Freitag, 23. August 2024
Risse im Brockhaus 32

Sollte man einen Schwerverbrecher, der als Polizeioberrat in Pension gehen durfte, übersehen? Brockhaus gelingt es. Das mag jedoch entschuldbar sein, weil wir, soweit ich sehe, erst neuerdings ein halbwegs verläßliches Bild von Konrad Rheindorf (1896–1979) haben.* Danach war er als junger Mann im Ersten Weltkrieg gehärtet worden. 1920 zur preußischen Schutzpolizei gestoßen, stieg er bis 1933 (in Weilburg und Kassel) bis zum Polizei-Hauptmann auf. Flugs in die NSDAP eingetreten (1. Mai 1933), sah er sich nun zunehmend wieder vor militärische Aufgaben gestellt, denn die »inneren Feinde« ruhten nicht. 1936 schon Polizei-Major, wurde er in Bochum und Witten (Ruhrgebiet!) als Hundertschaftsführer verwendet. Dann entdeckte ein Vorgesetzter Rheindorfs pädagogische Begabung, sodaß er 1941 an die Polizeioffiziersschule in Fürstenfeldbruck, Südbayern, versetzt wurde. Allerdings konnte er lediglich knapp zwei Jahre lehren, weil die Erfolge der Wehrmacht im Osten nach Stabilisierung schrieen. So wurde er Anfang 1943 zum Stab des Polizei-Regiments 25 nach Lublin, Polen, abgeordnet. Dazu bemerkt Autor Schreiner-Bozic, Kriminalbeamter und Forscher in München, der Bezirk Lublin sei, unter dem SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik, ein »besonderer Schwerpunkt in der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik« gewesen. Auch Rheindorfs Truppen hätten vor allem bei der Auflösung ländlicher jüdischer Gettos gewütet. Im November 1943 sei es auch zu der berüchtigten Aktion Erntefest gekommen, den »größten Massenerschießungen des Zweiten Weltkrieges« mit weit über 40.ooo Todesopfern in Majdanek und ähnlichen »Konzentrationslagern«. Dabei sei Rheindorf persönlich nicht anwesend gewesen, da er andernorts Partisanen zu bekämpfen hatte, doch als Regimentskommandeur müsse er genau im Bilde gewesen sein.

Um 1970 hatte Rheindorf Gelegenheit, in einem Ermittlungsverfahren, das nicht ihn betraf, durch einige falsche Aussagen »seine eigene Verantwortung und die seiner Einheiten kleinzureden und zu verleugnen« und alle Schuld auf Globocnik oder dessen Vorgänger Kintrup abzuwälzen. Allerdings habe man ihn anschließend weder für Kriegsverbrechen noch wegen der Falschaussagen belangt. Es kam (1974) gar nicht zum Prozeß, weil Rheindorf seine »Verhandlungsunfähigkeit« geltend gemacht hatte. Geduld muß man eben haben. Rheindorf war ja damals schon fast 80.

Zurück nach Lublin. Die Großstadt wurde im Juli 1944 von der Roten Armee eingenommen. Die näheren Umstände von Rheindorfs Gefangennahme seien nicht bekannt. In Deutschland galt er zunächst als vermißt. Nun hatte er aber in Fürstenfeldbruck eine Gattin mit zwei Söhnen, die nicht von Luft und Liebe leben konnten. Deshalb setzte die Ehefrau ein Entnazifizierungsverfahren in Gang – das am 10. Juni 1948 mit der Einstufung des Polizeichefs als »nicht betroffen« beendet wurde. Schließlich sei Rheindorf lediglich einfaches Parteimitglied, also weder in SS noch SA gewesen. Damit stand seiner Gattin Unterstützung zu. Mehr noch, bekam sie später sogar die vollständigen Dienstbezüge Rheindorfs, stellte sich doch heraus, daß ihm Besatzer- oder Landesbehörden nie gekündigt hatten. Sieben Jahre darauf, im Oktober 1955, kam auch der Gatte persönlich nach Fürstenfeldbruck zurück. Obwohl er 1950 in Minsk zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war, gewährten ihm die sowjetischen Behörden offensichtlich Strafverkürzung. Bereits im folgenden Herbst, 1956, habe er seinen Polizeidienst wieder aufgenommen. Schreiner-Bozic führt das auf eine tiefverwurzelte Seilschaft in der südbayerischen Schutzpolizei zurück, die ihren Kameraden Rheindorf bestens kannte und ihm die Stange hielt. Zuletzt Vizechef der Landpolizei im Regierungsbezirk Schwaben, schenkte man Rheindorf im Hinblick auf seine Pensionierung (Juli 1959) auch noch den eindrucksvollen Titel des Polizeioberrats, Aufstockung der Bezüge eingeschlossen.

Der Mann, der an blutigster Verfolgung zahlreicher polnischer Juden, Partisanen, Zigeunern und so weiter »mitgewirkt« hatte, so Schreiner-Bozics vorsichtige Formulierung, verbrachte seinen Lebensabend in Bad Homburg am Taunus. Dort starb er mit 83. Ich hoffe, die Ampel im Bad Homburger Stadtparlament gibt demnächst Grünes Licht für die Einrichtung einer Konrad-Rheindorf-Straße. Das wird die hessische »Kriegsertüchtigung« sicherlich bedeutend befeuern.

* Marcus Schreiner-Bozic, »Konrad Rheindorf: Eine typische Polizeikarriere in seiner Zeit?«, in: Band 11 der Buchreihe Täter Helfer Trittbrettfahrer, Hrsg Wolfgang Proske, Gerstetten 2021, S. 251–59



Als die bekannte Filmregisseurin Leni Riefenstahl (1902–2003) in ihrer Villa am Starnberger See ihren letzten Atemzug tat, war sie 101. Das nenne ich beachtlich. Noch mit 71 soll sie wegen einer neuen Leidenschaft für Unterwasserfotografie einen Tauchschein gemacht haben. Auch im Bestreiten zahlreicher Vorwürfe wegen ihrer Karrierefrau-Rolle im »Dritten Reich« zeigte sie sich hartnäckig. Am liebsten gab die ehemalige Berliner Tänzerin und Schauspielerin den politischen Einfaltspinsel. Sie hatte sich nie für Politik interessiert – immer nur für Kunst. Bei dieser Rolle konnte sie immerhin auf ihre erfolgreiche »Entnazifizierung« um 1950 bauen. Nach mehreren Spruchkammer-Verfahren fiel damals die Entscheidung, sie sei nur »Mitläuferin« gewesen. Dadurch verlor sie lediglich das passive Wahlrecht. Sie konnte also nie mehr die erste weibliche germanische Bundes-präsidentin werden. Vor den Kammern hatte sie sich darauf berufen, nie Parteimitglied gewesen zu sein. Das entsprach ausnahmsweise den Tatsachen. Überdies hatte sie, wie üblich, ein paar günstige Persilscheine vorgelegt. Damit waren ihre berühmten Propagandafilme über drei NSDAP-Reichsparteitage sowie die Berliner Olympiade von 1936 vom Richtertisch gewischt. Zum Olympiafilm machte sie außerdem geltend, er habe auch im Ausland Lob und Preise eingeheimst. Sie war eben eine große Lichtspielkünstlerin. Nach etlichen Quellen war sie freilich auch enorm ehrgeizig, entsprechend willensstark und lügenfreudig und wiederholt recht skrupellos auf ihren Vorteil bedacht. Aber das sollen ja allgemein-menschliche Züge sein. Die hatte sie möglicherweise als eine der ersten deutschen Frauen überhaupt für sich reklamiert. Mit Adolf Hitler verstand sie sich blendend. Goebbels nahm sie noch 1944 in die Gottbegnadeten-Liste auf.



Der Orchidee Riemenzunge könnten Sprachwissen-schaftlerInnen einen tendenziell tautologischen Namen vorwerfen. Schließlich erinnern zahlreiche Zungenarten immer an Riemen. Allerdings hat die Bocksriemenzunge, wie die einzige bei uns heimische Art heißt, ausgesprochen lange Riemen in oder an den eher blaß gefärbten Blüten. Die Mittelzunge hänge oft geschlagene sechs Zentimeter heraus. Nach Brockhaus ist diese zudem »schraubig gedreht« und an der Spitze gespalten. Die falsche Schlange in Staudenform (häufig um ein Meter hoch) bevorzugt Halbtrockenrasen, falls sie überhaupt noch Fuß fassen kann. Was im Lexikon fehlt, ist der Gestank der seltenen Pflanze, der an Ziegenböcke erinnern soll.* Es werde vermutet, er locke Fliegen und »nachtaktive Bestäuber« an, schreibt die Berner Universität. Zur Aufgabe der grotesken Zunge sagt sie nichts. Metaphorisch auf PolitikerInnen gemünzt, liegt die Sache jedoch auf der Hand. Mit dem üblen Geruch locken sie die Lobbyisten an, während sie ihre geschraubte Zungenfertigkeit gegen uns Schafe wenden, ihre WählerInnen.

* https://www.boga.unibe.ch/e534269/e662209/e761151/e817863/PflanzedesMonatsJuni2019_Bocks-RiemenzungeHimantoglossumhircinumL.Spreng.pdf



Zählt Brockhaus den kaum bekannten Physiker Johann Wilhelm Ritter (1776–1810) zu den »Begründern der Elektrochemie«, dürfen wir ihn nicht übergehen, zumal er bereits mit 33 reif für die biochemischen Prozesse im Sarg war. Der Pfarrerssohn hatte mit der Pharmazie begonnen. Nach dem Abschluß seiner Apothekerlehre in Liegnitz, Schlesien, im Jahr 1795 schrieb er sich jedoch an der Universität in Jena ein und gab sich mit zunehmender Besessenheit seinen physikalischen Ahnungen und den romantischen Visionen hin, die in dem Städtchen von damals lediglich 5.000 Einwohnern kursierten. Ritter erforschte in seiner Studentenbude das Geheimnis elektrischer Ströme, speziell des Galvanismus. Inzwischen werden ihm etliche Entdeckungen oder Erfindungen auf physikalischem und chemischem Gebiet zugeschrieben, die damals wenigstens teilweise anderen Menschheits-beglückern angeheftet worden waren, etwa das Spannungsgesetz (das angeblich »Voltaische«), die Trockensäule (»von Zamboni«), den ersten Akku (»Rittersche Ladungssäule«), die UV-Strahlung. Die Fachwelt schnitt den Anhänger Schellings überwiegend, obwohl er, mit Alexander von Humboldts Hilfe, etliche Abhandlungen in anerkannten Zeitschriften unterbringen und auch einige Bücher veröffentlichen konnte. Möglicherweise stellte sich Autor Ritter teils selbst ein Bein, weil er eine überfrachtete Weitschweifigkeit pflog, die jedes Senfkorn ins Naturphilosophische oder Metaphysische zu wenden suchte.

Nachdem sich Berufsaussichten in Jena und Gotha zerschlagen hatten, griff Ritter gerne zu, als man ihm 1804/05 die Aufnahme in die Bayerische Akademie der Wissenschaften antrug. So zu Ehren und vermutlich auch einigen Forschungsgeldern gekommen, heiratete er gleich, nämlich seine langjährige Geliebte Dorothea Münchgesang, und verdammte die Gute zu vier Schwangerschaften. Wie man sich denken kann, reichte das Geld hinten und vorne nicht, zumal sich Ritter durch ein neues Interesse an Wünschelrutengängen und Erzpendeleien schon wieder anrüchig machte. Neben den Schulden setzten ihm in seiner von Hause aus ohnehin schlechten Gesundheit wahrscheinlich auch galvanische Selbstversuche, also Experimente mit elektrischen Strömen am eigenen Körper zu. Laut Jürgen Daiber hatte er damit bereits in Jena begonnen.* Auch Daiber versichert, der im Alltag wortkarge Studioso sei ein sozusagen süchtiger Forscher gewesen, der sich seinen Witterungen zuliebe bedenkenlos mit Alkohol, Opium und eben auch elektrischem Strom vollpumpte. Dabei bediente er sich jener stromstarken »Voltaschen Säule« (= Batterie), die 1800 von Alessandro Volta erfunden worden war. Daiber erläutert: »So begann er damit, eine Hand in ein Gefäß mit Wasser zu tauchen, das mit dem negativen Pol verbunden war, und schloß mit der anderen Hand den Stromkreis zum positiven Batteriepol.« Bei diesen wahrlich prickelnden Selbstversuchen machte Ritter auch vor seiner Zunge und seinen Augäpfeln nicht Halt. Durch Beobachtung und Aufzeichnung seiner wechselnden Empfindungen bei ständigen »Umpolungen« suchte er letztlich das unter Romantikern so beliebte Prinzip der »Polarität« aller Dinge wie auch Novalis‘ Vermutung zu beweisen, auf höchster Seinsstufe fänden sich alle Gegensätze wieder aufgehoben. Auch das ultraviolette Licht, das er 1801 nachwies, hatte Ritter mit der Begründung vorausgesagt, schließlich müsse das ein Jahr zuvor von Herschel gefundene infrarote Licht von der anderen Seite des Spektrums eine Entsprechung haben.

Ritters Korrespondenz besteht zum Löwenanteil aus Bittbriefen an mögliche Mäzene. In seiner Münchener Zeit soll er so manchen Platin- oder Goldtigel, den er sich in der Akademie auslieh, zum Pfandleiher getragen** und dann in Kaffee, Branntwein oder auch nur Brot umgesetzt haben. Vermutlich hatte sich seine finanzielle Lage zusätzlich durch die damalige französische Besatzung verschlechtert. 1809 schickt er Frau und Kinder zu einem Freund nach Nürnberg, weil er sie nicht mehr ernähren kann. Körperlich und finanziell ruiniert, angeblich auch äußerlich völlig verwahrlost, stirbt er 1810 als 33 Jahre altes Wrack, unter dessen hochfliegenden Plänen sich die Gegensätze in der Tat aufgehoben hatten: zur Form des Sarges.

* Jürgen Daiber, »Der elektrisierte Physiker«: https://www.zeit.de/1998/37/199837.t_ritter_.xml/komplettansicht,
3. September 1998
** Armin Hermann in: https://www.berliner-zeitung.de/vor-200-jahren-erfand-johann-wilhelm-ritter-den-akkumulator-geld-fuer-seine-familie-musste-er-sich-vom-pfandbuero-leihen-der-einfachste-genialischste-mensch-seiner-zeit-li.8499, 2. Dezember 2002




Über den Eintrag zum »philippinischen Freiheitshelden und Schriftsteller« José Rizal (1861–96), gut 15 Zeilen, kann man nicht meckern. Rizal sei als »angeblicher Rädelsführer« revolutionärer Aufstände zum Tod verurteilt und erschossen worden. Heute ist ihm in der Hauptstadt Malina ein eigener Park gewidmet. Der Tag seiner Hinrichtung (30. Dezember) ist Nationalfeiertag. Aber selbst im Kurort Wilhelmsfeld bei Heidelberg findet sich ein Denkmal, das an den weitgereisten Arzt und Freimaurer erinnert.* Übrigens hatte Rizal, aus wohlhabender Mestizenfamilie mit chinesischem Einschlag stammend, gewaltsamen Umsturz zeitlebens abgelehnt. Gleichwohl fiel er einem spanischen Hinrichtungskommando zum Opfer. Zurück blieb seine neue irisch-stämmige Lebensgefährtin aus Hongkong Josephine Bracken. Laut englischer Wikipdia ging sie zwar noch eine Ehe mit einem philippinischen Kaufmann ein, erlag jedoch bereits mit 25 der Tuberkulose.

In seinem letzten Brief an seinen Freund Professor Ferdinand Blumentritt, einen Philippinen-Kenner aus dem nordböhmischen Leitmeritz, versichert Rizal: »Mein lieber Bruder, wenn du diesen Brief erhältst, werde ich tot sein. Morgen, um Sieben, werde ich erschossen; aber ich bin des Verbrechens der Rebellion unschuldig.« Zuvor hatte er die brutalen Unsitten der spanischen BesatzerInnen – und damit insbesondere des pharisäerhaften spanischen Klerus‘ – in mehreren Büchern angeprangert. Diese Werke erschienen im Ausland und wurden auf den Philippinen umgehend verboten. Da er das Ende der spanischen Herrschaft (1898) nicht mehr erlebte, blieb Rizal auch die Ernüchterung durch das Schicksal der Revolution erspart: man kam alsbald vom spanischen Regen in die nordamerikanische Traufe. Statt die junge philippinische Republik, wie zuvor versprochen, anzuerkennen, bekämpften die USA sie im Philippinisch-Amerikanischen Krieg (1899–1902) mit allen ihr damals zur Verfügung stehenden militärischen Mitteln. Im Ergebnis bissen mehrere Hunderttausend Filipinos, wohl meist wegen Seuchen, ins Gras – ins Gras einer neuen Kolonie jenes freiheits- und demokratiedurstigen Staatenbundes, der sich erst unlängst vom britischen »Mutterland« gelöst, also vom kolonialen Status befreit hatte. Es lebe die Doppelmoral.

* Karin Katzenberger-Ruf in der Rhein-Neckar-Zeitung, 14. Juni 2017: https://www.rnz.de/nachrichten/region_artikel,-Region-Heidelberg-Jose-Rizal-Park-Wilhelmsfeld-Philippinischer-Freiheitskaempfer-ist-in-Vergessenheit-_arid,282222.html



Laut Brockhaus handelt es sich bei der Robe um 1) ein langes Kleid für festliche Anlässe, 2) um eine → Amts-tracht. Dort, in Band 1, erklärt das Lexikon zum Zweck der Übung: »Betonung der Amtsautorität«, vermeidet also die Worte Beeindruckung oder Einschüchterung. Bei uns fände man diese vorgeschriebenen Roben noch bei Geistlichen, an Gerichten und zum Teil auch noch an Hochschulen. Das schrieb der zuständige Lexikon-Redakteur 1986, während in seinem Rücken ein berühmtes Foto von einem 1967 gemalten Transparent hing: Unter den Talaren – Muff von 1.000 Jahren.

Ich entsinne mich auch dunkel an einen mutigen prominenten Kommunarden, wohl Fritz Teufel 1969, der vor einer Gerichtsverhandlung ein Abführmittel einnahm, um seine Notdurft dann vor der Richterbank verrichten zu können. Das Internet behandelt diesen originellen Vorfall äußerst schamhaft: man findet kaum Quellen. Später ertappte ich mich selber einmal bei dem nächtlichen Traum, die männlichen Mitglieder einer Landkommune zögen vor dem prächtig vermummten Karlsruher Bundesgerichtshof auf und pinkelten die Damen und Herren im Gleichklang mit herrlich gewölbten Urinstrahlen an. Ich vermute stark, auch das ist in demokratischen Rechtsstaaten verboten – nur sind Träume selbst in Rechtsstaaten noch immer schwer nachzuweisen, oder etwa nicht? Na, Frau Innenministerin Faeser wird es schon richten.

Als hauptberufliches Westberliner Aktmodell weidete ich mich oft an der Vorstellung, der fliegende Supermann beraubte mir unliebsame PolitikerInnen bei den nächsten markigen Sprüchen mit einem Ruck ihrer Zivilkleidung, auf daß sie einmal unverbrämt zeigten, was so alles in ihnen steckt: viel Bier, viel Fett, viel Ungestaltetheit, und zu allem Unglück auch noch im Kopf viel Stroh. Faeser ist in dieser Hinsicht fein raus, weil sie stets uniformierte Polizeimonster vorschickt, wenn sie wieder eine Zeitschrift verbieten läßt. Man wird sich hüten, denen die Panzerglasschilde entreißen zu wollen.

Mein Patenonkel war schlichter evangelischer Dorfpfarrer. Doch welche Erhebung durfte ich als Knabe an einem Fenster des Fachwerk-Pfarrhauses erfahren, wenn er 10 Minuten vor der Zeit in seinem glockenärmeligen schwarzen Talar und mit wehendem blendend weißen Bäffchen zur äußeren Sakristeitür der Kirche schritt! Er wollte ja überraschend vor dem Kirchenvolk auftauchen, wie vom Himmel herabgefahren, sobald die Glocken schwiegen. War alles vorbei, schritt er wie alle durchs Hauptportal nach draußen, um allerlei dörflichen Würdeträgern die Hände zu schütteln und sich 2o mal versichern zu lassen, er habe wieder einmal eine glänzende Predigt vom Stapel beziehungsweise von der Kanzel gelassen. Ja, auf diesen Patenonkel war ich eine Zeitlang ziemlich stolz.

Gewiß, zum Bischof brachte er es nie. Dann hätte er auch noch mit dem bekannten aberwitzigen Bischofshut glänzen können. Allerdings hätte ich daraufhin vielleicht noch Ausgefalleneres und Kriegerischeres erwartet. Auf Seite 143 des Bandes 19 bildet Brockhaus eine kleine, wohl olmekische steinerne Porträtskulptur ab, die man in Veracruz, Mexiko, ausgegraben hat: »Hacha, die einen menschlichen Kopf mit einer Kopfbekleidung in Form eines Delphins darstellt.« Diese bärenstarke Delphinmütze kommt fast einer perfekten Frisur gleich. Der Meeressäu-ger schmiegt sich der Schädeldecke hervorragend an.

Im selben Band 19 streift Brockhaus das bekannte indische Fraugewand Sari. Da sehr verbreitet, scheint der Sari nicht zu den Amtstrachten zu zählen. Es ist einfach ein delphinlanger Tuchstreifen, der kunstvoll und recht zeitaufwendig um den ganzen Körper gewickelt wird. Die postmoderne Inderin soll ihn allerdings zunehmend verschmähen, weil er gar zu unpraktisch sei. Die indische Schreinerin oder Staatssekretärin trägt jetzt Latzhose. Nebenbei barg der traditionelle Sari auch immer für eine Schulter (die nackte) Erkältungsgefahr. Möglicherweise war er lediglich für den Mann sehr praktisch gewesen. Zuerst ließ sich die Frau seiner Wahl von ihm einwickeln und versprach ihm die Ehe; dann wickelte er sie täglich genüßlich wieder aus.



Brockhaus hat sich mit der gegenwärtigen Tagespolitik abgestimmt und mir einen kurzen Eintrag zum Berliner Robert-Koch-Institut serviert. Am 23. Juli 2024 gaben die freie Journalistin Aya Velázquez und Mitstreiter just in Berlin eine Pressekonferenz zu den nun durchweg ungeschwärzten Corona-Protokollen des RKI. Sie hatten sie – sagen sie – heimlich von einem besorgten Mitarbeiter des Insituts bekommen. Ich fasse nach einem NDS-Bericht* in einem Satz zusammen: Laut dieser umfangreichen Protokolle hat sich das RKI in zahlreichen Fragen der Anti-Corona-Kampagne nachweislich wider eigene wissenschaftliche Erkenntnisse dem Bundesgesundheitsministerium unterworfen, dem es ja auch untersteht. Das gefährliche Virus war eine Kabinettszüchtung.

Erfreulicherweise zeigt sich Reporter Warweg, was die erhoffte »Aufarbeitung« angeht, nach wie vor skeptisch. Sein Zweifel geht aber nicht bis zu dieser Show des Bundeskabinetts: Trotz bekannter Fragwürdigkeit des Impfstoffes »… werden wenige Wochen später öffentlichkeitswirksam die damalige Kanzlerin Angela Merkel, Vize-Kanzler Olaf Scholz, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn und Karl Lauterbach mit AstraZeneca geimpft, verbunden mit der Aufforderung an die Bevölkerung, es doch diesen Politikern gleichzutun.« Somit scheint es Warweg für ausgeschlossen zu halten, die genannten hohen Tiere hätten sich lediglich scheinbar impfen lassen. Mit Mineralwasser zum Beispiel, oder auch mit dem Dopingstoff, den sie sowieso öfter zu sich nehmen. Nebenbei teilt wohl bislang auch niemand meine in Folge 19 unter »Impfpistole« angemeldeten grundsätzlichen Zweifel an amtlichen »Freigaben« von wichtigen Dokumenten.

Warweg weist außerdem auf die vollständige Abwesenheit unserer führenden Leidmedien auf der Pressekonferenz hin. Inzwischen präsentiert der Internet-Suchroboter jedoch ein paar Beiträge aus den höheren medialen Reihen, die die »Aufregung« in der bekannten Weise belächeln oder »rechten« Kreisen in die Schuhe schieben. Dabei räumt man ein paar »ungeschickte« Formulierungen oder gar Maßnahmen ein, um den Kern des Problems umso eleganter bemänteln zu können. Der Kern ist die erdrückende Übermacht der Pharmamafia und die Bereitschaft aller maßgeblichen politischen Parteien, die Bevölkerung zu hintergehen und nebenbei ihrer letzten demokratischen Freiheiten zu berauben. Insofern kommt auch noch die erdrückende Übermacht der gleichge-schalteten Massenmedien hinzu. Gegen sie kommen ein paar RuferInnen in der Wüste nie und nimmer an. Da dies alles zudem im berühmten »Sommerloch« stattfindet, dürfte der von manchen erhoffte »Skandal« bereits so gut wie ertrunken sein.

* Florian Warweg, »Dokumente der Niedertracht«, https://www.nachdenkseiten.de/?p=118607, 23. Juli 2024



Die Rohrdommel ähnelt einem kleinen, plumpen Reiher, hält sich allerdings gerne derart aufrecht, daß sie, bei ihrer bräunlichen Tarnfärbung, leicht mit einem Halm oder Stamm verwechselt werden kann. Das nennt Ornithologe Einhard Bezzel in meinem Bestimmungsbuch »Pfahlstellung«. Somit ist die Rohrdommel nicht nur selten; man bekommt sie auch so gut wie nie zu Gesicht. Ich selber hörte sie nur einmal. Das war um 2000 an einem schilfreichen Nebengewässer des großen Schweriner Sees. Ich zuckte zusammen und runzelte die Stirn, weil irgendwo eine Kuh im Röhricht zu stecken schien. Brockhaus schreibt dazu bereits in Band 5 (bei den Dommeln), die »dumpf brüllenden Rufe des Männchens« seien bis zu fünf Kilometer weit zu vernehmen. Bezzel umschreibt den Ruf mit »ü-humb«; das ü sei freilich schwer zu hören. Zu ihren volkstümlichen Namen zähle einleuchtenderweise Mooskuh. Das Internet gibt noch Moor- oder Riedochse drauf – und das folgende Klangbeispiel. Der NABU meint, der Ruf lasse sich nachahmen, indem man schräg in eine leere Flasche blase. Das finde ich ziemlich treffend.



Im Sommer 1990 wurde der Jurist und Kapitalist Detlev Rohwedder (1932–91), ehemals Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium und Chef des Stahlkonzerns Hoesch, zum Leiter der neugeschaffenen sogenannten Treuhandanstalt berufen. Ein knappes Jahr darauf war er tot. Der 58jährige Manager wurde am 1. April 1991 gegen Mitternacht mit einem Scharfschützen-gewehr erschossen, als er an einem Fenster seines Düsseldorfer Wohnhauses erschien. Viele Beobachter-Innen halten diesen Mord bis heute für ungeklärt. Einige von ihnen teilen die Vermutung des Ex-DDR-Abwehrchefs Wolfgang Schwanitz*, der Treuhandchef sei am Ostermontag aus dem Weg geräumt worden, weil sein sanierungsfreundlicher Kurs (statt Privatisierung) höheren Orts nicht genehm war. Tatsächlich änderte sich unter Nachfolgerin Birgit Breuel sofort die »Abwicklungs«-Politik. »Binnen dreier Jahre konnte die Treuhand die ostdeutsche Konkurrenz ausschalten« – Rohwedders Ableben habe für einen beträchtlichen Konjunkturschub gesorgt. Trotz dieser bedenkenswerten Zusammenhänge wird das Attentat auf Rohwedder jedoch zumeist der RAF in die Schuhe geschoben. Angeblich sprechen dafür etliche von der Polizei gesicherte Spuren, darunter Patronen, die auf eine schon früher benutzte Tatwaffe der RAF verweisen.

Bei dieser Schuldzuweisung macht auch Brockhaus mit, wobei ihm vielleicht der geringe Abstand (1992) zugute zu halten ist. Ich persönlich will keineswegs ausschließen, die Untergrundgruppe sei in das Attentat verstrickt, ich verweise allerdings auf die bekannte Verstrickung der Geheimdienste mit ihr. Sie dürfte ungefähr so sauber (gewesen) sein wie gewisse »islamistische« Kampftruppen, die von der CIA gesponsert werden. Die meisten Quellen verschwenden weder einen Gedanken an die verbreitete Lust falsche Fährten zu legen noch streifen sie die hier genannten Bedenken wenigstens mit einem Hauch. Manche führen zur Abwechslung immerhin die Stasi als Alternative zur RAF ein. Für mich ist das Jacke wie Hose. Im Vergleich dazu stellt Karl-Peter Ellerbrocks trockener Satz in der Neuen Deutschen Biographie (Band 22 von 2005)** geradezu eine Labsal dar: »Der Mord, dem R. zum Opfer fiel, wurde bis heute nicht aufgeklärt; der Presse wurde ein Bekennerschreiben der 'Roten Armee Fraktion' (RAF) zugespielt.«

* Wolfgang Schwanitz / Robert Allertz, »Die Fakten sprechen für uns«, Junge Welt, 6. Juni 2009
** online https://www.deutsche-biographie.de/sfz107807.html




Der oberhessische Rombach dürfte für Brockhaus zu dünn gewesen sein. Aber das Lexikon erwähnt noch nicht einmal die bei Schlitz gelegene Rombachtalbrücke, obwohl sie fast 1.000 Meter lang und bis 95 Meter hoch ist. Sie dient der ICE-Bahnstrecke Hannover–Würzburg. Der 37jährige Elektriker aus Parchim, Mecklenburg, Holger S. streifte sie im Sommer 2015 bei einem makaberen Autourlaub. Einige Jahre vor seinem Tod, als er gerade ein Haus baute, hatte sich seine Ehefrau von ihm getrennt. Seitdem lebten die gemeinsamen Kinder, Tim (9) und Lisa (10), hauptsächlich weiter nördlich bei ihrer Mutter und deren neuem Lebensgefährten in Bützow.* Nun aber unternahmen sie im Wagen ihres Vaters jene makabere »Sommerferien-reise« gen Süden. Am 2. August 2015, ein Sonntag, machten sie unweit der Rombachtalbrücke Halt. S. erklomm das Bauwerk mit seinen Kindern, stach auf beide mit einem Messer ein und stieß sie dann vermutlich in die Tiefe, eher er selbst hinterher sprang. Spaziergänger fanden die drei Leichen unter der Brücke auf einer Landstraße.

Von Erklärungen aller Beteiligten, etwa einem Abschiedsbrief, ist nichts zu lesen. Man scheint auch nicht zu wissen, warum die Wahl auf die Rombachtalbrücke fiel. Der Gießener Staatsanwalt nahm immerhin einen Sorgerechtsstreit an.** Vielleicht stand die Sache gerade so, daß sich der Vater sagte: na gut, wenn ich die Kinder nicht bekomme, dann sie auch nicht. Möglicherweise war auch der neue »Stiefvater« der Kinder als Schatten eines bedrohlichen Rivalen im Spiel. Vielleicht hatten die Kinder S. gerade wieder versichert, X. sei ein prima Kumpel. Es ist natürlich denkbar, S. war auch sonst angeschlagen, etwa pleite oder todkrank. Auch davon ist jedoch nichts zu lesen. Es heißt lediglich, Nachbarn hätten S. als liebenswerten Vater und hilfsbereiten Handwerker geschildert. Er habe auch nach der Trennung nie ein schlechtes Wort über die Mutter der Kinder verloren.

Nun ja, bekanntlich sind stille Wasser tief. Es kommt mir freilich recht befremdlich vor, wenn das Internet, soweit ich sehe, selbst zur Stunde nicht einen Hintergrundbericht über den neun Jahre alten Vorfall herausrückt. Von daher steht zu befürchten, die sogenannte Weltgeschichte habe wieder einmal zwei Kinder mehr in ihr Vergessen gerissen.

* Caroline Awe, »Familiendrama erschüttert Bützow«, Bützower Zeitung, 11. August 2015: https://www.svz.de/lokales/buetzower-zeitung/familiendrama-erschuettert-buetzow-id10428136.html
** »Familiendrama endet grausam«, Parchimer Zeitung, 4. August 2015, S. 7




In den 1970er Jahren war das beliebteste Schreckgespenst unserer Leidmedien noch nicht der Russe, vielmehr die Rote Armee Fraktion (RAF). Statt Brockhaus Arbeit abzunehmen und die politischen und sozialpsycholo-gischen Zusammenhänge dieses Phänomens zu umreißen, belasse ich es jedoch dabei, an zwei frühverstorbene Opfer der RAF-Hysterie zu erinnern, die das Lexikon sowieso nicht kennt. Weder die Opfer noch die Hysterie.

Der 17jährige Landmaschinenmechaniker-Lehrling und Autonarr Richard Epple (1954–72) fiel am Abend des 1. März 1972 in Tübingen, der Hochburg »roter« Studenten, einer Polizeistreife auf. Da er keinen Führerschein besaß und zudem betrunken war, floh er überland, wobei er zwei Polizeisperren durchbrach und Menschen gefährdete. Schließlich wurde er durch die Heckscheibe seines nicht zugelassenen Ford Taunus 12 M von einem jungen, nie namentlich genannten Polizeibeamten erschossen, der sich einige Jahre später, wohl aus Gewissensnot, umbrachte.* Die OrdnungshüterInnen versicherten, sie hätten den Flüchtigen für ein RAF-Mitglied gehalten – ein tödlicher Irrtum. Der Schießbefehl war von der Einsatzleitung gekommen. Eine gerichtliche Klärung fand nicht statt. Epples 20jährigem Bruder Erich war damals am Ort des »Unfalls« von Polizisten aufgetragen worden, den Vorfall zu Hause zu melden – das könnte man vielleicht geschmacklos nennen. In der Tat erklärt Erich Epple 30 Jahre später* im Gespräch mit dem Schwäbischen Tagblatt, niemand von der Polizei sei jemals bei seiner Mutter gewesen, um ihr zu sagen: »Wir haben Ihren Buben erschossen, es tut uns leid.«

Ein oft reproduziertes Foto zeigt die junge Frau, um die es nun geht, mit schulterlangem, gescheiteltem schwarzem Haar – Perücke. Von Natur aus sei ihr Haar rotblond gewesen, heißt es. Die gelernte Friseuse Petra Schelm (1950–71) wollte gerne Maskenbildnerin werden, doch dazu kam es nicht, weil sie um 1968 in die Berliner Kommuneszene geriet und dort ihren künftigen Geliebten Manfred Grashof traf, der wiederum mit Ulrike Meinhof und Horst Mahler zusammenhing. 1970 nahm sie an einem militärischen Ausbildungslager der Fatah in Jordanien teil. Im Frühjahr des folgenden Jahres erließ der Bundesgerichtshof einen Haftbefehl gegen sie, wodurch sie neben etlichen anderen gesuchten angeblichen »Terroristen« auf ein rasch berühmtes Fahndungsplakat kam. Tatvorwurf? Mutmaßliches Mitglied in der mutmaßlichen »kriminellen Vereinigung« RAF.

Am 15. Juli 1971 durchbricht die schlanke, knapp 21jährige eine Straßensperre, die im Rahmen einer schlachtmäßigen Großfahndung nach RAF-Mitgliedern in der Hamburger Stresemannstraße errichtet worden war. Ihr Beifahrer im BMW 2002 ti ist Werner Hoppe, möglicherweise inzwischen ihr neuer Geliebter. Auf der getrennten Flucht zu Fuß kommt es zu verschiedenen Schußwechseln. Die mit einer Pistole bewaffnete Petra Schelm kann sich zunächst verbergen. Dann wird sie von mindestens zwei Polizisten erneut entdeckt und von einem Schuß aus einer Maschinenpistole ereilt, der sie schräg unter dem linken Auge trifft und dadurch tötet. Ein Sachverständiger räumt später Springer-Journalisten gegenüber ein, möglicherweise habe sich Schelm in den Schuß hinein gedreht. Im Prozeß gegen Werner Hoppe, der sich ausführlich in den Erinnerungen seines Rechtsanwaltes Heinrich Hannover geschildert findet, versichert nämlich ein noch minderjähriger Augenzeuge, Schelm sei hinterrücks erschossen und vorher auch nicht angerufen worden. Selbst der vermeintliche Todesschütze H. gibt in der Verhandlung zu, Schelm habe sich, mit dem Rücken zu ihm, von ihm fortbewegt. Die offiziellen Berichte der Beamten sprechen »natürlich« eine andere Sprache. Hannover enthüllt die nicht weiter verblüffende Tatsache, daß die Wahrnehmungen aller beteiligten Beamten vorm Anfertigen »ihrer« Berichte bei einem gemeinsamen Lokaltermin auf die erforderliche Notwehr-Version vereinheitlicht worden waren. Anschließend deckten sich alle Berichte wunderbar.**

Schon auf einer Pressekonferenz nach der Schlacht hatten sich Journalisten erkundigt, warum der Beamte H. nicht versucht habe, Schelm kampfunfähig zu schießen. Der Pressesprecher gab zurück: »Waren Sie eigentlich schon mal im Krieg?« Genau darum hatte es sich gehandelt. Deshalb lag Schelm nach dem Kopfschuß noch etwa 10 Minuten auf dem Pflaster, ohne daß Erste Hilfe geleistet wurde, denn der oder die Schützen beteiligten sich inzwischen an der Verfolgung Werner Hoppes. Später offenbart die erste Agenturmeldung, die Fahnder hätten Schelm zunächst für Meinhof gehalten. Wahrscheinlich galt das 3.000-köpfige Polizeiaufgebot zwischen Hamburg und Bremen ohnehin in erster Linie dieser so begehrten angeblichen RAF-Cheftheoretikerin. Fest steht, die Erschießung der Petra Schelm wurde »nie wirklich aufgeklärt«, wie sogar Spiegel-Autor Michael Sontheimer einräumt***, aber die einseitigen, polizeigefärbten Darstellungen finden sich bereits in etlichen Nachschlagewerken und Internetseiten. Was Schelms Begleiter Werner Hoppe betrifft, steckte man ihn wegen unbewiesenen »Mordversuchen« an Polizeibeamten für 10 Jahre ins Zuchthaus. Ihm die Gefährtin zu töten, war noch nicht Strafe genug.

* »Thema der Woche: Richard Epple«, 1. März 2002: https://web.archive.org/web/20100125152400/https://www.tagblatt.de/Home/nachrichten_artikel,Thema_Der_Woche_arid,75635.html
** Die Republik vor Gericht, ursprünglich Berlin 1998/99, Ausgabe Berlin 2005, S. 354
*** »Todesschüsse in der Seitenstraße«, 15. Juli 2011: https://www.spiegel.de/einestages/anfaenge-der-raf-a-947270.html




Vom haitianischen Schriftsteller und Politiker Jacques Roumain (1907–44) kenne ich keine Zeile. 1934 soll er Mitgründer der KP gewesen sein – die bald verboten wurde. Der französischsprachige Mulatte aus wohlhabendem Gutshause war unter US-Besatzung aufgewachsen. Zwar zogen die fremden Truppen 1934 ab, doch die »Diplomaten« und die einheimischen Kaffee- und Zuckerbarone blieben. Als Roumain um 1937 in Brüssel und Paris ethnologische Forschungen betrieb, lag eine mehrjährige Haft in Haiti hinter ihm. Dem heraufziehenden Weltkrieg weicht er in die USA aus. Ein Präsidentenwechsel in Haiti ermöglicht ihm 1941 die Heimkehr. Allerdings holen ihn nun, wie ich vermute, die Bürden Gefängnis, Geldsorgen, Exil mit den Krankheiten ein, die ihm zuletzt zusetzen. Tabak und Alkohol tun das Ihre. Er stirbt 1944 als vielversprechender Autor, Ehemann (Nicole) und zweifacher Vater, wenn ich mich nicht täusche, mit 37 in Port-au-Prince. Als Roumains »Hauptwerk«, so auch Brockhaus in seinem Eintrag, gilt der im Todesjahr posthum veröffentlichte und im folgenden vielübersetzte Roman Gouverneurs de la rosée, deutscher Titel Herr über den Tau. Held des kunstvoll und bildreich komponierten Textes ist Zuckerrohrschneider Manuel, dessen in Kuba gesammelte gewerkschaftliche Erfahrungen sich zunächst nur schlecht mit den eingewurzelten Verfeindungen im haitianischen Dorfleben, der Anziehungskraft des Vodou-Kultes und der Willkür bestochener farbiger Beamter vertragen. Am Ende gelingt es der Gemeinschaft, dem Dorf die dringend benötigte Wasserquelle zu erschließen. Zum Preis des Gelingens zählt allerdings Manuels Tod. Übersetzerin der deutschen Erstausgabe von 1947 war Eva Klemperer, Dresden. Die Gefährtin des berühmten jüdisch-antifaschistischen Tagebuch-Schreibers und Romanisten Victor Klemperer kannte sich mit Verhältnissen, die kaum Raum zum Atmen lassen, bestens aus.



Hebt Brockhaus von der finnisch-lappischen Provinzhauptstadt Rovaniemi (gegenwärtig über 60.ooo EinwohnerInnen) ein »Freilichtmuseum Pöykölä« hervor, sagt man sich unwillkürlich: hoffentlich haben sie da gut geheizt. Die Stadt am Zusammenfluß der Flüsse Ounasjoki und Kemijoki liegt fast am Polarkreis, Höhe Island. 19 Grad im Hochsommer sind da bereits Gluthitze; sonst eher Frost. Das Stadtwappen zeigt im grünen Schild (= Wälder und Moore) hauptsächlich eine silberne Gabelung oder Deichsel, wegen der beiden Flüsse. Das erinnert an Eis. Auch die Meldung mit dem »Freilichmuseum« könnte eine Ente sein. Das Internet kennt ein solches nicht. Wahrscheinlich ist das zweigliedrige Museum Artikum gemeint, das durchaus Überdachung aufweist, sogar mit viel Glas.* Dort erfährt man natürlich auch manches über das einheimische Volk der Samen oder Sami, was meines Wissens »Sumpfleute« bedeutet. Bekannter ist die frühere, abfällig gemeinte Bezeichnung als »Lappen« – wohl die Grenzleute oder die Ausgestoßenen. Der Gleichklang mit unseren Putzlappen soll aber eher zufällig sein. Es wäre jedenfalls eine Beleidigung ihrer herkömmlichen farbenfrohen Bekleidung. Früher Nomaden, zogen die »Lappen« mit ihren Schlitten meist den wilden Rentierherden oder, sofern sie bereits gezähmte Herden besaßen, den Weidegründen nach. Die heutigen RentierhüterInnen fahren wie alle Welt Auto.

* https://de.wikipedia.org/wiki/Arktikum



Schachnarren könnten Brockhaus vorwerfen, den polnisch-jüdischen Sportler Akiba Rubinstein (1880–1961) eiskalt geschnitten zu haben, obwohl er lange Zeit zur Weltklasse gezählt worden war. Den Höhepunkt seiner Laufbahn erlebte Rubinstein 1912/13 mit einer ungewöhn-lichen Serie von Turniersiegen. Ein Titelkampf gegen Weltmeister Lasker scheiterte nur am Kriegsausbruch. 1950 verlieh ihm der maßgebliche Weltschachverband den damals noch jungen Titel eines Internationalen Großmeisters – nur galt der Pole da schon längst als verrückt und verdämmerte seine Jahre in einem Brüsseler Altenheim.

Laut deutscher Wikipedia gibt der niederländische Schachspieler Evert Jan Straat ein Streiflicht aus Rubinsteins allmählichem Niedergang in den 1920er Jahren zum Besten. Hoffen wir, er hat es nicht selbst gestrickt. In einem Turnier in Den Haag hatte Rubinstein 1921 hinter Aljechin und Savielly Tartakower nur den dritten Platz belegt. Nach dem Turnier von Straat auf den Verlauf und Rubinsteins Niederlage gegen Aljechin angesprochen, habe der polnische Meister mitten auf der Amsterdamer Leidenstraße geschrieen: »Aber ich bin der größte Stratege, ich bin der größte Stratege der Welt!« Und dabei habe er sich auch noch heftig auf die Brust geschlagen.

In der Tat war insbesondere Rubinsteins Orientierung auf das Endspiel und seine damit verbundene Zielstrebigkeit gerühmt worden. Größen- und Verfolgungswahn kennt man allerdings auch von nicht wenigen anderen Schachassen. Ich verweise diesbezüglich auf Bemerkungen von Mathias Bröckers, die ich neulich in meinem Nasen-Eintrag über Carl Göring angeführt habe.* Jedenfalls fand Rubinstein offensichtlich zwischen den beiden Weltkriegen nie mehr zu seiner alten Glanzform zurück. Entsprechend schmälerte sich sein Einkommen, wobei ihm freilich auch die Inflation Vermögen raubte. 1926 ging der Pole mit Gattin und Kind nach Brüssel. Ein »koscher« geführtes Restaurant der Gattin wird zur Haupternährungsquelle der Familie. 1932 zieht sich Rubinstein erklärtermaßen aus dem Turniergeschehen zurück. Seine inzwischen zwei Söhne sollen später von der Niedergeschlagenheit ihres Erzeugers gesprochen haben. Im selben Jahr 1932 erscheint sogar ein Spendenaufruf zugunsten der Rubinsteins in der Wiener Schachzeitung. Den Nazis entgeht Rubinstein wohl deshalb, weil ihn seine Frau Eugenie 1942 in eine Nervenheilanstalt einweisen ließ. Frau und Söhne versteckten sich auf dem Land. Sohn Sammy wurde freilich zeitweise in ein Lager gesteckt und erst im Herbst 1944 von Briten, mit 16, befreit. Das Entrinnen der ganzen Familie muß sicherlich als knapp bezeichnet werden. Somit dürften auch die mörderischen politischen Verhältnisse bei Rubinsteins (angeblicher) nervlichen Zerrüttung mitgespielt haben.

Nach Schachhistoriker Winter** kann Rubinstein mit Kriegsende wieder zu seiner Familie zurückkehren. Er wird zunehmend wortkarg, spielt aber öfter sowohl mit seinen Söhnen wie mit starken Fachkollegen Schach und erörtert Partien. 1946 gibt er in Lüttich eine Simultanschach-Vorstellung. Immerhin geht er bereits auf die 70 zu. Nach dem Tod seiner Gattin (1954) bringen ihn die Söhne in einem jüdischen Altenheim unter. Die oft bemühte Formel von der »Geisteskrankheit« nebst der Geschichte über jahrzehntelangen Sanatoriumsaufenthalt scheint, nach Winter, lediglich ein Schauermärchen zu sein. Andererseits liegt Rubinsteins Gemütszustand eher im Dunkeln. Ein Sohn berichtet, der Vater habe immer gern Zeitungen aus etlichen Sprachen gelesen, habe gern geschwommen und Gymnastik betrieben. Aus Fotos zu schließen war er ein massiger Mann. Der Sohn deutet freilich auch das Loch an, das sich mit dem Wegfall des Turnierschachs und der winkenden Weltmeisterehre vermutlich vor Rubinstein auftat. Einen Ersatz oder Ausgleich gab es anscheinend nie. Aber dieses Problem sollen ja viele professionelle Spezialisten haben. Ich denke etwa an einige JudokämpferInnen, außerdem RomanschriftstellerInnen. Selbst von DDR-Chef Ulbricht wird berichtet, außer den politischen Ränkespielen habe er keine Leidenschaften gekannt. Er hatte nur Glück: im Gegensatz zu dem polnischen Schachmeister wurde er (1971) erst im hohen Alter abgesägt.

Von einem bedenklichen Alkoholgenuß Rubinsteins ist nirgends die Rede. Dafür soll der vermutlich fromme und abstinente Mann starker Kaffeetrinker gewesen sein. Man ahnt hier doch eine enorme Verbissenheit. Rubinsteins Kindheit kann übrigens kein Deckchensticken gewesen sein. 14 Kinder in der Familie, fast alle sterben früh. Auch sein Vater stirbt bereits einige Wochen vor Akibas Geburt. Der Stiefvater ist Rabbiner in Bialystok. Knabe Akiba will oder soll in seine Fußstapfen treten, frönt dann aber in Gastwirtschaften lieber dem Schachspiel, das er gerade erst entdeckt hat. Er mausert sich zum stärksten Spieler der ostpolnischen Großstadt. Mit der Volljährigkeit kann er sich anscheinend nach Lodz absetzen, einer Schachmetropole. Damit begann sein unaufhaltsamer Aufstieg. Sein Fall zog sich dann ebenfalls hin. Ich stelle mir Rubinsteins Niedergang als ein zähes Festhalten vor. Anderen gelingt es hin und wieder, über nacht umzusatteln und auf ein neues Pferd zu setzen. Die größten Glückspilze sind allerdings die Leute, die überhaupt keine Pferde benötigen. Sie gehen überall zu Fuß.

* https://siebenschlaefer.blogger.de/stories/2858987/
** Edward Winter, »Akiba Rubinstein‘s Later Years«: https://www.chesshistory.com/winter/extra/rubinstein1.html, Stand 2024




Der finnland-schwedische »Dichter« Johan Ludvig Runeberg (1804–77) habe »wesentlich zur Entstehung des finnischen Nationalbewußtseins« beigetragen, klärt mich Brockhaus auf. Dann ist er natürlich wichtig. Er habe das besonders durch zwei Bände mit Balladen und Liedern Fähnrich Stahls Erzählungen getan, »die den schwedisch-finnischen Kampf gegen Rußland 1808/o9 verherrlichen und durch Verschmelzung realistischer Menschenge-staltung mit heroischem Pathos und echtem Naturgefühl volkstümlich geblieben sind …« Aha, jetzt begreife ich endlich, warum Finnland jüngst der Nato beigetreten ist: weil wieder ein Waffengang gegen Rußland lockt.

Runeberg war auch Gymnasiallehrer und Gatte einer Nichte des Erzbischofs Jakob Tengström. Dem Umriß durch Brockhaus will ich nur noch eine Hörprobe anfügen. Das Lexikon schließt nämlich mit dem Hinweis, das einleitende Lied »Vårt land« (Unser Land) des zweibändigen Runeberg-Werkes habe sich sogar, vertont von F. Pacius, zur finnischen Nationalhymne gemausert. Aber auch die weigere ich mich zu kommentieren. Ein Ohrwurm ist sie jedenfalls. Falls er Sie ins Trommelfell beißt, können Sie sich einmal alternativ mit der inoffiziellen Hymne einer freien Zwergrepublik befassen: lied der mollowina 2 (mp3, 2,621 KB) . Sie ist auch auf meiner Platte Leon zu hören. Sollten Sie den Kaufpreis einer jüngeren 10-Euro-Runeberg-Gedenkmünze erübrigen können (27,80 €), schicke ich Ihnen gleich drei Platten auf einmal. Die CD kostet normalerweise 11 Euro zuzüglich 1,60 für den Versand.



Vom türkischen Lehrer und Schriftsteller Sabahattin Ali (1907–48) lobt Brockhaus vor allem seine meisterhaften, dem Realismus und der Sozialkritik verpflichteten Kurzgeschichten aus der anatolischen Provinz. Er sei verfolgt und mit 41 auf einer Flucht nach Bulgarien ermordet worden.

Der Sohn eines osmanischen Offiziers hatte teils in Deutschland studiert und unterrichtete später auch Deutsch. Mitarbeit an verschiedenen Zeitschriften. Er schreibt gern Satiren. Man wirft ihm jedoch kommunistische Propaganda vor, obwohl KennerInnen seine Prosa als unaufgeregt, ja sogar »gemächlich« bezeichnen. Schließlich wird er wegen angeblicher Beleidigung Atatürks, des Staatspräsidenten der neuen türkischen Republik, für gut ein Jahr ins Gefängnis gesteckt. Täusche ich mich nicht, war diese »Republik« entgegen vielen schönen Erklärungen autoritär, patriarchal, patriotisch und militaristisch geprägt. Ali persönlich scheint sich Einberufungen (oder Verwicklungen) während des Zweiten Weltkrieges entzogen zu haben. Nach der Haftentlassung meist stellungslos, will er sein Heil zuletzt in Bulgarien suchen, hat jedoch keine Papiere. Am 2. April 1948 habe man seinen übel zugerichteten Leichnam in der Ortschaft Kırklareli nahe Bulgarien – und rasch einen Schuldigen gefunden, heißt es 2013 im Schweizer Rundfunk.* Ein angeblicher Fluchthelfer, wohl der abgehalfterte Offizier und Schmuggler Ali Ertekin, soll ihn erschlagen, dann auch beraubt haben. Ertekin sei jedoch »nur symbolisch bestraft« und später vom Regime mit einer protzigen Villa belohnt worden. In Wahrheit liege der Mord trotz einiger parlamentarischer Vorstöße nach wie vor im Dunkeln. Viele vermuten allerdings, Ali sei unter der Folter der türkischen Geheimpolizei gestorben. Dann habe man die Leiche zur Grenze geschafft und einen Raubmord vorgetäuscht.

Alis Werke waren bis 1965 in der Türkei verboten. Er verfaßte auch mehrere Romane. Inzwischen ist er aber erstaunlicherweise, beträchtlichen muslimischen Einflüssen zum Trotz, selbst in türkischen Schulbüchern vertreten. Vielleicht gehört das zu dem bekannten Eiertanz der Türkei zwischen den ideologischen Lagern.

* Franziska Hirsbrunner, »Sabahattin Ali: Mittler zwischen Tradition und Moderne«, https://www.srf.ch/kultur/literatur/literatur-sabahattin-ali-mittler-zwischen-tradition-und-moderne, 30. Novem-ber 2013



Wie sogar Brockhaus in seinem Eintrag über den berühmten Sacco-Vanzetti-Fall erwähnt, gab der amtierende Gouverneur von Massachusetts Michael S. Dukakis am 23. August 1977 eine Art Ehrenerklärung für die beiden aus Italien eingewanderten, anarchistisch gesinnten Arbeiter ab, die 1927 als angebliche Raubmörder hingerichtet worden waren. Das Verfahren gegen sie sei eindeutig unfair gewesen und habe in einem Klima der Ausländerfeindlichkeit und der Intoleranz stattgefunden, deshalb müsse das Gedenken an sie hochgehalten werden, meinte der Staatschef. Eine »Rehabilitierung«, wie Brockhaus meint, oder gar ein Freispruch war das allerdings nicht. Wahrscheinlich wird die Frage, ob Ferdinando »Nicola« Sacco (36) und Bartolomeo Vanzetti (39) im August 1927 in Charlestown, Massachusetts, schuldbeladen oder unschuldig auf dem Elektrischen Stuhl saßen, der sie ins Jenseits beförderte, auch nie zu klären sein. Die Meinungen sind geteilt, wobei die Zweifel an ihrer Schuld, wie es aussieht, überwiegen. Die Ungereimtheiten und Widersprüche etwa zwischen Zeugenaussagen sind zahlreich, Fälschungen von Beweismitteln wahrscheinlich. Etliche beteiligte Juristen gestanden später ihre eigenen, rassistischen oder antikom-munistischen Motive mehr oder weniger deutlich ein.

Der Fall schlug schon in den 1920er Jahren Wellen der Kragenweite Dreyfus-Affäre und Reichstagsbrand. Mit den Büchern über ihn könnte man ein 50-Meter-Schwimmbecken zumauern. Der US-Komponist Marc Blitzstein wollte ihnen um 1960 noch ein Opern-Libretto hinzufügen, doch dieses Vorhaben scheiterte an seinem eigenen gewaltsamen Tod. Blitzstein war übrigens von der Unschuld der angeblichen anarchistischen Raubmörder überzeugt. Den beiden war damals im wesentlichen ein bewaffneter Überfall vom April 1920 in South Braintree, Massachusetts, vorgeworfen worden, bei dem ein Lohnbuchhalter und ein Wächter der Schuhfabrik Slater & Morrill Shoe Company erschossen worden waren. Beute: rund 15.000 Dollar. Der Prozeß, die Hetze gegen »Staatsfeinde« und die Bücher haben schätzungsweise 150 Millionen Dollar verschlungen.

Diesseits der Schuldfrage müssen sich fühlende und denkende Wesen wie Blitzstein selbstverständlich gegen die Todesstrafe verwahren. Im Gegensatz zu einem Gerichtsverfahren läßt sich, bei neuer Beweislage, ein hingerichtetes Leben nicht wiederaufnehmen. Eindeutige Beweislagen sind ohnehin seltener als Schmerztabletten ohne Nebenwirkungen. »Abschreckung« verfing noch nie. Im übrigen kommt jedes Todesurteil der verbotenen Folter gleich, sofern der Richter nicht sofort nach dem Verkünden zum Revolver greift, um sein Urteil auf der Stelle im Gerichtssaal zu vollstrecken. Wie Friederike Freiburg 2007 feststellt, sind in den USA allein seit 1973, also in rund 30 Jahren, 124 Todeskandidaten begnadigt worden, nachdem sich, meist auf Betreiben von Angehörigen und Menschenrechtlern, ihre Unschuld herausgestellt habe. Für einige andere kam die Einsicht der Behörden zu spät.* Wenn jeder von diesen 124 lediglich drei Jahre in der Todeszelle geschmort haben sollte, hätten wir schon 372 Jahre ununterbrochener Folter beisammen, sogar für nichts und wieder nichts. Man braucht die Nächte dabei keineswegs ausnehmen. Mit dem Schuß des Richters wären die Verurteilten besser bedient gewesen. Schließlich hat damals beim Überfall auch der Lohnbuchhalter nur drei oder 30 Sekunden um sein Leben gezittert.

Im Zusammenhang mit dem Weltsheriff und Oberbrandstifter aus dem Weißen Haus bietet es sich an, auf einen jüngsten Internet-Beitrag** Michael Schneiders hinzuweisen. Der Berliner Schriftsteller hängt ihn an der Sommerloch-Ankündigung der Nato auf, in Deutschland wieder Langstreckenwaffen zu stationieren. Kein Scherz! Schneider ist zurecht entsetzt. Er ruft die ganz überwiegend verschwiegenen oder verharmlosten Verluste und Verdienste der SU im Abwehrkampf gegen das faschistische Deutschland ins Gedächtnis. Das hatte Rußland angegriffen. Nebenbei rückt Schneider die Fälschungen zum Jugoslawienkrieg und dem Krieg in der Ukraine zurecht; der zweite habe Jahre vor dem Angriff durch die SU 2022 begonnen. Aber alle deutschen Nachkriegsgenerationen (die 68er ausgenommen) gefallen sich in der dreisten Umkehr, Deutschland als Opfer russischer Bedrohung hinzustellen und einen »Revanchekrieg« vorzubereiten. Der Aufsatz ist gut geschrieben und vom Thema her unbedingt wichtig. Man kann ihn vielleicht schon jetzt den deutschsprachigen Aufsatz des Jahres nennen.

* Friederike Freiburg, »Sacco und Vanzetti / Die Macht des Zweifels«, http://www.spiegel.de/einestages/sacco-und-vanzetti-a-946780.html, 22. August 2007
** Michael Schneider, »Das große Karthago«, https://www.nachdenkseiten.de/?p=118765, 27. Juli 2024




Ich hoffe, ich muß Ihnen nicht erzählen, was eine Sachertorte ist. Der dunkelfarbige Zungenschmelz, nach einem Wiener Hotelier benannt, hat im Brockhaus immerhin vier Zeilen. Eine Meisterin im Anfertigen dieser Köstlichkeit war meine Tante Toni Barta vom Wartberg bei Gudensberg. Sie stammte nämlich aus Mähren, das zu ihrer Zeit österreichisches Kronland war. Allerdings herrschte im Haus Rübezahl der Bartas meistens Geldnot, sodaß uns Toni ihre Sachertorte viel zu selten vorsetzte. Dann kramte sie zum Ersatz eine Rolle De Beukelaer -Kekse aus dem Vorrat der kleinen Gastwirtschaft, die sie mit ihrem Gatten Max nur nebenberuflich betrieb. Das waren die bekannten Doppelobladen, in denen eine schokoladenbraune Pampe klebte. Ein schmerzlicher, jäher Abfall im kulturellen Niveau, wie ich sogar als achtjähriger Pimpf erkannte.

Den Hotelier hatte es übrigens leibhaftig gegeben, Franz Sacher, um 1850. Einen Torten-Renner, und der Mann war schlagartig weltberühmt! Nun stellen Sie sich aber einmal vor, Sie müßten im nächsten Edel-Cafe »Reitmeiertorte« bestellen. Peinlich! Unmöglich! Der Hotelier hatte also auch mit seinem griffigen Namen Glück. Wäre ich vor rund 30 Jahren darauf erpicht gewesen, mit den ersten Manuskripten, die ich an Verlage schickte, Weltruhm einzuheimsen, hätte ich mir doch wohlweislich erst einmal einen besseren, klangvolleren Namen zulegen müssen. Remarque beispielsweise. Und um ehrlich zu sein: damals war ich darauf erpicht. Aber nach zwei oder drei Einreichungen und zwei oder drei Zeitschriftenbeiträgen aus meiner Feder war der Zug natürlich abgefahren. Der Unfug »Reitmeier« war aus den Hirnen der beteiligten Lektoren und Redakteure nicht mehr zu tilgen.

Der vergleichweise überaus erfolgreiche und entsprechend gut betuchte österreichische Schriftsteller Stefan Zweig machte sich in seinen Erinnerungen* einmal bemerkenswerte Gedanken zum Thema. Publizität jeder Form störe das natürliche Gleichgewicht eines jeden Menschen. Der anschwellende Name gaukele eine aberwitzige Wichtigkeit vor. Die meisten Erfolgreichen blähten sich dann unwillkürlich auf, um mit ihrer Person das Volumen ihrer äußeren Wirkung zu erreichen. Ihm selber sei jedoch die Publizität auch der eigenen Person stets ein Greuel gewesen. Ihn habe es von Natur aus nach Freiheit, Unabhängigkeit, Anonymität der Existenz verlangt. Nicht, daß er den Erfolg verschmäht hätte; unter seiner »Prominenz« jedoch habe er viel gelitten. »Wenn ich heute noch einmal anfangen könnte, würde ich darum trachten, diese beiden Glückszustände, den des literarischen Erfolgs und den der persönlichen Anonymität gleichsam verdoppelt zu genießen, indem ich meine eigenen Werke unter einem anderen, einem erfundenen Namen, unter einem Pseudonym veröffentlichte; denn ist schon das Leben an sich reizvoll und voll von Über-raschungen, wie erst das Doppelleben!«

Das trieft natürlich von bürgerlicher Schizophrenie und Ideologie, leuchtet mir freilich durchaus ein, solange der ersehnte Neuanfang unter den alten kapitalistischen Bedingungen stattzufinden hat.

* Stefan Zweig, Die Welt von gestern, ursprünglich 1944, hier Ausgabe Fischer-TB 1989, S. 368–72
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