Mittwoch, 14. Februar 2024
Risse im Brockhaus 9

Während die einen ihre Rennpferde motorisierten, bliesen sich andere als BallonfahrerInnen auf. Der Ostseeanlieger Werner Delbrück (1868–1910) betrieb die Ballonfahrt wahrscheinlich nur als Hobby. Im Brockhaus stehen einige Delbrücks; Werner jedoch nicht. Sein Hobby kostete die deutsche Volkswirtschaft im Jahr 1910 drei Tote. Delbrück war von Hause aus Chemiker, ferner Reserveoffizier, zuletzt auch Reichstagsabgeordneter, vor allem jedoch Direktor eines weitläufigen und als »schick« geltenden, selbstverständlich kapitalistisch orientierten Badebe-triebes in Heringsdorf, Usedom, den er um 1900 von seinem Erzeuger Hugo übernommen hatte. Die tödliche Ballonfahrt des Sprößlings begann am 3. April 1910 in Stettin. Laut Fritz Spalink* war das Ziel Rügen. Man erreichte es auch fast. Neben Delbrück (41) als Kapitän befanden sich der Kaufmann Theodor Heyn, der Bankbeamte Johannes Semmelhack und Stadtbaurat Karl Bendhuhn im Korb des Ballons, falls Dieter Naumann** richtig liegt. Peinlicherweise verfing sich der auf Pommern getaufte Ballon schon kurz nach dem Aufstieg in Telegra-fendrähten und warf außerdem einen Fabrikschornstein um. Dabei wurden sowohl die Gondel und einige Taue wie die Insassen mehr oder weniger schwer verletzt. Es folgte freilich noch eine dreistündige »Horrorfahrt« des Ballons, wie der einzige Überlebende Semmelhack in einem Zeitungsinterview berichtet haben soll. Während stürmischer Wind den Ballon gen Rügen trieb, erwiesen sich Rettungsversuche seitens der verletzten Crew als vergeblich. Bei Sassnitz schlug der Ballon, wohl aus ungefähr 50 Meter Höhe, mit Gewalt auf die Ostsee. Nur Semmelhack habe sich trotz eines Beinbruchs vor dem Ertrinken bewahren und auf Pommerns Hülle retten können. Sassnitzer Fischer bargen ihn.

* Fritz Spalink, Heringsdorfer Geschichten, 2011, S. 46–50, online https://www.strandhotel-heringsdorf.de/files/public/pdf/Heringsdorfer_Geschichten_rund_um_das_Strandhotel.pdf
** Dieter Naumann, »Die Katastrophe des Ballons Pommern«, Das Blättchen, 29. Januar 2018, online https://das-blaettchen.de/2018/01/die-katastrophe-des-ballons-%E2%80%9Epommern%E2%80%9C-42892.html. Nebenbei dürfte die im Internet kursierende Angabe, Delbrück sei am 17. Juni 1910 gestorben, falsch sein. Schließlich würde das bedeuten, Delbrück habe noch 10 Wochen im Siechtum gelegen.




Sehe ich grammatische oder stilistische Unarten, die er eigentlich liebt, im Brockhaus hier und dort außer Kraft gesetzt, breche ich schon fast in Begeisterung aus. So teilt er vom griechischen Politiker Theodoros Delijannis (1826–1905) mit, er sei »wiederholt« Minister und »viermal« Ministerpräsident gewesen. Der betreffende Autor war demnach kein Anhänger jenes Mehrfachens, das ich bereits mehrmals gerügt habe. Mit dem sich unmittelbar anschließenden Eintrag über den Berufskollegen Epameinondas Delijeorjis (1829–79) wird mir die Begeisterung allerdings gleich wieder in den Hals gerammt. Der Mann war »mehrfach« Minister und Ministerpräsident. Vielleicht mußte hier krankheitshalber ein Gastautor einspringen. Oder der Lektor des Bandes 5 war jäh von dem Delirium befallen worden, das auf der nächsten Seite (220) behandelt wird.

Hier ist vielleicht auch ein Lobeswort über Stig Dagermann nachzutragen, von dem ich neulich das 1947 veröffent-lichte Buch mit Reportagen Deutscher Herbst streifte. Bezüglich der auf den Buchmärkten weltweit gehätschelten daß-Seuche ist dieser schmale Band eine seltene, wohltuende Ausnahme, und das bei so einem jungen Autor! Vielleicht liegt es am Schwedischen, da bin ich überfragt. Jedenfalls umschifft Dagermann die daß-Klippe in mindestens 7 von 10 Fällen. Ich greife willkürlich heraus: »Weil die Zustände in den Kellern waren, wie sie sind, ist es falsch zu sagen, die Wahlresultate deuteten auf einen politischen Instinkt des deutschen Volkes hin, aber richtig, die Angst sei offenbar größer als der Hunger.«
(S. 18)

In den 1960er Jahren gab es in Mitteleuropa leider keinen Lektor, der das prominente französische Krimiautoren-gespann Boileau/Narcejac daran gehindert hätte, ihre Studie Der Detektivroman auf den Markt zu werfen. Ich sage jedoch der Fairniß halber, hier und dort glänzt das Gespann erstaunlicherweise mit rühmlichen daß-Vermeidungen: »Häufig hat man den Eindruck, er suche die Selbstverbrennung, die Auflösung.« (S. 117) Nur verärgert es auch mindestes genauso oft durch entsprechende Häßlichkeiten: »Wenn man zugibt, daß zwischen der Lösung des Problems und der Affektivität des Lesers eine gewisse Übereinkunft besteht, erkennt man implizite an, daß der Detektivroman nicht durchaus ein Problem ist. Man anerkennt unausgesprochen, daß es zwischen Rätsel und Ermittlung eine Proportion, eine geheime Harmonie gibt und daß die Literatur, die man zu eliminieren suchte, sich in dem Detektivroman aufs neue einstellt.« (S. 100)

Mit diesem Zitat deuten sich gleich noch ein paar andere sprachliche Laster des Gespanns an, etwa die Vorliebe für einschüchternde Fremdworte sowie Schachtelsätze, die nur verwirren können. Aber die Klarheit haben sich diese Intelektuellen sowieso nicht auf die Druckfahnen geschrieben. Wahrscheinlich wüßten sie an vielen Stellen oft selber nicht zu sagen, was sie da eigentlich gerade gesagt hätten. Sie sind die leider typischen Feuilletonisten, denen das Klingeln mit Worten viel wichtiger als die Vermittlung ihrer aufklärerischen Anliegen ist. Sie sind Nebel- und Weihrauchwerfer, die E. G. Seeliger jede Wette Schöndünster genannt hätte. Entsprechend dürftig ist ihr denkerischer Ertrag, soweit ich das in dem Nebel und Weihrauch erkennen konnte. Lesen Sie das Buch selber einmal. Aber kaufen Sie es nicht. Stehlen Sie es in irgendeiner Öffentlichen Bibliothek; viele NutzerInnen der Einrichtung nach Ihnen werden Ihnen dankbar sein.



Beim »Charakterdarsteller« René Deltgen (1909–79), so Brockhaus zu ihm, könnte es mit dem eigenen Charakter etwas gehapert haben. Der in Luxemburg geborene Schauspieler und Hörspielsprecher wirkte zu Hitlers Zeiten vor allem auf Berliner Bühnen und in den dortigen UFA-Filmstudios. Meist gab er unwiderstehliche Liebhaber oder wenig zimperliche Glücksritter und Draufgänger – 1940 zum Beispiel im Soldaten-Epos Spähtrupp Hallgarten. Ein Jahr zuvor hatten ihn die Nazis zum »Staatsschauspieler« erhoben. 1944 hievten sie ihn in die berüchtigte Liste der »Gottbegnadeten«. Durch diesen Akt war man, da »unabkömmlich« im Kunstschaffen, günstigerweise vom Wehrmachts- und Arbeitsdienst freigestellt. Wikipedia behauptet, in Luxemburg hätten sich Deltgens Fans über von ihm signierte Plakate gewundert, die die heimischen Knaben in die Hitler-Jugend locken sollten. »Auch in den Nachkriegsjahren verziehen seine Landsleute ihm die Kollaboration mit den Deutschen nicht.« Er bekam, wegen »Landesverrats«, eine vergleichsweise lächerliche Haft- und Geldstrafe. Dann konnte er seine erfolgreiche Laufbahn auf der Leinwand und im Rundfunk fortsetzen. Unter anderem wirkte er in Edgar-Wallace-Filmen und Francis-Durbridge-Hörspielen mit. Er geriet aber nicht Mördern in die Finger, sondern, mit knapp 70, dem Krebs.



Im Eintrag der weltberühmten französischen Filmschau-spielerin Catherine Deneuve (* 1943) erwähnt Brockhaus sogar deren deutlich weniger berühmte, aber nur geringfügig ältere Schwester Françoise Dorléac. Deneuve hat inzwischen die 80 überschritten. Die Blätter stellen sie als unverwüstlich dar. Dorléac kennen Sie vielleicht am ehsten als Teresa aus Polanskis 1966 veröffentlichtem Film Wenn Katelbach kommt. Ein Jahr darauf war Dorléac 25. Älter wurde sie nicht, weil sie im Juni 1967 in einem gemieteten Renault 10 von Saint-Tropez zum Flughafen von Nizza jagte. An einer Autobahnabfahrt streifte ihr Wagen einen Masten, überschlug sich und fing Feuer. Sie verbrannte in dem Wrack. Viele Menschen verzehren sich nach Horrorfilmen, dabei haben sie den Schrecken doch Tag für Tag auf unseren Straßen. Aber keinem bürgerlichen Staatsanwalt fiele es auch nur im Traume ein, eine ganze weitläufige Autoindustrie sowie deren ordentlich gewählten Förderer unter Mordanklage zu stellen.



Im Gegensatz zu Brockhaus will ich die Schriftstellerin Juliane Déry (1864–99) erwähnen, obwohl sie vielleicht keine umwerfenden Werke geschaffen hat. Die Tochter eines deutsch-jüdischen Kaufmanns kam mit ungefähr 10 aus Ungarn nach Wien, wo ihre Eltern zum Katholizismus übertraten. Kurz darauf brachte sich ihr Vater allerdings um. Juliane konnte trotz häuslicher Armut Lehrerin werden. 1888 gab sie ihr literarisches Debüt mit einer Novelle. Nach einem mehrjährigen Paris-Aufenthalt, der sie mit vielen Prominenten zusammenbrachte, darunter Zola und Dreyfus**, machte die umtriebige Ungarin auch als Dramatikerin auf sich aufmerksam. Ihr Einakter Verlobung bei Pignerols kam 1893 im Coburger Hoftheater heraus. Bis 1898 in München lebend, war sie an der Gründung des Intimen Theaters beteiligt. Vom »Malerfürsten« Franz von Stuck wurde sie mehrmals porträtiert. Dann ging sie nach Berlin, wo sich offenbar Heiratspläne zerschlugen. Es kam hinzu, daß Déry bereits in Paris in die berühmte »Dreyfus-Affäre« verwickelt und der Spionage beschuldigt worden war. Man hatte den »jüdischen« Hauptmann Alfred Dreyfus wegen angeblichen Landesverrats (an »die Deutschen«) vor ein Militärgericht gestellt. 1899 hatte er gerade seinen zweiten Prozeß, in dem er noch immer nicht freigesprochen wurde. Das spielte womöglich bei Dérys Auflösung mit. Die 34jährige Schriftstellerin stürzte sich Ende März vom Balkon ihrer im dritten Stock gelegenen Berliner Wohnung.**

Als Dreyfus schließlich rehabilitiert und sogar zum Major befördert wurde, lag Déry schon sieben Jahre unter der Erde. Ein Dr. H. E.* soll sie ein »wildes, leidenschaftliches Geschöpf« genannt haben, »in ihrer Kunst sowohl wie in ihrem Leben und ihrer Liebe.« Mit diesem Temperament habe sie sich teils in romantischen Stimmungsgemälden verrannt, teils jedoch zu Bildern »voller Kraft, Ingrimm und Übermut« aufgeschwungen. Déry sei die einzige in deutscher Sprache schreibende Frau der Moderne gewesen, »die eine starke Empfindung für alles Psychologische hatte, sie war eine der ganz wenigen, die Eigenes, nicht Anempfundenes gaben.«

In einem erst unlängst erschienenen Aufsatz behauptet Agathe Schwarz**, Déry sei bereits am 10. Juli 1861 geboren worden, demnach erst mit 37 gestorben. Als Lehrerin sei sie wahrscheinlich nie tätig gewesen. Sie reiste viel und war überhaupt ein multikultureller Hans Dampf in allen Gassen. Die Mutmaßungen über Liebeskummer, genauer wegen der geplatzten Verlobung mit einem norwegischen Architekten, bestätigt Schwarz. Sie gibt jedoch zu bedenken, so ein Selbstmordmotiv sei eben »akzeptabler« als etwa die weibliche Unzufriedenheit mit der künstlerischen Laufbahn gewesen. Schwarz zeigt die anscheinend blonde gebürtige Ungarin als vielseitige, vielleicht auch zu überspannte, zerrissene Persönlichkeit, der es möglicherweise nicht mehr gelang, sich ausreichend zusammen zu halten.

* laut https://www.projekt-gutenberg.org/ewers/fuehrer/chap053.html. Wahrscheinlich handelt es sich um Hanns Heinz Ewers (1871–1943), im Sammelband Führer durch die moderne Literatur, Globus Verlag Berlin, o.J.
** Agathe Schwarz im Sammelband Transdifferenz und Trans-Kulturalität, transcript Verlag 2018, S. 227–42, online: file:///C:/Users/HR/Downloads/9783839432488-013.pdf




Unter Di (oder Ti) erwähnt Brockhaus eine Volksgruppe, die (um 700 v.Chr.) mit den Chinesen »wahrscheinlich rassisch und sprachlich verwandt« gewesen sei, sich jedoch »auf niedrigerem materiellen und politischen Kulturniveau« befunden habe. Das ist der übliche zivilisatorische Treppenblick, der den Planeten bald zugrunde gerichtet haben wird. Für den Treppenblick geht es stets von Nieder nach Höher. Auf der Fußmatte wird noch mit den Fingern gegessen; auf halber Höhe nimmt man schon Messer und Gabel; und viel weiter oben sitzt man in Flugzeugen und schlürft mit bunt geringelten Strohhalmen aus Plastik Coca-Cola.

Übrigens sind sich noch heute die wenigsten Erdbewoh-nerInnnen darüber im Klaren, daß es in der Natur sehr wahrscheinlich kein Unten und kein Oben gibt, solange ihr nicht der Mensch gegenüber tritt, und sei es, auf einem Esel reitend. Was hätte eine Flechte von der Einsicht, am Fuß einer Kiefer zu krauchen und hin und wieder einem Feuersalamander Durchschlupf gewähren zu müssen? Nur Verdruß. Genauso richtet der Feuersalamander seine Aufmerksamkeit nicht nach oben, weil er ehrgeizig oder unterwürfig wäre, sondern weil in der Kiefer ein bedrohlich funkelnder Schatten lauert, den wir Luchs nennen. Für uns gehören Katzen zu den Raubtieren. Und wenn wir Raubtiere für höher entwickelt halten als Lurche oder Kriechtiere, wird das durchaus mit ihrem Lebensraum zusammenhängen, der selbst höchste Bäume und die zwischen ihnen liegende Luft umfaßt. Warum die Vögel gemeinhin noch über sie gestellt werden, liegt auf der Hand. Sie werden als FliegerInnen bewundert, nicht als LiedermacherInnen.

Sie selber jedoch – die Pflanzen, Tiere, Wolken – verzichten darauf, sich dessen zu versichern, was wir ihre Stellung nennen. Darüber war sich selbst ein Charles Darwin im klaren, der doch so sehr unserer Sucht nach Stammbäumen entgegenkam. Es sei absurd davon zu reden, ein Tier stehe höher als ein anderes, bemerkte er nach Auskunft seiner Biografen Desmond/Moore.* Der Mensch betrachte diejenigen mit den entwickelsten geistigen Fähigkeiten als die Höchsten. Eine Biene dagegen würde zweifellos die Instinkte als Kriterium heranziehen und dem Menschen daher statt der Krone eher den Klumpfuß der Schöpfung verleihen. Freilich war solcher Relativismus keineswegs neu. Lichtenberg pochte bereits vor rund 250 Jahren darauf, wir beobachteten immer nur uns selber, wenn wir die Natur »und zumal unsere Ordnungen« beobachten. So stecke auch die Stufenleiter unter den Geschöpfen allein in uns.

Zu der Frage, wie wir zu ihr gekommen seien, äußert sich Lichtenberg, soweit ich sehe, allerdings nicht. Da er Physiker war, vermute ich jedoch, sie wurde uns von der Schwerkraft aufgebürdet, die ja stets senkrecht wirkt. Wenn wir uns erheben, zunächst aus den Kissen, dann vom Bettrand, haben wir die Erdanziehung zu überwinden. Schließlich reiben wir uns die Hände, weil nun auch unser Kopf klar ist, in dem doch irgendwie das Zentrum unserer mal verschwommenen, mal gefeilten Gedanken zu liegen scheint. Jetzt können wir ihn (und seine Nase) besonders hoch tragen. Ein Mensch steht in seinem Leben – falls es nicht vorzeitig abgebrochen wird – sicherlich dreißigtausend mal auf, und dabei erzielt er dreißigtausend Siege. Deshalb kann er nur von unten nach oben denken – und in Rängen: Teich, Flechte, Waldsaum, Adler, Weiße Riesen, Gott …

Weder die Pfarrer noch die Anthroposophen, die ich kenne, konnten mir je einleuchtend erklären, warum das Essen mit Messer und Gabel eigentlich achtungsgebie-tender als das Essen mit den Fingern sei. Das Argument mit der Hygiene ist doch mindestens so fadenscheinig wie eine Mund-Nasen-Maske gegen Grippeviren. Ja, sie waren überhaupt außerstande mir zu verraten, wo Gott eigentlich handsigniert aufgeschrieben habe, was des Menschen Bestimmung sei. Warum soll sich der Mensch nicht wie eine wohlig grunzende Sau im Schlamm wälzen, vielmehr adrett in Uniform gekleidet vor einem Bildschirm sitzen, um alle Leute, die Biden oder Baerbock im Fernsehen als Schurken bezeichnet haben, heimtückisch mit Drohnen kalt zu machen? Was für eine gegebene Gesellschaft gut und angebracht und vertretbar sei, ist allein eine Frage der Übereinkunft in eben der betreffenden Gesellschaft. Das einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann: je kleiner, nämlich überschaubarer die Gesellschaft ist, desto besser.

* Adrian Desmond + James Moore, Darwin, 1991, hier Rowohlt-Ausgabe Hamburg 1994, S. 266



Von Brockhaus zum »Dichter« erhoben, können wir an dem romantisch und patriotisch gestimmten brasilianischen Juristen Antônio Gonçalves Dias (1823–64) unmöglich achtlos vorübergehen. Er hatte sich schon bald nach seinem Studium in Portugal auf die Schriftstellerei geworfen und glänzte vor allem mit Lyrik und Dramen. Daneben beteiligte sich Dias auch an wissenschaftlichen Expeditionen in seinem Riesenland. Sie strengten ihn derart an, daß er 1862 zu einer (zweiten) ausgedehnten Europareise aufbrach, von der er sich unter anderem Erholung versprach. Nach einigen Quellen litt er an Tuberkulose. Bei der ersten Europareise hatte er übrigens auch Leipzig aufgesucht, wo er (1857) just mit Brockhaus eine Buchveröffentlichung vereinbart haben soll.* Im September 1864 trat der offenbar recht geschwächte Mann die Rückreise auf dem Schiff Ville de Boulogne an. Es sollte sein Verhängnis sein. Ziel war Maranhão, ein nordöstlicher brasilianischer Bundesstaat, aus dem Dias stammte. Am 3. November, die heimatliche Küste schon in Sicht, lief der Dampfer nördlich der Hauptstadt São Luís in der Bucht bei Guimarães in der Dunkelheit auf eine Sandbank. Alles stürzte an Deck – nur Dias nicht. Sämtliche Fahrgäste und Seeleute, heißt es, hätten sich an Land retten können, während der 41 Jahre alte Schriftsteller, in seiner Kabine schlafend oder gar schon im Sterben liegend*, mit dem Schiff untergegangen sei. Die portugiesische Wikipedia behauptet, die Besatzung habe ihn schlicht vergessen. Vielleicht hatte er ja auch Betäubungsmittel eingenommen, weil die Kur in Europa ein Schlag ins Wasser gewesen war. In São Luís scheint Dias, als Denkmalsfigur, auf einer mordslangen Säule zu stehen. Die hätte er bei dem Schiffbruch benötigt.

* https://www.academia.org.br/academicos/goncalves-dias/biografia



Den bekannten evangelischen Theologen und Berliner Bischof Otto Dibelius (1880–1967) gibt Brockhaus geradezu als Widerstandskämpfer, ja sogar als antiau-toritären Rebellen aus. Er habe »die Eigenständigkeit der Kirche dem national-sozialistischen und dem kommunistischen Herrschaftsanspruch gegenüber« vertreten. »Wegen seiner kritischen Stellungnahme zum Problem der ‚Obrigkeit‘ in totalitären Staaten heftig angegriffen, wurde ihm seit 1960 die Ausübung seiner bischöflichen Aufgaben im Ostteil seiner Diözese verwehrt.« Fertig. Vom Wirken Dibelius‘ unter Hitler haben wir lediglich erfahren: 1933 »aus politischen Gründen« als Generalsuperintendent der Kurmark amtsenthoben und »danach führend in der Bekennenden Kirche« tätig. In Wahrheit hatte Dibelius den Machtwechsel ausdrücklich begrüßt. In der Potsdamer Nikoleikirche hatte er am 21. März 1933 zum Wohlgefallen Hermann Görings gepredigt. Er hatte nie verhehlt, das Judentum und die Sozialdemokratie zu verabscheuen. Wenn die Nazis gleichwohl die Kirche und damit auch Dibelius‘ hohes Amt einkassierten (Entlassung im September 1933), war es natürlich ärgerlich für ihn. Ein Anbiederungsversuch hatte die neuen braunen Kirchenchefs nicht erweicht. Zur Mitarbeit in der Bekennenden Kirche rang sich Dibelius meines Wissens erst im nächsten Sommer durch. Ab 1937 soll er mehrmals Haft erlitten haben. Gegen die Judenverfolgung predigte er nie, obwohl ihm gewisse Vorgänge in gewissen KZs, laut verschiedenen Quellen, keineswegs unbekannt waren. Dem Staat mußte gehorcht werden, wie es schon Luther wollte. Nach dem Krieg erfreute sich Dibelius einer einzigartigen Ämter- und Machtfülle. Er stieg bis zum »Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland« auf. Der Theologe Thomas Klatt nennt ihn 2017 schon in der Überschrift seines Porträts* den »erfolgreichen Opportunisten«. Mit der Obrigkeit seines Parteifreundes Konrad Adenauer, Militär eingeschlossen, hatte Dibelius nie Probleme. Der Berliner Historiker und TU-Professor Manfred Gailus habe ihn deshalb als echten »Kalte-Kriegs-Bischof« bezeichnet. So also muß man die verklausulierte Schlußbemerkung des Brockhaus-Eintrages verstehen.

* Thomas Klatt, »Der erfolgreiche Opportunist: Otto Dibelius«, 15. Mai 2017: https://www.evangelisch.de/inhalte/142177/15-05-2017/ekd-ratsvorsitzender-otto-dibelius-antisemit-predigt-zu-hitlers-machtergreifung-vor-dem-bundestag



Die 16 Marianen-Inseln im westlichen Pazifischen Ozean wurden nach ihrer »Entdeckung« zunächst von den Spaniern einkassiert; später gingen sie an Deutschland und Japan, zuletzt (1947) an die USA. Der bekannte Seefahrer und Schurke Ferdinand Magellan hatte sie (1521) ursprünglich Diebsinseln genannt, sodaß sie, als solche, auch noch einen Verweis in Brockhaus Band 5 haben. Angeblich hatten die InsulanerInnen nämlich sofort ein paar verlockende Dinge mitgehen lassen, als sie von den weißen Besuchern an Bord gebeten worden waren. Sogar ein ganzes Beiboot sollen sie dem armen Magellan gestohlen haben. Das ist natürlich ein dickes Ding – mit den gut 1.000 Quadratkilometern Landfläche verglichen, die sich die Kolonial- beziehungsweise Schutzmächte in dieser Pazifikgegend unter den Nagel reißen sollten.

Die BewohnerInnen der Inseln, vor der »Entdeckung« und der etwas gewaltsamen Bekehrung zum Christentum vielleicht 100.000, waren den Imperialisten weniger wichtig als das Land. Nach dem langwierigen Krieg gegen die spanischen Eroberer gab es nur noch rund 5.000 von ihnen. Später sorgten auch eingeschleppte Krankheiten und zwei fette Weltkriege für Verheerungen. Noch heute glichen die Inseln einem »militärischen Trümmerfeld«, heißt es (2023) auf der deutschen Webseite von Amnesty International.

Die südlichste Insel der Marianen, Guam, beherbergt einen wichtigen Luftwaffenstützpunkt unserer nordamerikanischen Freunde. Sobald Sahra Wagenknecht ins Bundeskanzleramt eingezogen ist, wird sie Washington bitten, das hiesige US-Drohnen-Steuerzentrum in Ramstein (bei Kaiserslautern) ebenfalls nach Guam zu verlegen, weil sie in dem dann verwaisten, wenn auch immer noch eingezäunten Gelände ein Biotop für seltene, vom Aussterben bedrohte Lurche, darunter verstockte Randfiguren wie mich, anzulegen gedenkt. Das hat mir ein Maulwurf verraten, den ich im Autorenkreis der NachDenkSeiten habe, die neuerding schon wie die Besessenen für Wagenknecht und ihre angeblichen riesigen Umfragwerte trommeln.



Dazu paßt der Physiker und Hochfrequenztechniker Max Dieckmann (1882–1960). Laut Brockhaus war er von 1936–47 Professor in München, »seit 1937 auch Leiter des Flugfunk-Forschungsinstituts Oberpfaffenhofen. D. leistete Pionierarbeit auf dem Gebiet des Flugfunks, der Funknavigation, Funkpeilung und Flugsicherung sowie zum Bildfunk.« Ende des Funkspruchs. Wikipedia wird etwas deutlicher. Die ganze Forscherei geschah in Zusammenarbeit mit der Reichswehr, Subventionen eingeschlossen. 1947 sei Dieckmann in die USA zum Wright-Patterson Airfield in Ohio gegangen, aber bereits nach einem Jahr aus gesundheitlichen Gründen zurückgekehrt. Das ist nicht gerade sehr informativ. Dafür SZ-Autorin Carina Seeburg 2020: »Auf die außergewöhnliche Forschungsarbeit, die von 1933 an stark von den Nationalsozialisten subventioniert worden war, wurden auch die Amerikaner aufmerksam. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Dieckmann auf Befehl der Militärregierung als Professor der TU München suspendiert und bei der Entnazifizierung als Mitläufer eingestuft. Seine Arbeit als Wissenschaftler setzte er 1947 in Dayton in den USA fort, kehrte jedoch nach einem Schlaganfall schon zwei Jahre später nach Gräfelfing zurück.« Das ist freilich die einzige Stelle in Seeburgs Gedenkartikel, die den Faschismus zumindest anflugweise berührt. Die Schlächtereien um die Weltherrschaft ab 1939 übergeht Seeburg vollends.*

Merkwürdigerweise soll »Mitläufer« Dieckmann erst 1958 emeritiert worden, also in den offiziellen Ruhestand gegangen sein.** Das genannte Airfield ist übrigens ebenfalls ein Luftwaffenstützpunkt, wie Guam. Derzeit sind dort rund 20.000 Leute beschäftigt, da wäre Dieckmann womöglich gar nicht sonderlich aufgefallen. In Gräfelfing bei München gibt es den Prof.-Max-Dieckmann-Platz. 2016 wurde dieser durch einen neuen Spielplatz aufgewertet. Ob die Plagen da mit Zwillen oder Sturmgewehren schießen, läßt sich dem Internet nicht entnehmen. Gräfelfings Bürgermeisterin war damals Uta Wüst.

* Carina Seeburg: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/graefelfing-fernsehen-aus-der-holzbude-1.4980300, 27. Juli 2020
** https://www.dlr.de/hr/desktopdefault.aspx/tabid-2312/3439_read-5481/Max




Soweit ich sehe, tragen in Deutschland nach wie vor zahlreiche Schulen, Stadien, Straßen seinen Namen. Bis zu seinem Tod war der »Sportwissenschaftler« Carl Diem (1882–1962) Rektor der von ihm 1947 gegründeten Sporthochschule Köln. Frühere Verdienste? Brockhaus deutet sie so schonend wie möglich an, wenn er lediglich schreibt: »Als Generalsekretär des Organisationskomitees der Olympischen Spiele 1936 führte er u.a. den olympischen Fackellauf ein. 1938–45 war er Leiter des Internationalen Olympischen Instituts in Berlin.« Im folgenden werden Diems beträchtliche Nachkriegsämter, seine Hauptwerke und ein von H. Langenfeld 1986 herausgegebenes Buch über ihn angeführt, das den beruhigenden Titel Carl Diem im Spannungsfeld von Sport und Politik trägt. Der kurze Eintrag gibt Diem so arglos, wie er auf einem beigefügten Foto lächelt.

In Wkipedia wird Langenfelds Sammelband nicht erwähnt. Dafür beispielsweise: Achim Laude, Wolfgang Bausch: Der Sportführer. Die Legende um Carl Diem, Göttingen 2000. Wie diesem Online-Eintrag unter anderem zu entnehmen ist, war Diem seit 1939 Leiter der Auslandsabteilung des Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen (NSRL), glühender Beobachter der Wehrmachtsiege in Frankreich und anderswo und Ermutiger der Hitlerjugend. Noch am 18. März 1945 habe er diese auf dem Berliner Olympiagelände in einer Ansprache zum »finalen Opfergang für den Führer« aufgerufen. Das steht auch bei Klee, der sogar die Umbenennung einer nach Diem getauften DLV-Auszeich-nung deswegen erwähnt. Dafür Bundesverdienstkreuz 1953. Selbstverständlich gäbe allein Diems führende Rolle bei der Berliner Olympiade von 1936 Veranlassung genug, aus den Städtebildern die Diem-Straßen zu streichen. Nebenbei halte ich die Sache mit dem olympischen Fackellauf mindestens für grotesk, eher für obszön.

Angesichts der Verkürzungen um der Schonung brauner Schurken willen drängt sich mir noch ein Seufzer auf. Bekanntlich zählt das Weglassen (oder: die gezielte Auswahl) zu den bliebtesten Methoden der Fälscher, Lügenbolde und SchriftstellerInnen aus aller Herren Länder, da es leicht durchzuführen, aber schwer zu überführen ist. Schließlich hat man nicht »direkt« gelogen und weiß überdies 20 entschuldigende Gründe für die gezielte Auswahl anzuführen, und sei es nur »ein Versehen«. Beim gedruckten Brockhaus mag man auch gern die berüchtigte Platznot ins Feld führen – eine bequeme, wenn auch oft fadenscheinige Ausrede. Jedenfalls können Online-Publikationen kaum noch nach dieser Ausrede greifen, weil ihr Schreib- und Speicherplatz geradezu unerschöpflich zu sein scheint. Hierin liegt ohne Zweifel ein Vorteil der ungefähr fünf Vorteile der Digitalisierung – denen ungefähr 500 Nachteile gegenüberstehen, falls man einmal auf quantitativer Ebene bleibt. Letztlich kommt es natürlich auf das schwer meßbare Wesen einer Einrichtung oder eines Charakterzuges an. Das von Brockhaus könnte ein Mensch, der ihn schonen wollte, vielleicht als wankelmütig bezeichnen, also nicht etwa als feige.



Der Medizinhistoriker und Frauenarzt Paul Diepgen (1878–1966) sei von 1930–47 Professor in Berlin, anschließend [bis zu seinem Tod 1966!] in Mainz gewesen, räumt Brockhaus sozusagen ein. Diese Zeitspanne ist schon beachtlich. Brockhaus beschließt seine 5 ½ Zeilen damit, Diepgens Hauptarbeitsgebiete aufzuzählen. Es wäre dem Universallexikon nicht im Traum eingefallen, Diepgen als »führenden Medizinhistoriker der NS-Zeit« zu würdigen. Das macht Klee, wohl mit einem Wort vom Nazi-Gesundheitsapostel Karl Brandt, zu dessen »Beirat« auch Diepgen zählte. Er sei aber nie Parteimitglied gewesen. Bundesdeutsche Ämter (neben dem Lehrstuhl) folgten. An der Universität in Madrid war Diepgen Ehrendoktor. Seinem Enkel Eberhard versicherte er beizeiten, in Westberlin könnten aufgeweckte Jungs sogar Regierender Bürgermeister werden. Das trat 1984 ein.



Der Klassische Philologe Hans Diller (1905–77) war sogar Parteimitglied, was uns allerdings nicht Brockhaus verrät. Er sei 1937 Professor in Rostock, 1942 in Kiel geworden. Den Lehrstuhl in Kiel konnte er günstigerweise bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1973 halten. Klee führt dazu eine Erklärung des Historikers Geoffrey J. Giles von der University of Florida an, gegeben in einem Sammelband über Akademische Karrieren unter Hitler, Berlin 1993: »Im Laufe der Entnazifizierungsverhöre leugnete Diller seine Parteimitgliedschaft und wurde infolgedessen wieder auf seinen Posten gesetzt.«

Hier war man also nachsichtig. Als Kontrast fällt mir dazu der Leidensweg des Hermann Auspitz ein, den Günther Schwarberg in seinen Erinnerungen streift.* Der Berliner Jude war Handlungsreisender, folglich alles andere als ein Akademiker gewesen. So hatte er in seiner Einfalt um Aufnahme in die NSDAP ersucht, von der er sich ein Ende seines Elends versprach. Nach wenigen Monaten wird er »enttarnt«, wieder hinausgeworfen und außerdem von der braunen Polizei aus Deutschland verbannt. Nun ist der nur 1 Meter 62 große Mann staatenloser Flüchtling. Er wird europaweit mehrmals eingesperrt und wieder abgeschoben, dabei in einem fort erniedrigt und krankgequält. Schließlich ist er nur ein kleiner Jude. Zur Krönung wird sein Antrag auf Unterstützung beim Berliner Entschädigungsamt nach Kriegsende mit der bösartigen Begründung abgeschmettert, durch jenen Aufnahmeantrag – den er auch noch verschwiegen haben soll – habe er sich nachweislich »zu den verbrecherischen Zielen der NSDAP bekannt und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Vorschub geleistet« … Dazu merkte ich bereits andernorts an: Im Falle von angeklagten aktiven Nazis wurde bekanntlich genau umgekehrt befunden, aus ihrer Unterwerfung unter geltendes Unrecht dürfe ihnen kein Strick gedreht werden; gemäß ihrer nationalsozialistischen Gesinnung sei ihnen das Unrecht auch gar nicht als solches einsehbar gewesen. Dergleichen Einsicht wurde erst wieder ab 1989 verschiedenen Repräsentanten des finsteren »Unrechtsstaates« DDR abverlangt. Ekelhaft.

Auspitz wurde später gerichtlich mit einem dürftigen »Härteausgleich« abgespeist – dies aber nur, weil er sich die Erklärung abnötigen ließ, er werde zukünftig auf alle Entschädigungsansprüche verzichten. Demnach kommt es immer darauf an, wie stark oder schwach der Beschuldigte beziehungsweise Rechtsuchende und wie gut oder schlecht gelaunt der Richter beziehungsweise Behördenchef ist. Damit befinden wir uns auf dem Minenfeld der leider noch zu wenig bekannten Doppelmoral, auf die ich in Kürze zurückkomme.

* Günther Schwarberg, Das vergess ich nie, Göttingen 2007, S. 304–6



Dinant ist eine wallonische Stadt an der unteren Maas, zu Brockhaus‘ Zeiten 12.000 EinwohnerInnen. Für ihn scheint sie vor allem als Handelsplatz und Teil eines Bistums bemerkenswert zu sein. Wahrscheinlich grämt er sich noch heute, daß sie nicht auch Bischofssitz war. Der lag in Lüttich. Immerhin bringt Brockhaus ein Foto, das eine reizvolle Uferansicht vor felsigem Hintergrund zeigt. Die Häuserzeile an der Maas strahlt wahrscheinlich genau den Charme aus, den ich erst kürzlich andernorts unter Nester gepriesen habe. Leider wird sie aber von der zur Rechten hinter ihr aufragenden klotzigen, auch noch grau gefärbten Stiftskirche Notre-Dame nahezu zermalmt. Die Kirche ist fast so breit wie eine Hälfte der Häuserzeile und etwa dreimal so hoch. Im Adventskranz, der bei meinen Großeltern auf dem Wohnzimmertisch zu stehen pflegte, wäre schon allein der Kirchturm eine bis zur Hängelampe reichende fette Altarkerze gewesen. Als Teufel hätte ich sie bereits am ersten Advent mit der Handsichel meines Großvaters umgemäht, aber damals war ich noch kein Teufel, vielmehr ein Mitarbeiter der Jungschar des CVJM-Kassel, der zu großen Hoffnungen berechtigte. Die Waltershäuser Bürger und die Bauern aus den umlie-genden Dörfern des Amtes Tenneberg machten es um 1525 leider nicht viel besser. Als sie niedergeworfen waren oder freiwillig gekuscht hatten, zog der reformfreudig gestimmte Landesfürst händereibend die Güter und Schätze der Klöster ein, schickte die katholischen Prediger in die Wüstungen seines Landes und stellte sich gleichsam als Busenfreund Martin Luthers hin. Schon 1536 war der Waltershäuser Stadtrat wieder blöd genug, um die eigene Stadtkirche für 350 Gulden neu eindecken zu lassen. Dabei gab es leider einen Arbeitsunfall, den Gott wohl im Keime übersehen hatte. Sieben Handwerker, von denen »zwei todt geblieben, die anderen aber ungesund und Krüppel worden«, waren vom Gerüst gestürzt, wie sich Sigmar Löfflers detailreicher Stadtgeschichte entnehmen läßt. Waltershausen hatte damals ungefähr 500 EinwohnerInnen. Nun waren es zwei weniger.



Der demokratisch, patriotisch, antiklerikal und rauferisch gestimmte schweizer Bildende Künstler Martin Disteli (1802–44) machte vor allem mit Buchillustrationen und politischen Karikaturen auf sich aufmerksam, wie uns vier Brockhaus-Zeilen mitteilen. Wer kennt den schon? Disteli stammte aus Olten, wohnte aber zuletzt in der Kantonshauptstadt Solothurn, wo er einen Posten als Zeichenlehrer hatte. Die Stadt liegt auf halbem Wege zwischen Basel und Bern. Ein Selbstporträt Distelis von 1840 zeigt wirklich einen Könner, wenn er auch etwas abgerissen wirkt. Und warum gab er seinen Solothurner Posten mit 41 schon wieder auf? Das erfährt man im Internet, soweit ich sehe, hauptsächlich durch einen kurzen, als Pdf eingestellten Bericht von Gottfried Wälchli. Der 1899 geborene Germanist und Lehrer war ebenfalls Oltener und setzte sich stark für den Landsmann ein. Etliche andere Quellen scheinen uns Distelis Ende sehr taktvoll nicht zumuten zu wollen.

Disteli hatte sich 1828 mit der Bauerntochter Theresia Gisiger verheiratet, die freilich schon drei Jahre darauf starb. Nach Wälchlis wertvollem Heimat-Artikel* verfiel Disteli, der stets auf seine Kraft und Unverwüstlichkeit stolz gewesen sei, in seinen letzten Lebensjahren zusehends. Besonders dürfte ihm seine unglückliche Liebe zu Caroline Mehlem zugesetzt haben. Er einsiedelt auf dem Solothurner Hermesbühl, verwahrlost offensichtlich, gibt sich dem Alkohol hin und wird immer kränker. Wälchli spricht von Husten, Fieber, Brustwassersucht. Ärztliche Ratschläge verwirft Disteli, Freunden macht er Reisepläne vor. Nach dem Fortgang eines Jugendfreundes, der ihn besucht hatte, befällt ihn plötzlich schwere Übelkeit. Gegen Mitternacht im Bett liegend, habe er sein Leben mit einem Seufzer ausgehaucht.

Über beide genannten Frauen oder Liebschaften erfährt man Näheres** von der Solothurner Stadtführerin Marie-Christin Egger. Die blutjunge Theresia soll bildhübsch gewesen sein, erlag jedoch mit 23 der Schwindsucht. Eine bodenlose Ungerechtigkeit. Allerdings hatte die durch Schwangerschaft erzwungene Ehe mit Theresia den Freiheitskämpfer Disteli eher beengt und gequält. 1837 jedoch, sechs Jahre nach dem Tod seiner Frau, verguckt sich Disteli in Caroline, Tochter der Wirtsleute vom Roten Turm am Soluthurner Marktplatz. Sie muß sich heimlich mit Disteli verloben, weil ihre Eltern nichts von diesem fragwürdigen Schwiegersohn wissen wollen. Dann funkt auch noch eine »freigebige« Kellnerin des Roten Turms dazwischen. Im Sommer 1841 trennt sich Caroline schweren Herzens von dem schwierigen, oft ruppigen, vielleicht auch lieblosen Künstler. Jedenfalls hat er seiner heimlichen Braut, wie es aussieht, viel Kummer gemacht. Egger zitiert Berührendes aus Briefen von ihr. Nun gibt Caroline der Werbung eines soliden, wohlhabenden Auswärtigen nach. Gegen diesen Nebenbuhler soll Disteli ziemlich ausfällig geworden sein. Dann habe sich der Künstler, von verzweifelten Waldgängen heimgekehrt, zunehmend in »Kaffee und Fusel« gestürzt. Einmal sei er sogar im Bucheggberg von einem Landjäger, der ihn, den Herrn Obristen [Offizier der eidgenössischen Armee], nicht kannte, als Landstreicher aufgegriffen und nach Solothurn gebracht worden. Von daher könne man sich seine heruntergekommene äußere Erscheinung ausmalen. Die Stadtführerin verkneift es sich rücksichtsvoll, auf die klassische männliche Doppelmoral Distelis einzugehen: mit der erwähnten Kellnerin vergnügt er sich hinter Carolines Rücken ersatzweise gern; deren neuen Schwarm dagegen, Mister Teodor Dudenhöfer aus St. Louis, möchte er am liebsten zerfleischen.

Vielleicht noch ein Wort zur Geburtsstadt des »Obristen«, Olten. Mit gut 18.000 Einwohnern ist Olten sogar die größte Stadt des Kantons Solothurn. Sie scheint aber Millionenstädten zu ähneln. Am 19. Mai 2023 meldet das Oltner Tagblatt, zwei Personen hätten einen Jugendlichen nach Bargeld gefragt, ihm eine Stichwaffe gezeigt und seine Bankkarte mitgehen lassen. Und dies alles in der Martin-Disteli-Straße.

* Gottfried Wälchli, »Martin Distelis Tod«, in: Für die Heimat / Jurablätter von der Aare zum Rhein, Band 6 (1944), Heft 3, S. 46/47, online https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=jub-001%3A1944%3A6%3A%3A319
** https://roterturm.ch/de/Liebesgeschichte/, Stand 2021




Den Kirchenmusiker Hugo Distler (1908–42), zuletzt Professor und Leiter des Staats- und Domchores in Berlin, schmuggelt Brockhaus mit einer geistreichen Finte als Widerstandskämpfer ein. »Sein zeitgenössischer Chorstil in einer tonal und rythmisch freien Schreibweise brachte ihm schon bald Anerkennung in Kreisen der evangelischen Kirchenmusik, während seine Werke von der offiziellen Kulturpolitik des Nationalsozialismus als ‚entartete Kunst‘ abgelehnt wurden.« Damit schließt der Eintrag. Sicherlich gab es verschiedentlich Anfeindungen; sie rütteln aber nicht an Distlers hohen Ämtern, seiner Parteimitglied-schaft und seiner Vaterlands-, um nicht zu sagen Hitlertreue. Ich schlage Ihnen vor, meinen eigenen Eintrag über Distler in meinem Nasen-Lexikon zu lesen.



Wie sich versteht, kommt Nelly Dix (1923–55) in dem Brockhaus-Eintrag über ihren berühmten Vater Otto nicht vor. Der war 1933 als Professor an der Dresdener Kunstakademie entlassen worden und zog sich daraufhin nach Süddeutschland zurück. Allerdings suchte er hin und wieder auch seine Dresdener Geliebte auf. Seine Tochter galt als klug, begabt und witzig, starb aber schon mit 31. Zwei Brüder wurden erheblich älter. Nachdem sich Nelly als Kunstreiterin im Zirkus versucht hatte, gab sie sich dem Malen, Briefeschreiben und Erzählen hin. Verschiedenen Männern wohl auch, denn wie Doris Burger behauptet*, brachte Nelly immerhin fünf Kinder zur Welt, von denen allerdings nur die 1950 geborene Tochter Bettina überlebte. Die müßte gegenwärtig 73 sein, wie ich. Zwar hatte sich die anscheinend dunkelhaarige und dralle Nelly um 1950 mit dem Mainzer Medizinstudenten Günther Thaesler verheiratet, doch sie wohnte bis zuletzt ohne ihn im Hause ihrer Mutter Martha am Bodensee, einer Pianistin. Am 9. Januar 1955 sei Nelly Dix-Thaesler vermutlich an den Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs gestorben, heißt es in mehreren Quellen. Man erfährt freilich nicht, ob da womöglich ein Kurpfuscher am Werke war. Sollte Nelly nebenbei zusätzlich seelische Schwierigkeiten gekannt haben, beispielsweise auch wegen ihrer prominenten Eltern, zieht es das Internet vor, davon zu schweigen. Vielleicht steht in ein paar biografischen Büchern mehr.

* Doris Burger am 13. Juni 2023 im Südkurier, online https://www.suedkurier.de/ueberregional/kultur/otto-dix-tochter-nelly-war-zirkusreiterin-autorin-und-kuenstlerin;art10399,11603723



Zum aserbaidschanisch-sowjetischen Schriftsteller Djäfar Djabbarly (1899 –1934) führe ich die spärlichen Angaben von Brockhaus an, weil im Internet befremdlicherweise gar nichts zu holen ist. Vielleicht verirrt sich ja ein Kaukasus-Experte zu meinem Blog. Djabbarly habe das aserbaidschanisch-sowjetische Drama begründet. Seine Stücke hätten sich unter anderem mit der aserbaidscha-nischen Unabhängigkeit und der Befreiung der Frau beschäftigt. Er wurde nur 35. Da muß man natürlich befürchten, er sei (1934) unter die stalinistische Dampfwalze gekommen. Als Sterbeort wird die Küstenstadt Baku genannt, damals um 500.000 EinwohnerInnen. Sie liegt dort, wo der Kaukasus am Kaspischen Meer ausläuft.



Zum französischen Humanisten Etienne Dolet (1509–46) erfährt man im Brockhaus immerhin, er sei mit 37 auf dem Scheiterhaufen gelandet. Der teils in Lyon, teils im Piemonter Exil wirkende freisinnige Drucker, Autor und Übersetzer war mehrmals verhaftet und eingesperrt worden. Ausgerechnet am 3. August 1546, seinem 37. Geburtstag, wurde sein Widerstand gegen die feudalen und kirchlichen Anmaßungen auf dem Pariser Platz Maubert endgültig gebrochen: er wurde öffentlich erdrosselt und verbrannt. Er hatte gerade das Buch Le second enfer (Die zweite Hölle) verfaßt, eine Satire aufs Pariser Gefängnis. Ein Gutachten der Pariser theologischen Fakultät brandmarkte ihn als Ketzer. Der König verwendete sich nun nicht mehr für ihn. Der Evangelische Pfarrer und Kirchengeschichtler Hermann-Peter Eberlein* behauptet sogar, die Henker hätten Dolet vorm Erwürgen die Zunge herausgeschnitten. Das fügt sich ohne Zweifel gut mit der Überlieferung zusammen, auf dem Gang zum Gerüst habe der Unbeugsame seinen vielzitierten Pentameter Non dolet ipse Dolet, sed pia turba dolet erdacht und geäußert. Vermutlich wirkt dieses Wortspiel – ich bin des Lateinischen nicht mächtig – in der Übersetzung blasser, als sein dem Tode geweihter Schöpfer gewesen sein soll: »Nicht nur Dolet hat zu leiden, auch das fromme Volk.«

* Hermann-Peter Eberlein, »Non dolet ipse Dolet …«, Das Blättchen, 3. August 2009: https://das-blaettchen.de/2009/08/non-dolet-ipse-dolet-11204.html



Brockhaus stellt sogar die Stadt Donezk aus dem Osten der (damaligen) Ukrainischen SSR vor. Bekanntlich ist die Großstadt nach wie vor ein Zentrum der Steinkohlen-gräberei und der Stahlkocherei und entsprechend begehrt. Sie hatte 1986 rund eine Million EinwohnerInnen. Zur Stunde mögen es kriegsbedingt ein paar Zehntausende weniger sein. Von 1924–61 habe die Stadt Stalino geheißen. In dieser Taufe gaben sich gleichsam die Stahlproduktion und der damalige Staatschef die Hand. Nun, wir wollen nicht spotten, schließlich sind Umbenennungen weltweit sehr beliebt, weshalb es auch weltweit so häufige Regimewechsel gibt. Wenn Sie sich einmal überlegen, was solche Umbenennungen allein in verwaltungstechnischer Hinsicht kosten, bekommen Sie allerdings graue Haare. Es sei denn, Sie denken betriebswirtschaftlich und leiten zum Beispiel eine Orts- und Straßenschilder-Druckerei. Sind wir aber schon bei Kosten, könnten wir auch noch an die mindestens rund 2.240 Milliarden Dollar erinnern, die jährlich weltweit durch Auf- und Nachrüstung verpulvert werden. Schließlich tobt seit etlichen Jahren auch im Donbaß ein wunderbar einträglicher Krieg. Inzwischen darf man wohl behaupten, alle beteiligten NutznießerInnen hätten nicht das geringste Interesse daran, diese Schlächterei etwa zu verkürzen oder gar zu beenden. Das dürfte neuerdings auch für Nahost gelten. Aber was sage ich da »neuer-dings«? Unzählige Kriegsherde werden seit Jahren und Jahrzehnten schön am Kochen gehalten, damit die Profitraten der Waffenschmieden nicht in den Frostbe-reich absinken. Ideologische und massenpsychologische Vorteile kommen hinzu. Schließlich soll auch die PR-Branche ihren Gewinn – und Frau Baerbock soll nichts zu meckern haben. Muß Annalena aber trotzdem ihren grünen Hut nehmen, weil die sogenannten Landwirte mit ihren einfamilienhausgroßen Schleppern (nach ihren eigenen Äckern) das Berliner Regierungsviertel plattge-macht haben, wird die neue Kanzlerin Sahra Wagenknecht umgehend die Bestimmungen des bekannten Verbots verschärfen, Waffen in sogenannte Spannungsgebiete zu liefern. Schon der Neuverordnungsweg trägt zur besseren Ernährung einiger Partei-HiWis und vieler Bürokraten bei. Vor allem jedoch wird die Verschärfung einen echt reformerischen Anreiz für die Chefetagen der Rüstungsproduzenten schaffen, sich ganz neue Um- und Schleichwege auszudenken. Das kommt dann wieder der notleidenden Branche der Rechtsanwälte und SteuerberaterInnen zugute.



Doorn ist eine ungleich kleinere Gemeinde in der Provinz Utrecht, na immerhin. Den niederländischen Maler Tinus van Doorn (1905–40) dagegen kennt Brockhaus nicht. Er stammte aus einer Lehrerfamilie und besuchte ab 1924 zumindest zeitweise die Kunstakademie in Den Haag. Wichtiger sollen ihm die Anregungen »vor der Natur« gewesen sein. Nach Ausstellungs-Rezensent Stefan Kuiper* wird er unter Fachleuten den »kleinen«, außerdem den »naiven« Malern zugeschlagen. Kuiper scheint nicht viel von ihm (oder seinen handwerklichen Fertigkeiten) zu halten. Nur in den Farben sei er stark, wenn er sie so kontrastiert, daß die Szene von innen wie eine Laterne beleuchtet erscheint. Zur Biografie des Künstlers schweigt sich Kuiper aus. Ein paar Angaben finden sich jedoch in einem Pdf, das mir freundlicherweise eine bei Amsterdam gelegene Kunsthandlung überlassen hat.**

Danach lebte Doorn (Heirat mit Annie »Akkie« Vermeulen) ab 1929 in Rotterdam, wo er sich mit Illustrationen, Plakaten, Werbung, Bühnenbild über Wasser hält. 1932 kauft ein Museum zwei Gemälde von ihm; er kommt ins Gespräch. 1933 bezieht er mit seiner Frau die Hütte De Pondok in Barchem, Gelderland. Das Dorf liegt östlich von Zutphen und damit unweit der Grenze zu Deutschland. Das Paar soll sich hier zunächst sehr wohl gefühlt haben; nur steigt im Osten der deutsche Faschismus auf. Doorns Arbeiten, teil als »kindisch« abgetan, bekommen düstere, bedrohliche Züge. 1935/36 habe das Ehepaar in Spanien/Portugal verbracht. Ich vermute, ohne Bürgerkriegsteilnahme. Anscheinend kehren die Doorns in ihre Hütte zurück. Aber im April 1938 weichen sie nach Brüssel aus. Hier schafft Doorn verschiedene Skulpturen, außerdem antimilitaristische Zeichnungen. Mit Kriegsausbruch bereiten die Doorns eine Flucht nach Frankreich vor, doch sie werden von den Flüchtlingsströmen zurückgetrieben. Nun sind in ihrer Vorstadtwohnung Gas und Wasser gesperrt. Auch die Geldnot nimmt stark zu; schließlich liegen die Kunstmärkte brach. Die Nazis hätten Doorn natürlich sowieso als entartet eingestuft*** und eher auf Dornen als auf Rosen gebettet. Erhofftes Geld von den Eltern trifft nicht oder zu spät ein. Mit dem Einmarsch der Deutschen in Brüssel Mitte Mai 1940 bringt sich das Ehepaar gemein-sam um. Wie, wird nicht gesagt. Doorn war knapp 35.

Nach den Unterlagen aus Blaricum soll sich Doorn zuletzt, in einem Brief, recht selbstbewußt über sein Schaffen geäußert haben; für die Ignoranz vieler Leute könne er ja nichts. Dagegen behauptet die deutsche Wikipedia, er habe zunehmend unter Selbstzweifeln gelitten. Von seiner Ehefrau erfährt man auch aus Blaricum gar nichts, sofern ich es nicht übersehen habe. Einige Webseiten verkünden immerhin, Vermeulen sei Pianistin und 15 Jahre älter als Doorn gewesen. Trifft das erste zu, dürfte »Akkie« im ehemaligen Residenzstädtchen Zutphen wenig Auftrittsmöglichkeiten gefunden haben. Oder war sie Musiklehrerin? Wir wissen es nicht. Und erst der Zündstoff des angeblichen Altersunterschiedes! In den Sümpfen um Barchem feucht geworden, verschimmelt. Vielleicht sollte sich einmal ein Fuchs an Vermeulens Fersen heften, die ist doch viel interessanter als Doorn.

* Stefan Kuiper, »Paradise Lost«, 8weekly (Utrecht), 1. November 2005: https://8weekly.nl/recensie/kunst/tinus-van-doorn-schilder-van-het-verloren-paradijs-paradise-lost/
** Studio 2000 magazine, Blaricum (bei Amsterdam), 20. Jahrgang, Nr. 3 September 2015. Das Heft ist ausschließlich Doorn gewidmet, bietet einige Texte (leider auf niederländisch) und viele Abbildungen, ferner Literaturhinweise.
*** https://de.wikipedia.org/wiki/Tinus_van_Doorn#/media/Datei:Tinus_van_Doorn_-_Farmer_in_the_moonlight.jpg




Den folgenden Absatz aus Brockhaus zitiere ich lückenlos, weil ich ihn ausgezeichnet finde. Es geht in dem Eintrag um: doppelte Moral, eine Ethik, die zur Bewertung einer bestimmten Handlung zweierlei Maßstäbe ansetzt, ausgerichtet danach, von wem oder in welchem Lebensbereich die Handlung begangen wird; z.B. je nachdem ob eine Person als Künstler oder als Bürger auftritt, ob eine bestimmte Handlung durch einen Mann oder eine Frau verrichtet wird, ob sie in das Privatleben oder die angeblich rigeroseres Handeln zulassenden Bereiche der Wirtschaft oder der Politik fällt. Der Wechsel des Maßstabs wird mit dem Hinweis auf eine gewisse Eigengesetzlichkeit, die bestimmten Personengruppen oder Lebensbereichen zukomme, begründet. Das Motiv für eine d. M. liegt jedoch offensichtlich darin, den Spielraum der Handlungsmöglichkeiten, der durch die allgemein herrschenden sittlichen Werte, Gebote und Verbote begrenzt wird, zu erweitern, um auch eine Durchsetzung außermoralischer Sonderinteressen als gerechtfertigt erscheinen zu lassen.

Soweit das Lexikon. Der Internetredakteur Jens Berger nimmt sich gerade* die »absurde« Rechtfertigung angelsächsischer »Luftschläge« gegen den Jemen vor. Jemenitische Huthi-Rebellen hatten verschiedene Frachtschiffe beschossen, die sehr wahrscheinlich Lieferanten Israels waren. Die USA, das UK und der Berliner Baerbock-Papagei gaben ihre Vergeltung als völkerrechtlich gedeckte »Selbstverteidigung« aus. Dabei waren sie (oder Schiffe unter ihrer Flagge) keineswegs angegriffen worden; sie konnten zudem kein UN-Mandat vorweisen. Sie haben also das Gewaltverbot des Völkerrechts ganz im Gegenteil mißachtet. Die USA träten das Völkerrecht zum x-ten Male mit Springerstiefeln, klagt Berger, und weder die Bundesregierung noch die Kommentatoren in den Leitmedien interessiere dies. Dort erwärme man sich immer nur dann für das Völkerrecht, wenn man Böswichten wie den Russen (im Donbaß) dessen Bruch vorwerfen könne. Also ebenfalls ein Feld für Doppelmoral, und zwar ein sehr beliebtes. Der Brockhaus-Eintrag weist übrigens auch schon auf die sogenannte »Staatsräson« hin, die neuerdings so gern bemüht wird, um die für den einzelnen Bürger geltende Ethik in die Mülltonne treten zu können.

Irre ich mich nicht, deutet Bergers Bemerkung zu den Leitmedien eigentlich an, daß die großen AnwenderInnen von Doppelmoral es immer weniger nötig haben, ihre unmoralische Haltung überhaupt noch zu rechtfertigen. Vielleicht mußte der Regierungssprecher nur deshalb von »Selbstverteidigung« faseln, weil zufällig ein letzter, gut verkleideter aufmüpfiger Journalist an der Pressekonferenz teilnahm, den die Gorillas an der Eingangstür übersehen hatten. Die Leidmedien fühlen doch keinem Regierungssprecher mehr auf den Zahn. Sie sind zahmer als der Baerbock-Papagei. Vielleicht kommt ein neuer Schub Rechtfertigungsdruck, wenn Wagenknecht Kanzlerin ist und ihr Parteijugendverband von ihr zu wissen begehrt, warum sie gegen bestimmte, neuaufgelegte Rheinmetall-Panzer wettere, nicht jedoch gegen die jüngsten Fendt-Schlepper, obwohl diese offensichtlich viel höhere Hinterräder hätten. Ob sie am Ende mit zweierlei Maß messe ..?

* Jens Berger auf https://www.nachdenkseiten.de/?p=109555, 16. Januar 2024



Den Botaniker David Douglas (1799–1834) streift Brockhaus lediglich bei der Douglasie, einer nordamerikanischen Kiefernart. Sein Verhängnis war die Pflanzenjagd. Der Sohn eines schottischen Steinmetzen hatte sich bereits als Knabe für die einheimische Flora erwärmt. Nach seiner Studienzeit entdeckte und sammelte er in Übersee viele hundert Pflanzen oder deren Samen. Während Europa zum Beispiel bis dahin keine 10 Nadelholzarten kannte, führte Douglas allein über 200 neue Arten aus Amerika ein. Ob stets zu unserer Bereicherung, ist eine Frage des ökologischen Standpunkts und des Geschmacks. Wahrscheinlich zeigt sich der lange Fangarm des sammelwütigen Schotten auch noch auf dem Territorium der ehemaligen DDR, das 1990 aufgrund der dichten Blaufichtenverhaue von den westdeutschen heutigen Dauergästen nur mit Hilfe von zahlreichen Stihl- oder Husqvarna-Motorsägen erschlossen werden konnte, wie ich früher schon einmal bemerkte. Die Blaufichte stammt aus Colorado und Utah. Sehr ähnlich hatten sich schließlich bereits die Exkursionen des Schotten gestaltet, der am laufenden Kilometer unter Unwettern, Raubüberfällen, kenternden Booten und entsprechend vielen Verletzungen zu leiden hatte. Aber nichts konnte ihn abschrecken. In Oregon entdeckte er die Pantherlilie. Heute kann dieser US-Staat mit der David Douglas High School glänzen.

1833 erreichte Douglas Hawaii, wo er die mächtigen Berge Mauna Kea und Mauna Loa bestieg. Möglicherweise gesellte sich dadurch zu seiner Kurzsichtigkeit Schneeblindheit. Das Verhängnis lauerte jedoch am Boden. Im Juli 1834 stürzte der 35jährige Botaniker jäh in eine wahrscheinlich nicht eigens für ihn ausgehobene Fallgrube, in der sich bereits ein wilder Stier verfangen hatte. So nahm man jedenfalls zunächst an. Man fand Douglas übel zugerichtet und nur noch tot vor. Douglas‘ treuer Foxterrier Billy hockte winselnd in der Nähe. Als Mörder wurde anfangs der Stier verdächtigt, obwohl angesichts der Art der Wunden Zweifel aufkeimten. Der Einheimische Charles Hall behauptete, die Wunden sähen nicht nach Stierhörnern aus. So wurde beschlossen, die Leiche zwecks Autopsie nach Honolulu zu schaffen, wie ich einer recht jungen Darstellung der verworrenen Lage entnehme, die im Internet nicht so leicht zu finden war.*

Jetzt fehlt noch der Einheimische Ned Gurney. Er hatte alternative Verdächtigungen gegen ihn selber zurückgewiesen. Er war eigentlich Brite. Als Sträfling aus einer Kolonie in Australien entflohen, hielt er sich nun auf Hawaii vom Stierfang über Wasser. Nach eigener Aussage hatte er, alarmiert, den Stier in der Grube erschossen, dann die verstümmelte Menschenleiche nebst einem Kleiderbündel und etwas Geld ins nächste Dorf geschafft. Rancher Davis, bei dem Douglas kürzlich übernachtet hatte, behauptete allerdings, der Pflanzenjäger habe weit mehr Barschaft besessen als den kleinen Betrag, den Gurney abgeliefert hatte. Ob Davis unlautere Motive für seine Aussage hatte, kann ich leider nicht beurteilen. War sie korrekt, bleibt immer noch offen, ob Gurney den Botaniker wegen seiner Barschaft ermordet oder erst nach dessen Sturz in die Grube um dieselbe erleichtert hatte. Selbst die beiden Einheimischen, die Gurney alarmiert hatten, waren unter Umständen im bösen Spiel – und dann gab es auch noch Douglas‘ schwarzen Begleiter oder Diener John Diell, der nach dem Unglück leider »nirgends mehr zu finden war«, wie Robert Oaks bemerkt. Wobei Diell sowohl als Täter wie als zweites Opfer in Frage kam. Jedenfalls bleibt die Möglichkeit, Douglas sei mitnichten in die Fallgrube gestürzt, vielmehr erst nach seinem Ableben in dieselbe befördert worden.

Nach Oaks traf die Leiche Anfang August in Honolulu ein, wo Consul Richard Charlton sie von zwei lokalen Ärzten und zwei Chirurgen eines gerade im Hafen liegenden britischen Marineschiffes untersuchen ließ. Die vier Experten befanden einmütig, die Wunden stammten vom Stier. Daraufhin gab Charlton die Leiche zur Beerdigung frei. Zu dem Grab in Honolulu gesellten sich nach und nach etliche weitere Gedenkstätten sowohl im In- wie im Ausland. Somit ist Douglas ein durchaus ungeklärter, aber auch ein bedeutender Fall.

* Robert Oaks, »Then & Now: The Mysterious Death of David Douglas«, Magazin Ke Ola (Keaau, Hawaii), Jan/Feb 2013: https://keolamagazine.com/then-now/the-mysterious-death-of-david-douglas/
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