Mittwoch, 27. Dezember 2023
Nacht / Schnee / Nester

Es wäre gelogen, die Nacht als meine Freundin zu bezeich-nen. Eher fürchte ich sie. Alle Gefahren oder Belästigun-gen, die einem bereits am Tage drohen, bläst sie, weil man nicht darauf gefaßt ist und nach dem Aufschrecken nichts sieht, zu dreifacher Stärke auf. Faule Äpfel oder morsche Äste, die aufs Dach fallen, kommen nachts Bombenein-schlägen gleich. Mücken, die tagsüber im Spalt zwischen Zimmerwand und Kleiderschrank schlummern oder auf neue Heldentaten sinnen, verwandeln sich gegen den zweibeinigen, wunderbare Verheißungen ausdünstenden Schläfer zu lanzenschwingenden Ungeheuern. Gestapo oder Kripo erscheinen vor dem Morgengrauen. Schlaf-trunken, wie man dann ist, verplappert man sich jede Wette. Hat man Glück, entreißen sie uns den übelsten, uns quälenden Träumen, die sich gleichfalls stets ungebeten einstellen. Kommen die Häscher nicht, bleibt dafür der Schlaf aus. Das Grübeln, Warten, Bangen zermartern den Schlaflosen, als hinge er bei den Apachen am Pfahl. Dabei kann er jederzeit aufstehen! Aber es nützt nichts. Man preßt sich das Frühstücksmarmeladenbrötchen in den Schlund und hockt wie ein Schluck Wasser vor dem hochgefahrenen Computer. Der kennt solche Sorgen nicht. Er empfängt und erteilt Befehle, gleichgültig, ob überm Häuschen der Mond oder die Sonne steht.


Mit dem Schnee sieht es schon anders aus. Ich erlaube mir, auf meine Erzählung Schnee von gestern zurück zu greifen. Gewiß hat der Gudensberger Zeitungszusteller Bott den Schnee in der Frühe noch verflucht. Als er jedoch nach dem Frühstück Richtung Bahnhof zum Snookersalon Zugball stapft, stimmt er fast eine Hymne an. »Selbstverständlich war der lange vermißte Schnee eine Wohltat. Wieviele Übel wurden doch von solchem Schnee verhüllt, gedämpft oder abgemildert! Die Autos können nur noch kriechen. Das Grinsen der PolitikerInnen auf den Wahlplakaten gefriert. Schneebedeckte Hausdächer spiegeln harmonische Ehen vor. Mülldeponien nehmen den Charme der Alpen an. Wie schön mußte es jetzt an der Ems sein, wo der Schnee ebenfalls allen Unrat verbarg und das Eis die Mär vom Brückenschlag zwischen West- und Ostdeutschland bekräftigte, bevor man einbrach. Während die fuchsroten Ruten der Kopfweiden in der Sonne leuchten, stolziert eine Krähe über die verschneiten Ackerschollen. Astrids kastanienbrauner Schopf erglänzt, weil sie sich bückt, um ihren Geliebten mit einem Schneeball zu empfangen …«

Dabei hat er noch nicht einmal das Vergnügen gestreift, das der Schnee für die kurzbeinigen BewohnerInnen des Städtchens bereit hält, für die kreischenden Schlitten-, Plastikscheiben- oder HosenbodenfahrerInnen. Selbstverständlich wissen es auch manche Langbeinigen zu schätzen. Friedrich Georg Jünger, gestorben 1977, hebt in einem dicken, nachgelassenen Roman den Gesichtspunkt der Frische hervor. »In der Nacht hatte es geschneit. Der Winter kam. Heinrich March stand am Fenster und sah auf die weißen Flocken hin, die durch die graue Luft tanzten. Schnee, vor allem der erste Schnee, der im Jahr fällt, überrascht das Auge und stimmt heiter. Er ist neu. Und er ist in Bewegung, das Auge genießt die Bewegung, folgt ihr und verliert sich in ihr. Es ist auch so, dachte er, daß der Schnee etwas hinwegnimmt, Gewicht hinweg-nimmt, die Dinge leicht macht. Das macht auch uns leicht. Er spürte die Leichtigkeit seiner Kinderjahre im Schnee. Damals hatte er, das Gesicht ans Fenster gepreßt, unruhe-voll in den kahlen Garten hinausgesehen und geprüft, ob die Flocken auch dicht und stark genug fielen …«

Zu den kostbarsten Werken deutschsprachiger Literatur überhaupt dürfte das folgende Gedicht von Leopold Friedrich Günther von Goeckingk (1748–1828) zählen. Da kann man Rilke oder Hacks wirklich vergessen.

Als der erste Schnee fiel

Gleich einem König, der in seine Staaten
Zurück als Sieger kehrt, empfängt ein Jubel dich!
Der Knabe balgt um deine Flocken sich,
Wie bei der Krönung um Dukaten.

Selbst mir, obschon ein Mädchen, und der Rute
Lang' nicht mehr untertan, bist du ein lieber Gast;
Denn siehst du nicht, seit du die Erde hast
So weich belegt, wie ich mich spute?

Zu fahren, ohne Segel, ohne Räder,
Auf einer Muschel hin durch deinen weißen Flor,
So sanft, und doch so leicht, so schnell wie vor
Dem Westwind eine Flaumenfeder.

Aus allen Fenstern und allen Türen
Sieht mir der bleiche Neid aus hohlen Augen nach;
Selbst die Matrone wird ein leises Ach
Und einen Wunsch um mich verlieren.

Denn der, um den wir Mädchen oft uns stritten,
Wird hinter mir, so schlank wie eine Tanne, stehn,
Und sonst auf nichts mit seinen Augen sehn,
Als auf das Mädchen in dem Schlitten.


Gehölze sind die Zwerge unter den Wäldern. Oft stehen sie für sich im Land und verblüffen dabei durch reizvolle Gestalten oder doch wenigstens Umrisse. Zuweilen ähneln sie von fernher Walmdächern. In der Tat, sie bieten gerne Schutz. Dachs, Feldhase und Pirol benutzen sie als mietfreie Verstecke. Werden diese Tiere von der einen Seite her bedrängt, schlüpfen sie kurzerhand auf der anderen hinaus. Auch manchen Zweibeiner locken die Gehölze als Nester, in denen sich Behagen und Schadenfreude finden lassen. Der Verborgene kann das ringsum ackernde Volk beobachten, ohne Belästigung fürchten zu müssen, weil ihn keiner sieht. Ein Häuschen in einem Gehölz wäre das Paradies auf Erden.

Da es in der Natur der Sache liegt, daß in ein Gehölz nicht Mietskasernen oder viele Häuschen passen, sind sie etwas für EigenbrötlerInnen. Wer auf Gesellschaft aus ist, muß sich eben an die Wälder halten. Die sind aber schon oft gepriesen worden, weshalb ich ersatzweise bestimmte, meist schon vor längerer Zeit geschaffene Häuserfluchten heranziehen will. Achten Sie einmal darauf. An etlichen Marktplätzen oder Uferstraßen von Hafenstädten finden Sie Häuserzeilen, die vollkommen wirken, obwohl an ihnen nichts regelmäßig ist. Kein Haus ähnelt dem Nachbarhaus. Die Giebel, Dächer, Vorsprünge oder Nischen, Hausbreiten und selbst die Traufhöhen sind bewegter als das aufgewühlte Meer. Trotzdem nehmen uns diese Fluchten durch den Eindruck der Geschlossenheit und Notwendigkeit für sich ein. Sie bilden ein Ganzes, in das man sich am liebsten sofort einreihen würde. Sie verkörpern das ideale Gemeinwesen. Wie es hinter den Fassaden aussieht, steht freilich auf einem anderen Blatt. Vermutlich quellen da Öde, Mißgunst und Streit aus allen Ritzen, wie überall.

Ich erwähnte den Pirol. Er lebt ziemlich heimlich, weil er gar zu gelb gefärbt ist: man könnte ihn für eine Zitrone oder einen Zapfen aus reinem Gold halten und unverzüglich von den Ästen schießen. Sein orgelnder, etwas verquollen wirkender Flötenton ist vielleicht bekannt. Wird er jedoch überrascht und verunsichert, bringt er nur ein erbärmliches »räh-räh« hervor, das jeder zweite Laie mit dem Alarm des Eichelhähers verwechseln dürfte. Allerdings tut er das, bei uns, nur im Sommer, da er Zugvogel ist. Ja, seine afrikanischen Winterquartiere wären jetzt gar nicht so übel, wenn dort nicht dauernd Krieg und Hunger und Betrug herrschten. Aus den Nato-Ländern eingeführt.
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