiterte Perfektion der Technik ist 1953 bei Vittorio Klostermann erschienen. Nicht zufällig kreist die Erweiterung um die Antipoden Maschine und Eigentum. Schließlich handelt es sich bei jener Einverlei-bung um einen zweigleisigen Prozeß sowohl der Enteig-nung wie der Entfremdung: immer mehr Menschen werden der Möglichkeit beraubt, sich selbst zu versorgen und ihr Geschick selbst zu bestimmen. Für mein Verständnis trifft sich hier Jüngers „konservativer“ mit dem anarchistischen Blickwinkel. Das Eigentum – etwa an einem Wohnhaus, einer Werkstatt, einer Scheune und ein paar Hektar Wiesen und Wälder – muß ja nicht unbedingt Kurfürst Joachim oder Großschriftstellern Marke Martin Walser gehören, die es (als ihren Drittsitz) von einem schlechtbezahlten Gärtner verwalten lassen. Kommunen aller Art haben ihre mehr oder weniger große Unabhängig-keit stets auf Eigentum gegründet.

Einen frühen treffenden Blick wirft Jünger auch auf den damals „real existierenden“ Kommunismus – den er als „Maschinensozialismus“ lediglich für einen Zwillings-bruder des „Maschinenkapitalismus“ hält. Für den „Kleinen Mann“ ist es selbstverständlich Jacke wie Hose, ob Ferdinand Porsche auf seinen Fließbändern Volks-wagen, Walter Ulbricht dagegen Trabanten fertigen läßt: er ist Rädchen im Getriebe und unterliegt dem ent-sprechenden Entfremdungsprozeß. In dieser Hinsicht empfehle ich allerdings, begleitend zu Jüngers Perfektion der Technik das 1999 veröffentlichte Schwarzbuch Kapitalismus von Robert Kurz zu studieren, denn die beiden ergänzen sich. Als Nichtmarxist unterschätzt Jünger die Entfremdung, die sich völlig unabhängig vom Grad der Technisierung und der Organisation aus der Wertform ergibt. Diese regierte auch die DDR. Die schließlich im Geld verkörperte Wertform drischt der Vielfalt der Welt ihre sinnlichen Qualitäten aus, um dafür das quantitative Denken zu züchten, das heute die Welt so gut wie absolut beherrscht. Dafür unterschätzt Kurz – wie ich schon an anderer Stelle erwähnte – die Entfremdung, die unabhängig von der Produktionsweise und den Eigentumsverhältnissen in jeder großangelegten Maschi-nerie lauert. Sie terrorisiert Personen mit Sachzwängen. Sinn ist ihr fremd.

Jünger war Naturfreund. Er liebte den Berliner Bota-nischen Garten, der wiederholt im Spiegel der Jahre wie in seinen Erzählungen auftaucht, mehr noch allerdings die uneingezäunte Natur. Betörende Erzählungen wie Dalmatinische Nacht, Spargelzeit, Im Kloster, Urlaub sind geradezu in Natur eingebettet. Von der Front beurlaubt, gibt sich der Offizier dem Angeln und der Fischerstochter Marianne hin. Als sie vermutet, solche wie er könnten nur am Wasser leben, gibt er ihr recht.
Am Ufer liegen und über den See hinsehen, wenn er still ist und wenn er sich wiegt. Durch das Röhricht streifen, dem Gesang der Rohr-sänger lauschen, den Ruf des Schwarzspechts aus dem Walde hören. Wasser ist das beste. Was ist es, das mich zum Wasser hinzieht? Es muß die Bewegung sein, die wiederkehrt.
Leider kehrt auch die Front wieder: ein Befehl reißt den Angler vorzeitig aus dem Wonnebad; zwei Schicksale bleiben offen. Jüngers Erzählungen sind zumeist klar, schlicht und formschön erzählt und enthalten sich durchweg des Pathos', das mir die Lektüre der Novellen und Romane seines Zeitgenossen Ernst Wiecherts streckenweise vergällt. Ich bemerkte bereits in meinem Wiechert-Porträt, es wäre interessant zu wissen, ob sich die beiden Autoren jemals begegnet seien. In der Naturnähe und Apparatefeindlichkeit treffen sie sich ja durchaus. Beide können auch zur „Inneren Emigration“ gezählt werden, die Wiechert allerdings nicht vor einem dreimonatigen KZ-Aufenthalt bewahrte. Wie ich immerhin weiß, konnte Wiechert weder Thomas Mann noch Ernst Jünger leiden. Das Dünkelhafte lag ihm so wenig wie das Militärische. Ob er Friedrich Georg Jünger eine gewisse Neigung zum Vornehmen angekreidet hätte, läßt sich schwer einschätzen. Die „Soziale Frage“ hatten sie beide nicht gerade mit Löffeln gegessen. Die vielen unterbe-zahlten oder unterernährten oder unter die Erde kommenden Opfer der Megamaschine lösen sich bei deren Trend zur „Perfektion“ irgendwie auf. Jünger weint ihnen keine Tränen nach. Schon in seiner merkwürdigen frühen Untersuchung Das Komische von 1936/48 tritt „der Pöbel“ wiederholt als für Jünger unerfreuliche Erscheinung auf. Das „Gemeine“ und „Niedere“ schlägt ihm nicht nur aus den Nazihorden entgegen. In seiner erwähnten „Welt des Spiels“ bekennt er sich ausdrücklich zur Hierarchie.

Jüngers Beobachtung, das Komische erwachse stets Widersprüchen und Regelverstößen, ist natürlich nicht neu. Aber für ihn verstößt auch das Häßliche gegen die Regel – weshalb es bei allen komischen Effekten im Spiele sei. Damit wird Jüngers veränderter Blickwinkel originell, wenn auch nicht gerade begrüßenswert. Das Schöne gerät Jünger zum maßgeblichen Monolithen, an dem sich die KomikerInnen ihre Birnen einrennen. Nicht schön ist alles Unangemessene und Übertriebene; nicht schön sind zerstreute, verschrobene, irgendwie „auffällige“ Menschen. Je individueller – könnte man deshalb im Geiste Jüngers formeln – desto anfälliger für den komischen Effekt. Aber selbstverständlich auch: je rebellischer! Ironie ist ihm ein Greuel, weil sie zersetzt – was soll er da erst von Streiks und Aufständen halten! So erweist sich „das Schöne“ Jüngers erstaunlicherweise als das Gegebene, allgemein Anerkannte – kurz, als die Norm. Sinn des komischen Effektes ist es, uns dieses Schöne erkennen und nach unserem befreiten Lachen doppelt und dreifach schätzen zu lassen. Hurra, die Norm hat uns wieder! Es ist alles wieder im Lot. Ich nenne dies nur deshalb erstaunlich, weil sich Jünger ja eigentlich in seiner Kritik der Perfektion der Technik mit Abscheu von allen uns normierenden Großstanzen abwandte. Tauschwert und Geld zählen dazu, wie ich andernorts zeige.

Eine gleichfalls normierende Kraft ist für Jünger der Kalkül, dem er allerdings mißtraut. In Sprache und Denken von 1962 stellt er ihm eben die Sprache gegenüber. Im Gegensatz zum Kalkül ist die Sprache vielfältig, rich-tungslos, unberechenbar. Statt „logisch“ zu sein, enthält sie mit aller denkbaren Logik alle Widersprüche und hilft uns dabei, diese aufzudecken. Es ist nur konsequent, wenn Jünger 1969 mit seinem letzten großen Essay Die voll-kommene Schöpfung – ein ähnlich mißverständlicher Titel wie die Perfektion – am Gedanken einer zielgerichteten Evolution rüttelt. Nebenbei erweist er sich darin als verblüffend kenntnisreicher Biologe. Es bleibt dem US-Paläontologen Stephen Jay Gould vorbehalten, das Gebäude, in dem Teleologie und Mythos Fortschritt nisten, rund 20 Jahre später (durch die Bücher Zufall Mensch und Illusion Fortschritt) zum Einsturz zu bringen. Man sieht, Jüngers Interessen waren weit gespannt, ohne daß er allein auf weiter Flur zu stehen hatte. Verdienste erwarb er sich auch durch die gemeinsam mit Max Himmelheber begründete Jahresschrift für skeptisches Denken Scheidewege. Deren skeptisches war zugleich ökologisches Denken – um 1970 alles andere als selbstverständlich. Sie erscheint nach wie vor. Dagegen kann ich meinen Hut kaum vor der Tatsache ziehen, daß sich Jünger 1963 das Bundesverdienstkreuz anheften ließ. Von einem Staat, der auf alle Regierungsebenen erprobte Nazis hievte? Der auf eine neue Wehrmacht und brandneue Atomwaffen pocht? Der Scharen von „Kommunisten“ aus der Norm fallen läßt? In seinem Lichtenberg-Porträt zitiert Jünger unerschrocken und sogar genüßlich den tiefsinnigen Scherz des professoralen Kobolds aus Göttingen von den vier Deputierten. Gegen die Jünger & Co gewandt, braucht man ihn bloß auf Dekorierte umzumünzen: „Vier Deko-rierte pissen gegen eine Kutsche, die Kutsche geht weg, und sie pissen gegeneinander“ – weil sie offenbar auf beiden oder gar allen Seiten der Staatskarosse zu finden sind.

Ich äußerte mich abfällig über Jüngers drei Romane. Am wenigsten mangelhaft ist ihm dabei noch Heinrich March geraten – die nur schwach verschlüsselte und variierte eigene Familiensaga, die erst nach Jüngers Tod erschien. Die beiden vorausgehenden Romane wirken stark konstruiert, lassen also gerade die alles verbürgende und uns vereinnahmende Eleganz vermissen, die man gewöhnlich der Heiterkeit zuschreibt. Das ist bei der March-Familiensage (naturgemäß) gelinder ausgefallen. Alle drei Romane leiden jedoch an jenem „Sprechtüten-Syndrom“, das ich einmal Ernst Kreuders Romanfiguren bescheinigt habe. Im March-Roman macht es sich immerhin nur noch insofern geltend, als sämtliche interessanten Figuren in jeder Alltagslage tiefsinnige Betrachtungen anstellen – von der Kinderzofe über den Müller bis zum „Präsidenten“ Ludolf March, von dem wir nie erfahren, wem oder was er präsidiert. Dafür verbirgt sich unschwer zu erkennen Jüngers „großer“ Bruder Ernst hinter ihm. Allerdings tritt er hier nur als Jurist und Jäger auf – nicht als Hauptmann der Wehrmacht, der im besetzten Paris (Mai 1941) die Erschießung eines Deser-teurs beaufsichtigt. Ich ergreife die Gelegenheit beim Schopf und komme mit dem Thema Tod zum Schluß.

Man glaube nicht, sterben sei schwer! Für den 60jährigen Heinrich March muß es sich dabei schon deshalb um eine leichte Angelegenheit handeln, weil jeder es leiste. Auf den ersten Blick besticht diese Aussage. Auf den zweiten ist sie Unfug. Der Tod wird erlitten, zugefügt, von befremdlichen höheren Mächten willkürlich angeordnet. Warum, bleibt schleierhaft. Leiste ich dagegen etwas, weiß ich gewöhn-lich, was ich tue – daß sie ihre befremdlichen Ausgeburten erlitten, beteuern lediglich die Modernen LyrikerInnen. Beim Sterben weiß ich nichts. Der Tod liegt völlig im Dunkeln, wenn auch die Scheintoten hartnäckig von ihren Helle-Erlebnissen berichten, aber das ist ein anderes Thema. Er läßt sich auch nicht denken, wie Alain im Dezember 1907 im Propos Calinos Laterne betont. Wer ihn zu denken wähne, denke in Wirklichkeit (wo auch sonst?) nur an ein anderes Leben.

Wie sich versteht, verehrte auch Friedrich Georg Jünger Goethe. Jetzt wissen wir, warum der scheidende Geheim-rat mit den letzten Atemzügen nach „Mehr Licht!“ verlangte. Ihm schwebte vor, wie Calino eine Laterne anzuzünden um zu sehen, wie dunkel es in der Höhle sei. Weiter als Metaphysik tragen Pointen.

Die folgenden zwei Betrachtungen verstehe ich als Ergänzungen, geschrieben 2014


Brüderlichkeit à la Jünger

Als ich kürzlich von einer neuen Doppel-Biografie über die Gebrüder Jünger erfuhr (Jörg Magenau: Brüder unterm Sternenzelt, 2012) und einige lobende Rezensionen darüber las, entschloß ich mich, meine große Abneigung gegen den älteren und berühmteren Jünger-Bruder, gegen Ernst Jünger also, zu überwinden und das Buch zu lesen. Mein Porträt des jüngeren Bruders, Friedrich Georg, hatte ich nämlich (2009) verfaßt, ohne mich dabei auf nennens-werte biografische Lektüre stützen zu können. Um es vorwegzunehmen: an den Grundzügen meiner oben gegebenen Darstellung habe ich nichts zu berichtigen. Dagegen will ich gerne einige Ergänzungen vornehmen. Was mich zusätzlich zu dieser Lektüre bewog, war mein gegenwärtiges Interesse für über 95jährige, für echte Greise also. Immerhin hatte es der Hauptmann der deutschen Wehrmacht und Schriftsteller mit dem bekannten stählernen Herzen Ernst Jünger bereits auf 102 gebracht, als er 1998 in seiner oberschwäbischen Barockvilla unter großer Anteilnahme der sogenannten Öffentlichkeit seinen angeblich sehr bedeutenden Geist aufgab. Zu allem Überfluß hatte sich auch noch eine wichtige Konkurrentin von Jüngers erster Ehefrau Gretha auf meine Greisen-Liste gedrängt. Die aus Deutschland stammende, „halbjüdische“ Kinderärztin Sophie Ravoux (geb. Koch, 1906–2001), im besetzten Paris für viele Monate Gespielin des Hauptmanns Jünger, wurde mit 95 Jahren erheblich älter als Gretha.

Bei der Lektüre suchte mich wiederholt ein dreifaches Erschrecken heim. Zunächst erschreckte mich der in der Tat herzlose, brutale Dünkel des Ernst Jünger, der mit ständiger Kriegsverherrlichung, mindestes aber Kriegs-verharmlosung einhergeht. Das lag freilich nicht an Magenaus Art der Darstellung, die sich eines unerschütter-lichen, alles verstehenden, wissenden Plaudertons befleißigt, von dem die SchöndünsterInnen in unseren Zeitungsfeuilletons verständlicherweise begeistert sind. Vielmehr lag es an meinen geringen Vorkenntnissen. Ich wußte nicht, wie widerlich Jünger wirklich war. Dieser Zug paarte sich gelegentlich ohne Zweifel mit echter Kamerad-schaft und gerechter Anerkennung von Verdiensten. So hatte der Gefreite Ludwig Hengstmann auch nach Jüngers Tagebucheintrag das Verdienst, seinen angeschossenen Kompanieführer im August 1918 in Flandern auf dem eigenen Rücken unter großen Gefahren aus der übelsten Gefechtszone zu schaffen und ihm damit das Leben zu retten. Die letzten Meter bis zu einer schützenden Bodenwelle hatte Jünger allerdings wieder allein zurück-zulegen, war ihm doch der „nibelungentreue“ Hengstmann jäh unter dem Leib weggeschossen worden. Die Kugel fuhr dem Gefreiten durch den Kopf, Jünger landete unsanft auf dem Boden und kroch dann tunlichst in Deckung. Mein Gott! dachte ich wütend, warum hat es ausgerechnet Hengstmann, nicht Jünger erwischt! Dadurch wären uns viele reaktionäre, raunende, meistens schlecht geschrie-bene Schriften und noch ungleich mehr an „Sekundär-literatur“ erspart geblieben. Das verweist auch gleich auf mein zweites Erschrecken. Ich begreife nur schwer, daß ausgerechnet ein eitles und zynisches Ekel wie Ernst Jünger einen derart großen Ruhm genießen darf. Warum ist es Legionen von Journalisten, Literaturwissenschaft-lern, Biografen, Pädagogen und selbst Politikern gestattet ihren Erfolg zu mehren, indem sie sich mit diesem Erfolgreichen befassen?

Nach dieser rhetorischen Frage komme ich zu meinem dritten Erschrecken. Es wurde von der engen Freundschaft zwischen den Brüdern ausgelöst, die ich offensichtlich unterschätzt hatte. Sie liebten sich, waren sich in den meisten wesentlichen Fragen einig, unternahmen unzählige gemeinsame Wanderungen und Auslandsreisen miteinander und standen darüber hinaus nahezu zeit-lebens in ständigem Austausch. Eine gewisse Abkühlung stellte sich erst um 1962 ein, als Ernst Jünger die 22 Jahre jüngere Frau Dr. Liselotte Lohrer zur zweiten Ehefrau nahm. Der Titel ist nicht unwichtig, weil Lohrer vornehm-lich als Lektorin und Managerin des knapp 70jährigen Großschriftstellers in die erwähnte Wilflinger Villa einzog. Im „Seeuferhäuschen“ der anderen Jüngers in Überlingen (am Bodensee) konnte man diese Dame und diese Verquickung nicht leiden.

Das Häuschen, in dem Citta Jünger ihr Kunstgewerbe-geschäft betrieb und dadurch den Löwenanteil der Familieneinnahmen erzielte, hatte sie übrigens von ihren Eltern geerbt. Es war nicht groß, aber das Ehepaar hatte mit dem Knaben Johannes von Reumont, den es adoptiert hatte, lediglich einen Mitbewohner. Vermutlich war es schuldenfrei. Zwar erzielte Friedrich Georg Jünger niemals beträchtliche Einkünfte durch seine Veröffentlichungen, doch konnte er sich immerhin (aufgrund seiner Verwun-dung im Ersten Weltkrieg) auf eine Soldaten-Rente stützen, die um 1930 über 100 Reichsmark betrug und damit mindestens dem halben Monatslohn eines gelernten Arbeiters entsprach. Es kam hinzu, daß ihm in Notlagen stets sein Vater unter die Arme griff, der als Apotheker und Aktienbesitzer wohlhabend geworden war. Schon die vielen Reisen der Brüder ans Mittelmeer und die ständige Erweiterung ihrer Bibliotheken kosteten ein Heidengeld.

Es wäre also verfehlt, in FGJ einen bedauernswerten abgerissenen Außenseiter zu sehen. Im Gegenteil, der angedeutete Hintergrund, sorglose Kindheit in einer Art Schloßpark am Steinhuder Meer eingeschlossen, macht gerade klar, welchem Nährboden sich jener Dünkel verdankt, der mir bei beiden Brüdern sauer aufstößt. Sie waren vornehme Leute, meilenweit vom sogenannten Pöbel entfernt. Mehr noch, sie waren auch auserwählte Leute – doch statt in ihrer privilegierten Herkunft ein Anlaß zu Demut oder gar Solidarität mit den vielen weniger Privilegierten zu sehen, nutzten sie sie als will-kommenen Sockel für ihre Überheblichkeit. So nimmt es nicht Wunder, wenn beide Familien Jünger stets Haus-angestellte hatten, Dienstboten also. Das war selbstver-ständlich. Nur EJ war allerdings reich und skrupellos genug, sich zumindest in den Wilflinger Jahrzehnten vor Frau Dr. Lohrer stets einen Sekretär zu halten. Nebenbei fand er auch nichts dabei, sich seine geräumige, zweigeschossige Barockvilla vom Herrn des gegenüber liegenden Schlosses für „symbolische“ 100 Mark pro Monat vermieten zu lassen. Für EJ war es glasklar, daß einem Genie wie ihm alle erdenkliche Unterstützung und Schmeichelei gebührte.

Aufgrund der Darstellung Magenaus nehme ich an, ein nicht unerheblicher Unterschied zwischen den Brüdern habe im Naturell gelegen – und nicht etwa im Weltan-schaulichen. FGJ, der Liebhaber der Blumen, der Vögel und des Wassers, galt als der weichere und nachsichtigere Charakter von beiden. Das hieß aber keinewegs, er habe beispielsweise mehr Mitleid mit Schlachtvieh, Proletariern, Juden oder Russen empfunden. Aus ideologischen oder sozialen Gründen lehnte er Härte sowenig ab wie sein weitaus militaristischer gestimmter Bruder. Dafür war auch jede Lüge, jeder Selbstbetrug und jeder Selbstwider-spruch gut. Typisch für Hunderttausende ihrer Lands-männer nach dem „verlorenen“ Zweiten Weltkrieg ist die Ansicht der Brüder, die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten sei geradezu empörend. Was dazu geführt hatte, ein gnadenloser Vernichtungskrieg der Deutschen gegen Polen, Russen und so weiter, blendeten sie ebenso gnadenlos aus. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich EJ gegen die abwegige und „denunziatorische“ Frage nach der Kriegsschuld mit dem Hinweis gewandt, bei Krieg handele es sich um einen „schicksalshaften Vorgang, der in die Gemeinschaft eindringt und sie gleich den Gezeiten bewegt.“ Die Vertreibung als Kriegsfolge war jedoch nicht schicksalshaft, wie man sieht, sondern das Werk abgefeimter feindlicher Kräfte.

Entsprechend hatten sich beide Brüder nie wirklich von ihrem jugendlichen Schwelgen in faschistischen Parolen gelöst – und hüteten sich später wohlweislich davor, zu dieser Vergangenheit zu stehen oder gar Selbstkritik zu leisten. Nein, sie deckten den gnädigen Mantel des Vergessens über so manchen peinlichen Exzess. Dagegen hielten sie an ihrer engen Freundschaft mit dem sogenannten Philosophen Martin Heidegger fest, dem schließlich niemand nachweisen konnte, er habe jüdischen Studenten der Freiburger Universität (die er ab 1933 leitete) die Zähne eingeschlagen oder sein in Schweins-leder gebundenes Werk Sein und Zeit eigenhändig in die Hände des Führers Adolf Hitler gelegt. Allein diese gemeinsame Freundschaft der Brüder ist geeignet, bei Beobachtern wie mir Ekel hervorzurufen. Hoffnungsfroh fragte ich mich in meinem FGJ-Portrait, ob der „Dichter“ vom Bodensee womöglich mit Ernst Wiechert befreundet war, was ja wenigstens als gewisser Ausgleich aufgefaßt werden könnte, doch dafür findet sich bei Magenau kein Anhaltspunkt. Er erwähnt Wiechert noch nicht einmal. Das gleiche gilt nebenbei für den Berliner Kunstkritiker Karl Scheffler, der in Überlingen, zeitlich parallel zu FGJ, seinen Ruhestand verbrachte. Aber Scheffler stand eher links, und falls FGJ ihn kannte, dürfte er ihn gehaßt haben. Scheffler starb 1951.

Während sich Hauptmann Ernst Jünger nie eine Schwäche gestattete, kam Friedrich Georg wahrscheinlich gar nicht umhin, zeitlebens die Rolle des „kleinen Bruders“ zu geben. Hier dürfte jener milde, verletztliche Zug an ihm wurzeln. Seine Phantasie eines „wehrhaften Staates“ habe all die Härte enthalten, an der es ihm selber mangelte, merkt Magenau einmal an. FGJ war zugleich der jüngere und der weniger vorteilhaft ausgestattete Bruder, weder ein besonders hübscher und sportlicher noch ein besonders aufgeweckter Junge. Ernst war ihm in allen Belangen überlegen. Friedrich Georg hatte ihm stets den Vortritt zu lassen. Rückte der halbwüchsige Ernst nächtens zur Fremdenlegion aus, ohne den kleinen Bruder, entgegen ihren Plänen, einzuweihen und mitzunehmen, hatte FG Pech. Kam Offizier Ernst Jünger in Flandern zufällig bei einem Schlachtfeld vorbei, wo sein soeben gleichfalls an die Front geworfener kleiner Bruder schwer verwundet worden war, hatte FG Glück. Allerdings paarte sich das mit dem Pech, dem Kriegsgeschehen den Rücken kehren zu müssen, ohne selber auch nur einen einzigen Schuß abgegeben zu haben – Versager.

Andererseits erfuhr das Glück beider Jüngers noch eine Steigerung, weil sich die „wundersame Bruderhilfe“ im Kampfe später ausgezeichnet in den mythologischen Schwulst einbettete, den beide Brüder liebten. Im übrigen nährte diese Rollenverteilung selbstverständlich bei dem einen Bruder, FG, zeitlebens ein Minderwertigkeitsgefühl, bei dem anderen „Stolz“, wie Magenau sich ausdrückt, um Begriffe meiden zu können, die sich gar zu unvorteilhaft für Ernst ausnähmen. Dieser Rollenverteilung entsprachen wohl auch die recht unterschiedlichen Kurven der literarischen Karrieren der beiden Brüder. Auf fünf Erfolge bei Verlegern, Kritikern und Preisrichtern des Ernst Jünger kam ungefähr ein Erfolg des Friedrich Georg Jünger. So sehr ich auch an die Bewunderung glaube, die FGJ seinem großen Bruder entgegengebracht haben soll, so sehr wette ich andererseits darauf, daß er ihn mindestens einmal wöchentlich verfluchte, während er von seinem Mansarden-Arbeitszimmer aus den Schwarm der ihm auferlegten Entbehrungen durchmusterte, die mit den Möwen über dem Bodensee kreisten und kreischten.

Zur Krönung mußte er sich von Ernst auch noch im Alter deutlich, ja geradezu beschämend übertreffen lassen. Als man bei FGJ Ende 1975 ein Krebsgeschwür im Magen festgestellt hatte, war er 77. Mit 78 lag er bereits unter der Erde.


Zwei Schwestern

Bekanntlich schätze ich in Friedrich Georg Jünger vor-wiegend den Essayisten und Verfasser kürzerer Erzäh-lungen. Daneben schrieb er drei, durchweg kaum bekannte Romane. Zwei Schwestern ist der „mittlere“ Roman. Ein Deutscher im heiratsfähigen Alter verbringt einige Sommermonate in Rom – aus welchem Grund, ist einem auch nach 260 Seiten nicht wesentlich klarer als zu Beginn der Lektüre. Vielleicht darf man den Hauptgrund in den titelgebenden Schwestern sehen, von deren Existenz der Gast aus Deutschland freilich vor seinem Eintreffen gar nichts wußte. Ansonsten liebt er Bücher, Altertümer und Feigenbäume, spricht gelegentlich von Studien und läßt sich außerdem in diplomatisch-geheimdienstliche Machenschaften verwickeln, angeblich jedenfalls. Bei allem scheint es ihm weder an Zeit noch Geld zu mangeln. Handlungszeit des Romans dürfte um 1930 sein, da von Weltkriegsanstrengungen noch nicht die Rede ist, dafür aber von der „Ermordung Matteottis“, „eine üble Geschichte“. Der sozialistische Abgeordnete war 1924 von Faschisten entführt und „beseitigt“ worden. Der Roman wurde 1956 vom anspruchsvollen Programm des Hanser Verlages mitgeschleppt, wie man wohl behaupten darf. Gegen heutigen Müll stellt er sicherlich Gold dar, weil FGJ sorgsam formuliert und auch ein gewisses Romanklima zu schaffen versteht. Doch gegen die erwähnten Ansprüche gehalten, ist er Blech.

Das darf man buchstäblich verstehen. Zu allem Unglück ist jener gelehrte deutsche Kunstfreund nämlich auch der Ich-Erzähler des Romans, den keine Macht daran hindern kann, sein Lamento über die Berechenbarkeit und Vernut-zung der modernen Welt über sämtliche Buchkapitel auszubreiten. Selbst LeserInnen, die dieses Lamento noch nicht kennen und die es keineswegs abwegig finden, könnten ungehalten werden, weil es von diesem Mann vorgebracht wird, der nie Geldsorgen hat und der die hechelnden Mühlen des Erwerbslebens wahrscheinlich lediglich vom Hörensagen kennt. Während der Autor „nur“ eine Kriegsversehrtenrente von etwa der Hälfte eines Arbeiterlohnes bezog, muß seinem offensichtlichen alter ego „Giorgio“ (Georg) mindestens das Sechsfache zur Verfügung gestanden haben. Was Wunder, wenn er sich in Rom, der Hotels überdrüssig, ein mehrgeschossiges Häuschen mit Garten und Springbrunnen mietet. Da findet dann auch bald die erste der beiden Schwestern Platz, Rosali, trotz der Gegend eine Blondine. Die schwarzgelockte Fernanda, die nach wenigen Monaten in ihre Fußstapfen tritt, zieht nur deshalb nicht ebenfalls ein, weil sich Giorgio zur Rückreise entschließt – in Fernandas Begleitung. Jüngers Vorstellungen über die Rolle von Geliebten waren immer altmodisch und simpel. Hier versucht er Gewinn an Dramatik zu erzielen, indem er Rosalie einer tödlichen Krankheit zum Opfer fallen und Giorgio über seine ursprüngliche und wahre Hinneigung zu Fernanda im Dunkeln läßt. Erst spät fällt bei diesem Müßiggänger der Groschen: Fernanda gibt sich so feindselig und schnippisch, weil auch sie sich vom ersten Besuch bei den Schwestern an stark zu dir hingezogen fühlte und es lediglich der Schwester oder dem elterlichen Haussegen zuliebe verbarg!

Dieses dramaturgische Rezept wäre vielleicht aufgegangen, wenn Jünger in der Er-Form erzählt hätte. So aber wird es krampfhaft. Giorgio darf sich seine Begierde nach der Schwarzgelockten nie eingestehen und hat sich einer vergleichsweise langatmigen „Eroberung“ dieser zweiten Schwester zu unterziehen. Kaum weniger verquollen (und ertraglos) gestaltet sich die Geheimniskrämerei, die Jünger seinem Giorgio in Sachen Spionage verordnet. Der müßte ja eigentlich wissen, ob und warum er eine Figur im Spiel der Geheimdienste sei, doch er hütet sich, obwohl Ich-Erzähler, uns davon etwas zu verraten. Dieses Bemühen, den Leser auf die Folter zu spannen, wirkt wahrlich peinlich, oder zumindest albern. Das ganze Geschehen nimmt einen Zug der Belanglosigkeit an. Angeblich findet es vor dem Hintergrund des Kampfes zwischen faschi-stischen und demokratischen Bestrebungen statt, doch auch davon, den entsprechenden Positionen und der Kräfteverteilung, erfahren wir lediglich in Andeutungen, die das Gesamtbild schön verschwommen halten. Damit ist Jünger auch in diesem Fall eine Auseinandersetzung mit dem eigenen, dem deutschen Faschismus erlassen, der hier nur in Gestalt der Randfigur des Kriminalbeamten Silber-mann vorkommt. Auch ihn gibt Jünger so „rätselhaft“, wie er wahrscheinlich den ganzen deutschen Faschismus gern gehabt hätte.
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