Montag, 9. September 2024
Risse im Brockhaus 34

Der »Industriemanager« Hanns-Martin Schleyer (1915–77) hat im Brockhaus rund sieben Zeilen, wie so oft ohne Faschismus, dafür mit Foto. Dieses zeigt ihn gleichsam in der Spätblüte seiner erfolgreichen Jahre, mit dichtem dunklem Kopfhaar und vollen, sinnlichen Lippen. Umso leichter kann ihn die Leserschaft bedauern. Bekanntlich wurde der Mann, langjährig im Vorstand von Daimler-Benz und zuletzt auch Präsident des Industrie-unternehmerverbandes, im Herbst 1977 (angeblich) von der RAF entführt – und schließlich ermordet, weil die Bundesregierung nicht darauf einging, im Austausch 11 im Knast sitzende Genossen zu entlassen. Merkwürdigerweise fehlt dieser Mann bei Ernst Klee.

Schleyer war gelernter Jurist. Meines Erachtens genügt bereits seine befremdliche Auslegung des im einstigen schönen Sudetenland geltenden Mietrechts, um von seiner späteren Ermordung nicht mehr entsetzt zu sein. Damals, in den frühen 1940er Jahren, zog Schleyer mit seiner Gattin Waltrude in eine Prager Villa, die man dem jüdischen Bankier Emil Waigner weggenommen hatte. Sowohl Emil wie dessen Frau Marie landeten im KZ.* Schleyer leitete zunächst das Studentenwerk der Prager Universität. Im April 1943 heuerte ihn der Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren als Sachbearbeiter, später auch rechte Hand des Chefs Bernhard Adolf an. Wikipedia: »Der Verband war unter anderem für die Arisierung der tschechischen Wirtschaft und die Beschaffung von Zwangsarbeitern für das Deutsche Reich zuständig.« Als Schleyer im Mai 1945 zu seinen Eltern nach Konstanz floh, nahm er den Rang eines SS-Untersturmführers mit, wenn auch vermutlich nur klammheimlich. Nach einer gewissen Behelligung wurde ihm Ende 1948 der Rang eines Mitläufers verliehen. Damit konnte er das Einkassieren von Geld und Ämtern fortsetzen.

Übrigens hatten seine Angehörigen die unerbittliche Haltung der Regierung Helmut Schmidt nach der Entführung mißbilligt. Sie hatten bereits 15 Millionen DM Lösegeld zusammengekratzt, aber die Behörden unterbanden dessen Übergabe. Wikipedia: »Daraufhin hatte Schleyers Sohn Hanns-Eberhard die Freilassung der RAF-Häftlinge beim Bundesverfassungsgericht beantragt. Der Antrag wurde wenige Stunden vor Ablauf des letzten RAF-Ultimatums abgelehnt.« Die geschätzten hohen Richter blieben also dem berüchtigten Prinzip der Staatsräson treu. Es lautet in anderer Formulierung: Im Zweifelsfall geht der Staat über Leichen.

Heute haben wir in Deutschland nach wie vor etliche Hanns-Martin-Schleyer-Straßen. In Bad Friedrichshall beherbergt Schleyers Straße sinnigerweise eine sogenannte Flüchtlingsunterkunft. In Esslingen gibt es auch eine Brücke, in Stuttgart eine riesige Veranstaltungshalle, die an das bedauernswerte Opfer erinnert.** Eine Freundin von mir schimpfte bereits vor Jahren, die eben umrissene Benennungs-Lage sei ein größerer Skandal als Schleyers Ermordung. Zum Glück lebt sie selber auch nicht mehr, sonst käme ich in Erzwingungshaft, bis ich ihren Namen preisgebe.

* Heide Sobotka, https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/villa-schleyer/, 7. Dezember 2o10
* Erol Ünal, https://erolunal.de/2022/03/01/entnazifizierung-der-schleyer-des-vergessens/, 1. März 2022




Der erste deutsche Boxweltmeister aller Klassen Max Schmeling (1905–2005) verpaßte die 100 um wenige Monate. Hier scheint also das Gesetz zu gelten, mit leerem Kopf lebt es sich länger. Auch des deutschen Faschismus‘ wurde Schmeling ausgiebig teilhaftig. Brockhaus beläßt es allerdings bei einer briefmarkendünnen Andeutung mit Hilfe der berühmten Titelkämpfe gegen den schwarzen US-Schwergewichtler Joe Louis 1936/38. Klee dagegen fällt gleich mit der Tür in Goebbels‘ Haus. Ebendort habe Schmelings Gattin Anny Ondra, eine Schauspielerin, die Radioreportage vom ersten Kampf ihres Mannes gegen Louis verfolgt, den Schmeling bekanntlich gewann. »Hitler empfing Schmeling zum Essen und erließ ihm die Steuern.« In der Presse faselte Schmeling von der »unerbittlichen Auslese der Besten und Härtesten« gerade durch die von ihm vertretene Faustkämpferei. 1967 habe er das Buch Ich boxte mich durchs Leben auf den Freien Markt geworfen. Soweit Klee. Ich nehme an, Ohrfeigen-Kanzler Kiesinger bekam ein Schmuckexemplar.

Natürlich gibt es anderswo auch rührend Geschichten, etwa vom beliebten Judenverstecken, damit der Schläger nicht gerade als Menschenfresser dasteht. Ich verzichte auf sie. Die Welt behauptet gerade*, diese Geschichten seien »nachweisbar« – und verzichtet wie ich auf Näheres. Dafür hebt sie jedoch hervor, das Regime habe den Preisboxer keineswegs vorm Kriegseinsatz verschont. Bereits 1940 eingezogen, landete er am 2o. Mai 1941 auf der Mittelmeerinsel Kreta, die Briten bekämpfen. Dazu soll es freilich gar nicht gekommen sein. Er habe sich nämlich glücklicherweise bereits bei der Landung in einem Weinberg verletzt, sei ins Lazarett gesteckt und dann nicht-kriegsdienstverwendungsfähig geschrieben worden. So mußte er auf Kreta nur noch Wache schieben. Später hat er sich anscheinend auf seinem Rittergut Ponickel in Pommern (Kaufpreis 3,5 Millionen Reichsmark) von seiner Tussie richtig gesundpflegen lassen. 1945 zog das Paar die Flucht in den Westen vor, nach Hamburg. Nach kurzer Haft wegen einer kleinen Lüge ging Schmeling aus seiner »Entnazifizierung« als »unbelastet« hevor und konnte wieder loslegen.

Unter anderem übernahm das Ehepaar 1954, an der Liebe zum schwarzen US-Bürger Joe Louis anknüpfend, eine deutsche regionale Coca-Cola-Generalvertretung, Abfülluung des schwarzen Zuckergesöffs eingeschlossen. Das Hamburger Abendblatt meint, damit hätte Schmeling »eine Art Lizenz zum Gelddrucken« ergattert, also womöglich nicht nur den Raub seines Rittergutes durch »die Russen« wettgemacht. 1967 etwa verkauften die GiftmischerInnen von der anderen Seite, die Yankees, bereits 100 Millionen Kisten in Westdeutschland, ungelogen.** Für diese Nordamerikatreue erhielt Schmeling 1971 das Große Bundesverdienstkreuz. Die Sozialdemokraten Willy Brandt oder Gustav Heinemann überreichten es ihm jede Wette mit Vergnügen. Nehmen wir zuletzt einmal an, Schmeling beherzigte seinen liebsten Werbespruch »Täglich Sport und Coca-Cola« auch leibhaftig, muß er eine Ochsennatur gewesen sein.

* https://www.welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article231242933/Fallschirmjaeger-Wie-Box-Weltmeister-Max-Schmeling-1941-den-Absprung-ueber-Kreta-ueberlebte.html, 31. Januar 2024
** https://www.coca-cola.com/de/de/media-center/max-schmeling-und-coca-cola, Stand 2024




TrägerInnen von Allerweltsnamen haben in der Regel eher Nachteile als Vorteile zu gewärtigen, manchmal sogar den Tod. Der hier behandelte, meist »Willi« genannte Wilhelm Eduard Schmid (1893–1934), ursprünglich Dr.phil. sowie Geigen- und Cellospieler, muß zudem in Kauf nehmen, von Brockhaus übergangen zu werden. Dabei war Schmid 1924 sogar Musikkritiker der Münchner Neuesten Nachrichten geworden. Daneben schrieb er für Fachzeitschriften. Er war offensichtlich weder links noch faschistisch, vielmehr konservativ, vielleicht auch nur kontemplativ gestimmt*, jedenfalls mit Oswald Spengler und Peter Dörfler befreundet, einem katholischen Schriftsteller und Erzieher. Sein Verhängnis klingelte am Abend des 30. Juni 1934 um 19.20 Uhr an seiner Wohnungstür. Vor ihm standen vier bewaffnete SS-Schergen, die ihn begründungslos verhafteten und ins KZ Dachau verschleppten, wo er spätestens anderntags, mit weiteren Opfern der bekannten Säuberungswelle im Gefolge des angeblichen »Röhm-Putsches«, erschossen wurde. Vermutlich hatte man ihn vorher noch etwas gequält. Dieser üble Vorfall beruhte auf einer Namensverwechslung. Die Gestapo sprach der nachfragenden Witwe gegenüber von einem bedauerlichen »Unfall«. Rudolf Heß persönlich soll Käthe Schmid (drei Kinder) nach vier Wochen aufgesucht und um Entschuldigung gebeten haben. Später erhielt sie eine kleine Rente. Im »demokratischen« Nachkriegsdeutsch-land hatte sie für dieselbe erst wieder langwierig zu kämpfen. Mit welchem in Ungnade gefallenen Schmid oder -Schmidt oder -Schmitt der 41jährige Musikkritiker verwechselt worden war, ist unter den Forschern bis heute umstritten. Nach Wikipedia gilt die Verwechslung mit seinem Zeitungskollegen Paul Schmitt am wahrschein-lichsten, der SD-Führer Heydrich ein Dorn im Auge gewesen, allerdings rechtzeitig geflohen sei. Dieser Schmitt starb 1953 in der Schweiz. Im Grunde dürfte die Streitfrage aber müßig sein, denn erschossen bleibt erschossen.

* Pestalozzi-Gymnasium München, https://www.pgm.musin.de/Mord_aus_Versehen/3.pdf, Pdf o.J.



Wenige aufschlußarme Zeilen zum Ethnologen Carl August Schmitz (1920–66) reizen wieder einmal zum Nachbohren. Mit etwas Glück gelangt ein Vortrag von 2000 auf meinen Tisch.* Darin bezieht sich Redner Justin Stagl mit dem Wort »Betriebsunfall« auf die gesamte anderthalbjährige Amtszeit von Schmitz als Direktor des Frobenius-Insituts der Universität zu Frankfurt/Main. Viele Eingeweihte scheinen dies ähnlich empfunden zu haben. Die Amtszeit begann im Mai 1965 und endete im November 1966 mit dem jähen Tod des hochrangigen
Wissenschaftlers. Den Unfalltatbestand im engeren Sinne, den nur ich sehe, umreißt Stagl, aufgrund von Hörensagen, in seiner Anmerkung Nr. 3 ungefähr wie folgt. Schmitz hatte, wohl am 17. November, gerade eine Prüfung abgenommen und in der Institutsbibliothek mit dem Prüfling auf dessen bestandenes Examen ein Glas Sekt geleert. Dann eilte er zu einer Fakultätssitzung, zu der er allerdings gar nicht geladen war. Man verwehrte ihm auch prompt den Zugang. Dadurch ergab sich vor der geschlossenen Tür des Konferenzzimmers ein heftiges Wortgefecht zwischen Institutsleiter Schmitz und einem »Vertreter der Frankfurter Schule«, wie Stagl schreibt, also einem Vertreter der materialistisch gestimmten Linken, während Schmitz von Hause aus vielleicht kein Reaktionär, aber bestimmt Idealist war. Dieser Streit nahm den 46 Jahre alten Schmitz so stark mit, daß er plötzlich einen Schlaganfall erlitt und auf dem Korridor oder dem Schulhof tot zusammenbrach.

Schmitz hatte eine steile Karriere hinter sich und zählte zu den führenden deutschsprachigen Völkerkundlern. Er hatte seine Untersuchungen auf Melanesien zugeschnitten, dabei auch ein gutes Jahr »Feldforschung« in Nordost-Neuguinea betrieben, im übrigen die Bedeutung der Religion herausgestellt – des »Überbaus«, wie die Materialisten es abtaten. Bücher und Lehrstühle folgten. Die Krönung war die »Spitzenposition«, so Stagl, in Frankfurt/Main als Nachfolger des verstorbenen »Kulturmorphologen« Adolf Ellegard Jensen. Aber sie war nicht einmütig besetzt worden, und als sich ausgerechnet der eher konservative Schmitz als rabiater »Moderni-sierer«, vor allem aber als »Machtmensch« hervortat, quoll zusätzlich zu den üblichen ideologischen und Fraktions-Kämpfen breiter Unmut auf. In »menschlicher« Hinsicht zugeknöpft und ohne rechtes Fingerspitzen-gefühl, stattdessen jederzeit intrigenbereit, geriet der verheiratete Chef, dessen Gattin niemand kannte, zunehmend in die Isolation. »Sein Autokratismus stieß auch jene Institutsmitglieder ab, die zunächst bereit gewesen waren, es mit ihm zu versuchen«, urteilt Stagl. Auf Schmitz‘ Seite schlug sich das in Grimmigkeit, Bluthochdruck, Süßwarensucht nieder. »Der tödliche Schlaganfall im November 1966 kam wohl nur für Außenstehende ganz unerwartet.«

Wer sich für die fachlichen Differenzen in der damaligen Völkerkunde interessiert, wird bei Stagl – von Schmitz als Assistent erwogen, was sich durch den Schlaganfall erübrigt hatte – fündig. Ich übergehe sie nicht nur aus Faulheit. Ich habe schon seit langem grundsätzlich den Verdacht, im Löwenanteil solcher Streitfälle in der bürgerlich oder auch kapitalistisch betriebenen Wissenschaft (Konkurrenz!) gehe es den meisten Beteiligten eben in erster Linie darum, Ruhm zu ernten und mit Hilfe dieses Hebels Macht ausüben zu können, sprich zu herrschen. Um dieses fragwürdige Bedürfnis zu legitimieren, ist es aber unumgänglich, sogenannte Wahrheiten oder Neuheiten ins Feld zu führen beziehungsweise Haarspaltereien zu betreiben und dann »recht zu behalten«. Machthaber sind immer Rechthaber.

* Justin Stagl, »C. A. Schmitz – Ein Betriebsunfall am Frobenius-Institut?«, in: Paideuma. Mitteilungen zur Kulturkunde, Band 47 (2001), S. 25–42



Den Cembalisten und Komponisten am Hofe Ludwig XV. in Paris Johann Schobert (c.1733–67) kennt womöglich keiner, aber für Brockhaus (Band 19 von 1992) schuf er »eine Reihe von stilgeschichtlich bedeutsamen Werken« der frühen Klassik – und erlag im besten Mannesalter einem ähnlich witzigen Tod, wie ich ihn andernorts bereits vom Pariser Dirigenten Lully zu berichten wußte. Sowohl in der Angabe über die Todesursache (»Pilzvergiftung«) wie in der Entschlossenheit, dafür keine Quelle zu nennen, stimmen Brockhaus und verschiedene Internet-Nachschlagewerke überein. Da muß erst miguel54* kommen, der einen Brief vom 15. September 1767 aus der bekannten Correspondance littéraire des Fréderic Melchior Grimm angibt und die besagte Stelle auch gleich zitiert:

»Der Tag des Hl. Ludwig war dieses Jahr durch ein äußerst betrübliches Ereignis gekennzeichnet. M. Schobert, unter den Musikliebhabern als einer der besten Cembalisten von Paris bekannt, unternahm mit seiner Frau, einem seiner Kinder im Alter von vier oder fünf Jahren, und einigen Freunden, darunter auch ein Arzt, einen Ausflug. Es waren sieben an der Zahl, die im Wald von St. Germain-en-Laye spazieren gingen. Schobert liebte Pilze über alle Maßen; er sammelte also tagsüber, während der Wanderung, einige im Wald. Gegen Abend erreichte die Gesellschaft Marly; man betrat ein Wirtshaus und bat um die Zubereitung der mitgebrachten Pilze. Der Koch des Wirtshauses prüfte die Pilze, erklärte, daß sie von der schlechten Sorte seien und weigerte sich, sie zu kochen. Über diese Weigerung verärgert, verließen sie das Wirtshaus und suchten ein anderes im Bois de Boulogne auf, wo ihnen der Wirt dasselbe sagte und ebenso die Zubereitung der Pilze verweigerte. Ein grausamer Eigensinn, hervorgerufen von den ständigen Versicherungen des Arztes, der bei der Gesellschaft war, daß die Pilze gut seien, ließ sie abermals das Wirtshaus verlassen, um sie ihrem Verderben zuzuführen. Sie begaben sich alle nach Paris, in Schoberts Wohnung, wo dieser ihnen ein Abendessen mit den Pilzen vorsetzte. Und alle, sieben an der Zahl, einschließlich der Bediensteten von Schobert, die das Essen zubereitet hatte, und des Arztes, der angeblich so gut Bescheid wußte, starben an Pilzvergiftung.«

Woher nun Grimm wiederum seine genauen Kenntnisse von dem Ereignis bezogen hatte, weiß womöglich niemand. Jedenfalls scheint sich damals kein Mordverdacht erhoben zu haben. Diesbezüglich drängt sich eine köstliche Zeichnung auf, die Brockhaus im nächsten Band 20 unter Ronald Searle (1920–2011) vorstellt. Der Brite ist unter anderem für seine Cartoon-Serie mit den boshaften Schulmädchen von Saint Trinian‘s berühmt. Die Abbildung zeigt zwei von ihnen beim Pilzesammeln. Die schwarze, offensichtlich kundigere Sammlerin stopft gerade ihren Sack. Da kommt die blonde Kameradin und präsentiert ihr stolz die volle Schürze. Die Schwarze winkt jedoch ab: »Schmeiß sie weg, die sind alle harmlos«.

Ehrlich gesagt, tut es mir persönlich um die vielen vor- oder frühklassischen Werke, die Komponist Schobert nun nicht mehr schaffen konnte, nicht sonderlich leid. Die Musik sowohl des Barock wie der Klassik bringt mich meist zu leicht ins Gähnen. Da ist etwa die »Spätromantik« schon etwas ganz anderes. Ihr schlägt Brockhaus den auch nicht gerade sehr bekannten schweizer Komponisten Othmar Schoeck (1886–1957) zu. Ich kenne und schätze seine Sonate op. 16 für Violine und Klavier, für die Sie vielleicht einmal rund 16 Minuten opfern können**, schon seit längerem. Nebenbei bietet das Internet derzeit auch eine Variante des Stückes für Flöte statt Geige, doch sie kann mich nicht überzeugen. Das Blasinstrument klingt hier oft zu schrill – vermutlich, weil die Stimmlage des Stückes für es ungeeignet ist. Ein gestrichener Violinenton gefällt dem Ohr selbst in hoher Lage noch immer, während das erforderliche Überblasen auf der Querflöte nichts Schmeichelhaftes mehr zuläßt. Leider ist die hohe Lage grundsätzlich die Achillesferse des Querflötenspielers, wenn ich das so sagen darf. Die Kraft, die das tiefste C satt wie eine überreife Pflaume machen kann, sorgt bei normalsterblichen Zuhörern spätestens in der dritten Oktave für schmerzverzerrte Gesichter, von denen man glatt auf eine Pilzvergiftung schließen könnte.

* https://www.tamino-klassikforum.at/index.php?thread/6682-johann-schobert-ca-1735-1767/, 9. Oktober 2007
** https://www.youtube.com/watch?v=sCEOgRyU1d4, D-Dur, drei Sätze, Aufnahme wohl von 2018




Zum Schönbär gibt Brockhaus keine Abbildung, sonst hätten ihm vielleicht PelztierschützerInnen die Hölle heiß gemacht. Scherz beiseite, soll es sich um eine bis fünf Zentimeter spannende Art der Bärenspinner-Schmetterlinge handeln, die sogar bei uns heimisch ist – falls man das Glück hat, sie zu treffen. Wie das Internet verrät, heißen die Bärenspinner nach ihren behaarten Raupen so. Angeblich hilft denen die dichte Behaarung gegen Freßfeinde. Diese könnten die Raupe so nur schwer fassen. Das sind natürlich wieder sonderbare Ausklügelungen, von wem auch immer. Ähnlich merkwürdig finde ich freilich die Idee, Insekten nach Bären zu taufen. Im Grunde schlägt das sicherlich auf unser Benennungswesen überhaupt zurück. Gehen Sie einmal ein paar Dutzend Namen durch und Sie werden finden, fast alles ist üppig aufeinander bezogen: Nebelkrähe, Apfelschimmel, Bunsenbrenner, Pulverschnee, Alphorn, Düsenjäger und so weiter. Warum hat nicht jedes Ding einen Namen für sich, wie der Bürger im Staate schließlich auch? Die Antwort liegt auf der Hand: So viele Eigennamen wie es Dinge gibt könnte einer weder erfinden noch behalten. Und wenn doch, würde der Mensch schnell verrückt. Das spinnennetzartige, bezugreiche System Sprache erleichtert ihm also das Ordnen und Überschauen. Jedenfalls theoretisch ist es so.



Ich fasse im folgenden drei NS-Täter zusammen, die im Brockhaus durchweg fehlen. Der erste trägt zufällig einen bezeichnenden Namen. Im Gegensatz zu Friederike → Pusch (Folge 30) wurde der Psychiater und Euthanasie-Gutachter Arthur Schreck (1878–1963) sogar belangt. Er hatte in verschiedenen süddeutschen Anstalten leitend am Massenmord mitgewirkt. Das Freiburger Landgericht verurteilte ihn 1950 recht glimpflich zu 12 Jahren Haft. Doch seine baldige »Haftverschonung« ist eine Schreckgeschichte eigener Art. Vielleicht fehlt er im Brockhaus gerade deshalb. Klee zufolge setzte der Ministerpräsident von Baden-Württemberg Gebhard Müller, ein gelernter Jurist, Schrecks Strafe bereits 1954 aus. Überdies habe man dem Verschonten oder gar Begnadigten einen monatlichen Unterhalt von 450 DM bewilligt und ihm später selbst die Gerichtskosten erlassen. Er habe sein Berufsleben als niedergelassener Arzt in Pfullendorf am Bodensee fortgesetzt. Somit kann er kaum sterbenskrank gewesen sein. Gebhard Müller war übrigens 1958–71 auch noch Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Wie Blogger Erol Ünal in seinem oben angeführten Schleyer-Aufsatz erwähnt, hatte sich Müller für etliche NS-Täter, also nicht nur für Schreck eingesetzt. Doch man überhäufte Müller mit Ehrungen und Auszeichnungen. Er starb in Stuttgart mit 90. Seine Faschistenfreundlichkeit wird in Band 15 von Brockhaus selbstverständlich ausgespart.

Der Kölner Bankier Kurt Freiherr von Schröder (1889–66), im Ersten Weltkrieg Generalstabsoffizier, war ein wesentlicher Förderer der NSDAP. Er saß in zahlreichen Aufsichtsräten – und nach dem 4. Januar 1933 bald in ungefähr doppelt sovielen. Laut Klee richtete er an diesem Tag in seiner Kölner Villa das heimliche Treffen zwischen Papen und Hitler aus, das den Sturz der Regierung Schleicher beschloß. Unter Hitler war er dann unter anderem Aktivist im Freundeskreis Reichsführer-SS (Himmler), der emsig Millionen an »Spendengeldern« eintrieb. Im April 1943 kürte ihn Himmler zum SS-Brigadeführer, eine Art General. Nach dem Krieg wurde auch Schröder christlich-antikommunistische Verzeihung zuteil. Eine kurze Gefangenschaft und einiges juristisches Ringen mündete 1948/50 in lächerlicher Haftstrafe (drei Monate) und lächerlicher Geldbuße (60.000 Mark) und vorzeitiger Haftentlassung (schon 1948), wie sich in verschiedenen Internet-Nachschlagewerken nachlesen läßt. Seinen Lebensabend habe er auf Gut Hohenstein bei Eckernförde verbracht. Ich vermute stark, das hübsche Anwesen gehörte dem Schröder-Clan. Die Webseite deutet einige Tradition an. 1854 sei das Gut von Theodor Milberg und dessen Frau Harriet, geborene Schröder, erworben worden. 1944 hätten böse Buben das Herrenhaus als »Kriegsentbindungsheim« der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) »beschlagnahmt«. Von Kurtchen lese ich nichts.

Gotthard Schubert (1913–85) war ein rühriger SS-Untersturmführer und Geheimpolizist und durfte dennoch auch in unserer demokratischen Kriminalpolizei mitwirken. Primitive Völker haben dafür ein Sprichwort vom Bock, den man zum Gärtner macht. Nach Klee war Schubert in die bereits früher erwähnten Massenmorde in der Gegend von Lublin verstrickt. Gefangen, muteten ihm die Sowjets 1950 deshalb 25 Jahre Zwangsarbeit zu. Jedenfalls auf dem Papier. Schon 1955 entlassen, wurde er zu 50 Prozent als Kriegsbeschädigter anerkannt. 1957 durfte er Sekretär im hessischen Polizeidienst, 1960 Kriminalkommissar und Leiter des Referats Meldewesen beim Wiesbadener Landeskriminalamt werden. Ziemlich spät ereilte ihn jedoch noch ein Strafverfahren. Das Wiesbadener Landgericht habe ihn 1971 [oder 73?] »wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord an mindestens 28.450 Menschen« zu sechs Jahren Haft verurteilt. Sie haben sich nicht verlesen: sechs Jahre. Ob er die absitzen mußte, teilt leider auch eine jüngere Quelle aus Hessen nicht mit. Ich vermute freilich, wohl kaum. Der vergleichsweise seltene und verdienstvolle Artikel aus Gießen* nennt neben Schubert selber noch mehrer Nazi- und LKA-Kollegen von ihm, die allesamt ähnlich glimpflich davonkamen. Er erlaubt sich Zwischentitel wie »Seilschaften im Landeskriminalamt« und »Zuträger für US-Nachrichtendienst«. Vielleicht sollte Bundesinnen-ministerin Faeser die Gießener Allgemeine endlich verbieten.

Früher bemühte ich mich in vergleichbaren Fällen (Bunke/Ullrich), die Herabwürdigung von Mördern zu Mordbeihelfern zu verstehen. Aber inzwischen lasse ich mich auf die Spitzfindigkeiten Bürgerlichen Rechtes nicht mehr ein. Damit komme ich, wie oben angekündigt, auf den krassen Unterschied zwischen den beiden Rechtsfundamenten Formalismus und Moral zurück. In Mordfällen läßt das Bürgerliche Recht in der Regel nur einen als Mörder gelten, der mit dem Hammer zuschlug oder die Spritze einstach. Das ist jedoch grundfalsch. Die sogenannte »geistige Mittäterschaft« oder das bloße Zuschauen bei Erschießungen sind um keinen Deut weniger verwerflich als der tödliche Schlag oder Stich. Ich würde sogar fast sagen, sie sind eher noch schlimmer. Meistens handelt es sich ja um eine ganze kriminelle Gesellschafts-Maschinerie, der sowohl die »Schreibtisch-täterInnen« wie die SchlägerInnen wie die ZuschauerInnen angehören. Aber geplant und verfeinert haben sie die führenden oder leitenden Hirne. Ohne diese gäbe es das betreffende kriminelle System gar nicht. Das kriminelle System ist die entscheidende, unmoralische Qualität. Vor diesem Hintergrund mehr oder weniger große, also quantitativ unterschiedene Beiträge gegeneinander auszuspielen: eben das nenne ich Formalismus. Als Anarchist halte ich mich in meinen Handlungen und Urteilen an Gut und Böse. Zum Beispiel ist auch das kriminelle System, dem unsere gegenwärtig amtierenden MinisterInnen angehören, böse. Und wer dabei mitmacht, gehört vor die Füße gespuckt und geschnitten. Über dieses Thema verfaßte ich vor Jahren den Aufsatz »Die VerbrecherInnen sind mitten über uns«, der im Nasen-Anhang zu finden ist.

Jetzt kommts mir fast vor, Beate Klarsfeld ohrfeigte Kiesinger für viel zu wenig, nämlich lediglich für seine mißratene Vergangenheit. Dabei war er doch Regierungs-chef des yankeetreuen Wirtschaftswunderlandes BRD und damit in zahlreiche Schreibtischtaten, oft in Übersee, der verheerendsten Art verstrickt. Ich hoffe, hätte ich zu Gebhard Müllers Zeiten im Schwabenland gelebt, hätte ich auch diesem bereits vor die Füße gespuckt. Er war kein NS-Täter, jedoch ein Herrscher. Er diente dem Machterhalt seiner selbst und der bekannten volksfeindlichen bundesdeutschen Einrichtungen. Dagegen hätte ich volksfreundliche Schiedsgerichte für die Entlastung solcher Rebellen wie Wera → Sassulitsch (1878, siehe Folge 33) und Scholom Schwartzbard (1926) sofort gelobt, obwohl diese beiden gewalttätig vorgingen. Und so ähnlich war es ja auch. Bürgerliche Geschworene sprachen sie frei – nicht aus formalen, sondern aus moralischen Gründen.

* Ursula Sommerlad, https://www.giessener-allgemeine.de/kreis-giessen/hungen-ort848765/zehntausende-tote-kein-urteil-13540746.html, 16. Februar 2020



Zum Schuh (über zwei Seiten) erklärt uns Brockhaus, es habe ihn bereits im Altertum und Mittelalter gegeben. Dann räumt er freilich beiläufig ein, der Schuh hätte vornehmlich die Füße weltlicher und geistlicher Fürsten und der »Oberschichten« bekleidet. Und das ist natürlich der springende Punkt. So wie die Füchse und Gänse nie Schuhe und schon gar keine aberwitzigen »Schnabelschuhe« benötigten, kamen auch die Bauern und Handwerker ohne oder mit einfachstem Schuhwerk aus, von den Dschungel- und Präriebewohnern Amerikas oder Australiens ganz zu schweigen. Immerhin verdeutlicht der Schuh schlagend, was für ein mitreißender Unfug der sogenannte Fortschritt ist. Selbstverständlich kann ich weder auf heißem Asphalt noch auf müll- und scherbenübersäten Parkwiesen unbeschadet barfuß gehen. Ich kann aber auf moderne Straßen und Parkanlagen verzichten, falls ich zufällig im Rat einer Freien Republik für diesen Bereich zuständig bin. Im preußischen oder bundesdeutschen Kabinett kann ich es allerdings nicht. Bin ich Gesundheitsminister, werde ich für astreine modische Bio-Sicherheitsschuhe werben, denn mit deren HerstellerInnen bin ich bestens schuhverbandelt.

Wenn ich mich recht erinnere, habe ich die Frage des Schuhwerks bei meiner Besichtigung der Freien Inselrepublik Pingos (Ägäis um 1965) mit keinem Blick gestreift. Ich nehme an, man hatte vorwiegend Sandalen, sofern man nicht gleich barfuß ging. Die wenigen, so gut wie nie von Autos behelligten Straßen im Hafenstädtchen Muro und den rund 10 Dörfern wurden von den GO‘s (Grundorganisationen) regelmäßig eigenhändig gefegt. Niemand ließ achtlos Müll fallen, weil er den auch wieder hätte aufheben müssen. Das Hauptordnungsmittel in solchen Republiken ist die gegenseitige Erziehung. Polizei ist unbekannt. Faeser würde vielleicht von gegenseitiger Kontrolle sprechen – aber das täte sie nur, weil sie sich persönlich nie kontrollieren läßt. Schließlich ist sie eine bedeutende Ministerin = Machthaberin, und sollte es noch Blätter geben, die querschießen, schickt sie ihnen ihre uniformierten Monster ins Haus.

Jene gegenseitige Erziehung findet bereits unter den Kindern der Insel statt. Sie benötigen keine Befehle von Erwachsenen. Es gibt sicherlich manche Meinungsver-schiedenheiten, aber weder Feindseligkeiten noch Strafen. Wem es in der Republik nicht gefällt, der kann gern die Fähre nach Nokto (Griechenland) nehmen; er bekommt sogar ein Handgeld. Die Flut der Probezeitanträge, die im Rathaus Muro und dann in den GO-Büros eingehen, sorgt leicht für Ersatz. Wird schließlich der eine oder andere Ausländer angenommen, ist man stets gespannt, was er nun an Schuhen mitbringt. Im Ostküstendorf Löla hat eine in einem verwaisten Schweinestall ihrer GO inzwischen ein Schuhmuseum aufgemacht. Es kommen bereits Kinder aus Muro, die sich da schieflachen. Jetzt wartet die Museumschefin fiebrig auf Probezeitanträge von Damen Marke Imelda → Marcos (Folge 24).



Norbert Schultze (1911–2002) muß ein humorvoller Volksfreund gewesen sein. Zunächst Kabarettmitarbeiter und Kapellmeister, übernahm er, laut Brockhaus, 1934 die Aufnahmeleitung bei der Telefunken-Schallplatten-gesellschaft. Dann komponierte er unterhaltsame Opern, Musicals, Filmmusiken und Schlager am laufenden Meter. Zuletzt führt das Lexikon eine gewisse Lili Marleen an, die vermutlich noch heute jedem Kind ein Begriff ist – oder: gerade heute wieder. In dem Renner sehnt sich ein Frontkämpfer nach Lili, die ihn einst immer unter einer Laterne vor der Kaserne erwartet hatte.

Aus anderen Quellen fasse ich zusammen: Parteimitglied 1940. Viele Kampf- und Soldatenlieder, dabei etliche von Goebbels persönlich erbeten. Gottbegnadetenliste, somit Frontverschonung. Nach dem Krieg als »Mitläufer« geehrt. Dafür soll Schultze 3.000 Mark Verfahrensgebühr locker gemacht haben, worauf er eine sofortige Arbeitserlaubnis bekam. Er begründete einen eigenen Musikverlag. Er betätigte sich (bis 1996) in verschiedenen Gremien der GEMA, die schließlich auch seine eigenen Werke förderte und schützte. Er wurde, teils auf Mallorca, 91 Jahre alt.

Die neue musikzeitung bringt es in ihrem Nachruf* fast noch perfekter als Brockhaus fertig, Schultzens anfeuernde oder einlullende Rolle auf der Bühne des Faschismus kurzerhand auszuklammern. Lili Marleen wird natürlich erwähnt. Dieser »Geniestreich in wenigen Takten« – für ein paar Miesepeter eine Krone des Kitsches – habe »das Lebensgefühl einer ganzen Generation ausgedrückt, denn diese Melodie ging um die Welt. Freunde und Gegner sangen sie, und sie ist immer noch weltumspannend, immer noch und wieder ein in allen Völkern gesungenes Lied.«

Mit anderen Worten: Weltumspannend sind der Krieg und die Sentimentalität – und sie sollen es gefälligst auch bleiben.

* https://www.nmz.de/menschen/personalia/norbert-schultze-komponist-von-lili-marleen-91-jaehrig-gestorben, 15. Oktober 2002



Ich persönlich bin immer erleichtert, wenn mir ein Antiquariat bedauernd mitteilt: Schutzumschlag fehlt. Brockhaus läßt in dieser Hinsicht mit dem abschließenden Hinweis aufhorchen, der sogenannte Schutzumschlag sei um 1904 durch den findigen Verlegerkopf Langewiesche aufgekommen. Die Bücher kamen also (bei Gutenberg) nicht auf Anhieb mit dem ausklappbaren Tummelfeld für Jugendstil-ÜberredungskünstlerInnen aller Art, darunter manche echte Klappendichter, auf die Welt. Erst im Jugendstil waren massenhafte Arbeitsplatzbeschaffungs- und Ehrgeizbefriedigungsmaßnahmen erforderlich. Eine Tarnung dieser Maßnahmen war schnell zur Hand: die Langewiesches erinnerten inbrünstig an das bewährte Sprichwort »Doppelt hält besser« und wiesen außerdem auf die gewachsenen Sicherheitsbedürfnisse der Massen hin. Deshalb hatten die Massen ja in Afrika oder Fernost deutsche »Schutzgebiete« eingerichtet. Nebenbei beanspruchten sie jetzt ebenfalls solche aparten »Schonbezüge« für ihre Sofas und Sessel, die sich bis dahin nur Gräfinnen und Fabrikantengattinnen leisten konnten. Als Polsterer schnitt ich einst selber welche für die Villen an der Hessischen Bergstraße zu. Sie waren nicht selten noch kostbarer als die Polstermöbel, die sie schützen oder auf die sie schlitzohrig neugierig machen sollten. Wahrscheinlich gehören hier auch schon die biedermeierlichen Krinolinen (Reifröcke) hin. Für schlichte Gemüter ist die umfassende Tendenz zur Anhäufung von Überflüssigkeiten und zur Aufblähung ganzer Volks- und Weltwirtschaften im Zuge der allgemeinen Kapitalisierung jedenfalls unverkennbar. Auf Pingos haben die Bücher keine Schutzumschläge, weil sie ohne solche griffiger sind. Druck- und Dunkelstellen hält man für normal. Nennenswerte Verschleißerscheinungen kommen nicht vor, weil man für die Einbände ausschließlich beste Leinwände oder Lederhäute nimmt. Einmal bestellte ein Kommunarde im Ausland ein sogenanntes Paperback. Als er es auspackte, fehlte der übliche Schutzumschlag. Dafür war es, wie man später in Erfahrung brachte, »in Klarsichtfolie eingeschweißt«. Da machte die ganze Kommune große Augen.



Die Kreisstadt Schwäbisch Gmünd kenne ich ausschließlich durch den süddeutschen »linken« CDU-Politiker Franz Czisch (1908–56). Da er mit 48 Jahren tödlich im Stuttgarter Straßenverkehr verunglückte, könnte man glatt einen Mordfall wittern. Als TäterInnen böten sich lokale Neidhammel, aber auch Bonner Erzfeinde des Ahlener Programms an. Wie es aussieht, war der »halbjüdische«, zudem sozialistisch gestimmte studierte Jurist Czisch bereits um 1933 so sehr angeeckt, daß ihm eine akademische Laufbahn versperrt war. Stattdessen stellte er sich im Verein mit seiner frischangetrauten Ehefrau Katharina (1934) am Schwäbisch Gmünder Marktplatz hinter den Tresen der einzig noch verbliebenen (nicht »arisierten«) Filiale der väterlichen Kette von Süßwarengeschäften. Um Kriegsdienst und Zwangsarbeit kam das Ehepaar irgendwie glücklich herum. Nach Kriegsende setzten sich die beiden MitgründerInnen einer Schwäbisch Gmünder Ortsgruppe der CDU vor allem für die »Vertriebenen« ein, die offenbar massenhaft in der Stadt eintrafen und beispielsweise Unterkünfte benötigten – die die Alteingesessenen lieber für sich behalten hätten. Hier winken die bekannten Interessensgegensätze und Feindschaften. 1946 wurde Franz Czisch, als »nicht vorbelasteter« engagierter Einwohner, zum Oberbürgermeister der östlich von Stuttgart gelegenen Kreisstadt bestimmt. In dieser Eigenschaft sorgte er unter anderem für die Beseitigung des auf dem Marktplatz stehenden Kriegerdenkmals, ohne Zweifel eine Heldentat. Im Zuge der nächsten lokalen Wahlen 1948 kam es freilich zu starken Anfeindungen gegen die Czischs. So habe man (Schaufenster?-)Scheiben eingeschlagen und das Auto der Czischs in die Rems (den örtlichen Fluß) befördert, ist beim Redakteur der Gmünder Tagespost Michael Länge zu lesen.*

Zum neuen Oberbürgermeister wurden Parteifreunde Czischs gewählt, zunächst Franz Konrad, der trotz oder gerade wegen seiner Nazi-Vergangenheit fast zwei Drittel der Stimmen einheimste, jedoch nicht den Segen der US-BesatzerInnen fand, dann Hermann Kah. Wahrscheinlich hielten sich die freundschaftlichen Gefühle dieser MitstreiterInnen Czisch gegenüber sehr in Grenzen. Der abgewählte Franz Czisch, streckenweise sogar als »Kommunist« beschimpft, wird von vielen Bekannten geschnitten, zieht sich aus der Politik zurück und eröffnet auswärts weitere Filialen seines Süßwarengeschäfts, so auch in Stuttgart. 1956 zieht die Familie (fünf Kinder) eben dort hin, doch schon im Oktober wird Czisch von dem erwähnten, so schnöden wie haarsträubenden Unfall ereilt. Laut Auskunft seiner Tochter Barbara, Jahrgang 1942, wurde ihm an einer Straßenkreuzung die Vorfahrt genommen. Während der Schuldige unverletzt blieb, erlag Czisch am 4. Dezember einer Embolie aufgrund eines nicht oder zu spät erkannten Trommelfellrisses. Die Stuttgarter Zeitung (vom 6. Dezember) registrierte den Verlust dieses Mitbürgers in vier kleingedruckten Zeilen.

Immerhin hat man sich in Schwäbisch Gmünd im Laufe der Zeit zu einigen Ehrungen für den von vielen Bürgern ungeliebten Nachkriegsbürgermeister Czisch durchgerungen, etwa zu einer Gedenktafel am ehemaligen Geschäftshaus, zur Benennung einer Straße – und zum Kriegerdenkmal. Auch von diesem schlechten Scherz berichtet Länge**, der sich wiederum auf Aussagen des ältesten Czisch-Sohnes Reinhart stützt. Damals, als er sie abreißen ließ, habe Franz Czisch den städtischen Bauhof angewiesen, die aus Bronze gegossene, mordslange, ursprünglich den »Gefallenen« des Ersten Weltkrieges geweihte Säule einschmelzen zu lassen. Sie wurde jedoch auf dem Güterbahnhof eingelagert. Kaum war Czischs Amtszeit 1948 beendet, zog man sie hervor und pflanzte sie, auf dem Marktplatz, wieder an der ihr vertrauten Stelle auf. Nun ehrte (und ehrt sie bis zur Stunde) die »Gefallenen« beider Weltkriege. Einzige Veränderung darüber hinaus: man hatte den Schöpfer des 1935 entstandenen Werkes, Jakob Wilhelm Fehrle, vorher gebeten, den mit Hakenkreuz bewehrten Adler, der die Säule gekrönt hatte, durch den Erzengel Michael zu ersetzen, also durch einen Engel mit Schwert. Das tat er. Schließlich war es Jacke wie Hose; die Feinde wechseln, der Staatsschutz bleibt.

* http://psycholo.gy/die-versaumte-versohnung/, 2011
** https://web.archive.org/web/20210121012853/https://www.gmuender-tagespost.de/files/sonderthemen/2012-06-21_0000-00-00_850%20Jahre%20Schw%C3%A4bisch%20Gm%C3%BCnd_gt.pdf, Juli 2012, S. 38




Auch die Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach (1908–42), im Brockhaus übergangen, starb betrüblich früh. Dabei war sie als Tochter eines sehr gut betuchten schweizer Seidenfabrikanten eigentlich auf Rosen gebettet. Mit 23 bereits Doktor der Geschichte (in Zürich) und Gelegenheitsjournalistin, hatte sie sich um 1930 in Berlin mit den Geschwistern Erika und Klaus Mann und dem Morphium angefreundet. In diesen Kreisen konnte sie auch ihren lesbischen Neigungen nachgehen. Schwarzen-bach, oft für einen ausnehmend hübschen jungen Mann gehalten, hatte sich von Jugend auf männlich gekleidet und gegeben. Das hatte verständlicherweise für Zündstoff im Kampf mit dem Seidenfabrikanten und vor allem mit dessen herrschsüchtiger Gattin gesorgt. Andererseits wurde der rastlosen »mißratenen« Tochter offenbar nie der Geldhahn zugesperrt, denn sie konnte sich flotte Automobile leisten, unternahm zahlreiche Auslandsreisen, unterstützte Klaus Manns Exilzeitschrift Die Sammlung und verfaßte, neben etlichen Artikeln und Fotoreportagen, ein paar Romane. Sie liebte Raserei, haßte gleichwohl den Faschismus, der Raserei ebenfalls liebte. Sie soll zumindest streckenweise blitzgescheit, einfühlsam und mitreißend geschrieben haben. Bei einem Aufenthalt in den USA verliebte sich die Schriftstellerin Carson McCullers in sie, was Schwarzenbach allerdings nicht oder nur begrenzt erwiderte. Dafür ging es der androgynen Schönheit aus den Alpen mit Erika Mann zeitlebens ähnlich, nur umgekehrt. Erika erhörte sie nie.

Schwarzenbach hatte inzwischen verschiedene erfolglose Entziehungskuren, Depressionen, Selbstmordversuche hinter sich. Irgendwie dürfte auch ihr Tod mit 34 Jahren in diese Reihe fallen, obwohl er fast wie ein schlechter Scherz wirkt. 1942 von einem Besuch beim ihr formal angetrauten, homosexuellen französischen Diplomaten Claude-Achille Claracs von Marokko aus in die Schweiz zurückgekehrt, stürzte sie Anfang September im Engadin bei dem übermütigen Versuch, auf dem »Herrenfahrrad« einer Freundin freihändig zu fahren, auf die Straße.* Ihre schwere Kopfverletzung soll falsch diagnostiziert und behandelt worden sein. Freilich war sie bereits zerrüttet gewesen. Sie starb Mitte November in Sils, wo sie sich niedergelassen und ihr vielgelesenes Buch Lorenz Saladin: Ein Leben für die Berge geschrieben hatte. »In krasser Mißachtung des Testaments«, wie der schweizer Historiker und Publizist Alexis Schwarzenbach behauptet**, habe ihre Mutter Renée auf der Stelle »sämtliche an ihre Tochter gerichtete Korrespondenz sowie alle ihre Tagebücher« vernichtet.

* Hendrik Werner, https://www.welt.de/welt_print/article2004213/Untroestlicher-Engel-verwuestete-Seele.html, 17. Mai 2008
** Alexis Schwarzenbach, »Dieses bittere Jungsein«, http://www.zeit.de/2008/21/A-Schwarzenbach, 15. Mai 2008




Im Frühjahr treibts mich in den Wald. Habe ich Glück, begegnen mir zwei Quellen der Freude: der Gesang der → Misteldrossel und ein mit rosaroten bis blaßvioletten, vierstrahligen Blüten besetztes Stämmchen des Gemeinen Seidelbasts. Bei diesem niedrigen, wenig verzweigten Strauch, der Buchen und etwas kalkigen Boden liebt, erscheinen die nach Honig (mhd. »zidel«) duftenden Blüten vor den schmalen, fleischigen Blättern. Später leuchtet er mit roten Beeren. Zumindest diese Früchte und die Rinde sind mehr oder weniger giftig. Schon den alten Griechen galt der Seidelbast als Heilpflanze. Neben Wassersucht und Geschwüren führt Brockhaus Melancholie als Anwendungsfälle an. Als alter Marxist muß ich aber sagen, oft sitzt die Quelle der Melancholie eher in gesellschaftlichen Verhältnissen als in den eigenen Erb- oder Hirnanlagen. Da hilft das Einnehmen von Arznei durch den gesundheitsbewußten Bürger wenig. Vielleicht könnte man Leuten wie Kanzler Scholz und EU-Chefin Von der Leyen, die sich gegenwärtig hartnäckig gerichtlicher Verfolgung wegen gewisser Mogeleien entziehen, eine Probe nach dem Muster des mittelalterlichen Gottesurteils auferlegen. Der Ältestenrat des Bundestags lädt sie zum Müsli, in das er je ein halbes Pfund von jenen johannisbeerenartigen Seidelbastfrüchten gestreut hat. Laufen die Probanden beim Verzehr nicht rot an, haben sie nicht gelogen und gelten damit als entlastet. Fallen sie tot vom Stuhl, haben sie Pech.



Im viel zu kurzen Eintrag zur Selbstkritik kennt Brockhaus lediglich einen Anwendungsfall. Nach einer knappen Bestimmung schwenkt er in »diktatorisch regierte« Staaten, wo die Selbstkritik meist zu einem abscheulichen Ritual der Propaganda, Indoktrination und Gehirnwäsche verkomme. Das ist nicht gerade falsch. Wolfgang Leonhard zum Beispiel, in der Sowjetunion zum kommunistischen Funktionär erzogen, hat das Ritual in seinem Buch von 1955 Die Revolution entläßt ihre Kinder farbig geschildert. Warum jedoch fehlen im Brockhaus die demokratischen, westlichen Staaten? Weil dort auch die Selbstkritk fehlt. In ihnen gibt es überhaupt keine. Wenn Sie mir aus den letzten sieben Jahrzehnten auch nur sieben westdeutsche BerufspolitikerInnen nennen können, die sich öffentlich zu dem einen oder anderen Fehler oder auch nur Irrtum bekannt hätten, schlage ich Sie glatt für den höchstdotierten Wächter-Preis vor. Als BerufspolitikerIn muß man immer recht gehabt haben, sonst ist man für immer weg vom Fenster. Scholzens Gesundheitsminister Karl Lauterbach beispielsweise würde sich eher mit Seidelbastsaft impfen lassen als »einzuräumen«, er habe zu den führenden, wahrheitswidrigen Corona-Einpeitschern gehört. Gegen diese Leute geht ja sogar Berufsboxer Max → Schmeling als selbstkritischer Kopf durch. Sich von den Nazis dafür einspannen zu lassen, die Yankees um Olympiateilnahme anzuflehen, hat er später, laut Wikipedia, als »grenzenlose Naivität« bezeichnet. Ich hätte an seiner Stelle nur Einfalt statt Naivität gesagt.

Apropos Lauterbach. In Folge 19 (Impfpistole) wagte ich mich angesicht der erzwungenen Veröffentlichung der geschwärzten RKI-Corona-Protokolle zu fragen, woher so viele kritische Köpfe eigentlich die Gewißheit nähmen, solche heiklen Dokumente seien unangetastet und somit verläßlich. Ich zweifelte daran, und soeben scheint mir ein Beitrag in Multipolar rechtzugeben.* Durch einen glücklichen Zufall, nämlich mit Hilfe eines vermutlich übersehenen, ungelöschten Unterordners sind die Autoren in den kürzlich »geleakten«, nun sogar ungeschwärzten Protokollen auf beträchtliche Widersprüche zwischen unterschiedlichen Versionen derselben Dokumente gestoßen. Offenbar fanden im Angesicht der drohenden Herausklage der Protokolle nachträglich Bearbeitungen zahlreicher Stellen statt, wobei die Autoren sogar die Daten und die Ausführenden der Bearbeitungen nennen können. Anders ausgedrückt, scheinen beträchtliche Fälschungen zugunsten jener EinpeitscherInnen der verheerenden Corona-Maßnahmen beziehungsweis zwecks Entlastung der MitläuferInnen aus dem Stall RKI vorzuliegen.

Man darf jetzt gespannt sein, ob unsere Leidpresse auch diese peinliche Enthüllung unterdrücken oder verharmlosen kann. Ich nehme schon an, einige Berliner Köpfe werden rollen. Gleichwohl bleibe ich bei meiner Vorhersage, am Kapitalismus und am Berufspolitikertum wird sich nichts ändern – und wenn man Homburg und Schreyer 10 Untersuchungsausschüsse schenkt.

* Stefan Homburg und Paul Schreyer, https://multipolar-magazin.de/artikel/rki-protokolle-und-leak-offene-fragen, 9. August 2024



Zum Thema Selbstporträt spricht Brockhaus unter anderem von der bekannten »Zunahme individualisie-render Tendenzen« im Laufe des Mittelalters und der Neuzeit. Vielleicht hat er seinen Eintrag deshalb mit sechs Abbildungen garniert, die durchweg, ob als Gemälde oder Büste, im wesentlichen Gesichter zeigen. Man sieht nicht eine ganze Figur, geschweige denn, die Art, wie diese sich bewegt oder gibt. In dieser Beschränkung erblicke ich die befremdliche Überbewertung des Gesichts, die in postmodernen Pressefotos, Filmaufnahmen und Wahlplakaten gipfelt. Die Erklärung liegt auf der Hand. Gesichter sind am leichtesten zu erkennen und folglich wiederzuerkennen. Das Gesicht wird zum Ausweis der Marke, die es an den Mann und die Frau zu bringen gilt. Dabei geht es, wohlgemerkt, nicht um das Wesen der betreffenden Person, sondern eben um die betreffende Marke. Das Gesicht wird zur Signatur, um nicht zu sagen Maske. Das Wesen einer Person geht oft viel besser aus ihrer Bewegungsweise und ihrem ganzen Verhalten hervor. Aber diese Festellung läßt sich naturgemäß nicht in Windeseile treffen. Das Gesicht dagegen hat jeder in wenigen Sekunden erfaßt. Bei diesem Gesicht soll er sein Kreuz machen. Dieses Gesicht soll er verächtlich links liegen lassen. Toulouse-Lautrec muß zumindest einmal in seinem Leben auf einem anderen Dampfer gefahren sein, zeichnete er damals doch ein Selbstbildnis als Rückansicht. Man sieht das Gesicht des breit auf einem Schemel hockenden knorzigen Malers so gut wie überhaupt nicht. Eine leichte Schrägansicht deutet nur seinen dunklen Vollbart und seine allgemeine Finsternis an. Er ist jedoch nicht ohne Humor: er hat einen Sonnenhut auf und hält in seinen ausgebreiteten Armen ein Stück Leinwand oder ein Stück Papier – schwer zu sagen, denn das Teil ist leer. Vielleicht handelte es sich um eine Pariser Tageszeitung. Aus der linken Faust ragt ihm auch noch ein Pinselstiel, eine Impfspritze oder ein Giftpfeil, ganz wie Sie wollen. Hoffentlich kommt nicht gleich Karl Lauterbach vorbei. Dieses Werk schnitt ich mir einmal aus einem Buch aus, das sonst nicht viel taugte. Seitdem hängt das seltene Selbstbildnis eingerahmt an meiner Zimmerwand.



Ohne seine Verdienste schmälern zu wollen, möchte ich es doch bei dem Hinweis belassen, der Wiener Pathologe und Gerichtsmediziner Jakob Kolletschka (1803–47) sei vor allem durch seinen frühen Tod berühmt. Nachdem er sich bei einer Leichenöffnung im Kreise seiner Studenten versehentlich mit dem Skalpell in den Finger geschnitten hatte, erlitt der 43jährige eine Blutvergiftung, an der er am 13. März 1847 starb. Da sein findiger, freilich auch viel angefeindeter Freund und Kollege Ignaz Semmelweis (1818–65) von den Umständen her auf mangelhafte Hygiene im betreffenden Institut schloß, wurden später durch Kolletschkas Ableben wichtige Maßnahmen im Kampf gegen die Verunreinigung durch Bakterien errungen, angefangen beim Händewaschen. In etlichen Quellen wird die Fingerverletzung übrigens nicht dem Professor selber, sondern beteiligten Mitschnipplern, tolpatschigen oder lampenfiebrigen Studenten also, angelastet. So oder so, wiederaufgeweckt hat ihn keiner.

Ob der Verunfallte Familie, vielleicht sogar ein angenehmes Gemüt hatte, ist mir nicht bekannt. Dafür wissen wir umso genauer, was diverse bequemliche oder mißgünstige Kollegen vom Gemüt des erwähnten Ignaz Semmelweis hielten, der zuletzt aus Wien geekelt worden und daher Professor in Pest war. Möglicherweise sorgten just auch sie, und nicht etwa Syphilis oder Alzheimer, dafür, daß der widerspenstige, oft recht aggressiv auf Gehör und Reform pochende »Antiseptiker« im Sommer 1865 als »geisteskrank« in die Landesirrenanstalt Döbling bei Wien gesteckt wurde. Zwei Wochen nach seiner Einweisung war er tot. Über die Umstände dieses weiteren verfrühten Ablebens (diesmal mit 47) kursieren ungefähr ein Dutzend sich widersprechender »Erklärungen«. Wikipedia führt einige an – nur: Beweise scheint niemand zu haben. Offiziell bemühte man Zynismus: Todesursache »Blutvergiftung«, herbeigeführt durch eine Verletzung an der Hand. Damit lag Semmelweis mit Kolletschka und zahllosen sogenannten »Kindbettfieber«-Patientinnen im gleichen Sarg. Andere Verletzungen, die an Semmelweis‘ Leiche beobachtet worden sein sollen, deuteten freilich auf schwere Prügel hin. Einige Quellen schließen deshalb einen Totschlag*, vielleicht sogar Auftragsmord nicht aus. In Budapest benannte man 1969 eine Universität für Medizin und Sport nach Semmelweis. Brockhaus opferte für eine Andeutetung seines in jedem Fall betrüblichen Endes kein Komma.

* Anzeige: Thomas Meißner, »Gewaltsamer Tod in der Irrenanstalt«, https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-662-57731-8_98, 2019



Eine andere, auch erheblich weiträumigere Vergiftung empörte im Jahr 1976 zahlreiche Antikapitalisten und UmweltschützerInnen in aller Welt, darunter mich. Wie Brockhaus verdienstvollerweise erwähnt, trat damals zwischen Como und Mailand bei einem Chemieunter-nehmen eine giftige »Staubwolke« aus und verseuchte die Umgebung, dabei insbesondere die Gemeinde Seveso. Das ist knapp 50 Jahre her und könnte inzwischen vergessen sein wie so vieles, das nicht gerade schlagartig für Tausende von Toten sorgte. Zum 40. Jahrestag umriß* der Deutschlandfunk: Die Firma hatte an der Sicherheit gespart, dann die AnwohnerInnen im Unklaren gelassen. Erst nach einer Woche wurde evakuiert. Allmählich sickerte durch: Die »Wolke« bestand vor allem aus Dioxin. Bäume verlieren ihr Laub, viele Kinder werden von dem bis dahin unbekannten Hautausschlag Chlorakne entstellt. Die Rate von Tumor- und Gefäßerkrankungen steigt nicht so steil an, wie befürchtet, aber die Angst vor den Spätfolgen bleibt. Hoffman La Roche, der Betreiber der Fabrik, kommt mit geringen Strafen auf Bewährung davon.

Unser Planet ist nahezu lückenlos mit dem vielfältigsten Sprengstoff gespickt. Die umweltfreundlichen Waffenarsenale der Militaristen zählen dazu. Scholz stockt gerade mit den bis Moskau reichenden US-Raketen auf. Sein Vorgänger Schröder hatte 1999 keine Bedenken, in Jugoslawien, das uns nichts getan hatte, ein kleines Inferno anzurichten. Unter anderem wurden mit Absicht chemische Anlagen bombardiert, wie sich einem gleichfalls verdienstvollen Artikel von Hartmut Sommerschuh entnehmen läßt.** Schröder, neben Kanzler auch Rechtsanwalt, gab später sogar zu, der Nato-Krieg gegen Belgrad sei völkerrechtswidrig gewesen. Glauben Sie aber nicht, irgendjemand hätte es gewagt, ihn auch nur für einen Tag ins Gefängnis zu stecken. Sowohl die PolitikerInnen wie ihre WählerInnen sind eisenhart. Sie sind gegen jedes »Moralin«, ja wahrscheinlich selbst gegen Dioxin resistent. Reden und Schauspielern können sie allerdings, und dafür haben sie die Doppelmoral. »Putin will Atomkraftwerke bombardieren. Putin verseucht die Krim und den Donbaß und bald auch Deutschland …«

* Henning Klüver, https://www.deutschlandfunk.de/giftgaskatastrophe-von-seveso-chaotisches-krisenmanagement-100.html, 10. Juli 2016
** Hartmut Sommerschuh, https://www.berliner-zeitung.de/open-source/der-ungesuehnte-chemiekrieg-gegen-serbien-wer-verurteilt-endlich-die-nato-li.165044, 14. Juni 2021




Bei der Frucht der Seychellen-Palme schwelgt Brockhaus in Superlativen. Die Seychellennuß schmecke wie die Kokosnuß, nur glatt doppelt so viel. Bis zu 20 Kilogramm schwer, handele es sich um die größte Baumfrucht der Erde. Und jede Frucht benötige bis zur Reife etwa 10 Jahre. Ob sie dann (oder bereits nach sieben) unversehens herunter- und einem auf den Kopf fallen kann, verrät auch das Internet nicht. Zur Nagelprobe muß man jedenfalls zu den Seychelleninseln reisen, denn nur dort gedeiht die gleichnamige, bis 30 Meter hohe Palme. Die Inseln liegen im Indischen Ozean dicht am Äquator. Dort brauchen Sie nie zu heizen, weil die Temperaturen nur selten geringfügig unter 24 Grad sinken. Wegen der Nüsse dürfen Sie aber nicht prüde sein. Jene Doppelung findet sich auch in dem interessanten zwiegeschlechtlichen Eindruck, den die Nüsse machen. Je nach Sinn und Lichteinfall spiegeln sie ein weibliches Becken oder Hoden vor. Was Wunder, wenn sie einst von allerlei Fürsten gern bezogen oder gestohlen worden sind: sie dienten der Gewinnung von Arznei- und Potenzmitteln.



Harriet Shelley (1795–1816), zeitlich erste Gattin eines hoffnungsträchtigen romantischen Schriftstellers, brachte es nur auf 21, während Percy Bysshe Shelley (1792–1822) immerhin noch 29 wurde. Angeblich erlitt er einen Segelunfall bei Viareggio, Italien. Wie so vielen frühen Geliebten später berühmter Männer haben die Nachschlagewerke auch Harriet ein Schattendasein auferlegt, Brockhaus eingeschlossen. Die Tochter des wohlhabenden Londoner Kaffeehausbesitzers Westbrook war gerade einmal 16 Jahre alt gewesen, als sie, 1811, mit dem 19jährigen Bruder ihrer Freundin Hellen Shelley nach Schottland durchbrannte, um ihn dort zu heiraten. Der junge Mann war soeben aufgrund einer »gottlosen« Streitschrift von der Oxforder Universität geflogen. Im März 1814 wird die ausländische Heirat auch in einer Londoner Kirche bestätigt, sodaß die gemeinsame Tochter Ianthe als ehelich gelten kann. Noch im selben Jahr wird auch Sohn Charles zur Welt kommen. Die hübsche und gebildete junge Mutter hat Percy Bysshe Shelleys literarische und rebellische Bestrebungen durchaus geteilt, doch dessen leidenschaftliche Verehrung kühlt rasch ab. So meidet er die eheliche Wohnung zusehends, macht Mary Godwin den Hof und verreist außerdem oft. An Geld scheint es dem Sohn des Baronets Sir Timothy Shelley trotz dessen Verärgerung über die Eskapaden seines Sprößlings günstigerweise nicht zu mangeln. Dafür soll Percy inzwischen Harriet verdächtigen, sie habe ihn nur seines Geldes wegen geheiratet – wegen dem Geld seines Erzeugers also.

In finanzieller Hinsicht ist Strohwitwe Harriet durch Zahlungen sowohl ihrer Eltern wie ihres Gatten sicherlich gar nicht schlecht daran. Sie gibt ihre (und Shelleys) Kinder in die Obhut ihrer älteren Schwester Eliza und nimmt sich, nach Unterschlupf im Elternhaus, im Spätsommer 1816 unter dem Namen Harriet Smith eine eigene Wohnung. Ihr Gemütszustand jedoch dürfte alles andere als rosig gewesen sein. Folgt man einem Blog-Beitrag* der australischen Lehrerin und Buchautorin Jenny Bond, litt Harriet vor allem unter der Zurücksetzung durch Percy (und dessen neuer Flamme Mary) und Percys sonstigem schäbigem Verhalten – und zu allem Unglück auch noch an einer erneuten Schwangerschaft. Just diese dürfte auch der Grund für Harriet gewesen sein, ihr Elternhaus zu verlassen. Laut Bond könnte sogar Percy selbst der Verursacher der jüngsten Schwangerschaft gewesen sein, gab es doch gelegentliche, zeitlich passende Treffen. Von neuen Liebschaften Harriets sei jedenfalls nichts bekannt.

Am 10. Dezember 1816 taucht Harriet wieder auf – tot. Man hat ihre schon arg verquollene Leiche aus dem See Serpentine im Londoner Hyde Park gezogen. Die Times meldet den Fund am 12. Dezember, ohne Namen zu nennen, spricht allerdings unmißverständlich von einer »hochschwangeren« Frau. Im übrigen gibt es einen Abschiedsbrief von Harriet, in dem sie sich vor allem selber Vorwürfe macht und ihren Nächsten alles Glück wünscht. Sie sei deren Liebe unwürdig.**

Merkwürderweise finde ich nirgends einen Hinweis auf Belege von der amtlichen Untersuchung des Vorfalls, die angeblich, so Bond, durchaus stattfand und in der Erklärung mündete, die Schwangere habe sich umgebracht. Dafür muß jedoch als unumstößliche Tatsache gelten: kaum lag Harriet unter der Erde, führte Percy Shelley seine neue Braut Mary Godwin zum Traualtar. Sollte man von daher nicht argwöhnen, Harriets Gatte oder dessen künftiger Schwiegervater Godwin oder ein dritter Schurke hätten Harriet als Hürde oder Bürde aus dem Weg geräumt? Nein, man soll nicht. Die meisten Quellen gehen beleglos von einem Selbstmord der 21jährigen aus. Bond schließt sich an, wenn sie auch die Alternative kurz erörtert. So glaubt sie Godwin betreffend, der anarchistisch gestimmte Philosoph hätte weder das Zeug zu einer Mordtat noch das Geld für einen Auftragsmörder gehabt. Einen namenlosen Schurken, der vielleicht mit der verwirrten, einsamen, unglücklichen Strohwitwe seine Lust hatte, sie aber dann als Last empfand, scheint überhaupt niemand in Erwägung zu ziehen. Wahrscheinlich will sich niemand dem höhnischen Vorwurf aussetzen, den berüchtigten unbekannten Dritten einzuführen.

* Jenny Bond, https://www.jennybondbooks.com/blog/shelleys-jilted-wife, Stand 2021
** Anna Mercer, https://www.bars.ac.uk/blog/?p=1514, 10. Dezember 2016

°
°