Freitag, 30. August 2024
Risse im Brockhaus 33

Die löwenköpfige ägyptische Kriegsgöttin Sachmet war offenbar nicht nur zum Fürchten. Einerseits schickte sie gerne Krankheiten, am liebsten ganze Seuchen; andererseits war sie aber unter Umständen auch bereit, einen Sterblichen von ihnen zu heilen. Laut Brockhaus hatte sie einmal den Pharao Amenophis III. mit Krankheit geschlagen. Daraufhin habe er Hunderte von Sachmet-Statuen (nach manchen Quellen 700!), wohl mit Gold überzogene Holzarbeiten, im Tempelbezirk von Karnak aufstellen lassen. Ein klarer Fall von Bestechung, die sich wahrscheinlich ein Steineschlepper von der Pyramiden-Baustelle nur selten leisten konnte. Man darf sich übrigens nicht davon täuschen lassen, daß Sachmet meistens einem Strich in der Landschaft ähnelt. Das runde Ding auf ihrem Schädel ist immerhin die Sonnenscheibe. Annalena Baerbock wollte es Sachmet ursprünglich gleichtun und bei Staatsempfängen ebenfalls Sonne tragen, aber dann verdonnerte sie der grüne Parteitag dazu, sich mit einem Sonnenkollektor zu begnügen. Der versorgt ihr gewaltiges Gehirn inzwischen rund um die Uhr mit Strom, damit sie sich nicht mehr so oft verplappert.



Der hauptberufliche Erzähler Emilio Salgari (1862–1911), oft als »italienischer Karl May« (aus Venedig) bezeichnet, fiel nach Brockhaus nicht im Gefecht, sondern von eigener Hand. Zuletzt hatte ihm sogar Erblindung gedroht. Wie sollte er dann noch Lesefutter auswerfen wie Lachse Laich?

In seiner Jugend war der Sohn kleiner Kaufleute tatsächlich vorübergehend Schiffsjunge auf der Adria gewesen. Er besann sich jedoch und verlegte seine abenteuerlichen Ausflüge ab 1883 lieber auf Papier: er wurde Autor solcher Geschichten, wie er sie seit Jahren mit Begeisterung verschlungen hatte. Damit kam er an. Dabei soll er seinen Helden, etwa malayischen Piraten, häufig sogar rebellische, jedenfalls antikoloniale Züge verliehen haben. Selbst Che Guevara schätzte seine Werke, falls der englischsprachigen Wikipedia zu trauen ist. Wie sich versteht, schnitt Salgari gern auf und rühmte sich so mancher von den Abenteuern, die er schilderte, in Person; beispielsweise wollte er Buffalo Bill, der zufällig gerade mit einer Show durch Italien tourte, in Nebraska getroffen haben … Er wurde also berühmt, aber angeblich nie reich. Unter seinen Abschiedsbriefen fand sich ein Schmähbrief an seinen Verleger. Dieser Lump hätte ihn ausgesaugt; jetzt möge er wenigstens so freundlich sein, die Kosten seiner Bestattung zu übernehmen. »Ich grüße Sie, während ich meinen Federhalter zerbreche. Emilio Salgari.« 1889 hatte sich der Vater des Erzählers umgebracht. Drei Jahre darauf verheiratete er sich mit der Schauspielerin Ida Peruzzi. Mit ihr und mehreren Kindern lebte er teils in Genua, ab 1900 in Turin. Angeblich zeigte Ida zunehmend Anzeichen von Geisteskrankheit; 1911 kam sie in eine Irrenanstalt. Das soll den starken Raucher und Weintrinker Salgari derart mitgenommen sowie finanziell geschwächt und von der Schreibtischarbeit abgehalten haben, daß er schon um 1909 einen Selbstmordversuch unternahm, indem er sich in ein Schwert, möglicherweise auch nur in einen Degen stürzte. Dazu ist wahlweise zu lesen, die Klinge sei abgeglitten oder eine Tochter habe ihn gerettet.

1911, nachdem er aufgrund seiner Sehschwäche kaum noch die eigenen Manuskriptseiten entziffern kann und Ida fort ist, macht es der zwirbelbärtige 48jährige besser, was auch bedeutet, noch theaterreifer. Er steckt zu einer Spazierfahrt mit der Straßenbahn sein Rasiermesser ein und begeht in einem Park oder Gehölz am Stadtrand in fernöstlicher Manier Seppuku. Das ist jene, bereits weiter oben geschilderte Bauchaufschlitzerei. Ob Salgari dabei alle rituellen Vorschriften einhielt, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls dürfte sich die 26jährige Wäscherin, die den Aufgeschlitzten laut italienischer Wikipedia* beim Holzsammeln gefunden hatte, der Presse gegenüber kaum über die feine, rücksichtsvolle Lebensart des prominenten Geistesarbeiters verbreitet haben.

* Die dortige Liste der Werke und Verfilmungen Salgaris ist länger als eine Flinte. In knapp 30 Jahren soll er rund 90 Bücher mit Romanen oder gesammelten Erzählungen rausgeschossen haben: jedes Jahr drei.



Brockhaus verschmäht eine exotische Prinzessin, die sich als Hamburger Witwe sogar noch im Schriftstellern versuchte! Sayyida Salme (1844–1924) wurde einst von Sansibar aus zu uns geweht. Die märchenträchtige Inselgruppe, auch Gewürzinseln genannt, liegt rund 30 Kilometer von der ostafrikanischen Küste entfernt im Indischen Ozean. Im Jahresmittel herrschen dort 26,5 Grad. Obwohl ein tropisches Klima nicht jedermanns Sache ist, pflegt bereits der bloße Name Sansibar jede europäische Nase zu umschmeicheln, scheint er doch den Duft von Nelken und Zimt, Kokospalmen und eingeölter brauner Mädchen- oder Knabenhaut, weniger dagegen von Sklavenschweiß zu verströmen. Sansibar-Stadt wuchs während der Herrschaft des Sultans Majid bin Said, 1856–70, von ungefähr 25.000 auf mindestens 50.000 EinwohnerInnen an. Die Blüte verdankte sich nicht unerheblich Sansibars Sklavenmarkt, der als die größte Einrichtung dieser Art in ganz Afrika galt. Nebenbei ging auch Elfenbein gut. Hier verdiente sich die arabische Oberschicht der Inselgruppe und der gesamten Küste Ostafrikas eine goldene Nase, obwohl sich in Übersee bereits die Beschränkungen der Sklaverei mehrten. Der Sultan erfreute sich guter politökonomischer Beziehungen zu den westlichen Großmächten, voran Großbritannien und Frankreich, ohne einstweilen die Unabhängigkeit seines Inselstaates zu gefährden.

Jene Düfte hatten auch den blutjungen Hamburger Lehrersohn Rudolph Heinrich Ruete gekitzelt, geboren 1839. Das Unglück sollte ihn erst ereilen, nachdem er als erfolgreicher Kauf- und Ehemann in seine Heimat zurückgekehrt war. Ab 1855 zunächst Vertreter des hanseatischen Handelshauses Hansing & Co. in Aden (heute zum Jemen), ging er einige Jahre später nach Sansibar, um das Unternehmen Ruete & Co. zu gründen und zu leiten. Geschäftsgegenstand waren Reederei, Bankgeschäfte, Gewürzhandel. Günstigerweise schmiegte sich Ruetes Firmengebäude in Sansibar-Stadt an eine Villa, die zum Sultan-Palast zählte. Sie barg als kostbarste Nelke die Prinzessin Sayyida Salme, Tochter des vorange-gangenen Sultans und einer Nebenfrau namens Gülfidan, die jener anscheinend aus dem Kaukasus bezogen hatte. Salme war 1844 geboren worden. Im ganzen hatten dem 1856 verstorbenen Sultan 75 Gemahlinnen zur Verfügung gestanden.*

Kurz und gut, um 1865 verfielen Ruete und die Prinzessin einander und schmiedeten Zukunftspläne, die der heiklen Lage Rechnung zu tragen hatten. Schon die Liebe zwischen einem christlichen Kaufmann und einer mohammeda-nischen Prinzessin fiel ja deutlich aus dem Rahmen. Zu allem Unglück wurde Salme auch noch schwanger. Andererseits hatte sie schon als Jugendliche Reiten und Schießen gelernt. So floh sie am 24. August 1866 mit Hilfe von Mrs Emily Seward, der Gattin des britischen Konsuls, an Bord des Kriegsschiffes Highflier nach Aden, wo sie ihren Geliebten erwarten wollte. Die Alternative wäre wahrscheinlich Salmes Steinigung gewesen. Zwar führte diese Flucht zu einigen diplomatischen Verwicklungen zwischen dem Sultanat Sansibar, Großbritannien und Deutschland, aber auch zur Hochzeit der beiden Verliebten (30. Mai 1867). Sie schifften sich bald darauf nach Hamburg ein, wo sie gebührend bestaunt wurden. Schließlich ging damals gerade eine wahre Woge der Orient-Begeisterung durch Europa, die dem Paar zugutekam. Allerdings traf es ohne Säugling Heinrich in Hamburg ein, der auf der Überfahrt oder schon vorher gestorben war.

An der Elbe setzt Ruete seine Tätigkeit als Kaufmann fort. Davon sind mir keine Einzelheiten bekannt. Dafür weiß ich, daß Salme, nach ihrer unumgänglichen Taufe Emily Ruete mit bürgerlichem Namen, durch die Flucht beträchtliche Besitztümer und zudem das Wohlwollen ihres Halbbruders Barghash verloren hat, der von 1870 bis 1888 auf dem Sultanthron sitzt. Die junge Familie wohnt in Hamburg-Ulenhorst an der Schönen Aussicht, Hausnummer 29. Sie erweitert sich binnen kurzer Zeit um drei Kinder. Am 6. August 1870 jedoch, kaum in der Heimat wieder Fuß gefaßt, stolpert der 31jährige Gewürzhändler just auf Ulenhorst beim Versuch, eine noch fahrende Pferdebahn zu verlassen. Angeblich wird er anschließend überrollt – ob von einem anderen Fahrzeug oder der Pferdebahn selber, wird nirgends deutlich gesagt. Jedenfalls erlag Ruete sechs Tage später seinen Verletzungen. Das Märchen war aus.

Da ihr die deutschen Behörden aus undurchsichtigen Gründen das Erbe ihres Mannes verweigern, bestreitet die verwitwete Prinzessin Salme alias Emily Ruete den Lebensunterhalt für sich und die Kinder mit Unterricht in Arabisch. Zudem veröffentlicht sie 1886 unter dem Titel Memoiren einer arabischen Prinzessin ein Buch, das sogar ein beachtliches Echo findet.** Später folgen (fingierte) Briefe nach der Heimat und ein Buch über Syrien. 2010 brachte Nicole C. Vosseler ihren Salme-Roman Sterne über Sansibar in dem für seine hochkarätige Literatur bekannten Verlag Bastei-Lübbe unter. Obwohl die Prinzessin bei Reisen nach Sansibar von Reichskanzler Fürst von Bismarck persönlich vor dessen diplomatischen Kolonialkarren gespannt wird, gelingt es ihr nicht, den Halbbruder zur Herausgabe ihrer Liegenschaften oder wenigstens einiger Araberpferde zu bewegen. Angeblich empfängt Barghash sie noch nicht einmal. Erst 1922, nach dem Tod sämtlicher Halbgeschwister, gewährt ihr Neffe Khalifa ibn Harub, als nun amtierender Sultan, eine kleine Rente. 1888 war sie zum letzten Mal in ihre Heimat gekommen. Vor ihrer Rückreise nach Deutschland füllte sie einen kleinen Beutel mit weißem Sand vom heimatlichem Strand. Diesen Beutel pflegt sie stets mit sich zu führen. Für rund 20 Jahre lebt sie in Beirut, wo Sohn Rudolph als Diplomat tätig ist. Seit 1914 erneut in Europa, nehmen sich die anderen Kinder ihrer an. Als sie 1924 in Jena mit knapp 80 Jahren an einer doppelseitigen Lungenentzündung stirbt, wird der kostbare Sand aus Sansibar in ihrer Urne mitverstaut. Ihre Kinder dürfen die Urne im Familiengrab der Ruetes in Hamburg-Ohlsdorf beisetzen.

Obwohl Emily Ruete alias Sayyida Salme mehr als viermal so alt wurde wie des Fürsten → Pücklers Gespielin Machbuba (die er in Ägypten gestohlen hatte), litt sie ähnlich stark an ihrer Entwurzelung, zumal sie auf den Trost ihres Mannes verzichten mußte. In ihren Memoiren hatte sie von einer unbeschwerten und bunten Kindheit gesprochen und dadurch, wie anzunehmen ist, in so manchem Hamburger oder Dresdener Hinterhof für glänzende, vielleicht auch ungläubige Augen gesorgt. Ihre Grabinschrift wurde von Theodor Fontanes Ballade Archibald Douglas entliehen: »Der ist in tiefster Seele treu, / wer die Heimat liebt wie du.« Über diese Tugend kann man geteilter Meinung sein.

Außerdem gibt es neuerdings einen Streit zum Thema »Salme und die Menschenrechte«, wie ich der Welt entnehme.*** Im Ergebnis hat man einem Platz in Ulenhorst den Namen der Schriftstellerin entzogen, weil sie sich in ihren Erinnerungen abfällig über Neger und Sklaven geäußert haben soll. Ja, nachher habe man immer recht, bemerkte Günter Eich einmal in seinen Maulwür-fen; man sollte gleich nachher leben. Das hat Salme nicht beherzigt. Aber immerhin, jetzt habe ich wieder Hoffnung für die Tilgung der Walter-Flex-Straße in Hamburg-Wilstorf. Noch scheint sie, laut Internet, so zu heißen. Vielleicht wohnt ein alter Kumpel unseres Kriegsministers in ihr, der die schon wiederholt vorgeschlagene Umbenennung, Pistorius‘ zuliebe, standhaft sabotiert. Flex war der dichtende preußische Militarist mit den Wildgänsen, die durch die Nacht rauschen …

* Irene Mayer-List, http://www.zeit.de/1989/45/mit-75-nebenfrauen, 3. November 1989
** Axel Tiedemann, http://www.abendblatt.de/kultur-live/article106756511/Die-verbotene-Liebe-der-Sansibar-Prinzessin.html, 28. Februar 2009
*** Julia Witte genannt Vedder, https://www.welt.de/regionales/hamburg/article243405581/Emily-Ruete-Hamburger-Prinzessin-endgueltig-in-Ungnade-gefallen.html, 24. Januar 2023




Also ich sage Ihnen, nach Turkmenistan fliegen wir nie wieder! Elfi fängt heute noch unwillkürlich zu knirschen an, wenn sie ihr Gebiß putzt. Es sei das »Trauma«, meinte ein Psychologe zu uns, den uns meine Pensionskasse bewilligt hatte. Wir sollten zunächst den ollen Sandkasten in unserem Vorgarten entfernen lassen, der ja sowieso immer vollgeschissen ist, ansonsten einfach »Gras über die Sache wachsen lassen«, so seine Worte. Meine Tochter Jessica übersetzte das später mit »Zeit heilt Wunden oder so«. Vor ihrer Heirat war sie nämlich zweifache Doktorandin gewesen, einmal in Psychologie, ferner in Germanistik. Die Hauptstadt von Turkmenistan heißt übrigens Aschgabat. Kaum waren wir vor unserem sogenannten Hotel eingetroffen, wurden wir auf die Kamele gepeitscht – Wüstenritt. Das nannten sie »obligatorisch«. Glauben Sie aber nicht, irgendeine von diesen einheimischen Kokain-Nasen hätte uns vor dem Sandsturm gewarnt! Prompt packte er uns mitten in der Wüste am Wickel. Keine drei Minuten, und alles war voll Sand, die Augen, die Ohren, die Nase, das Maul, und falls man sich vom Sturm abwenden wollte, auch das Gesäß, um es höflich auszudrücken. Wir also nichts wie ins Hotel zurückgeprescht. Dessen Fenster waren zwar sandsturmdicht; als wir jedoch die Duschen aufdrehten, kam kein Wasser. »Dabei haben in Deutschland sogar die Stürme Wasser!« raunzte Elfie den Hotelmanager an. »Hier ist ja alles verkehrt herum beziehungsweise Schrott!« Die Nacht war natürlich höllisch, mit all dem Sand in uns. Ich gleich am Morgen echt wutschnaubend zum Oberkommandeur der turkmenischen Nato-Truppen getrabt, mich beschweren. Er läßt mich sogar vor, weil er eine Schwäche für Baerbock hat, wie so viele. »Ja, Mensch«, halte ich ihm mit meinem besten Schulenglisch vor, »wenn Sie hier dauernd solche schrecklichen Sandstürme haben, warum lenken Sie die denn nicht auf Rußland! Das läßt sich doch heutzutage technisch lässig machen!« – »Na schon«, gibt der Typ zurück. »Aber gucken Sie mal hier auf meine Wandkarte: Wir sind ja gar nicht mit Rußland benachbart, da liegen doch noch Usbekistan und Kasachstan zwischen uns!« Das mußte ich zähneknirschend einräumen, wegen all dem Sand. Jetzt warten wir auf den Ingenieur, der den elektronisch gesteuerten Hydraulischen Sandsturmlift erfindet, damit Usbekistan und Kasachstan nichts zu meckern haben. Bis dahin zelten wir nur noch auf Usedom. Dort bleibt der Sand nämlich immer schön liegen.



Der Haar- und Lebenskünstler Théo Sarapo (1936–70), auch Chansonnier und Schauspieler, wurde von Brockhaus geschnitten, weil seine Gemahlin zu berühmt war. Bei dieser (Band 17) fällt er natürlich auch unter den Tisch. Als der gebürtige Grieche Ende August 1970 in der Region Limousin seiner Wahlheimat Frankreich mit 34 Jahren gegen eine Platane den Kürzeren zog, lag seine Ehefrau Edith Piaf bereits seit sieben Jahren unter der Erde. Die liebeshungrige Diva, 20 Jahre älter als er, war mit 47 diversen Drogensüchten und dem Krebs zum Opfer gefallen. Zuvor hatte sie schon einige Autounfälle mit jeweils einem anderen Liebhaber am Steuer überlebt – wahrscheinlich fünf Stück, wenn ich mich in Jens Rostecks Piaf-Biografie von 2013 nicht verzählt habe. Den hübschen, »lammfrommen«, fast etwas langweiligen und eigentlich homosexuell gestimmten Sarapo, der bis dahin als Friseur in einer Pariser Vorstadt tätig war, hatte sie erst anderthalb Jahre vor ihrem Tod (Herbst 1963) kennengelernt, alsbald geheiratet und ihm dadurch den Weg zu Ruhm und Reichtum und damit auch zu dem blauen Citroën ID eröffnet, mit dem er dann, bei hoher Geschwindigkeit, gegen besagte Platane geprallt sein soll. Fremdverschulden oder eine selbstmörderische Absicht schloß die Polizei laut Rosteck aus. Wie überfüllt wäre heute die Welt, hätten wir nicht den modernen Straßenverkehr erfunden!

Was das Ableben Piafs angeht, merkte Der Spiegel (44/1963)* damals an, Sarapo habe bereits 14 Tage vor dem Tod seiner weltberühmten Gattin einen Exklusiv-vertrag über seine Ehe-Memoiren mit dem Massenblatt France-Soir abgeschlossen. »France-Soir-Reporter waren auch die einzigen Photographen, die schon wenige Minuten nach dem Tod der Sängerin von ihr Aufnahmen machen durften. Einziger Besucher, den der trauernde Théo in seinem Asyl empfing: Ein amerikanischer Filmproduzent, dem er seine Ehegeschichte verkaufte.« Dieses durchaus einleuchtende, kaum verblüffende Spiegel-Bild könnte allerdings verzerrt sein – bei Rosteck liest man kein Wort von dergleichen. Der in Frankreich lebende Musikforscher und Publizist behauptet eher im Gegenteil, Sarapo habe nach Piafs Ende auf einem hohen Schuldenberg gesessen, was ebenfalls leicht zu glauben ist, hatte die aus der Gosse aufgestiegene schmächtige Diva doch ihre in Sturzfluten eintreffenden Honorare über Jahre hinweg eimerweise aus dem Fenster geworfen. Kleine Leute, die solche Stars anhimmeln, können eigentlich nicht mehr alle Tassen im Schrank haben. Am Tage von Piafs Beerdigung waren sie zu Hunderttausenden in den Pariser Straßen unterwegs, als sogenannte Trauergäste.

* Online https://www.spiegel.de/politik/theo-sarapo-a-2ee9eb65-0002-0001-0000-000046172585



Ich fürchte, der kubanische Schriftsteller Severo Sarduy (geb. 1937), offenbar ein Avantgardist, hat meine Aufmerksamkeit nur errungen, weil ich über ein selten schwachsinniges Brockhaus-Fremdwort gestolpert bin. »Der Roman De donde son los cantates (1967) evoziert so die spanische, afrikanische und asiatische Kulturmischung Kubas.« Was will uns der robenlose Redakteur mit diesem Schmuckwort sagen? Laut verschiedenen Wörterbüchern heißt »evozieren«, etwas rufe bestimmte Vorstellungen, Erinnerungen, Gefühle, Stimmungen und dergleichen hervor, wahlweise: es beschwöre sie herauf oder bewirke sie. Dafür gibt es dann noch zahlreiche Synonyme, von denen man sich nur das Passende heraus zu suchen hat, etwa erwecken, entzünden, stiften, entfesseln. In einer schlichten Fassung hätte der Redakteur einfach geschrieben, dadurch zeuge der Roman von der bunten Kulturmischung Kubas. Ich muß jedoch gerechterweise betonen, im großen und ganzen kann man Brockhaus keineswegs ungezügelten Gebrauch von Fremdworten vorwerfen. Sein Bemühen, bei aller ideologischen Wankelmütigkeit doch den auch bei Wikipedia beliebten durchgängigen Anschein von Objektivität zu evozieren, ist erheblich unangenehmer.



Brockhaus kennt (1992) einen argentinischen Politiker namens Sarmiento, nicht dagegen den guatemaltekischen Musiker Jorge Álvaro Sarmientos (1931–2012). Ein betrübliches Versäumnis, denn in seinem Heimatland scheint der laut Fotos knuffige, breitköpfige Mann, erwerbsmäßig als Komponist, Dirigent und Pianist tätig, durchaus verehrt zu werden. Bei uns zählt er noch als »Geheimtip«. Mich wundern Verehrung und Geraune nicht, hat uns Sarmientos doch bereits 1957 ein ausgefallenes und gleichwohl jede Wette eindrucksvolles Werk für ein seltenes Orchesterinstrument geschenkt, nämlich das Konzert für Marimba und Orchester. Ich kenne und schätze es zufällig seit knapp 15 Jahren. Nun wage ich Ihnen eine jüngere Aufnahme (rund 21 Minuten)* aus Venezuela zu unterbreiten, obwohl auch dort, dank Internet, jederzeit Werbespots drohen, die Sie aus allen Träumen reißen und Sie noch im Thüringer Wald zum Affen machen.

* https://www.youtube.com/watch?v=C9tMnoNytUw, Caracas 2022, mit zeitgemäßem Gesichtsgesundheitsschutz



Der französische Journalist und »radikalsozialistische« Politiker Maurice Sarraut (1869–1943) war lange Jahre Geschäftsführer der auch in Paris einflußreichen Dépêche de Toulouse. Brockhaus erwähnt ihn lediglich im Eintrag über seinen Bruder Albert Sarraut, und zwar als »ermordet«. Nach der französischen Wikipedia kann er so radikal sozialistisch nun auch wieder nicht gewesen sein, weil er ab 1940 zunächst mit dem faschistenfreundlichen Vichy-Regime unter »Marschall« Pétain kungelte. Dann jedoch, 1943, habe das Regime von Gestapo-Gnaden die paramilitärische Milice geschaffen, die vor allem die Partisanen oder UnterstützerInnen der Resistance zu bekämpfen hatte. Das ging Sarraut zu weit. Prompt wurde er Anfang Dezember 1943 vor seiner Toulouser Villa erschossen. Die Vichy-Presse schob den Anschlag flott der Resistance in die Schuhe, aber bald sah sich die Polizei gezwungen, just ein paar Milizionäre festzunehmen. Dann sorgten das Regime und die deutschen Besatzungs-behörden dafür, sie wieder laufen zu lassen. Mit dem Kriegsende ging es allerdings noch dem Regionalchef der Miliz an den Kragen, Henry Frossard. Er hatte die Mörder mit Waffen und Fahrzeugen ausgerüstet. Am 14. Mai 1945 wurde er hingerichtet.



Die niedersächsische Stadt Sarstedt, nördlich von Hildesheim »an der Innerste« gelegen, sei im Laufe ihrer Geschichte »mehrfach«, also wiederholt, zerstört worden, meldet Brockhaus. Das Aufregende der Meldung steckt hier im Anhub. Es ist nämlich durchaus kein Grammatik- oder Druckfehler, wenn das Lexikon schreibt, die Stadt liege an der Innerste. Es hat das n weder vergessen noch unterschlagen. Die Innerste ist ein immerhin rund 100 Kilometer langer Nebenfluß der Leine. Sie entspringt im Harz. Nach verschiedenen Wanderberichten hat sie sogar (wieder) Eisvögel und Biber zu bieten. Vor 1.000 Jahren hieß sie auch schon mal Indristra. Man vermutet, das geht auf die indogermanische Wurzel oid = schwellend, kräftig zurück. Na, da wird erst was los sein, wenn die neuen Nato-Langstreckenwaffen aus der Eifel von der Moskauer Flugabwehr bereits über dem Harz abgefangen und zur Explosion gebracht werden! Dann fallen sie in die Innerstetalsperre (bei Goslar) und überschwemmen den ganzen Landkreis Hildesheim.



Die adelige Anhängerin der russischen Narodniki (sozial-revolutionäre »Volksfreunde«) Wera I. Sassulitsch (1849–1919) hatte mit knapp 30 einen Anschlag auf den Petersburger Polizeichef Fjodor F. Trepow verübt – und wurde daraufhin »in einem berühmt gewordenen Prozeß freigesprochen«, wie sogar Brockhaus staunt. Später, in ihrem schweizer Exil, habe sie sich der Sozialdemokratie zugewandt. »Die Oktoberrevolution lehnte sie ab.«

Im Internet ist zu erfahren, der alte Militarist Trepow, offiziell scheints Gouverneur von Petersburg, habe damals für einige Empörung gesorgt, weil er einen politischen Gefangenen auspeitschen ließ, der sich geweigert hatte, seine Kopfbedeckung vor dem Oberst zu ziehen. Ein Grüppchen Revolutionäre beschloß Anschläge auf einen verhaßten Staatsanwalt und eben auch Trepow. Dieser wurde (im Januar 1878) durch Pistolenschüsse Sassulitschs schwer verletzt. Er soll noch im selben Jahr, als General der Kavallerie, in den Ruhestand gegangen sein. Die Täterin fand jedoch milde Geschworene und einen mutigen Rechtsanwalt. Der Advokat meinte, eigentlich gehörte Treptow, der rechtswidrige Prügler, vor Gericht. Sassulitsch kam auf freien Fuß. Wohlweislich entwich sie allerdings ins Exil, als das Urteil erwartungsgemäß auf Betreiben des Zaren gekippt wurde. In der Schweiz übersetzte sie zunächst emsig marxistische Schriften und arbeitete an Lenins Iskra mit. Sie galt als bescheiden und schüchtern, gleichwohl ehrgeizig. »Privatleben« habe sie sich kaum gegönnt. Trotzki schildert sie als scharfsinnige Kettenraucherin, die mit dem Schreiben arge Mühe hatte; sie habe jeden Satz ihres Textes vielmals umgewendet, ehe sie ihn schließlich aufs Papier brachte. Dann schloß sie sich den Menschewisten an. 1905 kehrte sie nach Rußland zurück. Der Erste Weltkrieg sah sie anscheinend wie so viele, etwa auch Kropotkin, als Sympathisanten der zaristischen Truppen. Den bolschwistischen Umsturz hielt sie für verfrüht und aufgepropft; sie wollte erst eine bürgerlich-kapitalistische Entwicklung. Aber sie hatte wohl sowieso schon resigniert. Laut englischer Wikipedia brach im Winter 1919 in ihrem Zimmer ein Feuer aus, vielleicht, wie bei Platschek, vom Rauchen. Sie sei bei zwei Schwestern untergekommen, die im selben Innenhof lebten, freilich kurz darauf von einer Lungenentzündung ereilt worden und am 8. Mai 1919, knapp 80 Jahre alt, in Petrograd gestorben.

Nach einem wohlmeinenden zeitgenössischen Zeitungsbericht aus Straßburg* war der ausgebildeten Lehrerin schon als junger Frau übel mitgespielt worden: zwei Jahre Einzelhaft auf bloße Gerüchte von revolutionären Umtrieben hin, anschließend auch noch mehrere Jahre Verbannung an wechselnden Orten im Osten, ohne je Begründungen zu erhalten. Dem sei sie erst mit Ende 20 entronnen, kurz vor dem Vorfall mit der Auspeitschung des Studenten Bogoljubow. Das Gerichtsverfahren gegen sie erregte große Anteilnahme, sodaß bereits ein mildes Urteil zu erwarten war. Nach dem Freispruch habe geradezu Jubel geherrscht. Eine Urteils-begründung ist leider nirgends zu bekommen, soweit ich sehe. Für mich deutet sich aber erneut der Graben zwi-schen bürgerlicher und anarchistischer Rechtssprechung an: jene fußt auf Formalismus, diese auf Moral. Darauf werde ich unter → Schubert zurückkommen.

* Volksblatt 17/1878: https://de.wikisource.org/wiki/Aus_einem_russischen_Gerichtssaal



Wir nähern uns Schleyer, da liegt das berühmte Wort von der »klammheimlichen Freude« in der Luft. Der gebürtige Waldecker Heinrich Sauer (1891–1952) soll nämlich bald nach dem Zweiten Weltkrieg, den er offensichtlich überlebte, einem »Unfall« zum Opfer gefallen sein. Bei Brockhaus fehlt er – zu unberühmt oder zu harmlos vielleicht. Der Sohn eines Landbriefträgers war zunächst gleichfalls Postbeamter, dann Studienrat, dann »Philosoph« geworden, wie Klee und andere behaupten. Tatsächlich führt ihn die Hamburger Universität* für den Zeitraum 1932–52 als Professor dieses Faches, anscheinend ohne Unterbrechung. Sie erwähnt sogar seinen Parteieintritt 1937, erspart uns dagegen sein bereits 1933 abgeleistetes öffentliches »Bekenntnis« zu Adolf Hitler (Klee). Doch ansonsten ist die Quellenlage katastrophal mager. Wie überstand der biedere Mann den Krieg? Wie entging er der sogenannten Entnazifizierung beziehungsweise der Entlassung? Und was hatte er im Oktober 1952, knapp 61 Jahre alt, in der Lüneburger Heide zu suchen? Dort hatte er nämlich einen »Verkehrsunfall«, wie Klee in verbreiteter philosophischer Unschärfe mitteilt. Wikipedia meint, Sauer habe sich (außerhalb der Lüneburger Heide) mit Leibniz sowie der Wahrscheinlich-keitsrechnung befaßt. Dann war es also wahrscheinlich ein Autounfall. Meine briefliche Anfrage ans Stadtarchiv Arolsen blieb ohne Echo. Möglicherweise haben sie da schon genug Professoren und Prinzen, mit denen sie sich schmücken können.

* https://www.hpk.uni-hamburg.de/resolve/id/cph_person_00000270



Neulich habe ich mir ein neues Fahrrad geleistet. Es hat einen Radnaben-Dynamo, eine leicht gekrümmte bequeme Lenkstange und sogar eine Dreigangschaltung. Aber auch diese Vorzüge hätten mir vor ungefähr 175 Millionen Jahre wenig genützt. Damals erstreckte sich in unserer Gegend (Mitteleuropa) das sogenannte Jurameer. Da wäre die Anschaffung einer Arche Noah sinnvoller gewesen. Allerdings hätten die Vorräte selbst mit diesem Fahrzeug wahrscheinlich nicht ausgereicht. Denn jenes Meer soll Mitteleuropa immerhin rund 100 Millionen Jahre lang bedeckt haben, wie sogar Friedrich Trost in Hederichs Geschichte der Stadt Zierenberg (bei Kassel) weiß. Das Werk erschien 1962. Einerseits scheinen zur Jurameerzeit gleichsam paradiesische Zustände geherrscht zu haben. Die ganze Erde hätte tropisch warmes Klima geboten, schreibt Trost. »Selbst die Pole trugen keine Eiskappen, und Palmen, Feigen und Brotfruchtbäume gediehen noch in Grönland und Alaska.« Auch blühende Blumen fehlten nicht. »Geradezu grotesk aber war die Entwicklung im Tierreich …« Ja, richtig, damals erhoben sich die berüchtigten Schreckgespenster namens Saurier aus dem Jurameer. Sie ließen sowohl das Meer wie die Kontinente erzittern, soweit sich diese schon herausgebildet hatten. Brockhaus behauptet (in Band 5), die besonders beliebten Dinosaurier seien teils über 40 Meter lang und über 80 Tonnen schwer gewesen. Pro Einzelexemplar! Jedes Echsenstück ein Sechsfamilienhaus.

Die Frage, warum die Saurier gegen Ende der Kreidezeit ausstarben, ist offenbar bis zur Stunde ungeklärt. Schon Brockhaus nennt zahlreiche Theorien. Er betont jedoch, so »jäh«, wie das oft dargestellt wird, seien die Ungetüme keineswegs verschwunden. Sie fielen nicht etwa eines Tages alle um, weil ein fetter Meteor auf der Erde eingeschlagen wäre. Damit wirft sich der Gesichtspunkt von Zeit und Dauer auf. Vielleicht kam dieser Gesichtspunkt etwas zu kurz, wenn ich früher wiederholt über die gewaltigen kosmischen Entfernungen orakelt habe, also über das Raumproblem. Schließlich entziehen sich nicht nur Strecken von Lichtjahren unserem Vorstellungsvermögen, wie ich fürchte, sondern auch jene Angabe, das Jurameer habe sich rund 100 Millionen Jahre lang auf der Erde gehalten. Oder können Sie sich diesen enormen Zeitraum etwa vorstellen? Jedenfalls erlaube ich mir den Hinweis, im Vergleich zum Jurameeralter sind unsere paar tausend Jahre sogenannter Weltgeschichte und mehr noch meine eigenen 74 Jahre der reinste Furz.

Das Wort vom Zeitraum fällt hier nicht zufällig. Irre ich mich nicht, vertritt Brockhaus in seinem vergleichsweise ausführlichen Eintrag über die Zeit (im letzten Band) bereits die spätmoderne Auffassung, Raum und Zeit seien gewissermaßen nur zwei Seiten derselben Medaille. Für den Menschen muß alles, was räumlich ausgedehnt ist, auch eine Zeitspanne haben. Andernfalls wäre es so ein Nullpunkt, wie ihn sich die Urknallköppe vorstellen. Brockhaus formuliert eleganter: »Wir erfahren die Welt als gerichteten Prozeß, der eine begriffliche Aufspaltung in Raum und Zeit zuläßt. Zeit ist somit der durch Abstraktion herausgehobene Verlaufsaspekt der veränderlichen Zustände der Realität.« Das leuchtet mir eigentlich einigermaßen ein. Schließlich findet in jedem Maggi-Würfel schon durch die Atome und Elektronen unablässig Bewegung statt, und hat er das Pech, in unserem Magen oder auf dem Kompost zu landen, verändert er sich noch heftiger, indem er nämlich verfault.

Dagegen keimen doch jähe, dinosauriergroße Zweifel in mir auf, wenn das Lexikon bald darauf eher beiläufig verkündet, es ließen sich also »durchaus physikalische Systeme ohne Raum und Zeit denken, und auch der Vorgang der Entstehung von Raum und Zeit kann Gegenstand theoretischer Überlegungen werden.« Gewiß, er kann durchaus! Sofern man unerschrocken Dinge wie »Quantengravitation«, »Hintergrundstrahlung« und »ursprüngliche Singularität« aus dem astrophysikalischen Zauberhut zieht und denselben dafür mit üppigen Honoraren und Fördergeldern füllen läßt.

Die Beschränktheit unserer Zeitraum-Vorstellungen bleibt jedenfalls klar wie Kloßbrüh. Selbst Brockhaus erinnert daran, daß sich unsere Bestimmungen von zeitlichen Abständen der »Periodizität der Bewegungen der Gestirne« verdanken, Erddrehung eingeschlossen. Nur ist unser Blick in den Weltraum bekanntlich verdammt kurz. Es könnte also auch durchaus Zustände (Welten) ohne Periodizität geben, »etwa in einer interstellaren Gaswolke mit chaotischem Schwanken aller Zustandsgrößen« – und die BewohnerInnen dieser Gaswolke hätten jede Wette »nie ein Zeitbewußtsein« entwickelt. Unsere sehr gut ausgebildete Zeit-Wahrnehmung sei den Bedingungen »unserer nahen kosmischen Umgebung« durchaus angemesssen – aber mehr auch nicht.

Übrigens bin ich davon überzeugt, auch die Vorstellung eines absolut unveränderlichen Dinges oder Zustandes sei uns mindestens nahezu unmöglich. Versuchen Sie es ruhig einmal. Stellen Sie sich eine völlig starre Blech-Schatulle vor, etwa eine kleine Kasse. Sie ist immer dieselbe. Nichts tut sich in oder an ihr. Ja, wo denn eigentlich? In welchem Zusammenhang könnte eine solche Starrheit stehen, sitzen, liegen oder weiß der Teufel was? Die Urknallköppe verraten es uns nicht, versichern uns jedoch, aus ihr habe sich einst das ganze Universum erhoben. Wer da nicht an Gott denkt, muß schon ganz schön blöd sein. Er darf sich Gott aber nicht als alten Mann mit weißem Bart vorstellen. Denn in diesem Fall unterläge Gott der Veränderlichkeit. Nein, Gott muß die Bewegungslosigkeit an sich – und damit unsterblich sein. Eben darum beneiden ihn die Urknallköppe ja. Nur fragt sich schon, wie aus einer vollkommenen Bewegungslosigkeit unsere nicht ganz so perfekte Schöpfung entstanden sein soll, in der die Lavaströme fließen, die Schmetterlinge flattern und die Dinosaurier an den Kronen der Mammutbäume knabbern.



Brockhaus meint, das Wiener Original Ferdinand Sauter (1804–54), im Broterwerb kaufmännischer Angestellter, ansonsten obrigkeitsfeindlicher »Dichter« und Kneipengänger, gelte als »österreichischer Villon«. Schon möglich. Was Versfüße angeht, wurde Sauter oft für seine Improvisationskunst gerühmt, doch gegen einen komplizierten Beinbruch im Jahr 1839 war sie machtlos: seit damals hinkte er. Das ist natürlich eine Nebensäch-lichkeit, die sich in einem namhaften Universallexikon nicht gehört. Nach brieflicher Auskunft Ludwig Lahers, der neulich (Innsbruck 2003) einen Roman über Sauter veröffentlichte, hatte dieser auf einer ausgedehnten Fußreise durch das Salzkammergut mit einem Freund darum gewettet, er sei in der Lage, von jenem hohen Felsen dort auf die Landstraße zu springen. Er war es in der Tat – und verbrachte anschließend mehrere Wochen im Hallstatter Krankenhaus.

Immerhin besuchte und tröstete ihn dort Nikolaus Lenau, und über den ganzen Vorfall, vom Leichtsinn bis zu Lenau, habe Sauter ein 13strophiges Gedicht verfaßt, teilt mir der Linzer Schriftsteller mit. Daneben war Sauter, in dem sich die Ausgelassenheit mit Schwermut und Hypochondrie paarte, mit Franz Schubert und Moritz von Schwind bekannt, der ihn 1828 auch verewigt hatte. Später verkehrte Sauter im Literatenzirkel Johann Nepomuk Vogls, aber auch unter namenlosen Zechbrüdern. Er wohnte ärmlich im Wiener Vorort Hernals, wahrscheinlich solo. Nach Sauters »Gemüts- und Liebesleben« angegangen, sagt Laher, dazu könne er keine Auskunft »in einer Nußschale« geben; er habe es in seinem »exakt recherchierten« Roman ausgebreitet. Sauter selber kam, wohl nicht unabsichtlich, zu Lebzeiten nie zu Buchveröffentlichungen. Er wurde freilich nur 50, weil er im Herbst 1854 einer damals in Wien ausgebrochenen Cholera-Epedemie zum Opfer fiel. Die deutsche Wikipedia verkündet, er sei sogar »das erste« Opfer dieser Epedemie gewesen, was nach Laher Unfug ist. Sauter habe sich im Gegenteil mit Hilfe der Presse »über die dort beworbenen Wundermittelchen gegen die Seuche« informiert und sie alle, »eins nach dem anderen«, ausprobiert. Er habe kaum noch seine Wohnung verlassen und die Wiener Innenstadt gemieden. »Allerdings ging er zu dem einen oder anderen Begräbnis eines an der Cholera verstorbenen Bekannten oder Freundes und dürfte sich bei dieser Gelegenheit angesteckt haben.«

Berühmt ist Sauters selbstgeschmiedete Grabinschrift. Auf sie dürfte Lahers Romantitel Aufgeklappt anspielen.



In seinen zwei Spalten zum Schachspiel geht Brockhaus leider mit keinem Komma auf den mental-militärischen Gesichtspunkt des beliebten Zeitvertreibes und Sportes ein. Dabei lebt im Grunde sogar Stefan Zweigs berühmte, im Eintrag nicht erwähnte Schachnovelle von diesem Zug. Ich sprach ihn in der vorausgegangenen Folge mit Akiba → Rubinstein und nebenbei auch mit Carl Göring aus meinen Nasen an. Im Falle Görings, der sich 1879 (in Eisenach) umgebracht haben soll, sind zumindest die Beweggründe für den Selbstmord undurchsichtig. Man glaube aber nicht, im Falle des britischen Schach-Asses Jessie Gilbert (1987–2006) seien wir klüger, weil wir inzwischen auf Sensationsjournalismus und Internet bauen könnten. Ich führe Gilberts Fall an, obwohl sie natürlich für den Brockhaus viel zu jung war.

Immerhin darf man vielleicht annehmen, Jessie hätten nicht nur die großen Hoffnungen gedrückt, die auf ihr ruhten. Mit 12 Jahren hatte das britische Mädchen als jüngste Spielerin aller Zeiten die Schach-Amateurwelt-meisterschaft der Frauen gewonnen. Darauf Sportminister Tony Banks: »We are extremely proud of what Jessie Gilbert has achieved for chess and for this country.« Das war 1999 gewesen. Jessie errang weitere Titel und ein Stipendium, um in den USA mit Großmeister Edmar Mednis zu trainieren. Nebenbei erwarb sie sich das Anrecht, ab September 2005 Medizin in Oxford zu studieren. Im Dezember 2005 schlug sie in ihrem Heimatclub Coulsdon den englischen Großmeister Danny Gormally. Im Februar 2006 gewann die inzwischen 19jährige die Korean International in Südkorea. Alexander Baron bescheinigt der stämmigen, sommersprossigen und »unscheinbaren« jungen Frau, die stets in Jeans auftrat, sie sei zwar hochintelligent gewesen, aber auch schüchtern – ihr Selbstbewußtsein habe »die Stärke einer Briefmarke« besessen. Damit eilte sie also von Erfolg zu Erfolg. Nachdem sie im Mai desselben Jahres an der Schach-olympiade in Turin teilgenommen hatte, wo die Frauen und Männer aus Großbritannien keinen Medaillenrang belegen konnten, fuhr sie in die ostböhmische Stadt Pardubice, um an den alljährlich ausgetragenen Czech Open teilzunehmen. Das Ende dieses angesehenen Turniers erlebte sie nicht mehr. In der Nacht vom 26. auf den 27. Juli 2006 fiel sie unter bis heute ungeklärten Umständen aus dem Fenster ihres im achten Stockwerk gelegenen Hotelzimmers, wobei sie zu Tode kam.

Jessie hatte sich das Zimmer mit ihrer besten Freundin A. geteilt, einer erst 14jährigen Nachwuchsspielerin. Das Fenster war wegen der Sommerhitze (oder aus kühler Berechnung) offen geblieben. Angeblich nahm die Freundin von dem tödlichen Vorgang nichts wahr, weil sie unterdessen mit Übelkeit im Bad verschwinden mußte. Die beiden hatten einiges getrunken. Die Quellen schweigen darüber, ob Dritte Zugang zum Zimmer hatten und ob sie, wenn ja, ein Mordmotiv gehabt hätten. Was das Opfer betraf, brachte man auch Jessis Neigung zum Schlafwandeln ins Spiel. Zudem stellte sich heraus, daß sie Medikamente gegen Depressionen nahm und bereits mindestens einen Selbstmordversuch mit Tabletten hinter sich hatte. Sie war damals, 2004, aufgrund einer Überdosis Paracetamol im East Surrey Hospital aufgewacht. A. sagte aus, Jessie habe sich in jüngster Zeit wiederholt Schnittwunden beigebracht, ohne darüber mit ihrer Mutter zu sprechen. Solche Wunden wurden auch gefunden. Allerdings sind für Jessies Tage in Pardubice keine mündlichen oder schriftlichen Äußerungen bekannt, die eine selbstmörderische Absicht bekundet hätten. Englische Gerichte führten eine Untersuchung durch. Im September 2007 erklärten sie den Fall zum open verdict, was bedeudet, aufgrund von Ungereimtheiten läßt sich der betreffende Tod vorläufig nicht zweifelsfrei der einen oder anderen üblichen Todesursache zuordnen.

Die Mutter der toten Schachhoffnung glaubt an Selbstmord.* Jessies Eltern Angela and Ian Gilbert, sie Wissenschaftlerin, er Bankmanager, hatten sich 2003 getrennt. Jessie lebte mit ihren drei Schwestern bei ihrer Mutter in Reigate, Südostengland, der Vater in London. Wenige Tage nach dem mysteriösen Tod seiner Tochter stellte sich Ian Gilbert als Angeklagter in einem Verfahren um sexuelle Gewalt heraus. Es soll um wiederholte Vergewaltigungen und unzüchtige Handlungen, auf mehrere Opfer verteilt, gegangen sein. Was Wunder, wenn die Presse daraufhin bald argwöhnte, auch Gilberts Tochter könne zu diesen Leidtragenden zählen. Die Verhandlungen gegen Ian Gilbert begannen erst Ende August des Jahres 2006. Seine Tochter konnte also nicht mehr aussagen, weil sie schon einen Monat vorher gestorben war.

Allerdings legte der Staatsanwalt im November ein Tonband-Vernehmungs-Protokoll der Polizei vor, wonach Jessie ihren Vater schon vor längerer Zeit bezichtigt hatte, sie erstmals als Achtjährige und dann über Jahre hinweg nachts belästigt und geängstigt zu haben. Er sei auch ins Bad gekommen, wenn sie duschte, und einmal, im Januar 2003, habe er sie, aus nichtigem Anlaß zornig geworden, mit einem Kabel zu erdrosseln versucht. Sie hatte gemault, weil ihr Vater leihweise ihren Laptop benutzen wollte. Bei diesem Vorfall war sogar Polizei ins Haus gekommen, ohne daß er gerichtliche Folgen nach sich gezogen hätte. Er löste nur die Scheidung der Eltern aus.

Im Dezember 2006 wurde der 48jährige Gilbert, dem seine neue Ehefrau Sally beistand, die zufällig Rechtsanwältin ist, von allen Vorwürfen freigesprochen. Was seine Tochter betrifft, hatte er während der Verhandlung vermutet, sie habe sich mit ihren Aussagen an ihm rächen wollen, etwa wegen der Trennung von ihrer Mutter oder wegen jenes Übergriffes mit dem Kabel. Was die Mutter angeht, berichtete die Presse zwei Tage nach der Urteilsverkündigung, die 53jährige sei vorübergehend von der Polizei verhaftet worden, weil sie angedroht habe, ihren Ex-Gatten zu töten. Der Staatsanwalt werde diese Sache aber auf sich beruhen lassen. Als Polizeipsychologe von Scotland Yard hätte ich die Gelegenheit genutzt, mich einmal bei der Wissenschaftlerin zu erkundigen, ob sie es für denkbar halte, gleichfalls einen Anteil am folgenschweren Werdegang ihrer hochbegabten Tochter zu haben. Entrüstung! Dienstaufsichtsbeschwerde!

Obwohl er Ian Gilbert ausdrücklich für einen »schlechten Vater« und einen nicht minder schlechten Ehemann hält, ist auch der Schachspieler Alexander Baron davon überzeugt, Gilbert habe seine Tochter weder mißbraucht noch sie getötet. Landsmann Baron, Jahrgang 1956, war einige Male gegen Jessie angetreten, wobei er offenbar auch Niederlagen einstecken mußte, obwohl er erheblich älter und erfahrener als seine Gegnerin war. Inzwischen hat er eine Bibliographie über Jessies Partien verfaßt und betreibt zudem die Webseite The Jessie Gilbert Virtual Archive zu ihrem Gedenken. Für Baron besteht kein Zweifel daran, daß sich Jessie geplant und eigenhändig aus jenem Fenster warf – die große Frage sei nur, wer oder was sie »geschoben« habe, wie er 2011 im Internet schreibt.** Barons Antwort lautet: es waren Geister, Alpe, Dämonen. Man erinnere sich an Jessies Neigung zum Schlafwandeln – früher auch mit der Wendung umschrieben, jemand sei »vom Nachtschreck« besessen. Jessies Sehnsüchte und Ängste sowie ihren Medikamentenmißbrauch hinzugenommen, könnte man natürlich auch kurzerhand von Wahnvorstellungen sprechen. Dazu neigen SchachspielerInnen ohnehin gleichsam von Berufs wegen, wie der Autor Mathias Bröckers meint (siehe Nasen-Göring). Für Baron hat sich jener gewalttätige, nie geahndete Übergriff ihres Vaters (Versuch des Erdrosselns) auf eine Weise mit Alpträumen und Halluzinationen verbunden, die sie tatsächlich davon überzeugt sein ließen, er habe sich an ihr vergangen. Insofern hätte sie die vernehmenden Polizeibeamten keineswegs belogen.

Diese Vermutungen erklären freilich weder, warum sie nur den Ausweg des Selbstmordes sah, noch warum sie diesen – falls es einer war – ausgerechnet kurz vor Ende des hochrangigen Schachturniers in Pardubice beging (12.–29. Juli 2006). Mit vier Unentschieden und einem Sieg hatte sie sich bis dahin (26. Juli) in dem stark besetzten Turnier durchaus beachtlich gehalten. Ihre Mutter sagte dem Evening Standard 2007, durch das Match, das Jessie am Nachmittag vor der Unglücksnacht spielte, habe sie ihre Ranglistenposition im Women's International Master erneut verbessern können. Gleichwohl kann Jessi an »Versagensangst« gelitten haben. Aber auch von diesem, eigentlich naheliegenden Gesichtspunkt ist in den Quellen nie die Rede.

Der Daily Mail zufolge neigte die tschechische Polizei zu der Annahme, die 19jährige habe Angst vor dem bevorstehenden Prozeß gegen ihren Vater gehabt. Das wäre auch kaum verwunderlich gewesen – zumal dasselbe Blatt nur zwei Tage nach dem Unglück fast die Hälfte seiner Titelseite mit einem Foto, das Jessie über Schachfiguren lächelnd zeigt, und der Balkenüberschrift ausfüllt Chess Girl's Father Is Accused Of Raping Her.*** War sie so scheu, wie Baron sie hinstellt, muß das Ganze ja eine Marter für die junge Frau gewesen sein. Möglicherweise bereute sie ihre Anschuldigungen inzwischen auch wieder. Vielleicht schämte sie sich vor ihren Schwestern oder Freundinnen. Vielleicht fürchtete sie auch, ihr eigenes Liebesleben, falls es denn vorhanden war, könne zur Sprache kommen. In allen Quellen fällt zu diesen Gesichtspunkten nicht ein Wort. Man fragt auch nie, warum sie sich, mit acht Jahren, ausgerechnet für das so scharfsinnige wie unsinnliche Schachspiel erwärmt habe. Gutshofkind Göring hätte es vielleicht erklären können. Hätte sich Jessie erst mit 18 aufs Schachspielen geworfen, läge die Angelegenheit womöglich einfacher: »Da bildet sich eine mal wieder ein, sie könne ein Trümmerfeld in ein Schachbrett verwandeln …«

* »Abuse case chess girl Jessie Gilbert did kill herself, says mother«, Evening Standard, ursprünglich 27. September 2007: https://www.standard.co.uk/news/abuse-case-chess-girl-jessie-gilbert-did-kill-herself-says-mother-6626755.html
** Alexander Baron, », Who killed Jessie Gilbert?«, Digital Journal, 14. Dezember 2011: https://www.infotextmanuscripts.org/djetc/dj-who-killed-jessie-gilbert.html
*** (»Vater des Schachgirls beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben«), Printausgabe 28. Juli 2006, online https://www.dailymail.co.uk/news/article-398148/Chess-girls-father-accused-raping-her.html




Das ehemalige Fürstentum Schaumburg-Lippe erstreckte sich, zwischen der Weser und Hannover, von den Bückebergen im Süden bis zum Steinhuder Meer. Es war klein aber braun. Statt dies nun wenigstens anzudeuten, setzt uns Brockhaus über eine halbe Spalte hinweg die verwickelte, jedoch im Grunde unerhebliche Geschichte des Herrschaftsgebildes auseinander. Es lehnte sich schließlich (1866) an Preußen an, ehe es 1919 zum sogenannten Freistaat wurde. Die Herren und Damen, die darin das Sagen hatten, würdigt Brockhaus mit keinem Wort. Klee dagegen führt immerhin drei an, voran Friedrich Christian Prinz von Schaumburg-Lippe (1906–83), der sich ab 1943, also im »Dritten Reich«, auch SA-Standartenführer nennen durfte. Damit war er ungefähr einem Oberst vergleichbar. Außerdem war er zeitweise Goebbels Adjutant sowie Regierungsrat und Referent im Propagandaministerium, zuletzt freilich nur Panzergrenadier. Nach drei Jahren Internierung wand er sich als »Mitläufer« heraus und ernährte sich hinfort als Freier Schriftsteller, ohne seine Bräune je zu verleugnen. Das Fürstentum war ja mit dem Kriege verloren gegangen. Die ganze Adelssippe war übrigens mehr oder weniger mit dem Arolser Fürstenhaus verwandt, dessen Chef Josias zu Waldeck und Pyrmont, unter Hitler & Himmler Höherer SS- und Polizeiführer, in meinen laufenden Texten schon fast einen Stammplatz hat.

Eine echte Überraschung ist Ingeborg Alix von Schaumburg-Lippe (1901–96). Wie man sieht, wurde sie steinalt. Die Gattin eines Prinzen Stephan usw., unter Himmler hohe SS-Funktionärin, tat sich laut Klee nach dem Zweiten Weltkrieg als Stille Hilfe für NS-VerbrecherInnen hervor, wobei sie unter anderem mit dem schwäbischen Landesbischof Theophil Wurm zusammen arbeitete. Für den erwähnten Josias machte sie sich ebenfalls stark. Er war immerhin ihr Schwager. Die gute Ingeborg starb auf einem norddeutschen Gutshof, wurde dann jedoch standesgemäß in das Clan-Mausoleum des Schloßparks Bückeburg geschafft.

Die Kleinstadt Bückeburg war bis zuletzt Residenz des Fürstentums. Das imposante Schloß scheint nach wie vor dem Clan zu gehören. Schloßherr soll gegenwärtig ein Prinz Alexander sein. Schloß, Park und Mausoleum dürfen teilweise vom Volk besichtigt werden. Das »Erlebnisticket« (zweisprachig) pro Tag und erwachsene Person kostet 14 Euro 50, schließlich will der Clan auch leben. Ich nehme allerdings an, in die Archive des Fürstenhauses darf das Volk nicht schauen. Das ist angeblich noch nicht einmal dem Rechtsanwalt Alexander vom Hofe gestattet, der seit Jahren eine Lanze für einen Bruder des Prinzen Friedrich Christian bricht, Heinrich mit Namen, auch schon tot. Heinrich soll nämlich ausnahmsweise kein Freund des Faschismus gewesen sein. Näheres können Sie in meinem Nasen-Eintrag über Marie → Harder erfahren.



Der Flötist Gustav Scheck (1901–84) gibt Brockhaus schon wieder Gelegenheit, das sogenannte Mitläufertum zu verharmlosen. Scheck sei von 1934–45 Flötenlehrer an der Berliner Musikhochschule gewesen. Von 1946–64 habe er die von ihm mitgegründete Musikhochschule in Freiburg/Breisgau geleitet. Dann lobt das Lexikon noch den Einsatz Schecks für Barockmusik, die auf Originalinstrumenten zu Gehör gebracht wird. Mehr nicht.

Bei der Kölner Flötistin Claudia Haider kommt Scheck noch besser weg. Sie behauptet*, 1933 hätten Kollegen dem Soloflötisten an der Hamburger Staatsoper zuliebe dessen verweigerten Eid auf Hitler schließlich als Fälschung nach Berlin übermittelt. Ferner habe Scheck 1934 den dortigen Lehrauftrag (ab 1942 Professur) nur erhalten, weil ihn der Direktor der Hochschule trotz erneuter Eidverweigerung Schecks gedeckt habe. Und 1936 habe Goebbels die Aufführung einer Scheck gewidmeten Flötensonate untersagt, weil diese von Paul Hindemith stammte. Wie kam dann freilich Goebbels dazu, Scheck, laut Wikipedia, 1944 auf seine Gottbegnadetenliste zu setzen und so vor Kriegsdienst zu bewahren?

Mit dem Vorrücken der Roten Armee auf Berlin sei Scheck zunächst zu Verwandten am schweizer Ufer des Bodensees geflüchtet, erfahren wir außerdem von Haider. Die Hochschule im zertrümmerten Freiburg habe er am 2. Mai 1946 gegründet. Anfeindungen hatte es scheints nicht gegeben. Im Folgenden sollen Schecks Fittichen zahlreiche bald darauf namhafte Flötisten entsprungen sein. Im Ruhestand verfaßte er überdies ein Flötenbuch, das nach wie vor als Standardwerk gilt.

Nach diesen, zugegeben dürftigen Quellen (die vor allem das geistige, ideologische Herkommen des jungen Flötisten völlig aussparen) sollte man eigentlich annehmen, 1945 habe die von Deutschland heraufbeschworene Kriegsfurie Scheck vom Berliner Lehrstuhl gefegt. Das dementiert Fürsprecher Christoph Riedlberger, anscheinend gleichfalls Flötist und Musiklehrer, mit der kühnen oder frechen beiläufigen Festellung: »Scheck verweigerte mehrfach den Eid auf Hitler und verlor dadurch seine Professur.« Das sollten Sie sich also mehrfach hinter die Ohren schreiben.

* http://www.flutepage.de/deutsch/composer/person.php?id=437&PHPSESSID=03dbb7f30becd825f5cfdac30cf95361, Stand 2024
** https://www.nmz.de/nmz-verbaende/deutscher-tonkuenstlerverband/im-spiegel-hommage-gustav-scheck, neue musikzeitung, 1. August 2016




Der italienische Maler Bartolomeo Schedoni (1578–1615) beschloß sein kurzes Leben in herzöglichem Dienst in Parma. Wie, darf man Brockhaus nicht fragen. Von seiner Malweise her wird Schedoni häufig, vom starken Einfluß A. und L. Carraccis einmal abgesehen, in die Nähe Caravaggios gerückt. Wie es aussieht, waren sie auch beide Hitzköpfe und Streithammel. Schedoni saß mindestens einmal wegen Tätlichkeiten hinter Gittern. Selbst sein Ende gestaltete sich offenbar unsanft. Nach reichlich dunkler Mitteilung des Chronisten Giovanni Battista Spaccini soll der seit 1611 verheiratete Sohn eines Maskenmachers aus Modena 1615 nach einer Nacht mit hohen Glücksspielschulden ein Opfer seiner »Leidenschaft« geworden sein. Er war 37. Möglicherweise brachte er keinen Gläubiger, vielmehr sich selber um. Einzelheiten sind nirgends zu haben. Was Schedonis meist (schein-)heilige, in effektvolles kaltes Helldunkel getauchte Figuren angeht, wirken sie oft wie aus Porzellan geschaffen, also trotz ihrer meisterhaft erzielten Sinnlichkeit stark gefährdet. Deshalb ringen sie alle mit großen, durchweg opernreifen Gebärden um Erbarmen. Außerdem legitimieren sie die neue Weltreligion vom »Klimawandel«. Sie zeigen nämlich, wie kühl es damals noch in Italien war, sind doch beispielsweise die Jünger des Jesus beim Letzten Mahl* in Decken, ja beinahe in Theatervorhänge gehüllt – während ihre Füße nackt auf den Steinfliesen stehen …

* https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bartolomeo_Schedoni_Ultima_Cena_Parma.jpg



Bekanntlich gibt es Motorsensen und Kreissägen noch nicht besonders lange auf diesem Planeten. Das darf aber nicht zu dem Trugschluß verführen, die sogenannten Naturvölker hätten stets einen lieblichen Schlaf genossen. Nein, sie hatten Mücken. Nach der Theorie Friedrich W. J. Schellings schuf Gott diese Viecher, weil er von Hause aus auf Ausgleich bedacht war. Gibt es Glück, sagte sich der Allmächtige, muß es auch Pech geben, das ist nur gerecht. Ergo erfand er sie – vor allem übrigens die weiblichen, denn nur diese stechen. Hat man also das Pech, am späten Sommerabend trotz sorgfältig überprüfter Fensternetze und einer 110 Euro teuren Mückenschutztür vorm Einschlafen ein gewisses Sirren zu vernehmen, das einem schon fast den Atem lähmt, ist es gottgewollt. Oder es lag an dem Fehler, sich nicht wie ein steil aufgerichtetes Handtuch durch einen Spalt zwischen Mückenschutztür und Eingangstür ins Haus zu winden. Jetzt ist es also von ein bis drei Mücken besetzt, das Eigenheim. Gute Nacht.

Das Sirren, oft als »Summen« verniedlicht, kommt von ihrem Flügelschlag. WissenschaftlerInnen wollen heraus-gefunden haben, es diene den beiden Mückenge-schlechtern zur Verständigung, durch unterschiedliche Tonhöhen. Diese Schweinchen möchten sich nämlich aufeinander stürzen, zwecks Paarung. Sind sie jedoch allein, stürzen sie sich auch gern auf den Eigenheim-besitzer. Die Taktik zu durchschauen, von der sie sich dabei leiten lassen, ist allerdings eine Wissenschaft für sich. Wahrscheinlich gibt es gar keine. Mal stechen sie, ohne einen Mucks von sich zu geben; mal sirren sie, ohne zu stechen; mal hält man stundenlang vergeblich nach ihnen Ausschau. Gleichbleibend ist eigentlich nur ihre Vorliebe für Dunkelheit, denn dadurch fällt die Heimtücke gegen den Eigenheimbesitzer erheblich leichter. Sie orientieren sich am Geruch. Dazu bedarf es weder Licht noch Hitze, die von Mücken ohnehin gehaßt werden. Deshalb suchen sie manchmal – meist am Tage – zielstrebig schattige, kühle Verstecke auf, etwa in der Ritze zwischen Schrankrückwand und Schlafzimmertapete.

Leider ist die Gesetzmäßigkeit dieser Rückzüge kaum erforscht, sonst könnte man den Schrank kurzerhand einmal täglich behutsam abrücken, um sich dann wie ein Tiger in den Spalt zu hechten. Vielleicht hat sich die Rückzugsbedürftige einstweilen genug an Ihnen vollgesogen; vielleicht gelang es Ihnen, sie durch viele vergebliche Hiebe nach ihr einzuschüchtern – wir wissen es nicht. Jedenfalls scheint auch die weibliche Stechmücke ab und zu schlafen zu müssen. Das tut sie dann in der Ritze. Im Gegensatz zu Ihnen am Tage, denn nachts muß sie arbeiten.

Eine gewissen Hoffnung mag jedoch in ihrer im Vergleich zu Ihnen kürzeren Lebenserwartung liegen. Die weibliche Stechmücke macht es in der Regel nur wenige Tage bis mehrere Wochen. Vielleicht fällt sie also gerade bei Ihnen mitten im Schlaf entkräftet und mausetot von der Tapete hinter Ihrem Bücherschrank auf die Dielen. Nehmen Sie eine Taschenlampe, gehen Sie vor dem Schrank in Liegestütz und spähen Sie jeden Morgen erwartungsfroh unter ihn.
°
°