Donnerstag, 8. Dezember 2022
Nasen Gör—Johns

Göring, Carl (1841–79), Philosoph und Schachmeister aus Thüringen. Mein Landsmann wurde in Brüheim an der Nesse geboren – und damit in nächster Nachbarschaft zum Schauplatz meines Romanes Konräteslust … Allerdings wuchs er dann südlich von Eisenach im Thüringer Wald auf, nämlich auf dem Gut Epichnellen, das seine Eltern um 1845 erworben hatten. Die Eltern galten als vermögend. Der einzige Sprößling studierte Geisteswissenschaften und war zeitweise Gymnasiallehrer, bis er sich als Privat-gelehrter in Leipzig niederließ. In Rudolf Eislers Philoso-phen-Lexikon, Berlin 1912, wird Göring als Vertreter des »kritischen Empirismus« und »Positivismus« ausgegeben. Die wenigen Zeilen des Eintrags legen selbst Uneinge-weihten, sofern sie nur SkeptikerInnen sind, bereits zur Genüge die Ahnung nahe, bei solcher durchaus zeitgemäßen und salonfähigen philosophischen Forschung, wie sie also auch Göring betrieb, handle es sich um ein ziemlich müßiges, abwegiges, fruchtloses Sandkastenspiel. Aber dieses Mal war es eben ein akademisches. Unter Görings Werken oder Vorhaben werden auch ein System der Kritischen Philosophie genannt, von dem bei seinem Tode immerhin zwei Bände vorgelegen haben sollen, erschienen Leipzig 1874/75, sowie die Schrift Über die menschliche Freiheit und Zurechnungsfähigkeit, 1876. Offenbar gab es damals noch zu wenig philosophische Systeme. Überdies soll Göring auch regelmäßiger Mitarbeiter oder gar Redakteur verschiedener philoso-phischer oder literarischer Zeitschriften gewesen sein.

In einem recht ausführlichen und wohl auch ziemlich sachkundigen Nachruf, der im Juni-Heft 1879 der Deutschen Schachzeitung zu lesen war, wird behauptet, der soeben »aus dem Leben Geschiedene« habe bereits als Anwärter auf einen »ordentlichen« Lehrstuhl gegolten. Einstweilen hatte er als »außerordentlicher« Professor an der Leipziger Universität gewirkt. Daneben galt er jedoch als »genialer« und unter Kameraden »ungemein beliebter« Schachmeister und Förderer dieses Spiels. Ein Gruppenfoto von einem 1877 in Leipzig stattfindenden Schachkongreß zeigt den hünenhaften und vollbärtigen, dafür stirnglatzigen Professor etwas steif in vorderster Reihe sitzend. Der Nachruf hebt seine »herkulische Stärke«, seine in Gesellschaft »gemessen-heitere« Art des Auftretens und seine »vielen« Freunde sowohl in Leipzig wie in Eisenach hervor. Zwei Jahre nach diesem Kongreß soll sich Göring nahe Eisenach, der Stadt seiner Schulzeit, im »Reservoir« der Knöpfelsteiche umgebracht, also vermutlich ertränkt haben – knapp 38 Jahre jung. Hatten ihn Schaffensfreude und Kampfgeist jäh verlassen?

Göring dürfte bereits als Schüler »Primus« gewesen sein. Der Nachruf führt sein Reifezeugnis vom Eisenacher Carl-Friedrich-Gymnasium an – man traut seinen Augen kaum. Es verzeichnet 11 Noten. 10 davon sind Einsen. Lediglich in Mathematik reichte es, merkwürdigerweise, nur zu einer Zwei. Der Text spricht aber auch von Krankheit und Überarbeitung. 1872 sei der kraftstrotzende Gutsbesitzersohn an Gelenkrheumatismus erkrankt, und trotz mancher Kuren und Linderungen habe ihn dieses qualvolle Gebrechen nicht mehr verlassen. Immer mal wieder habe sich »Schwermuth« dazu gesellt. Im letzten Winter seines Lebens habe Göring gleichwohl hartnäckig »wissenschaftlich« gearbeitet – vermutlich an seinem unvollendeten System. Kam er etwa mit der Fortsetzung nicht zurecht? Der anonyme Nachrufer, falls es ein Mann war, verrät es uns nicht. Mit dem Ende des Wintersemesters verlegte Göring seinen Arbeitsplatz ins Haus seiner betagten Eltern, die inzwischen in Eisenach wohnten. Plötzlich, Anfang April 1879, hätten sich »höchst bedenkliche« Symptome einer Geistesstörung bei dem Sohn eingestellt, Stichwort »Verfolgungswahn«. Von einem Spaziergang kam er nicht mehr zurück. Holzfäller fanden Görings Leiche am 3. April in dem erwähnten Wasserbecken.

Von einer amtlichen Untersuchung des Todesfalls ist nirgends die Rede. Dessen ungeachtet scheinen alle (spärlichen) Quellen »todsicher« einen Selbstmord anzunehmen. Allerdings wird diese Bezeichnung genauso vermieden wie das Wort »ertränken«. Man sollte ja sowieso vermuten, ein athletisch gebauter Gutsbe-sitzerssohn sei des Schwimmens mächtig, zumal er am Ufer des Flüßchens Elte aufwuchs (wohl daher der reizvolle Guts- und Ortsname Epichnellen, heute Ortsteil von Förtha). Somit dürfte das Sichertränken nicht gerade kinderleicht zu bewerkstelligen gewesen sein. Man könnte jedoch argumentieren, der Schub des Wahns war eben riesig. Der unbekannte Nachrufer gibt die auf den 3. April datierte Todesmeldung aus der Eisenacher Zeitung wieder. Danach hatte sich Görings der Wahn bemächtigt, er werde verfolgt, man stelle ihm nach und trachte ihn zu vernichten. Warum und von wem solches Trachten, verrät das Blatt nicht. Es sind ja durchaus Feinde oder Miß-günstige denkbar, etwa aus literarischen oder sportlichen Kreisen. Dagegen scheiden die üblichen finanziellen Motive, beispielsweise Schuldentilgung, im Falle Görings wohl eher aus.

Hier bietet sich, eingeschoben, zur Tröstung ein verallgemeinernder Merkabsatz aus Mathias Bröckers Vortrag Schach und Paranoia von 2006 an: »Tiefe Skepsis und ständiges Mißtrauen gegenüber dem Offensichtlichen, große Vorsicht vor falschen Spuren und verborgenen Fallen, sowie die Kenntnis möglichst aller Fakten – diese Grundzüge des Schachs entsprechen exakt denen der Paranoia, des Verschwörungsdenkens. Deshalb kann es eigentlich nicht wundern, dass besonders geniale Schachspieler auch einen besonderen Hang zur Paranoia haben – auf dem Brett überleben nur die Paranoiden, wer im Schach nicht paranoid ist, spinnt. Erst wenn diese von Spitzenspielern in Perfektion praktizierte Paranoia vom Brett ins wirkliche Leben überschwappt, wenn sie nicht mehr nur der Stellung der Holzfiguren mit permanentem Mißtrauen begegnen, sondern auch ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt, wird es problematisch.«

Dafür streut der Nachrufer aus der Schachzeitung ein Detail ein, das mich, vielleicht zu unrecht, hellhörig macht. Vor seinem abendlichen »Spaziergang« in den Tod habe Göring bereits am Nachmittag (des 2. April) einen Spaziergang gehabt, nämlich in Begleitung eines »ihm nahe befreundeten Arztes«, mit dem er sich sogar auf 18 Uhr »wie gewöhnlich« zu einem »Rendez-vous verabredet« habe. Nur habe Göring dann die elterliche Wohnung schon um halb fünf verlassen, um eben allein in den Wald zu gehen. Ob man dieser Wortverwendung den Beigeschmack eines amourösen Stelldicheins geben darf, kann ich schlecht beurteilen. Es würde mich aber nicht verblüffen. Nirgends ist von Görings Familienstand oder gar von seinem Liebesleben die Rede. Er erscheint als klassischer oder eingefleischter, zu allem Überfluß auch noch Philosophiebücher und Schacheröffnungen ausbrütender Junggeselle. Kurz, ich wäre nicht überrascht, wenn Göring homosexuell gestimmt, dabei einigermaßen enttäuscht und gebeutelt gewesen wäre. Das ist natürlich reine Spekulation. Nichts für biedere Publikationen des Jahres 1879, zumal ja Görings Eltern noch lebten.



Greth, Werner (1951–82), Fußballer. Mit einem 40. Todestag anhebend, erinnere ich, in zeitlich absteigender Folge, an vier Fußballer, die durchweg verflucht früh vom Rasen gefegt worden sind. Flügelstürmer Greth, ursprünglich technischer Zeichner, hatte bis 1978 über rund 10 Jahre hinweg vorwiegend für verschiedene Zweitliga-Vereine gespielt, darunter auch im Ruhrgebiet. Anschließend arbeitete er in der Duisburg-Homberger Chemiefabrik der Firma Sachtleben – als was, bleibt unklar. Ebendort erlitt er Ende Oktober 1982 laut einem kurzen Zeitungsbericht* einen Arbeitsunfall, der noch dem heutigen Leser den Atem raubt. In der Sandstrahlhalle des Unternehmens stürzte Greth gegen Mitternacht, also wohl auf Nachtschicht, in einen anscheinend größeren Behälter, der mit (vermutlich flüssigem) Stickstoff gefüllt war. »Bei einer Minus-Temperatur von 195,8 Grad« sei der 31 Jahre alte »Arbeiter« und »Junggeselle« auf der Stelle tot gewesen. Zwei ältere Kollegen, die Greth retten wollten, wurden schwer verletzt. Man barg seine Leiche schließlich mit Hilfe von Isolierhandschuhen. Welcher Art die am Bottich ausgeführten Arbeiten gewesen seien und wer die Verantwortung für das Unglück trage, werde noch untersucht. Stickstoff, meist ein Gas, dient unter anderem bei der Herstellung von Düngemitteln; flüssiger Stickstoff als Kühl- und Vereisungsmittel oder als Quelle für später erwünschtes Gas. Von einem Mord- oder Selbstmord-verdacht ist nirgends die Rede.

Der oftmalige jugoslawische Fußball-Nationalspieler Vladimir Durković (1938–72) bezahlte den Besuch eines »Kabaretts«, vielleicht auch nur Nachtclubs, in der schweizer Stadt Sion, Kanton Wallis, mit seinem Leben. Er war verheiratet, Vater zweier Kinder und neuerdings »Stopper« beim örtlichen Club FC Sion, den alle Eingeweihten als schweizer Rekord-Pokalsieger kennen. Vorher hatte Durković schon streckenweise in der westdeutschen Bundesliga, dann für den französischen Club AS Saint-Étienne gespielt. Am frühen Morgen des 21. Juni 1972, einem Mittwoch, kam es vor besagter Vergnügungsstätte zu einem Streit zwischen dem 33 Jahre alten Durković und einem gleichfalls jugoslawisch-stämmigen Berufskollegen einerseits und einem jungen Gendarmen andererseits, wie ich einem damaligen österreichischen Zeitungsbericht entnehme.** Danach befand sich der Beamte auf Urlaub und in Zivil, führte aber offensichtlich seine Dienstwaffe mit sich. Der Streit endete mit einem Bauchschuß für Durković. Der Fußballver-teidiger brach zusammen. Immerhin habe ihn der Schütze umgehend eigenhändig ins Krankhaus gebracht – wo Durković anderntags starb. Dem Untersuchungsrichter Louis de Riedmatten soll der Gendarm erklärt haben: »Ich war betrunken, ich habe jemanden sinnlos getötet.« Riedmatten ließ ihn festnehmen. Möglicherweise waren auch die Fußballer nicht mehr gerade stocknüchtern gewesen. Gleichwohl bekam Schütze Bernard C. neun Jahre Gefängnis, wie (2022) zum 50. Todestag Durkovićs auf Gladbach Live zu lesen ist.

John White (1937–64) fiel auf einem Golfplatz. Das bedeutet, der schottische Berufsfußballer beging den entscheidenden Fehler seiner Laufbahn nicht auf dem Rasen des Stadions White Hart Lane im nördlichen London, wo sein renommierter Club Tottenham Hotspur zu Hause war, sondern nahebei auf dem Golfplatz in Crews Hill. Als ihn dort (am 21. Juli 1964) ein Gewitter überraschte, suchte er unter einem vermutlich freistehenden Baum Schutz – und wurde vom Blitz erschlagen.*** Der torgefährliche und trickreiche Halbstürmer hinterließ Gattin Sandra und zwei Kinder. Fans oder Journalisten hatten ihm aufgrund seiner Fähigkeit, jäh wie aus der Erde gewachsen im gegnerischen Strafraum aufzutauchen, den Spitznamen »The Ghost« verpaßt, Geist oder Gespenst also. Auf dem Golfplatz verzog sich das Gespenst für immer, obwohl es erst 27 war.

Der Fußballspieler der Oberliga West Werner Göbel (1924–55, ursprünglich Goebel geschrieben) war 1953 deutscher Pokalsieger, 1955 zusätzlich (auf der Kranken-bank) deutscher Meister mit Rot-Weiß Essen geworden. Zuletzt spielte er als Mittelläufer beim Zweitligisten Spielvereinigung Herten. Offenbar noch kein Vollprofi, war der mittelgroße, knochige Abwehrspieler außerdem Betriebssportlehrer bei der Hertener Zeche Ewald. Eingeweihte könnten ihn als unmittelbaren Vorläufer des 1956 gestorbenen ägyptischen Gewichthebers Khadr Sayed El Touni auffassen, denn beide kamen (angeblich) durch häuslichen Stromschlag um. Göbels Ende ist durch Sterbeurkunde und die Lokalpresse gut belegt. Danach kam der knapp 31jährige Sportlehrer am späten Nachmittag des 11. August in einem neuerrichteten Wintergarten seiner Hertener Wohnung am Wetterschacht beim Bohren, wohl aufgrund eines Defektes seiner elektrisch betriebenen Handbohrmaschine, mit dem Stromkreis in Berührung und fiel von einer behelfsmä-ßigen Bühne tot zu Boden. Die Bühne hatte aus Tisch und Stuhl bestanden. Göbel war seit vier Jahren mit Hannelore geb. Kübler verheiratet. Sie hatten ein zweijähriges Söhnchen, Volker. Bei der Beerdigung schätzte die Polizei 2.500 Trauergäste, die, laut Hertener Allgemeine, Göbels »große Beliebtheit« bezeugten. Ich nehme an, den Löwenanteil stellten HeimwerkerInnen, das kam damals gerade auf.

* »Im Stickstoff umgekommen«, WAZ vom 27. Oktober 1982
** »Stopper Durković wurde erschossen«, Volkszeitung (Klagenfurt), 23. Juni 1972, S. 12
*** Marcel Grün, »Der verlorene Weltklassespieler John White«, abseits.at (Wien), 28. April 2017: https://abseits.at/fusball-international/england/der-verlorene-weltklassespieler-25-john-white/




Happel, Friedrich (1825–54), Düsseldorfer Maler und Jägersmann. Allerdings stammte er aus Arnsberg im Sauerland, was seinen Wildstudien entgegenkam. Im dortigen Schloß Herdringen saß nämlich die Sippe der kunstfreundlich gestimmten Freiherren Von Fürstenberg, die Happel öfter ein Bett oder wenigstens einen Imbiß bot und ihm dadurch viele Streifzüge durch Wald und Flur ermöglichte. So gab er sich, wie im Leben, auch auf der Leinwand vorwiegend dem Wildbret und dem Waidmannsheil hin.* Verheiratet war er nicht. Sein Lieblingswild sollen Füchse gewesen sein. Man kann aber schlau sein wie man will, man wird selbst mit freundlichem Beistand der Düsseldorfer und Arnsberger Stadtarchive nicht herausfinden, warum nun Happel selber bereits mit 29 Jahren alle Viere von sich streckte. Das war Anfang Juli 1854 in Düsseldorf. Zu allem Unglück hatte es nur wenige Wochen vorher, Ende Mai, auch Friedrich Happels 41 Jahre alten Bruder Peter Heinrich Happel, einen Landschaftsmaler, in derselben Stadt erwischt. Dieser ältere Bruder war mit Amalie geb. Klein verheiratet. Beide Sterbeurkunden der Brüder lassen jeden Hinweis auf die Todesursache schmerzlich vermissen. Man könnte mutmaßen, sie hätten sich gegenseitig oder bei Dritten mit derselben tödlichen, vielleicht schon seuchenhaften Krankheit angesteckt – und weiß doch nur mit ziemlicher Sicherheit, Corona war es nicht.

Ist bei den Happels wenig zu holen, sollte ich mich vielleicht ersatzweise fragen, worin eigentlich der große Reiz bestehe, den Gemälde oder Grafiken auf fast jeden Menschen ausüben. Die Antwort liegt buchstäblich auf der Hand: In ihrer Überschaubarkeit. Das unterscheidet sie sowohl von der Realität wie von einem Roman. Das Stoffliche und Farbige an den Gemälden oder Grafiken könnte niemals ihre große weltweite Beliebtheit erklären. Die ungemalte Welt ist ja wahrhaftig stofflich und bunt genug. Nur übersichtlich ist sie eben nicht. Wobei uns das furchterregende Chaos in der Regel schon aus unserem Alltag und unserem Gemütshaushalt anspringt. Das Bild jedoch schafft Ordnung, Klarheit, Frieden in einem. Es hängt auch dann wie ein paradiesisches Südseeatoll an unsrer Wand, wenn es lauter leere Flaschen oder wütende Pinselhiebe zeigt, die der Künstler bestens aufzuräumen verstand. Hängt es gar noch in einem Rahmen, kann ihm nichts mehr etwas anhaben.

Das heißt … Wie ich von meiner Berliner Freundin U. weiß, gab der Grafiker und Maler Heinz Weisbrich im Unterricht gern die Geschichte eines Einbruchs zum Besten. Er zählte zu U.s Lehrern. Ein Professoren-Kollege von ihm besaß eine kleine Villa, in der etliche kostbare Gemälde hingen, darunter ein kaum hackbrettgroßer Vlaminck mit einem Vorstadthaus zwischen flammenden Bäumen. Voller Entsetzen habe der Kollege eines morgens die hellen Flecken an seinen Salonwänden gemustert. Dann fiel sein Blick auf das einzige Gemälde, das die Diebe verschmäht hatten. Es war sein einziger Weisbrich.

* https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Happel#/media/Datei:Happel_Fr%C3%B6hlicher_J%C3%A4ger.jpg



Harder, Marie (1898–1936). Ein rund 90 Jahre altes »Mysterium der Luftfahrt« [sehen Sie mehr unter A-8] kümmert heute so gut wie niemanden mehr. Mit allen übrigen Insassen war die weitgehend unbekannte »proletarische« Schriftstellerin und Filmemacherin »unter bis heute ungeklärten Umständen« – so Ralf Husemann 2007 in der Süddeutschen Zeitung – einen Tag vor ihrem 38. Geburtstag auf mexikanischer Erde zerschellt und verbrannt. Meine Hauptquelle zu Harders Werdegang ist keineswegs Husemanns Buchbesprechung*, vielmehr ein karger Lexikon-Artikel**, der zwar keine Rätsel löst, aber besser als gar nichts ist. Danach war Harder, Tochter einer Dienstmagd und eines Arbeiters und zunächst in Hamburg Gefängnisfürsorgerin sowie gelegentlich Journalistin, ab 1929 Leiterin der Berliner Film- und Lichtbildstelle der SPD. Sie hatte sich besonders für den sowjetrussischen Film erwärmt und versuchte sich auch selber an vergleichbaren Werken. Ihr einziger (stummer) Spielfilm von 1930, Lohnbuchhalter Kremke, zeigt den Weg eines dünkelhaften Kleinbürgers, der nach dem Verlust seiner Stelle in Verzweiflung gerät, bis er sich umbringt. Harder selber erging es möglicherweise nicht ganz unähnlich. Zunächst verlor sie 1931/32 ihre Kulturämter bei der SPD – angeblich wegen »finanzieller Verfehlungen«, möglicherweise nur ein Vorwand. 1935 konnte sie, unter dem Pseudonym »Käte Kestien«, noch immerhin einen Roman veröffentlichen. Als die Männer im Graben lagen (Frankfurt/Main, Societäts-Verlag) soll die Lage der Frauen im Ersten Weltkrieg behandeln. Von Harders eigener Lage vorm Zweiten Weltkrieg erfährt man im Lexikon buchstäblich nichts. Man könnte nun mutmaßen, Harder habe sich im Frühjahr 1936 zur Emigration entschlossen, doch nach meiner zweiten, ungleich wichtigeren Hauptquelle aus der Feder des 1957 in Bilbao, Baskenland, geborenen und dort auch aufgewachsenen Rechtsanwaltes Alexander vom Hofe*** handelte es sich bei der verhängnisvollen Unternehmung, die für rund die Hälfte der Reisegesellschaft mit einem Flugzeugabsturz endete, eher um eine Vergnügungsreise.

Soweit ich sehe, ist Vom Hofe bislang der einzige Autor, der Aufschlußreiches über dieses Unglück eingeholt und veröffentlicht hat. Dabei lag ihm weniger Harders Wohl, vielmehr das seines Großvaters Heinrich Prinz zu Schaumburg-Lippe sowie sein eigenes am Herzen. Aber eins nach dem anderen. Nach Vom Hofe hatte die Hamburger Schiffahrtsgesellschaft Hapag eine Auslandsreise nach Mexiko und Mittelamerika angeboten. Mitte März 1936 traf die fragliche Touristen-Gruppe mit dem Dampfer Iberia vermutlich an der US-Ostküste ein. Am Vormittag des 26. März bestieg die Hälfte der Gruppe in Mexiko City ein dreimotoriges Charterflugzeug, das sie nach Guatemala bringen sollte, wie aus spanischen Presseberichten und Unterlagen der deutschen Gesandtschaft in Mexiko hervorgeht, die Vom Hofe anführt. Diese Maschine ging schon bald nach dem Start nicht weit vom berühmten, knapp 5.500 Meter hohen Vulkan Popocatépetl auf dem Hügel Zumpango nahe der Ortschaft Amecameca wieder zu Boden. Diesmal quoll das Feuer, das den ganzen, offenbar mit Pinien bestandenen Hügel verheerte, nicht aus dem »heiligen« Vulkan. Alle 14 Insassen der Maschine, darunter die vierköpfige Crew, kamen um.

Die Presse führte zunächst geringe Flughöhe und Windstöße ins Feld. Vom Hofe selber nimmt nach Gesprächen mit Fachleuten an, die Maschine sei eher »wie ein Stein« vom Himmel gefallen. Nach den Dokumenten war die Sicht gut. Der Chefpilot galt als ausgesprochen erfahren. Die Identifikation der Leichen gestaltete sich schwierig, erfolgte aber immerhin. Dafür verzichtete man merkwürdigerweise, wie Vom Hofe findet, auf eine Untersuchung des Wracks; vielmehr seien schon kurz nach der Bergung der Leichen nun auch die »wertlosen« Überreste des Flugzeuges noch verbrannt worden, durch Beauftragte der Compañía Mexicana de Aviación, wie in der Presse zu lesen war. Die drei Motoren seien nicht etwa abtransportiert, vielmehr auf dem Hügel »beerdigt«, nämlich vergraben worden … Die deutsche (faschistische) Gesandtschaft meldete in die Heimat, zwar habe sich die Absturzursache »nicht restlos« klären lassen, es »erübrige« sich jedoch, diversen Theorien nachzugehen, die darüber in Umlauf seien. Somit scheint man hier und dort schon damals Unheil gewittert zu haben. Was Vom Hofe angeht, hält er einen von der Naziführung veranlaßten Mord (durch Sabotage an den Motoren) für wahrscheinlich und bietet dafür etliche Anhaltspunkte auf, interessante zeitgeschichtliche Zusammenhänge eingeschlossen.

Wie man sich denken kann, galt der Anschlag, sofern es einer war, nicht der Hamburger »proletarischen« Künstlerin Harder oder auch den vier weiteren, deutschen oder österreichischen »Fräuleins«, die sich unter den 10 Fahrgästen der Todesmaschine befanden. Möglicherweise hatte sich Harder wirklich nur eine Vergnügungsreise aus Anlaß ihres 38. Geburtstages gegönnt, vielleicht im Verein mit einer Freundin. Wir wissen es einfach nicht. Hatte sie sich dabei in erstaunlich erlauchter Gesellschaft befunden, war es, auf dieser Geschenkebene, wahrscheinlich kaum zu vermeiden. Neben zwei Baronen (aus München und Budapest) zählte vor allem ein beinahe echtes und ohne Zweifel auch zur Unglückszeit noch immer sehr gut betuchtes deutsches Fürstenpaar zu Harders Urlauber-Innen- und Flugzeug-Gruppe. Das waren Adolf II. Fürst zu Schaumburg-Lippe (1883–1936) und dessen Gattin Elisabeth, auch Ellen genannt.

Die Sache ist, zumal der Adel beteiligt ist, verzweigt und verheddert wie so oft, und ich werde hier nicht versuchen sie aufzudröseln. Nur noch das folgende. Vom Hofe ist ein Großneffe Adolf II. Dessen »Fürstentum« erstreckte sich dereinst von Rinteln an der Weser und den Bückebergen bis zum sogenannten Steinhuder Meer. 1918 nicht ganz freiwillig abgedankt, residierte Adolf hinfort als Privatier bei München und in Italien. Wie es aussieht, waren er und seine ihm 1920 angetraute, vom Clan als bürgerlich, geschieden und spielsüchtig geschmähte Gattin den Nazis ein Dorn im Auge gewesen – selbstverständlich nicht, weil er aus dem Holze des angeblich (in der SU) ertrunkenen Rebellen Max Hoelz geschnitzt gewesen wäre. Für Vom Hofes Empfinden handelte es sich vielmehr darum, Adolfs überaus beträchtliches Vermögen in den Dienst des Faschismus und insbesondere der Kriegsanstrengungen stellen zu können. Zunächst ging dieses Vermögen dank jenes dummen Flugzeugabsturzes auf Adolfs Geschwister über. Nebenbei verzehrte sich Adolfs Bruder Wolrad, seit 1935 Parteimitglied, erklärtermaßen nach dem Fürstentitel, womit er auch Göring in den Ohren lag. Das sind keinewegs Erzeugnisse aus Vom Hofes Madrider Märchenstube. Selbst Ralf Husemann merkt an: »Drei Brüder des Fürsten arrangierten sich mit den Nazis (Friedrich Christian brachte es gar zum Adjutanten von Goebbels). Doch der vierte (Heinrich), der Großvater des Autors, hatte nicht nur mit den Nazis nichts am Hut, er gehörte auch noch einer (alsbald verbotenen) Freimaurer-Loge an.«

Zu Ehren dieses Großvaters also, Heinrich Prinz zu Schaumburg-Lippe (1894–1952), aber offensichtlich auch, weil er a) allgemein Gerechtigkeit schätzt, b) persönlich nichts dagegen hätte, auch noch von der nach wie vor üppigen Bückeburger Torte zu naschen, scheint sich Vom Hofe seit Jahren unter vielen Mühen und Ärgernissen mit der leidigen ungeklärten Angelegenheit zu befassen. Dabei ist ihm der Einblick in die Archive des Bückeburger Fürstenhauses aufgrund testamentarischer Verfügungen bis heute ausdrücklich und, wie er meint, zu unrecht verwehrt.

* »Geschäft auf Gegenseitigkeit«, 5. März 2007. Der Artikel wird in diesem Blog-Beitrag (ganz unten) angeführt: https://www.vierprinzen.com/2012/02/sachdienliche-hinweise-zur-kleinen.html
** Hans-Michael Bock (Hrsg): CineGraph, ein Loseblatt-Lexikon zum deutschsprachigen Film, München, Lg. 23
*** Alexander vom Hofe: Vier Prinzen zu Schaumburg-Lippe und das parallele Unrechtssystem, Vierprinzen Verlag, Madrid 2006




Hattemer, Lotte (1876–1906), Mitbegründerin des Monte Verità in Ascona, Italien. Nach meinen Erfahrungen sind die wenigen Menschen, die ihr Heil – oder das der Gesellschaft – in »alternativen« Lebensgemeinschaften suchen, um keinen Deut verrückter oder kränker als die vielen Menschen, die in Gestalt der üblichen Ehegatten, Wähler und Hamburger-Esser dahinsiechen. Nur verteilen sich diese sozusagen viel mehr, weshalb sie weniger auffallen. In den Kommunen oder Sekten dagegen treten sie geballt auf und fordern so dazu auf, sie als willkom-mene Zielscheibe von Haß oder Hohn zu begreifen.

Die Mittelstandstochter Lotte Hattemer wurde in Berlin zur Lehrerin ausgebildet, zog es dann jedoch vor, »auszusteigen«, sich tagelöhnernd über Wasser zu halten und schließlich, um 1900, mit ein paar anderen von München aus, wandernd, gen Italien zu ziehen. Bei Ascona (im schweizer Tessin) blieben die Wandernden an einem Weinberg hängen, von dem sie vier Hektar erwarben und den sie kurzerhand in Monte Verità umtauften. Dieser neue »Berg der Wahrheit« wurde ziemlich rasch berühmt und zog entsprechend Wahrheits- oder HeilssucherInnen aus vielen Ländern an, darunter (spätere) Prominenz wie Mary Wigman, Käthe Kruse, Erich Mühsam, Hermann Hesse, Carl Gustav Jung. Die ursprüngliche Siedlung, vegetarisch gestimmt um eine Naturheilanstalt gruppiert, zerfiel bald; dafür kauften sich andere Leute am Weinberg ein. Auf diese Art wurde er zur Zuflucht mehr oder weniger verschrobener EigenbrötlerInnen, die ihre »Meinungs-verschiedenheiten« pflogen.

Hier drängt sich eine beiläufige Bemerkung aus Musils Mann ohne Eigenschaften auf, erschienen um 1930. Der Trieb recht zu haben sei »fast gleichbedeutend mit Menschenwürde«, heißt es da.* Offenbar trägt die bekannte Einsicht, grundsätzlich besitze jeder Mensch Würde, nicht gerade weit. Sie zerschellt regelmäßig an der eigenen Meinung, also auch am Monte Verità. Man möchte nämlich keineswegs wie jeder, man möchte vielmehr etwas Besonderes sein. Jener, möglicherweise natürliche »Trieb recht zu haben«, verzahnt sich fast immer sofort mit den unwesentlichsten Dingen, und seien es Haartrachten oder Zahnstocher. Und er bettet sich rasch in die je eigene Weltsicht ein, weil jeder Mensch WeltherrscherIn ist beziehungsweise gern einer oder eine wäre. Die Weltherrschaft ist so unteilbar wie die Menschenwürde. In meine »Welt als Wille und Vorstellung«, um auch noch Schopenhauer zu bemühen, muß alles hinein. Jetzt kann ich natürlich nur hoffen, der Stein, den ich damit gegen den Monte Verità schleuderte, springt nicht an meine eigene Birne zurück.

Was nun Hattemer angeht – mit ihrer Genügsamkeit oft als Gegenstück der lebenshungrigen Münchener »Gräfin« Reventlow aufgefaßt – scheint sie sich nach einiger Zeit in einem tür- und fensterlosen baufälligen Stallgebäude niedergelassen zu haben. Von Geldsendungen ihres Elternhauses zehrend, übte sie Wohltätigkeit, während sie selber zusehends abmagerte. Sie soll regelmäßig nach Locarno gepilgert sein, um Vorträge durchreisender Theosophen zu hören und galt auch selber schon als halbe Heilige. Andererseits wurde sie offensichtlich immer verwirrter. Entsprechend »mysteriös« kam sie im Frühjahr 1906, mit 29, zu Tode. Ihr Vater hatte vergeblich versucht, sie in ein norddeutsches Sanatorium zu locken. Kurz darauf erlag sie einer Vergiftung, anscheinend durch Morphium. Raimund Dehmlow gibt dazu auf seiner Webseite** eine Auskunft des Übersetzers und Mühsam-Biografen Christlieb Hirte aus 2002 und eine schon Ende 1909 abgegebene Erklärung des »Regierungsstatthalter-amtes Locarno« an die Polizei in Zürich wieder, die im Berner Bundesarchiv liegt. Danach gab es damals Beschuldigungen, vielleicht Verleumdungen, der Schriftsteller Johannes Nohl und der Psychoanalytiker Otto Gross hätten böswillig an Hattemers Ableben mitgewirkt, doch die Behörden neigten zur Diagnose Selbstmord. Das entspreche der allgemeinen Einschätzung am Berg. Hattemer sei eine Exzentrikerin gewesen und habe »schon bei anderen Gelegenheiten« Hand an sich gelegt.

* Zweibändige Rowohlt-Sonderausgabe, 1984, Band 1, S. 205
** »Lotte Hattemer«, 4. Februar 2021: https://dehmlow.de/index.php/de/otto-gross/55-lotte-hattemer
→ Zum Elend des Familienlebens A-9 Auf der Schweinsblaseninsel




Haushofer, Marlen (1920–70). Laut Brockhaus hatte die österreichische Schriftstellerin um 1960 eine »Endzeitvision«, worauf sie einen bedeutenden Roman schrieb. In Wahrheit läßt sich Die Wand erfrischend vielseitig lesen; an ihr haben sich schon Stadtflüchtlinge, Katzenfreunde und FrauenrechtlerInnen aufgerichtet.

Die Försterstochter aus der Steiermark siedelte ihre namenlose Ich-Erzählerin im Gebirge an. Um ernstlich an Selbstmord zu denken, ist diese »Heldin« nicht mehr jung genug. Außerdem hätte sie den Hund und die Kuh im Stich lassen müssen. Und dann habe sie auch »eine gewisse Neugier« daran gehindert sich umzubringen. »Die Wand war ein Rätsel, und ich hätte es nie fertiggebracht, mich angesichts eines ungelösten Rätsels davonzumachen.« Also nimmt sie den nahezu aussichtslosen Kampf ums Überleben auf. Er hat nichts Spektakuläres, und sie schildert ihn auch entsprechend. Auf sich selbst, wenige Lebensmittel und Werkzeuge verwiesen, hat diese 40jährige Frau um ihre Fassung zu ringen. Das ist unheimlich spannend. Denn beiderseits der Wand, von der das Gebirge heimgesucht worden ist, lauert das Grauen.

Früher oder später dämmert dem Leser allerdings, sie habe zurecht von einer »gewissen« Neugierde gesprochen. Die Neugierde scheint nämlich nicht in ihr zu nagen. Nur selten und nie bohrend kommt sie auf die rätselhafte Wand zurück, von der das Verhängnis doch ausging. Man begreift, daß sie es schon beim ersten Zusammenstoß unterließ, sich soweit wie möglich ein Bild von der Beschaffenheit und dem Ausmaß dieser Wand zu machen. Folgendes ist geschehen. Als sie den Gebirgskessel verlassen will, wo sie in der Jagdhütte ihres Schwagers übernachtet hat, stößt sich ihr Hund am Ausgang der Schlucht die Schnauze an einer unsichtbaren Sperre blutig. Sie ertastet eine feste, glatte Fläche, die einer Wand ähnelt. Da sie trotzdem hindurchsehen kann, wird ihr klar, im Tal regt sich nichts mehr. Sie hat ihr Fernglas dabei. Der Mann am Brunnen, die Hände zum Schöpfen bereit vorgebeugt, wirkt wie versteinert. Offenbar hat eine gewaltige Katastrophe zumindest die Menschen getötet. Die ganze Menschheit, vermutet sie sofort. Später sieht sie sich vom stummen Autoradio darin bestätigt. Nur sie ist übrig geblieben: mit einem Hund in einem Gebirgskessel gefangen. Doch woher weiß sie das? Zwar beginnt sie die unsichtbare Wand mit Zweigen abzustecken. Die Wand verriegelt die Schlucht und steigt vom Bachufer bergan. Die Frau folgt ihr. Doch nach kurzer Strecke wird ihre Untersuchung von einer brüllenden Kuh durchkreuzt, der das Euter zu platzen droht. Sie verschafft dem Tier Erleichterung. Wie hätte nun die Leserin gehandelt? Ob panisch oder besonnen, hätte sie doch wohl die Erkundung fortgesetzt. Schließlich war der Verlauf der Wand gar nicht abzuschätzen. Vielleicht brach sie noch im Gebirge ab. Oder sie zog sich quer durch das ganze Land, statt ausgerechnet diesen einen Gebirgskessel zu umschließen. In beiden Fällen wäre die Frau bald auf Mitmenschen gestoßen.

Aber genau das wollte die Romanautorin Haushofer verhindern. Daher die Kuh, die ich für das entscheidende Requisit ihres Romanes halte. Die Frau führt sie unverzüglich zur Jagdhütte und richtet ihr einen Stall her. Da die Kuh gemolken, gefüttert, betreut werden muß, sind ausgedehnte Erkundungsgänge nicht mehr möglich. Erst durch die Kuh ist die Frau – nach jenem grotesken Zusammenprall – auch real gefesselt. Sie kommt nicht mehr umhin, den erdrückenden Verhältnissen die Stirn zu bieten. Bis dahin, unter den Menschen, kam sie sich im Gefühl ihrer Gefangenschaft immer verrückt vor. Wie kann sich jemand verloren glauben, wenn er Frau oder Mann, zwei Töchter, zahlreiche Rechte und Pflichten hat? Doch gerade damit waren auch zahlreiche Ängste verbunden. Wie ihnen ausweichen? »Real«, indem wir Wände übertünchen, Tapeten wechseln, auswandern. Hier jedoch bleibt der Frau nichts anderes übrig, als sich ihrer Angst zu stellen. Die Wand – wie Haushofer sie verordnet hat – zwingt sie dazu. Nun muß sie einen Kartoffelacker anlegen, Unmengen von Brennholz sägen, Rehe töten, einem Kalb auf die Welt verhelfen, das Tagebuch führen.

Wir könnten auch sagen, sie hat ihren Mann zu stehen. Es gibt wohl zu denken, wenn selbst ihr Gatte – »vertrautes, gutes Menschengesicht« – in ihrem Bericht kaum vorkommt. Einmal erscheint ihr sein Gesicht im Fieberwahn. »Ich streckte die Hand aus, und es löste sich auf. Man durfte es nicht anfassen.« Wenn nicht tot, dann ist Gott zumindest unerreichbar. Wir sind allein. Auch die Frau wird das Rätsel der Wand nicht lösen. Sie kann sich nur an die Natur halten, die ihr unverständlich bleibt. So ernährt sie sich von Brennesselsalat, Kuhmilch, Rehfleisch, ohne darin eine Faser Sinn zu erblicken. Sie hätte nichts mehr dagegen, gleichfalls zu verwildern. Es wäre kein Akt, mit dem sie Schuld auf sich lüde, sondern ein sanftes Hinübergleiten. Es wäre vorbei mit der Zucht – mit der lebenslänglichen Zumutung, nicht die Zügel schießen zu lassen.

Allerdings darf sie auch nicht zu eng eingekesselt sein – der Realismus erfordert es. Sie bekommt die Alm, wo sie mit der Kuh den Sommer verbringen kann. Sie hat den gewissen Bewegungsspielraum, durch den Gefangenschaft erst zermürbend wird. Solange es noch einige unerforschte Winkel gibt, bleibt die Ungewißheit. Trotzdem ist sie sich ihres Gefängnisses sicher. Bei einer Tageswanderung, zu der sie sich nach etlichen Wochen doch entschließt, wird sie erst in einiger Entfernung von der Jagdhütte vorsichtig. Jederzeit hätte sie im Wald auf die unsichtbare Wand prallen können, aber sie streckt ihren Wanderstock erst in einem der benachbarten Täler voran. Prompt ertastet sie dort auch die Wand. Damit bestätigt sich, sie ist im Ausmaß mehrerer Jagdreviere eingekesselt. So könnte sich in einer anderen Hütte ein Vorrat an Streichhölzern befinden. Oder es haust eine Ärztin dort, die sie von ihren folternden Zahnschmerzen befreit. Ein Arzt lieber nicht. Der Romanschluß stellt den Männern kein Ruhmesblatt aus.

Ohne Hoffnung fehlte der Verzweiflung das Gewicht. Selbst jenseits der Wand schimmert noch Hoffnung. Und sei es insofern, als die Frau durch den Bach erkennt, die Wand ist kaum im Boden verankert. Der Bach staut sich zunächst, unterspült dann aber die Wand und fließt draußen weiter. Die Frau kann es ihm nachmachen, falls sie den Kampf gegen ihr Naturell – das im wesentlichen aus Angst gestrickt scheint – zu verlieren droht. Vielleicht würde sie dann wie der Mann am Brunnen versteinern – aufblühen wie Kapuzinerkresse würde sie wohl kaum. Aus ihrem Bericht geht ziemlich deutlich hervor, sie lebt nur widerwillig. Die Gründe dafür müssen uns verborgen bleiben. Sie selber kann oder will sie nicht bloßlegen. Sie hat sich auf eine Weise mit der Wand abgefunden, durch die sie verkümmern wird.

Die Wand erschien 1963. Sechs Jahre später – knapp vor ihrem Tod (1970) – kommen Haushofers nur wenig verschlüsselte Kindheitserinnerungen Himmel der nirgendwo endet heraus. Das Buch stellt einen kaum überbietbaren Gipfel an psychologischer Beobachtung und kindlicher Komik dar. Allerdings ist der Gipfel derart zart gemalt, daß wir uns schon denken können, Meta werde nicht eben leicht durchs Leben kommen – ihrem Wunsch zum Trotz. »Das kleine Mädchen sitzt auf dem Grund des alten Regenfasses und schaut in den Himmel. Der Himmel ist blau und sehr tief. Manchmal treibt etwas Weißes über dieses Stückchen Blau, und das ist eine Wolke. Meta liebt das Wort Wolke. Wolke ist etwas Rundes, Fröhliches und Leichtes …«

Man hat verschiedentlich Quellen genannt, aus der Haushofer jenen »genialen« Grundeinfall der Wand bezogen haben könnte. Ich füge hier noch A. S. Neills Jugendbuch Die grüne Wolke von 1938 hinzu, in der just diese Wolke dafür sorgt, daß alle ErdenbewohnerInnen außer der Belegschaft von Summerhill und ein paar Chicago-Gangstern zu Stein werden. Aber wenn dieses Buch in breiten linken Kreisen als »Kultbuch« gilt, spricht es Bände über die bekannte Geschmacksverirrung dieser Kreise. Es ist schlecht geschrieben; es hat vor allem kein Klima; die verhängnisvolle grüne Wolke hat dem Autor, einem Lehrer, die beiden Gene zerstört, die für Bezauberung zuständig gewesen wären. Genau das, wenn auch noch anderes, hat ihm Haushofer voraus – und nur darauf kommt es an.

Mit jedem Jahr des Älterwerdens kommt mir – seit ungefähr 2000 – die Bedeutung unserer Kindheit noch größer vor. Aber nicht etwa, weil ich ihr nachtrauerte. So gut wie keine Kindheit ist ein Deckchensticken, ganz im Gegenteil. Die Beschädigungen und Entbehrungen, die wir unserer Kinderstube verdanken, machen den meisten Menschen bis zum letzten Atemzug zu schaffen.

Allerdings merken das nur die wenigsten. Werfen sie ihren Geliebten oder ihren Schwiegertöchtern vor, sie zu vernachlässigen, grinsen ihre eigenen Rabenmütter nur in ihrem Rücken. Die Kränkungen lasten sie ihren Beleidigern an – statt ihren Rabenvätern, die sich nie ernstlich für sie interessierten und entsprechend mit Aufmerksamkeit und Anerkennung geizten. Dem Zahnarzt Manfred Haushofer aus Steyr bescheinigte Stiefsohn Christian später im Gespräch mit Marlen Haushofers Biografin Daniela Strigl sogar, im Unterschied zu seinem Verhalten dem jüngeren Bruder gegenüber habe ihn der Vater nie geküßt oder auch nur umarmt. Das Betrübliche in diesem Fall: Auch die Mutter bevorzugte den jüngeren Sohn (der wie der Vater Manfred hieß) »in geradezu auffälliger Weise«. Diese Rabenmutter hat jenen großartigen Himmel der nirgendwo endet zustande gebracht.

In den 80er Jahren warfen sich Feministinnen auf Marlen Haushofer, um sie auf einen mit Trauerflor bekränzten Sockel zu hieven. Dagegen hebt Karin Fleischanderl in einer Rezension aus dem Erscheinungsjahr 2000 an Strigls Biografie lobend hervor, sie mache sich nicht die gängige Opfertheorie zueigen, zeige vielmehr, daß Haushofer durchaus berechnend und kaltblütig vorging, wenn sie sich diverser Männer als Versorger oder Türöffner bediente, ihren unehelichen Sohn abschob und dergleichen mehr. Die Provinz/die Welt habe Haushofer die Kälte und Beziehungslosigkeit offenbart, die in ihr selber wohnten. Dieses Naturell psychologisierend mit verschiedenen Reggressionen/Wünschen erklären zu wollen, wie Strigl, führe allerdings nur zu Gemeinplätzen. Fleischanderl unterstreicht dagegen die Projektionen der oft so nett und harmlos wirkenden Försterstochter: die Täterin stilisiert sich zum Opfer, um ihrer Aggressionen Herr werden zu können. Diese Aggressionen werden in der Tat auch von zahlreichen Szenen aus Haushofers Büchern bezeugt. Fleischanderl am Schluß ihrer Besprechung: »Marlen Haushofers Krebstod scheint ein letztes Mal die Opfertheorie zu besiegeln. Auch Daniela Strigl kann es sich nicht verkneifen, ausführlich die 'landläufige Meinung' zu zitieren, Krebs sei gewissermaßen die Strafe für nicht gelebtes Leben oder nicht ausgelebte Gefühle. Als ob es einen Idealpunkt gäbe, von dem aus ein Leben als gelungen oder nicht gelungen zu betrachten sei.«

Ein wahrlich weiser Satz. Fairerweise sollte jedoch betont werden, daß Strigl in ihrer gut geschriebenen Darstellung die »aus einer Kindheit voller Angst« gespeiste »beträchtliche Aggressivität« Haushofers wiederholt erwähnt. Strigl geht zum Beispiel* auf die Phantasien und Träume von Haushofers Alter ego Meta ein. »Die sympathische, hübsche Frau, die dem Vater schöne Augen macht, wird im Traum erwürgt, eine vermeintlich böse Besucherin, die sich gegenüber der Mutter listig verstellt, wird in einem regelrechten Autodafé hingerichtet, nur die gelben Knochen – wohl ein Tribut an das Märchen vom Machandelbaum – überstehen die Flammen und auch die Bestattung und beginnen unter der Erde böse zu kichern. Der Traum hallt im Erwachen nach. 'Etwas kichert noch immer, und es weiß etwas von Meta, was kein Mensch wissen dürfte.'«

* auf S. 60 der Neuauflage von 2007



Hemingway, Ernest (1899–1961). Die stechende Sonne treibt mich unter die Obstbäume am Hang. Im nächsten Dornengestrüpp jammert der Neuntöter, weil ich seinen Unterricht störe. Er bringt seinen flüggen Sprößlingen bei, »Schlachtbänke« anzulegen, behauptet die vogelkundliche Literatur. Die erbeuteten Hummeln oder Laubfrösche werden zwecks bequemer Zubereitung, manchmal auch aus Gründen der Vorratshaltung, zwischen die Dornen geklemmt oder auf sie gespießt … und sorgsam mit Pökelsalz eingerieben.

Die Weidenröschenstauden am Bachufer jenseits der Viehweide erinnern stark an Himbeereis – leider nur im Fernglas. Mit den rotbraunen Milchkühen, die gemächlich grasen, schiebt sich ein auffallend wuchtiges, euterloses Exemplar an meinem Himbeerhorizont vorbei. Ich vermute den »freilaufenden Bullen« in ihm, vor dem die Schilder am Elektrozaun warnen. Er schleppt sich freilich besorgniserregend schwankend dahin; gleich wird er vor lauter Kraft auf seinen blitzenden Nasenring fallen. Ab und zu beschnüffelt er die Schwanzwurzel einer Kuh, dann rupft er wieder lustlos ein paar Grashalme.

Im Gegensatz zu sämtlichen Kühen zeigt der Koloß kein Gehörn, dafür aber einen gewaltigen Kehllappen. Nimmt man seinen berstend prallen Hodensack hinzu, der ihm bald auf den Hinterhufen schleift, ist der Taumelgang des Bullen schon erklärt. In einer Stierkampfarena dürften solche Wesensmerkmale ein echtes Handicap darstellen. Spanien sieht jährlich rund 2.000 Stierkämpfe, bei denen rund 40.000 Stiere daran glauben müssen – an was? An die Gerechtigkeit bestimmt nicht. Doch F. G. Jünger behauptet in Die Spiele, zwischen Stier und Matador herrsche Gleichheit. Strenge Spielregeln hielten Riesenstärke und Zwergenscharfsinn in der Waage. Auch sei ja dieses bewegende Schauspiel ohne den Stier gar nicht denkbar. Am Ende, Degen im Schlund, werde er sogar eins mit dem siegreichen Matador.

Wäre aber vielleicht eine Welt ohne Matadoren denkbar? Dergleichen Fragen umgeht Jünger so elegant und vollständig wie die Qualen des Stiers. Selbst die Sozialistin Simone de Beauvoir bricht in Der Lauf der Dinge eine Lanze für den Stierkampf. Sie hat die Stirn zu betonen, allerdings dürfe kein Mensch zu diesem waghalsigen Kräftemessen gezwungen werden – etwa aus materieller Not oder angestacheltem Ehrgefühl. Demnach begibt sich der Stier aus freien Stücken in die Arena. Er kann es kaum erwarten – wie Jünger schreibt – des Kampfes »ruhender Pol« zu werden.

Der zeitweilige Spanienberichterstatter Ilja Ehrenburg bringt die Sache (in seinen Memoiren) auf den Punkt. »Der Stierkampf war mir stets zuwider. Wie oft habe ich darüber mit Hemingway gestritten! Die aufgeschlitzten Bäuche alter, ausgedienter Pferde, die Pfeile im Nacken kopfscheu gewordener Stiere, das Blut auf dem Sand der Arena – all diesen Dingen konnte ich überhaupt nichts abgewinnen. Ich fand sie schlichtweg abscheulich. Am allerabscheulichsten jedoch fand ich den Betrug: Der Stier kennt die Spielregeln ja gar nicht. Er läuft direkt auf den Feind zu, während dieser rechtzeitig um ein weniges zur Seite weicht.«

Der Mensch die Krone der Schöpfung? – Ja, als Verkörperung der Hinterhältigkeit.



Herzen, Alexander (1812–70) und Familie. Vor die Wahl gestellt, wer mir als Vater lieber gewesen wäre, hätte ich dem Schriftsteller Walter →Brandorff wahrscheinlich Alexander Herzen vorgezogen. Dieser russische, später in Westeuropa lebende Berufskollege wurde nicht viel älter als der Horrorspezialist aus Kärnten; er starb 1870 mit 57 Jahren. Mit dem berühmten Russen als Vater hätte ich aber womöglich tief in die Scheiße gegriffen, um es einmal ungewählt auszudrücken. Damit spiele ich auf Herzens Sohn Kolja an, der 1843 zur Welt kam. Das erste schlimme Unglück traf den Sprößling bereits bei der Geburt: er war völlig taub, wie seine Eltern nach ungefähr einem Jahr entsetzt bemerkten. Gleichwohl galt er als lebhaftes Kind und guter Schüler. Man hatte ihn in die Obhut seiner Großmutter Louise Haag gegeben, die sich in Zürich niederließ, weil dort eine Taubstummenschule zur Verfügung stand. Vater Herzen schreibt*, Kolja habe sich schon als Fünfjähriger mit großer Begabung einen Spaß daraus gemacht, alle möglichen BesucherInnen des Elternhauses »bewußt karikiert nachzuahmen«, wodurch er viel Gelächter geerntet habe (S. 201). Vielleicht wäre er ein beachtlicher Clown geworden? Das zweite schlimme Unglück, das ihn mit Acht traf, war natürlich gar nicht lustig. Die Eltern wohnten damals in Nizza, das zu Italien (Piemont) gehörte. Kolja, seine Oma und sein Lehrer Johann Spielmann hatten sich, von Paris kommend, Mitte November 1851 in Marseilles eingeschifft, um mit einem Mittelmeer-Raddampfer nach Nizza zu fahren. Spielmanns Alter ist nirgends zu erfahren; aus verschiedenen Anhaltspunkten schließe ich aber, er war kein Opa, eher ein junger Mann.

Das Unglück ereignete sich nachts, als die meisten Fahrgäste schliefen. Zwischen der Insel Hyères und dem Festland stieß der Raddampfer, trotz guten Wetters, mit einem anderen Schiff zusammen. Laut Stephan Reinhardt (Georg Herwegh, 2020, S. 366) sank der Raddampfer rasch: von ungefähr 100 Passagieren seien die meisten ertrunken, darunter die Drei aus Paris. Deren Leichen bleiben allerdings verschollen. Der Vorfall wird natürlich auch in Herzens Memoiren erwähnt (S. 349–57). Von einer amtlichen Untersuchung ist mir nichts bekannt.

Herzen schreibt (357), seit diesem Schlag sei Koljas Mutter Natalja Alexandrowna (1814–52) nie mehr gesund geworden. Das ging von einer Brustfellentzündung bis zu einem Wochenbett, das weder sie noch der Säugling überlebte. Doch der dickste Hammer muß die Groteske mit Georg Herwegh gewesen sein – fast ein Komödienstadl, wäre sie nicht, für Natalja, tödlich ausgegangen. Der zugleich ehrgeizige und eher farblose, wenig zupackende »Dichter« hatte sich in sie verliebt, und streckenweise war sie im Begriff, darauf einzugehen. Das spielte sich vor allem in Nizza ab, ehe Herwegh es vorzog, der Schmach zu fliehen. Nun hockt der Gatte in dem gemieteten, mit Dienerschaft gespickten Haus am Meer und ist tief verstört. Er schont sich in selbstkritischer Hinsicht kaum, aber er macht, wie alle, nicht die geringsten Andeutungen, ob bei dem Dreiecksdrama vielleicht auch Sexualität eine Rolle gespielt hätte. Ich vermute stark: Pustekuchen. Diese erlauchten Revolutionäre waren über viele Monate hinweg von Hirngespinsten gejagt. Streckenweise wurden Duelle, Ehrengerichte und immer wieder Mordanschläge erwogen. Herzen macht den Widersacher keineswegs völlig schlecht; mir mißfällt jedoch, wenn er im Kampfe sogar aus privaten Briefen Herweghs zitiert. Natalja entscheidet sich schließlich für Herzen und die Kinder – bloß stirbt sie da auch schon, ungefähr 38 Jahre alt (380/81).

Im allgemeinen sind Herzens Erinnerungen durchaus genießbar und aufschlußreich verfaßt, aber zu unausgewogen und mit manchen Längen. Im ganzen drei Bände, da hat er viel hineingepackt. Herzens Ausdruck ist oft köstlich treffend, doch er liebt auch das fruchtlose Schwenken verschiedener Bänder oder Gartengeräte, was er vielleicht für Poesie hielt, während er andererseits mit Vergnügen in den Verästelungen der Politik herumturnt und dabei die Grundfragen aus dem Blick verliert: Eigentumsverhältnisse, Volksbildung und vor allem Selbstorganisation. Möglicherweise stand es in dieser Hinsicht um Freund Bakunin etwas besser. Was der Vielschreiber und vielfache Vater Herzen freilich lieber überging, war sein Früchtchen Lisa Herzen. Irre ich mich nicht, hieß sie offiziell Jelisaweta Alexandrowna, 1858–75. Nach einem jüngeren Zeitungsartikel** war Lisa in London einer Affäre Herzens mit der Gattin (Natalja A. Tutschkowa) seines engsten Mitstreiters Nikolai Ogarjow entsprungen. Mit 17 soll sich das Mädchen schon wieder umgebracht haben – Chloroform-Vergiftung, angeblich wegen Liebeskummer. Neben Lisa habe die Affäre sogar noch ein Zwillingspaar hervorgebracht. Da hat die gute Tutschkowa anscheinend den einen stämmigen Vollbart gegen den anderen stämmigen Vollbart getauscht, wenn mich Fotos nicht täuschen. Der Artikel merkt genüßlich an, Herzens Lage sei heikel gewesen. Nun habe er sich jäh »in der Situation seines Erzfeindes Herwegh« befunden, »der sich vom politischen Kampfgefährten zum erotischen Verräter gewandelt hatte. Deshalb tabuisierte Herzen diese zweite Dreiecksaffäre vollständig und verlor in seiner Autobiografie kein Wort darüber.«

Was Lisa angeht, fühlte sie sich vermutlich schon als kleines Mädchen in einen Irrgarten gepflanzt, über dem zu allem Überdruß auch noch der Londoner Nebel hing. Die Silberstreifen ihres radikaldemokratisch gesinnten Erzeugers hatten sich als Vogelscheuchen-Flitter erwiesen, und 20 andere Krähen zerrten sie in 20 verschiedene Richtungen. Dostojewski, so die NZZ, habe Lisas Liebesenttäuschung nur als den Vorwand erachtet, ihren eigenen Lebensweg gar nicht erst antreten zu müssen. Wer wollte ihr das verdenken, falls es stimmt? Glücklicher waren womöglich die erwähnten Zwillinge daran, die bereits als Kleinkinder gestorben sein sollen.

* Mein Leben. Memoiren und Reflexionen, Band 2 der Ostberliner Ausgabe: Aufbau-Verlag 1963
** »Zwischen Barrikade und Salon«, NZZ, 7. April 2012: https://www.nzz.ch/zwischen-barrikade-und-salon-1.16321322




Hollan-Raupp, Lubina (1927–64, auch: Holanec-Rawpowa u.a.), sorbische DDR-Organistin, geboren in Kleinbautzen als Tochter des sozialdemokratischen Lehrers und Kantors Ernst Hollan, der unter den Nazis (1934) wegen antifaschistisch-sorbischer Gesinnung aus dem Schuldienst entlassen worden war.* Studium in Leipzig und Prag, Konzertreisen im Ostblock, wiederholt preisgekrönt. In ihrem Programm war Hollan-Raupp vielseitig, ungefähr von Bach bis Hindemith, darunter etliche tschechische Komponisten, beispielsweise Alois Hába. Sorbische Musik für die Orgel lag allerdings zu ihrer Zeit kaum vor. Auf diesem Gebiet griff sie aufs Klavier zurück, etwa als Liedbegleiterin. Sie unterrichtete auch Klavier am Sorbischen Institut für Lehrerbildung. Zur Todesursache teilt mir das heutige Institut mit, in den Nachrufen heiße es, Hollan-Raupp sei, mit knapp 37 Jahren, »nach langer Krankheit« verstorben. Carmen Schumann** wußte es 2004 genauer: Krebs. Dessen Opfer war mit dem Musikwissenschaftler und Komponisten Jan Raupp verheiratet (ein Sohn), der als »Nestor neuer sorbischer Musik« galt. Er starb 2007 mit knapp 80.

Die eher kleine westslawische Volksgruppe der Sorben, auch Wenden genannt, siedelte seit Jahrhunderten in Nieder- und Oberlausitz, also beiderseits der Spree im Bereich der heutigen Städte Lübben, Cottbus, Hoyerswerda, Bautzen. Den sorbischen Einzelhöfen dienten häufig Wasserläufe als Dorfstraßen. Die sorbischen Frauen glänzten durch ausladende Hauben, die bald die Kähne kentern ließen. Diese slawische Minderheit wurde oft benachteiligt und unterdrückt. Im deutschen Faschismus war sogar der Gebrauch der sorbischen Sprache verboten. Die DDR dagegen war um Förderung der sorbischen Eigenständigkeit bemüht – bis zum Anarchismus ging das aber nicht. In Werner Bergengruens dickleibigem Mittelalter-Roman Am Himmel wie auf Erden kommen die Wenden ganz gut weg. Der brandenburgische Kurfürst Joachim hat sogar einen wendischen Kutscher, Juro. Diese Schonung könnte mit zur Ächtung des eigentlich obrigkeitsfreundlichen Werkes durch die Nazis beigetragen haben.

* Detlev Kobela, »Lubina Hollan-Raupp«, in: Lětopis – Zeitschrift für sorbische Sprache, Geschichte und Kultur (Bautzen), Nr. 17, 1974, S. 127–31
** »Eine Virtuosin im besten Sinne des Wortes«, Sächsische.de, 6. Mai 2004: https://www.saechsische.de/plus/eine-virtuosin-im-besten-sinne-des-wortes-666067.html




Hopffgarten, Georg Friedrich von (?), Junker. Ich will nicht behaupten, zu einem echten »Goldenen Oktober« gehöre ein kleiner Radausflug nach Laucha, aber ich will es auch nicht abstreiten. Es gibt schlimmere Dörfer. Dieses hier liegt nördlich von Waltershausen an dem gleichnamigen Flüßchen Laucha, das jenseits des Dorfes in die Hörsel mündet. Meine ersten Schritte gelten (2022) den letzten Dorfgewaltigen. Die von einem stilsicher angebrachten Jägerzaun eingefriedete Familiengrabstätte derer Von Hopffgarten liegt am Südrand des früheren Schloßparkes. Sie wird von mächtigen Linden und Eichen beschirmt, die ihre gelben Blätter auf ein paar noch vorhandene Gedenksteine aus schwarzem Marmor trudeln lassen, die sich mit »Großher-zögl. Kammerherren« und »Schlosshauptmännern« nebst deren Gattinnen brüsten. Die letzte Leiche wurde hier 1924 in die erlauchte Erde Lauchas gesenkt. Die Ära der Herzogtümer neigte sich dem Ende zu. Das Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha bestand 1826–1918. Es hatte gleich zwei Residenzstädte, damit man doppelt soviele Kammerherren und Schloßhauptmänner besolden konnte. Coburgs Stadtwappen zeigt übrigens eine Rarität, nämlich den Kopf eines schwarzen Mannes mit kräftigen Lippen und riesigen Ohrringen. Um das geächtete Wort »Neger« zu vermeiden: Es ist also ein Mohr, genauer der Heilige Mauritius. Das war ein gallischer christlicher Feldherr, von dem allerdings kein Schwanz weiß, wie er aussah. Jedoch, er starb einen Märtyrertod. Coburg machte ihn später freisinnig zu seinem Schutzheiligen. Unter Hitler mußte der Mohr vorübergehend weichen. Daran wollen nun wieder gewisse Sauberleute anknüpfen, wie ich einem SZ-Artikel von 2020 entnehme.*

Ich schiebe mein Fahrrad um den von vielen alten Bäumen gesäumten sogenannten Weiher. Hier sah ich schon einmal ein nicht offiziell geadeltes Prunkstück auf einem übers Wasser ragenden Zweig hocken: den knallbunten Eisvogel. Die Laucha selber, die den Teich speist, hat hier und dort auch Wasseramseln zu bieten. Sie kommt aus dem Thüringer Wald. Das Dorf Laucha sah sich 1714 entschieden aufgewertet, denn die Herren von Teutleben verkauften es just an Georg Friedrich von Hopffgarten. Sie verkauften ihm als0 nicht etwa nur eine Hundehütte oder eine Scheune, vielmehr das ganz Dorf. Vermutlich schloß das auch beträchtliche Ländereien ein. Der Kaufpreis wird nirgends genannt. Bei den Hopffgartens handelte es sich um ein altes, verzweigtes thüringisches Adelsgeschlecht, Stammsitz wohl bei Weimar. Ihr neuerworbenes Lauchaer Schloß (früher Wasserburg) erhob sich unweit des erwähnten Teiches an der Stelle der heutigen Park-Gaststätte. Daher wurde es von allen Weiherschloß genannt. 1947/48 wurde es auf sowjetischen Befehl hin abgerissen. Das warf immerhin Steine für andere Baumaßnahmen ab. Übrig blieb lediglich ein großes Wirtschaftsgebäude (Fachwerk), das der neue Eigentümer des ganzen Geländes umbauen ließ. Wie man liest**, war das »Schloß« genannte klobige Herrenhaus vor dem Abriß schon ziemlich heruntergekommen, hatte es doch bereits seit 1870 leergestanden. Wegen ihrer hohen Ämter weilten die Gutsherren ohnehin meist auswärts. In den Residenzen hatten sie es auch viel näher zu den Banken.

Was die Landschaft um Laucha angeht, kann der Tourist nicht klagen, falls er Windräder schätzt. Im Süden sieht er den Thüringer Wald, im Westen die bei Eisenach gelegenen Hörselberge – und im Norden die Windräder. Sie spicken den ganzen vom Hainberg gekrönten dortigen Höhenzug. Möchte der Tourist eine »historische« Pferdekutsche besteigen, bringt sie ihn über nur drei Kilometer, wie schon ab 1847 die Adelssprößlinge, zum Bahnhof Mechterstädt. Allerdings ist der Tourist zeitgemäß per hochbeiniger und breitmäuliger Gelände-limousine angereist. Biegt er bei Waltershausen von der Autobahn ab, kommt er direkt aus dem Krieg. Der so gut wie nie abreißende Schlachtenlärm ist für empfindliche Ohren ungeheuerlich. Vom südlichen Dorfrand, Schloßpark und Familiengrabstätte eingeschlossen, hat man 300 bis 500 Meter »Distanz« zur A 4, die unter Hitler entstand. Wenn die Leute in Laucha nicht schon zu 70 Prozent taub sind, fresse ich eine Angelrute. Aber sie stöhnen eher unter den Ratenzahlungen für ihr schönes neues Eigenheim und haben sich deshalb flugs ein dickes Fell zugelegt.

Am Weiher, der in diesem Herbst eine neue Uferverscha-lung erhält, komme ich mit einem Angler ins Gespräch. Er klopft gerade einen Pfahl ein. Der Mann ist zufrieden. Der Privateigentümer des Schloßparks habe dem Anglerverein den Weiher günstig verpachtet und geize auch sonst nicht mit Unterstützung. Im kommenden Sommer wird der Angler wieder in seinem Campingstuhl thronen. Er läßt sich von der Sonne kitzeln und dünkt sich jedesmal König, wenn er einen Karpfen aus dem Weiher zieht. Schließlich gehen wir miesen Zeiten entgegen. Die rasend entwerteten Euroscheine, die der Geldautomat in Gotha für den Angler ausspuckt, kann er nicht essen. Er kann sie höchstens an seine Angelschnur hängen, als Köder. Oder sollte er in seiner größten Not sogar seine mit Schmalz getränkten Ohrstöpsel, die sowieso nichts nützen, als Köder auf den Haken spießen?

* https://www.sueddeutsche.de/bayern/coburg-stadtwappen-mohr-rassismus-nationalsozialismus-1.4951079
** https://parkgaststaette-laucha.de/geschichte/wasserschloss-laucha/




Hundbiß, Friedrich Anton von (1769–1805), süddeutscher Obervogt, bringt sich um. Der Obervogt war ungefähr dem späteren Landrat vergleichbar, nur nicht in parlamentarischen, vielmehr feudalen Diensten. Von Hundbiß' Vater hatte dieses Amt auch schon bekleidet. Amtsgebiet war die Bodensee-Insel Reichenau nebst einigen umliegenden Festlandsgebieten. Von Hundbiß junior residierte auf »seiner« Insel in der stattlichen zweigeschossigen »Kaiserpfalz«, die über etliche Nebengebäude verfügte und, mit ihrem hohen Rittersaal, auch Gerichtssitz war. Sein oberster Dienstherr war vorwiegend ein Konstanzer Fürstbischof, zuletzt, seit 1803, ein badischer Markgraf. Von Hundbiß war mit der gleichaltrigen Freiin Sophie von Rotberg verheiratet und zeugte zwei Kinder – in der Ehe jedenfalls. Theodor Humpert* möchte nicht behaupten, die Ehe sei glücklich gewesen, weiß aber auch nichts von ihr. Nach sicherlich »bösen Zungen« habe der junge Obervogt so manchem heimischem Mädchen nachgestellt. Andererseits zitiert Humpert aus einem 1805 (im Todesjahr) verfaßten Brief an Von Hundbiß' Gönner und Freund Ignaz Heinrich von Wessenberg, Konstanzer Generalvikar: »So lieb wie Sie war mir noch kein Mensch, ich könnte für Sie mein Leben geben …« Das mag unter Umständen als schwule Neigung ausgelegt werden, beweist aber wenigstens, der Generalvikar war ihm lieber als die Schraube zu Hause.

Als Obervogt hatte Von Hundbiß »die Hoheitsrechte in allen Justiz-, Polizei- und Forstangelegenheiten« inne, und er scheint sie auch mit Lust wahrgenommen zu haben. Heimatforscher Humpert steht ihm in seinem »jugendlichen Feuereifer« kaum nach. Der Obervogt habe nicht nur die Bestechung unter Beamten und Waisenpflegern bekämpft, die nächtlichen Zechgelage nach 22 Uhr verboten und den einträglichen Weinbau auf Reichenau zu steigern versucht, sondern er sei auch mit »unerbittlicher Strenge« allem »lichtscheuen Gesindel«, das sich bei Konstanz, auf dem Bodanrück oder auf der Insel herumtrieb, auf die Pelle gerückt. Sein besonderes Verfahren gegen aufgegriffene »Spitzbuben, Tunichtgute und anderes Gaunerpack« (so Humpert) habe darin bestanden, sie erst einmal von der Polizei tüchtig »ausprügeln« zu lassen. Das habe »auch unter diesen Leuten« oft eine heilsame Wirkung gezeigt und damit der Obervogteikasse manche Verpflegungskosten im Zuchthaus erspart. Man fühlt sich hier unweigerlich an den kurhessischen Juristen und Spitzenpolitiker Ludwig Hassenpflug (1794–1862) erinnert, der zeitweise sogar die Prügelstrafe wieder einführte, um seinem Spitznamen »Hessenfluch« auch wirklich gerecht zu werden. Humpert merkt an, die Sippe des Reichenauer Obervogts habe sich streckenweise auch »Hundpiß« geschrieben. Da hatte sie ja den Uringestank, der ihr an den Landstreichern mißfiel.

Zwar schreibt Humpert, der Regimewechsel von 1803 – das Fürstentum Konstanz fällt an Baden – habe Von Hundbiß stark zugesetzt, aber die genauen Gründe nennt er nicht. Der Obervogt blieb nämlich durchaus im Amt. Womöglich wurden seine Bezüge gekürzt? Die schweize-rischen Teile seines Amtsgebietes hatte er ja offenbar schon im Zuge der Thurgauer Unabhängigkeitsbewegung von 1798 eingebüßt. Seine Amtsführung wurde nach wie vor gelobt, owohl er sich Kritik an der neuen Landesherrschaft keineswegs verkniffen habe. Vielleicht wehte jetzt einfach ein liberalerer Wind über den Bodensee. Jedenfalls soll der Obervogt dem Generalvikar schon im Frühjahr 1805 seine »böse Schwermut« eingestanden haben. Trübe Gedanken und Todesahnungen hätten ihn heimgesucht. Wenige Monate später, am 18. September, macht sich der 36jährige »seinen« See zunutze: er ertränkt sich. Ob es einen unmittelbaren Auslöser gab (bei dieser Kühle!), scheint niemand zu wissen. Das gilt auch für das Wie. Humpert zufolge vermerkt das Totenbuch von St. Johann ausdrücklich, Näheres finde sich auf einem besonderen Blatt am Beginn des Buches – doch ausgerechnet dieses Blatt fehle, so ein Pech.

Vielleicht nahm er ein Ruderboot mit Anker – und band sich diesen dann vielmals verknotet ans Bein, bevor er »ausstieg« … Wichtiger dürfte freilich die Frage sein, was es eigentlich mit der vielbeschworenen Heimat und der Liebe zu ihr auf sich habe. Wie sich versteht, hält auch das verdienstvolle Heft meiner Quelle die Heimatliebe schmerzlich hoch. Wenn Hermine Maierheuser freilich (auf S. 128) dichtet, »Heimat, du rauschest in jeglichem Baum, / Heimat, du wirkst in der Fremde den Traum, der uns mit Mächten nach Hause treibt«, verrät sie eine Ahnung von der haarsträubenden Zufälligkeit der Angelegenheit. Erblicke ich das Licht der Welt in Baden, stehen die prächtigsten Fichten der Welt im Schwarzwald; wenn aber nicht, dann im Erzgebirge oder in Kanada. Hier wie dort hängt unsere Empfindung der Geborgenheit, ja unsere Idendität überhaupt an ganz bestimmten, einzigartigen Fichten, bilden wir uns ein. Dabei sind es überall die gleichen. In Wahrheit lauert der Unhold des BesitzerInnenstolzes, der Intoleranz und des Fanatismus in den traulichen Wäldern der HeimatliebhaberInnen. Meine Heimat ist besonders wertvoll; sie ist liebenswerter und wichtiger als deine Heimat. Dieser Irrglaube entsteigt der allgemeinen, außerordentlich hartnäckigen Neigung des Menschen, »das Eigene« zu überschätzen und notfalls das Kriegsbeil für es zu wetzen. Deshalb hält sich der Kapitalismus schon so verblüffend lange, obwohl er x-mal mehr Schaden anrichtet als Nutzen bringt. Im Kapitalismus darf man auf sein Eigentum pochen – mag es aus Grundstücken, Romanstoffen, Vorzügen, Meinungen, Ansprüchen, angeblichem Recht bestehen. In der Heimatliebe haben wir den Boden, aus dem Eigennutz und Selbstgerechtigkeit, Patriotismus und Doppelmoral in einem sprießen. Wenn die Inselgemeinde Reichenau heute über einen ansehnlichen Waldbesitz auf dem Bodanrück verfüge, stellt Heimatforscher Humpert fest, »so verdankt sie dies ihrem Obervogt v. Hundbiß, der am 25. Juli 1801 bei der Verteilung des sogenannten Dettinger Waldes rund 682 Jauchert** den Reichenauern zusprach.« Er schanzte es also zunächst einmal sich selbst und seinen beiden Sprößlingen zu. Den Landstreichern schenkte er die Prügel.

Eine andere Insel hatte andere Probleme: → A-10 »Ansturm auf Pingos«.

* »Friedrich von Hundbiß, der letzte Obervogt der Reichenau«, in: Badische Heimat, 32. Jg. 1952, Heft 2/3, S. 99–103
** 1 Jauchert = ca. 1/3 Hektar




Jefferies, Richard (1848–87). Falls Ihnen der Name dieses englischen Schriftstellers nichts sagt, was ich fast befürchte, kann ich Sie beruhigen: es gibt schlimmere Bildungslücken. Mir fiel er sogar in Gestalt einer etwas speckig glänzenden und bereits aus dem Leim gehenden Erstausgabe in der Originalsprache in die Hände, die mich vor allem dadurch bestach, daß ich bis dahin nicht wußte, was ein »poacher« ist. Von Nachschlagewerken her erwartet man in Jefferies 1879 in London* erschienenem Werk The Amateur Poacher eher einen Kranz aus Blumen, Tannenzapfen und Schmetterlingen, tatsächlich sind es jedoch Jagdgeschichten. Der Bauernsohn bezieht sie aus seiner Kindheit, die er im Hügelland bei Swindon in der Grafschaft Wiltshire, Südwestengland, verbrachte. Offenbar fand er als Halbwüchsiger kein größeres Vergnügen, als Kaninchen, Hasen, Forellen oder Barschen und zahlreichen Vögeln nachzustellen, etwa Fasanen, Rebhühnern, Tauben, Schnepfen. Allerdings mag, neben dem Jagdfieber, auch die Not im Spiele gewesen sein, war doch Jefferies Alter nur ein kleiner Farmer. Entsprechend führt der Autor allerlei absonderliche halb- oder ganzprofessionelle Wilderer (poacher) vor, was nicht völlig ohne Reiz ist. Dabei läßt er die durch Malthus oder Engels berühmte Soziale Frage weitgehend auf sich beruhen. Der Löwenanteil des Landes gehört eben den »Herren«, das war schon immer so. Sie machen auch die Politik. Soweit er nicht umhin kommt, Mitjäger, gipsys (»Zigeuner«) oder andere Mitmenschen zu erwähnen, verfängt sich Jefferies nie in der nächsten interessanten Frage, was sie ihm, außer Spießgesellen oder Konkurrenten, vielleicht noch bedeuten könnten. Für mein Empfinden bleiben seine eher holprig verfaßten Prosa-Oden auf »the morning on the hills, when hope is as wide as the world«, ziemlich hohle Gebilde. Kurz, weder als Natur- noch als Sozialphilosoph und schon gar nicht als Psychologe trifft der Autor auch nur einmal ins Schwarze. Von Thoreau ist er einen Atlantik entfernt – wahrscheinlich sogar von Gissing.

In seinem vier Jahre später veröffentlichten schmalen Werk The Story of My Heart (Geschichte meines Herzens) bemüht sich Jefferies, jene Hohlheit mit dem bekannten »kosmischen Bewußtsein« zu füllen, mit dem uns später noch, auf deutscher Seite, Leute wie Rudolf Steiner und Ernst Kreuder benebeln werden. Um das Maß voll zu machen, besitzt er auch noch die selbstironisch angestrichene Frechheit, das Werk im Untertitel als My Autobiography auszugeben. Über den Bauernbuben, Schuljungen, Dorfreporter und Londoner oder Swindoner Journalisten, der sich mit seinen ländlichen Skizzen nur mühsam über Wasser halten konnte, erfährt man in dieser inbrünstigen Offenbarung des Jefferies kein Komma. Stattdessen hören wir von seiner felsenfesten Überzeugung, die Weltgeschichte habe noch nicht ihr letztes Wort gesprochen, hinter den Phänomen steckten ungeahnte Möglichkeiten, das Entdecken habe gerade erst begonnen. Was wünscht er denn zu entdecken? Eben das »kosmische Bewußtsein«. Es soll ihm derart weit ums Herz werden, daß ihn keine Hautpore mehr an die Ernüchterungen oder gar Erniedrigungen erinnern kann, die jener Bauernbub und Schuljunge vermutlich zu erleiden hatte, wenn man den Andeutungen seines gleichfalls merkwürdigen Anwaltes Edward Thomas traut. Danach zog sich der wenig kräftige und wenig geliebte Knabe schon früh in das Schneckenhaus seiner vom Kuckucksruf und den Hummeln gewebten Träumereien zurück. Mit 20 wurde der Nachwuchs-Mystiker mit der Tochter eines benachbarten Bauern verlobt, die er mit 26 sogar geheiratet haben soll. Mehr ist dann von dieser Frau (Jessie Baden) nicht mehr zu erfahren. Der vollbärtige Gatte, laut Thomas ein angenehm schlichter, bescheidener Mitbürger, also immerhin kein alle Welt nervender Prediger, kränkelte und erlag mit 38 Jahren der übelsten Erscheinung seiner Zeit, der Tuberkulose. Zwei Jahre vorher, 1885, war sein drittes Kind an einer Gehirnhaut-entzündung gestorben. Dagegen soll die Mutter und Witwe noch über 70 geworden sein.

Mit welchen Geschmacksnerven Thomas der Prosa Jefferies, neben der unverzichtbaren Feierlichkeit, Schönheit und Glanz abgelesen hat, ist mir aufgrund meiner Einblicke völlig schleierhaft geblieben. Soweit ich sehe, liegt Jefferies auf deutsch lediglich mit einem Buch vor. Darin hat man die Geschichte meines Herzens mit dem Hauptteil seines sogenannten utopischen Romanes After London oder Der Rückfall in die Barbarei vereint.** Der zweite Text schildert ein nach großen, weiß der Teufel warum ausgebrochenen Feuersbrünsten verwildertes und gleichsam re-feudalisiertes England, von dem kein Mensch, geschweige denn ein Literaturfreund zu sagen wüßte, was es eigentlich soll. Für Jefferies ist es die Gelegenheit, einen selten fruchtlosen, abwegigen Sumpflandtext vor seiner kaum vorhandenen Leserschaft auszubreiten. Mit Geschichten, Handlungen, Konflikten im herkömmlichen Sinne hat Jefferies diesen Roman nicht im Ausmaß von auch nur einer Entenfeder befrachtet. Sollte es in London einen renommierten Literaturpreis für Langweile geben, hätte ihn Jefferies unbedingt verdient. Das würde sich doch prima mit der Bemerkung des Herausgebers Rathjen decken, Jefferies größte Bedeutung für die Literaturgeschichte liege womöglich gar nicht in seinen Schriften selbst, sondern in deren Wirkung auf den englischen Landschaftsschriftsteller, Literaturkritiker und Lyriker Edward Thomas.***

Wohlgemerkt: nicht in den Schriften selbst! Vielmehr werden literarische Werke, wie man aus Rathjens verräterischem Hinweis schließen darf, vor allem deshalb geschaffen, um eben in der Literaturgeschichte Bedeutung zu erringen oder um zumindest auf einen Literaturkritiker, Lyriker oder Herausgeber zu wirken.

* bei Smith, Elder, & Co., 15 Waterloo Place
** Herz & Barbarei. Mit einem Nachwort von Edward Thomas herausgegeben von Friedhelm Rathjen, Edition ReJoyce 2005
*** »Gefallen« 1917, mit 39 Jahren, gleich nach dem Übersetzen auf einem Schlachtfeld bei Arras, Nordfrankreich, wohl durch deutschen Brustschuß.




Johnston, David A. (1949–80), US-Naturwissenschaft-ler. Wer wollte die Opfer von Vulkanausbrüchen zählen und würdigen? Allein der berühmte Ausbruch des Vesuvs bei Neapel am 24. August 79 n.Chr., der mehrere antike Städte verschüttete, darunter das bekannte Pompeji, kostete im ganzen um 5.000 Tote. Ich nenne nur noch den Ausbruch des Mont Pelée auf Martinique am 8. Mai 1902, wahrscheinlich der verlustreichste im 20. Jahrhundert, mit geschätzt 30.000 Toten. Laut Wikipedia führte er zu gründlichen Untersuchungen und Überwachungen, die den Beginn der modernen Vulkanologie bezeichnen. Die scheint auch nicht ganz ungefährlich zu sein. Die Todesrate unter Vulkanologen soll sogar die von Bombenentschärfern und Löwendompteuren übersteigen. Man wird vielleicht einwerfen: Ja sicher, die opfern sich, um zahlreiche Tote zukünftiger Vulkanausbrüche zu verhindern! Aber da bin ich, wie immer, skeptisch. Diese in die Krater Starrenden dürften von einer jeweils anders zusammengesetzten Wolke aus Gemeinnützigkeit, Wahrheitssuche, Abenteuerlust und Profilierungssucht getragen werden. Profitstreben lasse ich einmal weg: das können wir für die sogenannten Klimawissenschaftler-Innen und Epidemiologen beziehungsweise deren Sponsoren reservieren.

Den 30jährigen US-Vulkanologen David A. Johnston erwischte es nur zwei Jahre nach seiner Promotion. Er hatte »bis zuletzt« auf seinem Beobachtungs- und Meßposten in gut neun Kilometer Entfernung vom 2.500 Meter hohen Mount St. Helens im Süden des US-Bundesstaates Washington ausgeharrt. Am Morgen des 18. Mai 1980 »war es soweit«. Johnston setzte noch eine entsprechende Meldung an seine Kollegen ab; dann wurde er, sehr wahrscheinlich, von einer Art Sturmflut aus Asche, Lava und heißen Gasen geradezu weggeschwemmt. Seine Leiche wurde nie gefunden. Im ganzen forderte die Kastrophe, obwohl Evakuierungen angeordnet worden waren, 57 Menschen das Leben, dazu vielen Tausend Tieren. Die angerichtete Verwüstung betraf ein keilförmiges Gebiet von ungefähr 20 mal 30 Kilometern. Man hatte die voraussichtliche Stärke des Ausbruchs erheblich unterschätzt. Laut Spiegel Online (7. Oktober 2004) war die Energie von 500 Hiroshima-Atombomben freigesetzt worden.

Bei diesem Unglück an der nordamerikanischen Westküste hatte Johnstons junger Kollege Harry Glicken (1958–91) Glück. Allerdings hatte er auch Schuldgefühle, weil er kurz vorm Ausbruch den Platz mit Johnston getauscht hatte. Glickens Stunde kam am 3. Juni 1991, als er 33 war, in Japan – und leider nicht nur seine. Auf der dortigen Insel Kyushu brach der Vulkan Unzen aus und schickte einen »pyroklastischen« Strom aus, dem sage und schreibe 42 WissenschaftlerInnen, Journalisten und Feuerwehrleute zum Opfer fielen. Sie hatten offensichtlich mit dem Feuer gespielt. Der fragliche, selbstverständlich ziemlich heiße Strom meint eine Lava, die hohen Gasanteil hat. Angeblich kann er bis 700 km/h erreichen; am Unzen soll er mit knapp 100 durch das Lager der BeobachterInnen geflossen sein. Jedenfalls war er schneller als sie.

Laut Martin Kunz* räumte Stanley Williams von der Arizona State University einmal ein: »Ich bin mir der Gefahr bewußt. Aber irgendwie wird man danach süchtig.« Von Hubertus Breuer, Spiegel 24/2001, ist zu erfahren, der bekannte Experte Maurice Krafft aus Frankreich habe davon geträumt, eines Tages in einem hitzefesten Kanu einen Lavastrom hinabzufahren. Krafft und Gattin kamen ebenfalls am Unzen um. Ohne Kanu.

Das »Spiel mit dem Feuer« dürfte tiefe Wurzeln und eine große Kragenweite haben. Soweit ich weiß, fürchten oder vermuten die meisten Paläontologen, vor der Ära des Faustkeils sei unser Primatengehirn geradezu explodiert. Na sehen Sie: das war der erste »anthropogene« Vulkan. Schaut man sich dann die auffällige Neigung der Menschheit zum Explosiven an, wundert einen gar nichts mehr. Ich nenne aufs Geratewohl Feuerbohrer, Flitzebogen, Schießpulver, Dampfmaschine, Benzinmotor, Kernspaltung, Bevölkerungsexplosion, Klima-Klimax … Man denke auch an den beliebten »Urknall« – einen Unfug, der sich in wenigen Jahrzehnten schon fast von einer Theorie in eine Tatsache verwandelt hat. Hier liegt es unsittlicherweise sehr nahe, einen Bogen vom erwähnten Primatengehirn zum Unterleib des Zweibeiners zu schlagen. Jeder zünftige Geschlechtsakt ist ein Vulkanausbruch. Die Frau stellt den Krater, der Mann die sogenannte Ejakulation.

Die verblüffende Hartnäckigkeit, mit der sich Geflohene nach wenigen Wochen oder Monaten zu ihrem Vulkan zurückbegeben, um sich erneut an dessen Fuß anzusiedeln, ist bekannt. Damit deutet sich das Bindeglied von all dem Verrückten an. Es ist der Stolz. Der Stolz des Menschen auf seine Einzigartigkeit duldet weder Niederlagen wie beispielsweise Flucht/Vertreibung, noch Impotenz. Offenbar ist er vom Wunsch des Überlebens, des Sichtfortpflanzens, des sogenannten Wachstums, des Siegens um jeden Preis heillos besessen. Die Welt mag ein Jammertal, ausgehungert, verseucht sein – der Mensch darf nicht untergehen.

Und warum die Besessenheit? Woran hängt nun das Bindeglied wiederum? Ich nehme an, am Tod. Es ist die Angst vor der Vergänglichkeit, vor der drohenden Vernichtung. Oder sagen wir umfassender: es hängt an der Leere. Viele Menschen ahnen die quälende Sinnlosigkeit unseres Daseins – und dieses gähnende Schwarze Loch wird emsig mit Kindern zugestopft. Uns zu erhalten, die Gattung zu schützen, Kinder hochzuziehen und so den Wahnsinn zu stützen, das ist schließlich auch ein Sinn.

* »Amerikanische Wissenschaftler schicken …«, Focus Online, 13. November 2013: https://www.focus.de/wissen/natur/vulkane-dante-auf-dem-weg-ins-inferno_aid_148547.html
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