Donnerstag, 22. Februar 2024
Risse im Brockhaus 10

Wie ich Brockhaus entnehme, gibt es bei Colmar in den Vogesen die Ortschaft Drei Ähren (Les Trois Épis). Er empfiehlt sie als Sommerfrische und Wallfahrtsort. Ich muß aber zugeben, der ausgefallene Name genügt mir bereits. Er geht auf einen einheimischen Schmied zurück, der eben dort, am 3. Mai 1491, eine Marienerscheinung hatte. Die sogenannte Gottesmutter hätte in der Linken mit drei Gerstenähren gewunken, jedoch in der Rechten ein dickes Hagelkorn gewogen; fast hatte es der Schmied bereits an seinem Kopf verspürt: Platzwunde! Nun wurde an besagter Stelle in Windeseile eine Kapelle errichtet, in der man bis heute fleißig opfern und beten kann. Die Klerikalen hatten nämlich versichert, die Erscheinung besage nichts anderes als: je frömmer wir sind, desto üppiger fallen unsere Ernten aus, wird doch Maria sie im besten Fall vor allen Unbilden schützen.

Wie es aussieht, wurde um 1825 in Deutschland irgendwie falsch geopfert und gebetet. Damals stöhnte die Bevölkerung über Jahre hinweg unter landwirtschaftlicher »Überproduktion«, um Hans Motteks Fachbegriff (Wirtschaftsgeschichte Band II) zu übernehmen. Gebietsweise sei das Getreide »auf dem Halm verfault«, weil es keiner mehr kaufen wollte. Unterdessen dürften in so und sovielen anderen Winkeln Europas massenhaft Leute verhungert sein. Beispielsweise in Irland. Aber wer hätte das den Bauern beziehungsweise Junkern schon bezahlt, das überschüssige Getreide nun als Geschenk nach Irland zu schicken? Mottek hält die Angelegenheit nicht für eine Marienerscheinung, vielmehr für ein typisches Symptom des äußerst krisenanfälligen Kapitalismus, der sich damals gerade etablierte. Glauben Sie aber nicht, die Bevölkerung hätte vorgeschlagen, dieses verrückte Wirtschaftssystem lieber nicht zu etablieren. Sie folgte vielmehr den Mahnungen der Klerikalen und der diese allmählich ersetztenden »Wirtschaftsweisen«, entweder inbrünstiger zu opfern und zu beten oder aber das x-te Reformmodell des Kapitalismus auszuprobieren.

Um 1930 litten in Europa Millionen Erwerbslose an Hunger und Elend. In den USA jedoch wurden zur gleichen Zeit »Millionen von Tonnen Kaffee ins Meer versenkt, Weizen und Schweine verbrannt, Orangen mit Petroleum übergossen, um die Marktsituation zu erleichtern«, schreibt Arthur Kostler in seinen Erinnerungen. Das hätte seine Empörung zu einer bis dahin nie erreichten Weißglut gebracht und ihn in die Kommunistische Partei getrieben. Aber eben nur ihn und ein paar Handvoll andere. Später erfreuten uns die berüchtigten EWG-Butter- und Gurkenberge. Das Volk erduldete sie und fotografierte sie. Um ehrlich zu sein, begreife ich bis heute nicht, warum sich ein so groteskes wie grausames Wirtschaftssystem wie der Kapitalismus schon mehrere hundert Jahre halten konnte. Das kann ja nicht nur an den Pfarrern und Ökonomieprofessoren liegen. Wobei ich vorsichtshalber sagen muß, vor 1770 war auch nicht alles Gold, was glänzte. Liest man Sigmar Löfflers Waltershäuser Stadtgeschichte, kommt man aus dem Kopfschütteln kaum heraus. Im hiesigen (späteren) Amt Tenneberg gab es mindestens ab 1200 unablässig Händel aus Konkurrenzgründen. Die Bürger oder Bauern stritten sich untereinander; die Städter mit den Dörfern oder den Adelsnestern; der Burgvogt (Amtmann) mit dem Abt des Klosters Reinhardsbrunn, und so weiter. Es ging um Grenzen, Geld, Ehre. Man hatte eben schon Privateigentum, wenn auch der Landesfürst und die Bischöfe entschieden den Löwenanteil davon besaßen. Wie sich versteht, verschlangen diese unablässigen Händel Unmengen an Zeit, Geld und nicht zuletzt Nerven. Volkswirtschaftlich betrachtet, war das ganze ein einziges Verlustgeschäft.

Nun will ich keineswegs behaupten, ohne Kapitalismus und Privateigentum ließe sich jeder Streit vermeiden. Findet er aber in egalitär gestimmten Gesellschaften auf der Folie von Gemeineigentum und gemeinsamer, nicht durch Klassen und Interessengruppen zersplitterten Werte und Verfahrensweisen statt, ist er sowohl in der Heftigkeit wie im Umfang viel begrenzter. Das sagen mir meine Erfahrungen in anarchistischen Kommunen, außerdem etliche Bücher, die ich im Hinblick auf meine eigenen utopischen Erzählungen studiert habe. Dabei wurden gerade auch in den jüngsten Jahrzehnten, seit 1968, zahlreiche Regeln oder Instrumente erfunden, die bei der Konfliktlösung sehr dienlich sind. Das schließt auch »primitive«, schon vor Zeiten erprobte Mittel ein wie etwa das Im-Kreis-Sitzen aller Beteiligten oder die Beiziehung von unbefangenen Dritten, wenn es um die Schlichtung eines Streites geht. In den Kirchen lief und läuft das bekanntlich anders. Der Pfarrer steht auf der Kanzel und erzählt den in die Bankreihen gepferchten Schafen, warum es hin und wieder zu bedauerlichen Mißernten und Mißbräuchen kommt. Auch an Kindern. Weil wir zu sündhaft leben! Also mehr opfern und mehr beten.



Das Schicksal, einen Vater zu haben, ist ohnehin schon schlimm, aber der Erzeuger des dänischen sozialkritischen Autors Frederik Dreier (1827–53), ein Kopenhagener Hofgerichtsrat, war eine besonders harte Nuß. Dessen »Melancholie« steigerte sich im Laufe von Dreiers Kindheit zu religiösem und Verfolgungswahn, sodaß man ihn 1840 pensionieren, 1847 in die geschlossene Schleswiger Heilanstalt einliefern mußte. Zu diesem Zeitpunkt war Dreier junior um 20. Brockhaus übergeht beide Herren. Vielleicht hatte sich der Junior ja in erster Linie aufgrund der »Psychose« seines Erzeugers zu einem Medizinstudium entschlossen. Daneben legte er sich allerdings eine breitgestreute Bildung zu, durch die er imstande war, ein vergleichsweise umfangreiches philosophisch-politisches Werk zu schaffen. Auch dieses diente wahrscheinlich vordringlich als Bollwerk gegen die Gefahr, verrückt oder sonstwie krank zu werden. Es half nur begrenzt.

Dreiers Gedankenwelt war atheistisch, materialistisch, rational gegründet. Er zehrte vor allem von Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer, Max Stirner, Pierre Joseph Proudhon. Der bäuerlich-provinziellen dänischen Wirklichkeit war er mit seinen Vorstellungen weit voraus – und entsprechend stieß er bei Kollegen und Lesern auf Ablehnung, wenn nicht gar Nichtbeachtung. Nur der angesehene Kritiker Georg Brandes erkannte, Dreier sei ihnen allen »um Kopfeslänge« überlegen. Später wurde Dreier als »Dänemarks erster Sozialist« bezeichnet, wovon er selber freilich nichts mehr hatte. Nach einem Einsatz als Sanitäter im Bürgerkrieg 1848/49 bestand er im Frühjahr 1853 die ersten Zwischenprüfungen an der medizinischen Fakultät. Wenige Wochen später, im Mai, war der 25jährige designierte Arzt tot. Warum, scheint ungeklärt zu sein. Mehrere Quellen halten jedoch einen Selbstmord für wahrscheinlich. Dem Dansk Biografisk Leksikon zufolge* litt Dreier seit etlichen Jahren an einer »nie diagnostizierten« Krankheit, zuletzt wohl außerdem an Liebeskummer. Übrigens hatte er eine Zeitlang mit einer Geliebten, nämlich Ida Ekeroth, Tochter eines Goldschmiedes, zusammen gelebt. Mit ihr hatte er sogar mindestens ein Kind. Meine zahlreichen des Dänischen mächtigen LeserInnen verweise ich auf Svend Erik Stybes Buch Frederik Dreier von 1959, in dem womöglich Näheres steht.

Ein vermutlich im Todesjahr Dreiers entstandenes Gemälde von Carl Fiebig zeigt den jungen Denker zwar mit rötlichem Vollbart, jedoch zarten Gesichtszügen, allerdings auch mit einer leichten Hakennase. Brandes dürfte noch andere Gründe besessen haben, wenn er einmal von »dem einen wilden Vogel mit dem scharfen Schnabel« sprach. Laut Niels Finn Christiansen** hatte sich Dreier auch unmißverständlich und unter den gegebenen Umständen einzigartig gegen den überall wuchernden Nationalismus gewandt. Bekanntlich hatte dieser nicht zuletzt den erwähnten Bürgerkrieg befeuert, dänische gegen deutsche Fraktion. In Dreiers 1848 veröffentlichter Schrift Folkenes Fremtid (Die Zukunft der Völker) sei zu lesen: »Dem Vaterland zuliebe opfert der gute Bürger mit Freuden alles, selbst das Leben; z. B. wenn die Gefahr herrscht, daß ein Teil der Menschen nicht länger dem Vaterland angehören will, sein Land nicht mehr nach dem Namen des Vaterlandes nennen will, dann sollten sich lieber alle Bürger totschlagen lassen, als daß dem Vaterland solche Schmach widerfahre. Das sind sonderbare Grillen.«

Dreier hielt den »Patrioten« die allgemeinen, viel wichtigeren Werte entgegen, die alle Menschen, zumindest alle freiheitsliebenden und antiautoritär gestimmten, ungeachtet ihrer »Nationalität« teilen. Die Ideologie des »heiligen Wettbewerbs« als einzig möglicher Triebfeder menschlicher Tätigkeit zählte er ausdrücklich nicht dazu. »Wir kennen eine andere«, soll er im selben Jahr in einer Schrift über Volkserziehung versichert haben, »nämlich das Interesse an der Tätigkeit an sich, die Freude an der Arbeit.«

* Artikel von Oluf Bertolt und Vagn Dybdahl, Stand 11. August 2014: https://biografiskleksikon.lex.dk/Frederik_Dreier
** Niels Finn Christiansen, »Das kommunistische Gespenst – die dänische Linke und 1848«, in: NordeuropaForum 8 (Berlin), 1998:2, S. 49–63, online https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/8371/christiansen.pdf?sequence=1&isAllowed=y




Den Dreifuß kennt Brockhaus nur als mehr oder weniger antikes Kultgerät, nicht dagegen aus der Werkstatt des Schusters. Dem dient das ankerartig oder krakenhaft gestaltete, in der Regel ungefähr 2 ½ Kilo schwere Gerät aus Gußeisen vorwiegend als Amboß. Er kann den Schuh über die verschieden langen Füße oder Teller ziehen und mit einem Hammer nach Herzenslust auf das Leder oder die Nagelköpfe einschlagen. Die Sattler hatten gleichfalls oft einen Dreifuß, und selbst als Polsterer verschmähte ich ihn nicht. Ich nahm ihn freilich bald mit nach Hause, um ihn teils als Andenken, teils aus gymnastischen Gründen zu benutzen. In diesem Fall warf ich mir das Ding täglich für ein paar Minuten von einer Hand in die andere. Auf diese Weise wollte ich mir meine Sportlichkeit erhalten. Immerhin blieb auch mein Zimmerfußboden von Bombentrichtern verschont, wie ich mit Stolz versichern kann. Der Dreifuß fiel mir also nicht einmal herunter. Man sieht daran, die kräftigende Übung hatte auch einen akrobatischen Zug – in der Jugend wollte ich sowieso zeitweise zum Zirkus gehen. Inzwischen ist es mit meiner Sportlichkeit leider trotz Handwerk, Brennholzmachen und Gymnastik nicht mehr zum Besten bestellt. Ich würde den Dreifuß deshalb nicht mehr anrühren, auch wenn ich ihn nicht an ein Heimatmuseum verschenkt hätte. Die unaufhaltsame Zunahme der Gebrechlichkeit und Tolpatschigkeit im Alter ist wirklich Besorgnis erregend. Sogar winzige, vergleichsweise belanglose Haushalts-unfälle häufen sich. Man greift daneben, man greift in die Butter, man stößt etwas um. Kürzlich zog ich meine Tischdecke so ungünstig zurecht, daß meine stets auf einer Ecke postierte kleine Tischlampe auf den Teppich fiel. Der Glasschirm war dadurch zur Hälfte zertrümmert. Immerhin trat jedoch ein Gesetz in Aktion, das mich schon oft erstaunt hat. Nach ihm läßt sich nicht selten aus der Not eine Tugend machen. Die Lampe hatte mich stets geblendet und folglich geärgert. Nun umkleidete ich die noch stehenden Überreste des Glasschirms mit einem mattgrünen kräftigen Papier. Zugeschnitten und am Treffpunkt mit zwei Heftklammern verbunden, ergab sich so ein tütenhafter neuer Lampenschirm, der mir sofort helle Freude bereitete, weil er die Blendwirkung vernichtete. Überhitzungsgefahr besteht nicht. Und die ästhetische Einbuße kostet mich, im Gegensatz zu früher, nur noch ein Achselzucken. Im Sarg wird es noch deutlich unästhetischer.



Der Physiker Paul Drude (1863–1906) kann mich durch seine Verdienste auf elektromagnetischem und optischem Felde naturgemäß nicht sonderlich beeindrucken. Brockhaus erwähnt jedoch in Klammern: Selbstmord. Der Mann erschoß sich mit knapp 43 in Berlin, wo er Professor war. Warum erschoß er sich? Jede zweite Quelle spricht von einem Rätsel. Nur Friedrich Stier orakelt 1959 (NDB 4) von »einer plötzlichen Nervenüberreizung«.

Laut Gesine Wiemer* kümmerten sich Kollegen um die verlassene Familie. Das waren eine Gattin (Emilie Regelsberger, Tochter eines Göttinger Juristen) und vier Kinder. Man wisse freilich nicht viel über Drude. Eine Enkelin habe später erzählt, in der Verwandtschaft sei nicht über ihn gesprochen worden. Näheres dürfen wir gleichfalls berätseln. Wiemer führt aber immerhin Drudes Leiden unter der neuartigen Hektik an. Noch kurz vor seinem Tod habe er öffentlich eine Unrast in der wissenschaftlichen Forschung beklagt, »welche der beschaulichen Ruhe, mit der noch vor wenigen Jahrzehnten mancher Gelehrte seine Probleme […] ausreifen lassen konnte, diametral entgegensteht …«. Dabei habe gerade Drude »ein enormes Arbeitspensum« vorgelegt. Er hatte in Berlin zahlreiche Ämter und Projekte. Vielleicht fühlte er sich überlastet und überfordert. Seine Klage erinnert mich nebenbei an einen Seufzer des Philosophen Wilhelm Dilthey in einem Brief von 1892: Alles habe abgewirtschaftet; ein Glaube sei nicht mehr da, nur noch eine »furchtbare nervöse Unruhe«. Was Drude in Berlin oblag, nennt man heute Wissenschaftsmanagement.

Anne Hardy** umreißt Drudes Lage wie folgt. »Der Physiker hatte eine steile Karriere hinter sich, als er nur 42-jährig seinem Leben ein Ende setzte. Wenige Monate zuvor hatte er seine Stelle als Direktor des Physikalischen Instituts an der Universität Berlin angetreten, in den Fußstapfen von Hermann Helmholtz, August Kundt und Emil Warburg. In seiner eine Woche zuvor gehaltenen Antrittsrede anlässlich der Aufnahme in die Berliner Akademie der Wissenschaften hatte er noch über seine weitreichenden Zukunftspläne gesprochen, aber auch über das Gefühl der Beklemmung, die hohen Erwartungen mit angespannten Kräften nicht erfüllen zu können.« Seine glücklichste Zeit (schon mit Frau und Kindern) habe er vor dem Ruf nach Berlin als Professor in Gießen gehabt. Das muß ja damals eine vergleichweise beschauliche Stadt gewesen sein.

Ausgesprochen ärgerlich finde ich wieder einmal, daß offenbar niemand auf die Idee kam, die Nachwelt könnte sich einmal dafür interessieren, wie die Gattin die Angelegenheit beurteilt habe. Oder fiel das mit Absicht unter den Tisch? Vielleicht war die Gattin nur eine elektromagnetische, optische Spiegelung, eine sogenannte Fata Morgana gewesen, hatte also überhaupt nicht existiert? Im Fall des Gatten verhielt es sich jedenfalls genau umgekehrt: er weilte noch 2018 unter uns. Damals wurde er nämlich von der Fraktion der FDP brieflich als Gast in den Bundestag eingeladen. Als die B.Z. nachfragt***, wie sich das peinliche Versehen erkläre, kommt die Auskunft: »Die verwendeten Adressdaten wurden von einem Dialogmarketing-Unternehmen unter Wahrung des Datenschutzes zur Verfügung gestellt.« Schon der Geist dieser Auskunft könnte manchen in den Selbstmord treiben.

* https://www.fv-berlin.de/fileadmin/user_upload/verbundjournal/pdf/verbund095.pdf, Nr. 95 / September 2013, S. 24
** https://pro-physik.de/nachrichten/paul-drude-zum-150-geburtstag, 12. Juli 2013
*** https://www.bz-berlin.de/archiv-artikel/fdp-laedt-physiker-ein-der-ist-seit-112-jahren-tot-ist, 17. November 2018




Das Ende des »Vaters der französischen Geschichts-schreibung« André Duchesne (1584–1640) verrät uns Brockhaus lieber nicht; es könnte uns womöglich die Tränen in die Augen treiben. »Die Not vertrieb ihn aus Paris, und auf seinem Gütchen in der Champagne, wohin er sich flüchten mußte, starb er schließlich an einem Sturz von einem hochbeladenen Heuwagen.« Das ist natürlich eine packende Geschichte, vom Gesichtspunkt des Mitleids einmal abgesehen. Sie war rund 150 Jahre nach dem schrecklichen Ereignis bei Nicolas Chamfort zu lesen.* Ob sie allerdings der Wahrheit näher kam als etwa der Kardinal Richelieu einem an der Forke schwitzenden Bauernknecht, darf nach meinen Einblicken in leider überwiegend französischsprachige Quellen doch stark bezweifelt werden. Der Kardinal hatte den Geografen und Historiker in den königlichen Dienst gehievt. Welche Not Duchesne da gebeutelt haben soll, ist mir schleierhaft.

Freilich sind mir, wegen der Sprachlage, auch die Einzelheiten des schweren Straßenverkehrsunfalls, der ihn im Frühsommer 1640 am südlichen Stadtrand von Paris ereilte, etwas undurchsichtig geblieben. Wie es aussieht, ging der wahrscheinlich 56 Jahre alte und eher beleibte als abgemagerte Geistesarbeiter tatsächlich zu Fuß, wobei er auch noch eine Handkarre geschoben haben könnte. In meiner Phantasie war diese bestenfalls mit schmutziger Wäsche beladen, die Duchesne seiner Gattin beziehungsweise deren Mägden zu verehren gedachte, die im »Gütchen« auf ihn warteten. Dafür plante er sein Wägelchen dann für den Rückweg mit einem Berg von Schinken und einem Weinfäßchen zu füllen, die ihm das Quellenstudium und Bücherschreiben in seiner Stadtwohnung erleichtern würden. Duchesnes »Gütchen« lag im Städtchen Verrières, damit rund 15 Kilometer südwestlich der Pariser Innenstadt. Doch am verhängnisvollen Maitag kam Duchesne, bei Bourg-la-Reine, unter einen weiteren, ihm auch weit überlegenen Wagen. Ob eine Heufuhre und welche Fahrtrichtungen im Spiel waren, könnte ich nicht sagen. Jedenfalls wird der Fuhrmann (wurde er je belangt?) als tollkühn oder rücksichtslos geschildert. Der »Vater der französischen Geschichtsschreibung« stürzte und wurde wohl auch noch von einem Hinterrad des feindlichen Fuhrwerkes zermalmt. Laut französischer Wikipedia, die auch einige ältere Quellen angibt, erlag er bereits auf dem Krankentransport »nach Hause« den inneren Blutungen, die er sich durch diesen schamlosen Angriff des Dritten oder Vierten Standes zugezogen hatte.

* Nicolas Chamfort, Maximen, Ausgabe Ein Wald voller Diebe, Nördlingen 1987, Seite 121



Die Kragenweite des französischen Komponisten Paul Dukas (1865–1935), der mir vor Brockhaus noch nicht einmal namentlich bekannt war, kann ich unmöglich beurteilen. Das Lexikon erwähnt jedoch in den Fußnoten eine lediglich 6 Minuten lange »Villanelle (1906, für Horn und Klavier)«, wohl eine Art Ländler, wenn nicht Elegie. Jedenfalls interessierte mich dieses Stück – und nicht zu unrecht, wie ich mit Hilfe des Internets gesehen beziehungsweise gehört habe. Zwar kommt mir das Stück in melodischer und harmonischer Hinsicht eher brav vor; dennoch atmet es einen Liebreiz, der mich betört. Hinzu kommt vielleicht das ausgesprochen behutsame Spiel der beiden Musiker.* Jedenfalls ziehe ich dieses Werk zum Beispiel Franz Dopplers Flöten-Doppel-Konzert von 1854 vor, wo vor allem mit Virtuosität geglänzt wird. Dem Konzert im ganzen fehlt es entschieden an dem, was Fromme wahrscheinlich Seele nennen würden. Ich führe es nur an, weil ich es kürzlich aus einem ganz schnöden Grund (auf CD) wiedergehört habe: Brockhaus hat Doppler übergangen. Gut so.

Dukas, Professor in Paris, starb mit knapp 70. Sie sagen vielleicht, das geht ja noch, aber Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß er eine Tochter hatte, Adrienne. Als sie 38 war, saß sie am 25. März 1958 aus mir unbekannten Gründen in einer DC-7, die kurz nach dem Start in Miami, Florida, einen Triebwerksbrand erlitt**, deshalb umkehrte, jedoch in einen Sumpf fiel. Von den 24 Personen an Bord kamen 9 um, darunter Adrienne Dukas.

* Benjamin Goldscheider und James Baillieu 2022: https://www.youtube.com/watch?v=wbZYDqqf7Ss
** https://aviation-safety.net/database/record.php?id=19580325-1&lang=de




Zum »Studentenführer« Rudi Dutschke (1940–79) nennt Brockhaus keinen Attentäter. Tun wir es also selber. Als Dutschke 1979 an den Spätfolgen der drei Pistolen-schüsse starb, die Josef Bachmann am 11. April 1968 auf dem Westberliner Kurfürstendamm auf den nicht nur ihm verhaßten Revolutionär (»dreckiges Kommunisten-schwein«) abgegeben hatte, war auch Bachmann schon seit längerem tot. Er hatte sich 1970 mit 25 Jahren im Gefängnis umgebracht. Ich behandele ihn im folgenden sozusagen ersatzweise, weil Dutschke gar zu bekannt ist.

Was damals, 1968/70, hinter Bachmann gelegen hatte, sollte man nicht leichtfertig »ein verkorkstes Leben« nennen, solange man nicht weiß, wen man, Gott einmal ausgenommen, für alle die verkorksten Leben, die sich die Sterne schon mitansehen mußten, verantwortlich machen könnte. Wir wählen unsere Geburt so wenig wie unseren Willen. Als Kind oft krank, war Bachmann auch noch mit einem Stoffel als Vater geschlagen. Der schwächelnde sächselnde Bub wird gehänselt; nach der »Hilfsschule« kommen die »Hilfsarbeiten«; dann die Diebstähle und Vorstrafen, übrigens auch wegen unerlaubten Waffenbesitzes. Sowohl in der DDR wie im Ruhrgebiet hat er bereits als Halbwüchsiger offene Ohren für die Hetze aus faschistischer Ecke. Wobei zumindest für Linke felsenfest steht, auch die Springer-Presse habe gehörig dazu beigetragen, den blassen, schmächtigen, 1 Meter 60 kleinen Bachmann auf die Idee zu bringen, bei einem ehemaligen Peiner NPD-Mitglied Schießunterricht zu nehmen und am 10. April per Bahn von München nach Berlin zu fahren, um Dutschke, dem er noch nie begegnet ist, anderntags unweit des SDS-Büros aufzulauern. »Und man darf auch nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen«, so Bild am 7. Februar. Laut Gerhard Mauz* gab Bachmann am zweiten Verhandlungstag vor dem Moabiter Schwurgericht zu, unter den Blättern, aus denen er sein Wissen über Dutschke und überhaupt seine Informationen bezogen habe, hätte sich »die Bild-Zeitung vorneweg« befunden. Nach dem Attentat (und einem Feuergefecht mit der Polizei) im Krankenhaus aus der Narkose erwacht, hatte er folgerichtig vermutet: »Ich möchte mit Ihnen wetten, daß sich jetzt 70 Prozent der Bevölkerung im stillen die Hände reiben.« So dumm war der Hilfsschüler also nicht.

Was die Motive für Bachmanns Selbstmord angeht, liegen sie nach wie vor im Dunkeln. Ein Abschiedsbrief ist nicht bekannt. Einige mutmaßen, Bachmann sei niedergeschlagen gewesen, weil ihm Dutschke schon länger nicht mehr geschrieben hatte. Aber das ist ein verdammt heißes Eisen, für beide Seiten: das Opfer überlebt, kann jedoch nicht als Ersatzvater oder Busenfreund für den Täter genügen! Im übrigen lag dieser Selbstmord längst in der Luft. Schon in seinem ersten wohlwollenden Brief an Bachmann, am 7. Dezember 1968 in Mailand abgeschickt, hatte Dutschke den Häftling, nach einiger Agitation, abschließend gebeten, »mit den Selbstmordversuchen aufzuhören«, er werde noch gebraucht. Und Bachmann räumte in seinem zweiten, am 10. Januar 1969 verfaßten Brief an Dutschke ein: »Zurzeit geht es mir etwas besser als wie in den ersten Monaten, wo ich versucht habe, mit allen Mitteln aus dem Leben zu scheiden. Ich hoffe ja, daß ich alles durchstehen werde und für mich auch noch einmal die Sonne scheinen wird. Wenn nicht, bleibt mir noch immer Zeit, von dieser beschissenen Erde zu verschwinden.«**

Der Mordversuch hatte Bachmann, im Frühjahr 1969, sieben Jahre Haft eingebracht. Ein Jahr darauf, nach wiederholten Selbstmordversuchen, wenn auch, wegen der scharfen Bewachung, auf stets andere Weise (Erhängen mit Radiokabel, Halsschlagader mit Scherben des zerschlagenen Zellenfensters durchtrennen, Löffel oder Messer verschlucken) sühnte er seine drei Kopfschüsse auf Dutschke mit einer über den eigenen Kopf gestülpten Plastiktüte, in der er erstickte. Er hatte sie am Hals zugebunden. Schon die Vorstellung, auf diese Art zu sterben, ist alles andere als angenehm. Unter den Suizid-Arten soll sie selten sein. Vermutlich stand Bachmann in seiner gut durchsuchten Zelle keine andere Methode zur Verfügung. Prahlerei läßt sich darin jedenfalls nicht mehr sehen. Als Bachmann einmal in Frankreich mit verschlossenen Handschellen ins Meer gesprungen war, tat er es weniger, um seinen Kumpels zu imponieren, wie man zuweilen liest, vielmehr um dem Gefängnis zu entgehen. Das mißlang; ein Berufstaucher fischte ihn wieder heraus.

Wer nie Oberwasser verlor, das war der Mann, unter dessen Vorsitz Bachmann in Moabit verurteilt worden war. Das wurde damals von Brandts Tochter Heike enthüllt und hier und dort aufgegriffen, etwa durch Yaak Karsunke.*** Landgerichtsdirektor Heinz Brandt (56) war ein Regime früher Mitglied der NSDAP (Nummer 1436 536), Abteilungsleiter in der Reichsgruppe Junge Rechtswahrer und Kreisinspektor in Lebus an der Oder gewesen.

Der Presse-Fotograf Klaus Frings (32) und der Student Rüdiger Schreck (27) erlitten nach dem Attentat auf Dutschke bei einer Protestdemonstration in München im April 1968 tödliche Verletzungen. Durch wen, wurde nie aufgeklärt.****

* Gerhard Mauz, »Siebzig Prozent reiben sich die Hände«, Spiegel Nr. 11, 9. März 1969: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45849749.html
** Ausgerechnet laut Bild: »Diese Briefe schrieb Dutschke an seinen Attentäter«, 27. April 2010: https://www.bild.de/politik/2010/an-attentaeter-josef-bachmann-12348078.bild.html
*** Yaak Karsunke, Josef Bachmann / Sonny Liston, Rotbuch Berlin 1973
**** Ulrich Chaussy, »Keine Story«, taz, 11. April 1998: https://taz.de/!1349696/




In meiner schon weiter oben bemühten Kritik des verbreiteten falschen Mehrfachens von 2022 behaupte ich bekanntlich, korrektes Mehrfachen beträfe nur Gleichzeitiges, während Mehrmaliges nie gleichzeitig geschehe. Verkündet Brockhaus somit in Band 6, die Ruine der Klosterkirche in Eldena (Greifswald) sei »mehrfach von C. D. Friedrich dargestellt« worden, liegt er zum wiederholten (!) Male schief. Friedrich hat die Ruine keineswegs auf derselben Leinwand drei- oder fünfmal nebeneinandergestellt; er hat sie vielmehr im Laufe von Monaten oder Jahren mehrmals gemalt.

Im verlinkten Beitrag bemerke ich freilich auch vorsichtshalber, möglicherweise könne es Grenzfälle geben, die mir nur noch nie untergekommen seien. Vielleicht liegt jetzt, im selben Band 6, ein solcher Grenzfall vor? Die Wasserstraße East River im Stadtgebiet von NYC sei »mehrfach untertunnelt und überbrückt«, heißt es auf Seite 75. Wahrscheinlich ist daran nicht zu rütteln. Sicherlich wurden die vielen Tunnels und Brücken nicht alle auf einen Schlag gebaut; man hat den East River also im Laufe der Zeit mehrmals oder gar vielmals untertunnelt und überbrückt. Heute jedoch stellt sich die Wasserstraße als »mehrfach untertunnelt und überbrückt« dar, wie Brockhaus wohl richtig schreibt. Die Tunnels und Brücken sind heute alle gleichzeitig vorhanden – gerade so, wie sich mein nicht unbeträchtlicher Baumbestand bei einem Blick aus dem Fenster als mehrfach angeschlagen präsentiert. Das liegt an den jüngsten Stürmen. Ich hasse Stürme, und es ist ein Jammer, daß man sie wahrscheinlich nur mit der Brechstange der ruinierfreudigen sogenannten Ampel-Regierung in Berlin anlasten kann.

Lassen wir dem grammatischen gleich noch ein kleines eher stilistisches Problem folgen. Von der österreichischen Schriftstellerin Maria Freifrau von Ebner-Eschenbach, hauptsächlich Erzählerin, behauptet Brockhaus, sie habe auch »prägnante Aphorismen« verfaßt. Das ist für mein Empfinden eine mehrfarbig arbeitende Verkehrsampel, also eine Tautologie. Aphorismen sind immer »prägnant«, nämlich knapp, ausdrucksvoll, treffend, ausgeprägt, zugespitzt oder was das Deutsche sonst noch so hergibt. Andernfalls sind sie keine Aphorismen, vielmehr Geschwätz. Jule Renard schwärmt einmal (1896) in seinem Tagebuch von »jenen großen Männern, die wenig zu sagen hatten und das auch in wenigen Worten gesagt haben«. Heute würden ihn die Ampler- und GenderInnen steinigen, weil er die Freifrauen unterschlagen hat.



Mit zwei frühverstorbenen Bildenden Künstlerinnen aus der Schweiz hätte Brockhaus zumindest einen Bonus für Seltenheiten einheimsen können, sind doch beide bestenfalls Fachleuten bekannt. Was die westschweizer Porträt- und Stillebenmalerin aus der »Düsseldorfer Schule« Jenny Eckhardt (1816–50) angeht, dürften wir das biografische Material im wesentlichen einem ausführlichen Aufsatz aus der Feder des vielseitigen Gelehrten Louis Favre verdanken, den er im Sommer 1880 (auf französisch) für das von ihm mitgegründete Musée Neuchatelois verfaßte. Ich bekam ihn freundlicherweise vom benachbarten Musée des beaux-arts La Chaux-de-Fonds.

Favre, geboren 1822, hatte die Künstlerin noch persönlich kennengelernt. Das war 1846 gewesen, just in der Gebirgsstadt La Chaux-de-Fonds, Kanton Neuenburg, die schon fast in Frankreich liegt. Favre weist zurecht darauf hin, eine Malerin war damals noch Ausnahme, und wenn sie dann auch noch aus ärmlichen Verhältnissen stammte, konnte man nur staunen. Der junge Gelehrte sieht sich einer hochgewachsenen, dunkelhaarigen Dame gegenüber. Sie beeindruckt, »ohne sehr hübsch zu sein«, durch charmante Züge, Anmut, Vornehmheit – und Zweisprachigkeit. Dabei hatten die Briefe an ihre Schwester über Jahre hinweg nur so von Fehlern gewimmelt, weil sie bereits mit 14 zu einer Näherin in die Lehre gegeben worden war. Ihre Kindheit nennt Favre kurz und schmerzhaft »miserabel«. Mit 10 hatte sie ihre Mutter verloren. Nach dreijähriger Ausbildung fehlen ihr die Mittel für eine eigene Werkstatt. Aber seit sie im Haus einer Kundin von einem Gemälde Léopold Roberts gepackt worden ist, will sie sowieso Malerin werden. Pech, wenn La Chaux in dieser Hinsicht einer Wüste gleicht, von ihrer Armut einmal abgesehen. Mit 20 verdingt sie sich in Deutschland, zuletzt, um 1840, als Kindermädchen irgendeines Doktors im weit entfernten Königsberg.

Offenbar war der Mann ihr Glück. Er gestattet ihr, am Zeichenunterricht seiner Kinder teilzunehmen, und unterstützt dann sogar ihr Bestreben, in der Malerstadt Düsseldorf zu landen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Von Liebschaften oder entsprechenden Sehnsüchten der Jenny Eckhardt fällt bei Favre im ganzen Text kein Komma, falls mich die Fremdsprache nicht narrt. Und diese Beobachtung setzt einem Dritten von heute schon ziemlich zu. Selbst in der »Malerstadt« scheint das Komma nicht zu fallen. Dort hat Eckhardt ab 1842 Privatunterricht bei Carl Ferdinand Sohn (1805–67), seit 1838 Akademieprofessor. Ende 1845 »muß sie« heimkehren – vielleicht aus finanziellen, vielleicht aus libidinösen Gründen. Wir wissen es nicht. Die Schwester tritt der frischgebackenen Malerin ein Zimmer ab. Eckhardt verlegt sich zunächst auf kleine, sehr ähnliche Porträts, die guten Anklang finden. Man bedenke dazu, es gab noch keine Fotografie. Ohne Atelier, zieht Eckhardt von einem Kunden zum nächsten, wobei sie auch bewirtet wird. 1847 drängt es sie noch einmal nach Düsseldorf zurück; sie lernt viel, spürt aber auch schon Erschöpfung. Das Angebot einer Frau von Brandt in Stuttgart muß sie scheints ausschlagen; wahrscheinlich scheitert es an revolutionären Wirren. Die erleidet Eckhardt freilich kaum selbst. Wie Favre sie malt, geht ihr Politik völlig am Naturell vorbei, obwohl sie ja Elend und wohlhabende Kundschaft zur Genüge kennt. Sollte er richtig liegen, trennten sie beispielsweise von der Revolutionärin und Schriftstellerin Amalie Struve, die kurz nach dem gescheiterten badischen Aufstand vorübergehend in Genf wohnte, mehr als nur ein paar Höhenzüge.

Bald nach ihrer Rückkehr nach La Chaux im Sommer 1848 setzt, so Favre, eine nicht gut- oder nicht auskurierte Erkältung den Keim der Krankheit, an der sie zwei Jahre später, mit 34, sterben wird. Am ehsten steckte wohl das Tuberkulose-Bakterium dahinter, das sich ihren seit Kindheit angegriffenen Zustand zunutze machte. Zur Erkältung kommt das rauhe Gebirgsklima und das schwierige Naturell ihrer Schwester, wohl auch Ärger mit anderer Verwandtschaft, vielleicht der Vater. Von diesem erfährt man ebenfalls kein Wort. Bei der Tochter schlagen Kurkliniken nicht an. Sie hustet und friert viel. Kurz vor Weihnachten 1850 stirbt sie schließlich. Aber das geschah wohl kaum in einem Verschlag. In der Familie eines Hauptmann Vougas scheint Eckhardt zuletzt noch Fürsorge gefunden zu haben. Favre behauptet, sie klagte nie, sie langweilte sich nie. Sie sei religiös, einfach, bescheiden gewesen; entsprechend habe sie nicht ein Porträt hinterlassen, das sie selber zeigte. Was sie laut Favre verabscheute, waren Klatsch und Intrigen und ähnliche zeitraubende, sinnlose oder für andere schädliche Vergnügen. Eher als die Arbeit habe Trauer sie getötet. Ob sie »eine Große« geworden wäre, sei schwer zu ermessen. Jedenfalls habe sie wie kaum einer mit Eifer und Selbstlosigkeit der Kunst gedient. Naja … Diese »Selbstlosigkeit« hätten Camille Claudel oder Alberto Giacometti wahrscheinlich mit einem Augenzwinkern dargestellt.

Eine enge Nachfahrin in mancherlei Hinsicht dürfte Madeleine Woog gewesen sein, 1892–1929. Nach Angaben aus einem jüngeren Museums-Katalog* besuchte Woog die Kunstschule in La Chaux-de-Fonds. In Paris (ab 1911) lernt sie ihren späteren Gatten kennen (1920), den Maler Charles Humbert, mit dem sie auch noch Italien besuchen wird. Sie hat einige Ausstellungen. Sie hat auch Neigung zu Poesie, Musik und Tanz, wird jedoch um 1924 von Tuberkulose befallen, woran sie schließlich, nach langen Krankenhausaufenthalten, 36jährig in Zürich stirbt. Der Katalog zeigt ein beeindruckendes, eher dunkel gehaltenes Selbstporträt von 1926, Öl auf Leinwand.** Es wirkt beinahe belustigend, obwohl die breitbeinig sitzende Dame mit Hut und Mantel bereits dem Tod ins Auge zu blicken scheint. Eine derart gefaßte Trauer ist selten.

* Katalog der Sammlung des Musée des beaux-arts La Chaux-de-Fonds, Institut suisse pour l'étude de l'art, Lausanne 2007, S. 200–1
** https://de.wikipedia.org/wiki/Madeleine_Woog#/media/Datei:Madeleine_Woog_SIK-ISEA_94098.jpg




Von der Eder zählt Brockhaus getreulich alle Nebenflüsse auf. Sie war sozusagen die Hauptader meiner in Nord-hessen verbrachten Kindheit. Schriebe ich in Anlehnung an Günter Eich ein Gedicht mit dem Titel Eder, mein Fluß, wäre es kein Wunder. Als Dreikäsehoch wohnte ich mit meinen Eltern zur Miete auf einem Gutshof im Dorf Zennern nahe Fritzlar. Die Eder war kaum einen Steinwurf von der Gutseinfahrt entfernt; man hatte nur die Landstraße und die Bahngleise zu überwinden. Ja, Zennern hatte sogar einen eigenen Bahnhof. Und das nächste Wunder: die Bahnstrecke Bad Wildungen–Fritzlar–Wabern ist nach wie vor, seit 1884, in Betrieb. Man kommt selbst nach Kassel.

Was die Eder angeht, konnte sie bei Fritzlar sogar mit einer seichten Stelle glänzen – vielleicht die Furt, durch die 723 ein Benediktinermönch namens Bonifatius geschritten war, um die nahgelegene, den Heiden heilige Donar-Eiche umzulegen. Bekanntlich erregten seine kühnen Beilhiebe nicht den Zorn der heidnischen Götter: der Beweis für deren Nicht-Existenz. Nach diesem Muster konnten später gefahrlos ganze für die Christenheit einkassierte tropische Regenwälder beseitigt werden. Gottes Zorn blieb aus.

In dieser Eder-Seichte, die mit Kieseln wohlbefestigt war, pflegte mein Vater Rudi um 1955 hin und wieder seinen Opel P 4 / Lloyd Kombi / Mercedes 180 D zu waschen. Er fuhr die Wagen einfach hinein. Wir wohnten inzwischen in Gudensberg. Am dortigen Untermarkt hatte Rudi ein Rundfunk- und Fernsehgeschäft eröffnet, peinlich, peinlich. Da Schaumbäder damals noch nicht unabdingbar waren, könnten wir dem mit Schwamm, Bürste und Eimer (zum Übergießen) bewaffneten Rudi Verdienste um die Ökologie und das Wassersparen andichten. Zieht man davon die Hin- und Rückfahrt Gudensberg–Fritzlar–Gudensberg ab, rund 20 Kilometer, können wir nicht.

Auch der Umstand, daß ich in der Bonifatiusfurt an flache Flüsse gewöhnt wurde, schlägt nicht unbedingt positiv zu Buche. Seitdem habe ich nämlich Angst vor tiefen Flüssen. Beim Schwimmen in Gewässern a lá Edersee überkommt mich geradezu Grauen. Man sieht nichts und muß damit rechnen, jederzeit von Krokodilen oder Seeungeheuern erfaßt zu werden oder sich wenigstens in den Radspeichen-Storchennestern der überfluteten Dörfer zu verfangen. Aus diesem tieferen Grunde dürfte ich um 1965 den Leistungsschein für Rettungsschwimmer erworben haben. Wie ich mich dunkel erinnere, versicherten uns die AusbilderInnen, Ertrinkende gerieten gern in Panik. Sie boxen und klammern und setzen so das Leben ihres Retters aufs Spiel. Im Gegensatz zu Orwells zweiter Ehefrau Sonia Brownell blieb mir die Probe auf mein Rettungsgeschick bis heute erspart. Als Schülerin hatte sie den Sommer 1936 in einem schweizer Internat am Neuenburger See verbracht. Es gab eine Kahnpartie mit drei Jungs – und ein Unwetter. Das Boot kenterte, und zwei Jungs wurden gleich abgetrieben. Der dritte schlug wild um sich, sodaß ihn Sonia, eine recht gute Schwimmerin, »ducken« mußte, um nicht selber unterzugehen. Dabei ertrank auch er. Sie war die einzige Überlebende. Nach Michael Shelden machte ihr diese Hypothek zeitlebens zu schaffen.* Andererseits weist der Vorfall auf die Haare hin, die die hübsche Sonia auf ihren Zähnen hatte. Der schwerkranke Orwell heiratete sie vor allem als zukünftige sachkundige und verläßliche Betreuerin seines Werkes. Umgekehrt verschmähte sie vor allem nicht die damit verbundenen Einnahmen. Allein um die Tantiemen für 1984 zu heben, würde ich mich sogar ins Loch Ness stürzen.

Der Schwerkranke schrieb das weltberühmte Buch vorwiegend in seinem abgeschiedenen Gehöft Barnhill auf Jura. Diese große Insel liegt in Höhe Glasgows im Atlantik. Bis zum Strand hatte Orwell nur wenige Fußminuten. Mich jedoch zieht es nicht zum Meer. An so mancher Steilküste der Ostsee habe ich es toben gesehen und brüllen gehört. Wo es endet, ist gar nicht zu sehen. Gellende Möwenschreie, Quallen und Teerschollen, auf jedem Brecher eine Gipfelkonferenz, und man selber kriegt nur Salz und Sand ins Maul – da ist mir die Hörsel lieber. Das ist der Hauptfluß meiner jüngsten Wahlheimat in der Gegend Gotha–Eisenach. Die Hörsel ist noch flacher als die Eder. Sollte mir zu Lebzeiten noch einmal ein richtiger, heißer Sommer beschieden sein, werde ich wieder in sie waten. Ob das besonders gesund ist, steht auf einem anderen Blatt.

* Michael Shelden, George Orwell, 1991, hier Diogenes-Ausgabe Zürich 2000, S. 557/58



Möglicherweise hatte der Komponist Werner Egk (1901–83) einen Fan in der Brockhaus-Redaktion. Während seine Ämter (in zwei Regimen) lediglich aufgezählt werden, folgt ein vergleichsweise ausführlicher Umriß der Art seines Schaffens, gipfelnd in einer ellenlangen Fußnote mit seinen »Hauptwerken«. Dabei scheinen allerdings zufällig genau solche Arbeiten zu fehlen, die nun Ernst Klee wiederum für bezeichnend hält, etwa eine Vertonung von Kurt Eggers‘ NS-Festspiel Job, der Deutsche (1933), eine Olympische Festmusik (1936), eine Filmmusik zum HJ-Film Jungens (1941). Unter Hitler war Egk unter anderem als Dirigent der Berliner Staatsoper und leitend in der Reichsmusikkammer, unter Adenauer oder Erhard als Musikschuldirektor und leitend in dem bekannten Verwertungsschutzverband GEMA tätig. Das Scharnier stellte das übliche Nachkriegs-Spruchkammerverfahren dar, das Egk dank eines Stapels von Persilscheinen als »entlastet« überstand, wie ich einer Webseite von Angehörigen der Uni Detmold/Paderborn entnehme.* Seinen Lebensabend verbrachte Egk am Ammersee in Bayern, wo er auch (mit 82) starb. Er ist Ehrenbürger von München und Donauwörth. Der Name der Augsburger Werner-Egk-Grundschule (seit 1994) stand eine Zeitlang auf der Kippe, wurde aber 2019 vom dortigen Stadtrat gerettet. Jetzt zeigt man da wieder regelmäßig den fesselnden Film Jungens, nehme ich an.

* https://kollaborateure-involvierte-profiteure.uni-paderborn.de/index.php/Werner_Egk.html, Stand 2021



Falls der bayerische Jurist und Politiker Johann Ehard (1887–1980) musikalisch war, hätte er sich vermutlich ebenfalls für die Werner-Egk-Grundschule stark gemacht. 1933–45 sei er Senatspräsident am Münchener Ober-landesgericht gewesen, teilt Brockhaus mit. Dann stürzte er sich, für die CSU, in die bayerische Landespolitik und erklomm noch höhere Ämter, darunter Ministerpräsident. Von »Entnazizifierung« weiß Brockhaus nichts. Dafür versichert Karl-Ulrich Gelberg (2022 in der DB), Ehard habe gleich ab Kriegsende »den demokratischen und rechtsstaatlichen Wiederaufbau des Freistaats geprägt«. Klee hat den OLG-Zivilsenatsboß »Hans« Ehard anscheinend übersehen. Wikipedia bemerkt immerhin, 1941 habe Ehard zusätzlich auch den Vorsitz am Deutschen Ärztegerichtshof in München übernommen, »der die politische und rassistische Linientreue der Ärzte« zu überwachen hatte. Die Frage der »Entnazifizierung« spart die Mitmach-Enzyklopädie aber gleichfalls aus. Von der Internet-Suche her habe ich überhaupt den Verdacht, der führende Saubermann aus dem Freistaat Bayern sei bis zu seinem letzten Atemzug (mit knapp 93) wegen seiner einstigen faschistischen Umtriebe niemals auch nur flüchtig angepinkelt worden. Allerdings brachte der Spiegel vor rund 25 Jahren einen ausführlichen, beachtlichen, erschreckenden Überblick zur allgemeinen bundesdeutschen Verschonung faschistisch belasteter Justizbeamter. Darin* wird Ehard immerhin gestreift:

>Im Februar 1966, ein knappes Jahr nachdem der Bundesjustizminister den Justizapparat nazirein gemeldet hatte, erklärte der bayerische Justizminister Hans Ehard in einer Fragestunde des Landtags, es bestehe kein Anlaß, den Landgerichtsrat Otto Rathmayer strafrechtlich zu belangen oder ihm die Versetzung in den Ruhestand nahezulegen. Rathmayer hatte als Ankläger beim Volksgerichtshof an 52 Todesurteilen mitgewirkt, eine Überprüfung habe ergeben, daß kein Antrag »exzessiv« gewesen sei. / »Wohl keine Berufsgruppe ist aus der Nazi-Zeit mit derart gutem Gewissen hervorgegangen wie die Juristenschaft«, schreibt Jurist Müller in seiner Dokumentation. »Die Geschichte der Justiz im Dritten Reich beweist: Juristen sind zu allem fähig«, sagt der ehemalige Verfassungsrichter Martin Hirsch.<

Ich könnte mir denken, Ehard verfuhr damals weniger nach gesetzlichen oder moralischen Richtlinien; vielmehr sei ihm das bekannte Sprichwort eingefallen, eine Krähe hacke der anderen kein Auge aus.

* Henryk M. Broder, »>Knechte des Gesetzes< / Wie der Rechtsstaat seine Richter fand«, Spiegel 20/1999, online https://www.spiegel.de/politik/knechte-des-gesetzes-a-4e3d0ee4-0002-0001-0000-000013395427



Stellen Sie sich einmal die Katastrophe vor, es gäbe in unserer Gesellschaft keine Ehe! Die Verluste sind kaum aufzählbar. Die Arbeitsplätze, die in diesem Fall in zahlreichen Branchen fortfielen, also nicht nur bei Rechtsanwälten, Scheidungsrichtern und Eheberatungs-literaten, zögen wahrscheinlich schon fast ein Viertel unserer Volkswirtschaft ins Verderben. Der schwindende Ärger machte auch die Hälfte aller Seelenärzte und Beruhigungspillenfabrikanten arbeitslsos. Die nicht mehr austeilbaren Ohrfeigen an Kinder und Gatten erwähne ich nur am Rande. Am schlimmsten wäre Brockhaus in seinem Band 6 (1988) geschädigt, denn allein durch diese Katastrophe hätte der Band gut 10 Druckseiten eingebüßt.

Jetzt stellen Sie sich alternativ eine Gesellschaft aus meinen utopischen Erzählungen vor. Sie fußt weder auf Ehen noch Familien, vielmehr auf 70 bis 105 Köpfe umfassenden Grundorganisationen (GOs), die gerade so wie die Dörfer, Kleinstädte und die Republik im ganzen, neben persönlicher Habe, ausschließlich Gemeineigentum kennen. Wenn sich da ein Liebespaar streitet oder entzweit, zittert nicht ein Stein des Hofpflasters. Knut wechselt vielleicht zu einer GO drei Dörfer weiter: da ist der Hof ebenfalls gut gepflastert. Ein Feilschen um Geld ist unmöglich, weil das Geld abgeschafft worden ist. Wo die gemeinsamen Kinder bleiben, geht vor allem diese selber an. In so einer »Kommune« haben sie immer jede Menge Freunde und erwachsene »Bezugspersonen« – aber auch die GO drei Dörfer weiter hat dergleichen zu bieten. Es wird auch überall für alle gekocht, getröstet oder gescherzt. Sie glauben es nicht? Lesen Sie einmal jene Erzählungen, es kann Ihnen auch sonst nicht schaden.

Mir ist bei diesem Eintrag wieder etwas deutlicher geworden, worin ein Hauptübel der kapitalistischen, auch noch zunehmend aufgeblähten Demokratie liegt: in der Bürokratie. Sie regelt alles, bis alles totgeregelt ist. Dafür wirft sie Unmengen an volkswirtschaftlicher Potenzen zum Fenster heraus. Die persönliche Verantwortung und Erfindungskraft des einzelnen Bürgers wird so lange abgewürgt, bis der Bürger dem Draht gleicht, an dem die Marionetten schaukeln. Wie schwillt jedoch sein Stolz, wenn er wieder einmal alle Vorschriften erfüllt oder 50 Prozent der Vorschriften überlistet hat! Seine Computermaus könnte sich nicht besser fühlen als er.



Vielleicht ist ein Vergleich, ein Wettkampf zwischen zwei Schauspielerinnen gestattet. Ida Ehre (1900–89), geboren in Österreich-Ungarn, wirkte zuletzt in Berlin, bis 1933; dann habe sie bis 1945 Berufsverbot gehabt, schreibt Brockhaus, ohne Platz für eine Begründung zu verschwenden. Anschließend ging sie nach Hamburg, wo sie auch als Theaterleiterin Anerkennung fand. Dort habe sie unter anderem die Titelrolle in Brechts Mutter Courage verkörpert. Ehre war Tochter jüdischer Eltern. Mutter Bertha und eine Schwester Idas kamen nach Österreichs »Anschluß« (1938) im KZ um. Dagegen gelang es Ida Ehre in Berlin, mit Hilfe ihres Ehemanns Bernhard Heyde, eines Mediziners, als Arzthelferin zu überleben. Auswande-rungsversuche schlugen fehl. Eine KZ-Haft blieb vorübergehend*, anscheinend dank Fürsprache. Sie wurde noch 88.

Auch Lucie Englisch (1902–65) kam aus Österreich. Ab 1929, so Brockhaus, spielte sie, »meist in der Rolle der Naiven, in mehr als 120 Filmen, darunter Schwarzwald-mädel (1950), Gräfin Mariza (1958).« Damit endet der kurze Eintrag. Englisch war 1928 in Berlin eingetroffen. Kurz darauf verlegte sie sich von der Bühne auf den Film, offensichtlich gut beschäftigt. 1942 tauchte sie witzigerweise wie Kinderstar Arthur Fritz Eugens (siehe hier in Folge 4) in der Besetzungsliste des Knüllers Ein Zug fährt ab auf. Die Kinokassen sollen gejubelt haben. 1944 war Englisch auch in Goebbels‘ berüchtigte Gottbegnadetenliste aufgestiegen. Spätestens ab 1950 filmte sie wieder wie der Teufel. Schon mit 63 erlag sie jedoch (1965 in Erlangen) einer Lebererkrankung. Möglicherweise war sie also eine trinkfreudige sogenannte Mitläuferin gewesen. Laut Spiegel hatte sie auch wiederholt in auf Braun umgefärbten Märchenfilmen für Kinder mitgewirkt.** Die Frage, ob sie mal Ida Ehre über den Weg lief und dabei eine Ohrfeige einzustecken hatte, ist anscheinend noch nicht erforscht.

* https://www.hamburg.de/clp/zwangsarbeiterinnen-valvofrauen/clp1/hamburgde/onepage.php?BIOID=3460
** Ron Schlesinger, »Einmarsch ins Märchenreich«, 12. April 2010: https://www.spiegel.de/geschichte/ns-propaganda-a-948787.html




Verkündet Brockhaus, der leider schon seltene einheimische Nadelbaum Eibe zähle »neben den Eichen zu den ältesten Bäumen Deutschlands«, ist das ja wohl mindestens ungeschickt und mißverständlich ausgedrückt. Mancher wird nämlich glauben, die Eibe habe sich eben besonders früh, in Urzeiten, bei uns angesiedelt. Davon weiß ich allerdings nichts. Gemeint ist natürlich: Eiben werden vergleichsweise steinalt. 1.000 Jahre sind ein Pappenstiel. Ihr Holz ist ungewöhnlich hart und schwer. Was Wunder, wenn man sie im Mittelalter zu Armbrüsten verwurstete und heute kaum noch findet. Bei diesen Eigenschaften ist sicherlich auch ihr langsames Wachstum keine Überraschung. Man spricht von ein bis drei Zentimeter im Jahr. So ähneln sie oft einem (vielstämmigen) Strauch. Zu allem Unglück sind sie auch noch ziemlich giftig, den scharlachroten Mantel der kleinen Früchte ausgenommen. Überfräße sich die auf der benachbarten Koppel gefangene Trakehnerstute an den Nadeln der Eibe, die in guter Sichtweite vor meinen Fenstern zwischen verwilderten Obstbäumen steht, fiele sie tot um. Das Pferd, meine ich. Eine letzte bemerkenswerte Eigenschaft der Eiben, die Brockhaus sträflich vernachlässigt, führt eher zu Mitleid mit ihnen selbst. Sie sind äußerst schattenverträglich, wachsen in Wäldern zum Beispiel gern unter hohen Buchen. Was mich angeht, möchte ich mich über das Schattendasein, das meine Prosaarbeiten oder Lieder zu führen haben, lieber nicht verbreiten. Es wäre ja Selbstmitleid.



Der Ostberliner »klassische« Komponist Frank-Volker Eichhorn (1947–78), trotz seiner Jugend mehrmals preisgekrönt, soll mit 30 Jahren bei einem Autounfall in der Nähe von Schwerin umgekommen sein. Vermutlich wohnte er in Ostberlin, wo er bereits Musikhochschul-lehrer für Tonsatz war. Ob er auch für Brockhaus geeignet gewesen wäre, kann ich nicht sagen. Das Internet verrät über Eichhorn so gut wie nichts. Autounfälle von mehr oder weniger prominenten Mitbürgern wurden in der DDR sowieso grundsätzlich gern unter dem Deckel gehalten. Vielleicht wollte man die Verunglückten oder ihre Angehörigen nicht in Verlegenheit bringen, sofern noch andere Personen im Wagen gesessen hatten. Oder man wollte nicht Gefahr laufen, die noch unmotorisierten Volksgenossen vom Kauf beziehungsweise vom Warten abzuschrecken, hätte doch in diesem Fall der DDR-Ausstoß an Blechkisten, somit die Volkswirtschaft gelitten.

Fragen wir uns ersatzweise, warum der Mann ausgerechnet Eichhorn hieß. Ja, Mensch! Hätte man ihn vielleicht Wildsau oder Blindschleiche nennen sollen? Jedenfalls finde ich die Orientierung an der Natur durchaus in Ordnung. Schließlich sind wir ein Bestandteil von ihr, und zwar ein untergeordneter, um nicht zu sagen, ein geradezu unerheblicher. Das schmeckt natürlich nicht jedem, und so müssen sich Großstädte haarsträubende Namen wie Stalino oder Karl-Marx-Stadt gefallen lassen. Die letztere hieß vorher Chemnitz, und zwar nach dem gleichnamigen Fluß, an dem sie (in Sachsen) liegt. Jetzt heißt sie auch wieder Chemnitz, weil die »Wende« ja mit Subventionen verbunden war – in diesem Fall für das Straßenschildbürgerhandwerk und ganz allgemein für die Bürokratie.

Ich selber werde verständlicherweise hin und wieder gefragt, ob ich Pferdenarr sei oder mein Erzeuger Rennstallbetreiber gewesen wäre. Gott sei Dank nicht. Aber viel heikler ist das Problem unserer Vornamen. Soweit ich sehe, werden die Vornamen weltweit seit Urgedenken Säuglingen verliehen – und nun verraten Sie mir einmal, wie sich diese Würmchen gegen »Volker« oder »Esmeralda« wehren sollen! In einer bestimmten Erzählung von mir, die freien republikanischen Alltag schildert, läßt eine ursprünglich exotisch getaufte Republikanerin ihren Vornamen noch als Jugendliche auf dem Büro ihre GO ziemlich jäh in einen schnöden heimischen umändern, denn sie hat die Schnauze von ihrem ausgefallenen Taufnamen voll. Das läßt sich also in einer derartigen Republik völlig unbürokratisch machen. Wenn Sie die betreffende Textstelle finden und mir nennen, kriegen Sie unsere Platte Leon umsonst. Die KäuferInnen rennen mir sowieso nicht gerade die Tür ein.



Das ist natürlich schon ein ganz anderer Name als etwa Blindschleiche: der Anthropologe Egon Freiherr von Eickstedt (1892–1965), »ab 1933 Professor in Breslau und (ab 1946) in Mainz«, hat laut Brockhaus »maßgebliche Arbeiten v.a. zur Systematik der → Menschenrassen« vorgelegt. Bedeutend sei besonders sein dreibändiges Hauptwerk Die Forschung am Menschen (1937–63). Fertig. Da ahnt man allerdings nichts Gutes. Klee führt des Forschers Versicherung von 1940 dem Reichswirtschaftsminister gegenüber an, er habe wie sonst kein anderer Gelehrter in der Welt um eine biologische Weltanschauung und den Rassegedanken gerungen. Was Wunder, wenn er bei dieser Kragenweite, laut Klee, nach dem Krieg »Beratendes Ehrenmitglied« der UNESCO wurde. 2009 veröffentlichte Dirk Preuß eine Studie* über Von Eickstedt, die einen sowohl gründlichen wie kritischen Eindruck macht. Aus einem Fazit (auf Seite 331) führe ich folgende Sätze an:

>Die hier vorgenommenen Analysen geben m. E. dazu Anlass, v. Eickstedt als Opportunisten zu beschreiben, der versuchte, sich selbst und das Fach Anthropologie (so, wie er es verstand) unter den jeweiligen politischen, teilweise ideologischen Vorgaben und Rahmenbedingungen – sowie in Anpassung an diese – besonders effektiv zu positio-nieren. Er war zugunsten der eigenen Karriere bereit, seine Reputation in den Dienst politischer Interessen zu stellen, ohne größere Rücksicht darauf, welche Konsequenzen aus diesen Interessen staatlicher Institutionen für Dritte erwachsen konnten und erwuchsen. Wenn Gelder für die eigene Forschung rekrutiert werden konnten, ließ er sich nicht nur in der Weimarer Republik, im Nationalsozia-lismus und nach 1945 für die »kulturpolitischen Ziele« Deutschlands instrumentalisieren, sondern bot seine eigene Instrumentalisierung den politisch Verantwort-lichen auch aktiv an.<

Wenn Sie mich fragen, ist das allerdings eine Beschrei-bung, die inzwischen auf ungefähr drei bis vier Fünftel aller auf diesem Planeten wirkenden WissenschaftlerInnen zutrifft.

* Dirk Preuß, »Anthropologe und Forschungsreisender«, Herbert Utz Verlag (München) 2009, online (lückenhaft): https://www.utzverlag.de/assets/pdf/40872les.pdf



Konkurrenz für den Kunstschaffenden Eichhorn: Der zunächst hessische, dann römische Frühbarockmaler Adam Elsheimer (1578–1610) wuchs in Frankfurt/Main am Einhornplätzchen auf. Das Foto entstand um 1900. Auch in seinen Gemälden soll Elsheimer originell gewesen sein, weil er, wie Brockhaus mitteilt, »neue Lichtquellen« wie Feuerschein, Fackeln, Mondlicht »erschloß«. Er malte sogar Sternenhimmel. Dagegen liegt sein frühes Ende (mit 32) eher im Dunkeln – bei Brockhaus geradezu in der Pechschwärze. Der verheiratete Künstler neigte anscheinend zu Trübsinn und Geldnot. Den Rest soll ihm eine »Schuldhaft« in einem römischen Gefängnis gegeben haben. Laut englischer Wikipedia war sie allerdings nur »brief«, also kurz. Vielleicht schämte er sich vor seinen Bewunderern zu sehr, oder die Gemahlin machte ihm die Hölle heiß. Sie hieß Carla Antonia Stuart (ital.: Stuarda), »eine Frankfurterin schottischer Herkunft«, wie überall betont wird.

Das Internet erklärt mir ja vieles. Zum Beispiel gibt es, nahe Ffm, ein rheinhessisches Dorf Elsheim. Von dort stammten Adams Vorfahren. Und in Frankfurt selber verlief die Klostergasse, früher Predigergasse, vom Arnsburger Hof bis zur ehemaligen roten Badstube beim Einhornplätzchen. In dieser Gasse hätten eben viele Prediger gewohnt. Nur, was das Plätzchen mit Einhörnern zu schaffen hatte, erklärt mir das Internet nicht. Stattdessen bietet mir Antenne Bayern (2019) das »Rezept für zuckersüße Einhorn-Plätzchen« an. Im übrigen scheint jener kleine Platz in der östlichen Frankfurter Altstadt, nach den Einhörner, inzwischen ebenfalls ausgestorben zu sein. Die aktuellen Verzeichnisse und Karten führen ihn nicht. Elsheimers Geburtshaus wurde jedenfalls 1944 durch Bomben zerstört.
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