Montag, 15. Januar 2024
Risse im Brockhaus 6

Der Schriftsteller Heinrich Böll hatte vier Kinder, alles Söhne. Der erste, Christoph, soll bereits in seinem Geburtsjahr gestorben sein, 1945. Raimund (1947–82) war der zweite – und man kann nicht gerade sagen, er sei beträchtlich älter geworden. Er studierte in Köln Bildhauerei, bekam just wie sein Erzeuger im Zuge der Baader-Meinhof-Hysterie einige Kübel Jauche über den Kopf, wich 1976 in die Schweiz aus – aber das hinderte den Krebs, wie man liest, nicht daran, auch in den Alpen an ihm zu nagen. Daran starb er mit 35, wohl Leukämie. Seine jüngeren Brüder René und Vincent, um 75, scheinen noch zu leben. Die Bildhauerschule, die Raimund in Hochwald (SO) betrieb, soll sich erklärtermaßen als »anthroposo-phische« Einrichtung verstanden haben. Somit war er Christ wie sein prominenter Vater. Auch das hat ihm offensichtlich nicht viel genützt. Aber dem werden sicherlich so manche LeserInnen widersprechen. Man könne die Schule des Leidens, auch Leben genannt, schließlich sowenig nach ihrem »Nutzwert« wiegen wie die eine oder andere Erlösung, die uns, vielleicht, nach ihrem Ende winkt.

Vom weltberühmten Vater kenne ich ein paar starke und ein paar schwache Bücher. Billard um halb Zehn hat mich nicht nur wegen des irreführenden Titels geärgert. Der Roman ist ähnlich langweilig und langwierig wie die angebliche Satire Ende einer Dienstfahrt, die jeden witzigen Einfall wie einen Streuselkuchenteich auswalzt – und sie hat so viele Einfälle wie Streusel. Als wahre Labsal dagegen stellte sich ein früher Roman von 1953 heraus. Das einzig nennenswerte Mißglückte an ihm ist gleichfalls der Titel, der meines Erachtens der Kurzangebundenheit und dem Sarkasmus des Romanes ins Gesicht schlägt: Und sagte kein einziges Wort. Der oft als »Eheroman« bezeichnete Text wird im steten Wechsel aus dem Blickwinkel der NachkriegskölnerInnen Käte und Fred erzählt, die verheiratet sind und Kinder haben, gleichwohl weitgehend getrennt leben. Zuweilen treffen sie sich und vögeln sich, in Parks oder in Stundenhotels. Fred hat ein kleines Monatsgehalt als Telefonist bei einer kirchlichen Behörde. Er reicht es überwiegend an die äußerst beengt wohnende Käte weiter; anonsten vertrinkt er es, spielt an Automaten, besucht Friedhöfe, steht zu seiner Melancholie. Aber er steht eben auch zu Käte. Zwischen den beiden herrscht mehr als Liebe; es ist Solidarität. Darüber beirren auch Streit und Kummer zwischen ihnen nicht. Es ist die Solidarität des armen, des ohnmächtigen, des verzweifelten und verlorenen, ja des überflüssigen Menschen.

Der Autor selber aber bringt, außer dem furchtbar feierlichen Titel, kein überflüssiges Wort. Die vom Klappentexter ausnahmsweise zurecht vorhergesagte »Erschütterung« des Lesers wird erträglich und unterstrichen durch den Galgenhumor der beiden Ich-ErzählerInnen. Das Schicksal der beiden und weiterer Randfiguren, die sich tapfer durch die großstädtischen Trümmerberge und die Wänste der scheinheiligen Kleriker schlagen, ruft Mitleid, aber keine Rührseligkeit hervor. Auch die Kinder werden ernst genommen. Und man fragt sich, womit sie nur dieses trübe Schicksal verdient haben, das sie bereits umstellt hat und das sie sehr wahrscheinlich über Jahrzehnte hinweg ersticken wird. Während Käte die freundliche, durch nichts zu entmutigende junge Imbißbudenbetreiberin mit dem Engelshaar und dem idiotischen kleinen Bruder beobachtet, die ihr Kaffee und den Arbeitern des Straßenbahndepots heiße Würstchen serviert, sieht sie sie schon des nachts: einem Mann geöffnet, den sie liebe; einem Mann, »der das Leben und den Tod in sie hineinschicken würde, die Spuren dessen, was er Liebe nannte, in ihrem Gesicht hinterlassend, bis es meinem gleichen würde: mager und gelblich gefärbt von der Bitternis dieses Lebens.«

Der einzige Grund, vor der Menschheit den Hut zu ziehen, wäre ihr Entschluß, ab sofort das Zeugen und Gebären von Nachwuchs einzustellen. Dieser Entschluß hätte sich vielleicht schon 1945 empfohlen. Selbst die verkommene Frankfurter Rundschau behauptete* bereits vor einem Monat: »Gaza hat eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt: 47 Prozent der Menschen sind unter 18 Jahren. Entsprechend hoch dürfte die Zahl der getöteten Kinder im Gazastreifen sein. Meldungen gibt es von über 4.000 minderjährigen Opfern.« Ein Ende der Schlächterei ist nicht in Sicht.

* »Hohe Verluste im Israel-Krieg«, 11. November 2023, online https://www.fr.de/politik/israel-krieg-gazastreifen-verluste-tote-zahlen-kinder-gesundheitsamt-hamas-zr-92662670.html



Laut Brockhaus hat der Philosoph und Pädagoge Otto Friedrich Bollnow (19o3–91), seit 1939 Professor in Gießen, später bis 1970 in Tübingen, emsig »stetige« und »unstetige« Erziehungsformen untersucht. Er habe ferner auf die »Bedeutung ethischer Werte als Grundlage für eine neue Geborgenheit und eine neue Sittlichkeit« gepocht. Folgt eine Latte von Büchern, fertig. Nach anderen Quellen hatte sich der ethisch gestimmte Neuerer schon 1933 öffentlich zu Adolf Hitler bekannt. Spätestens 1940 auch Parteieintritt. Dann überwältigte ihn der vom Himmel gefallene Weltkrieg: er nahm als Soldat und Physiker an ihm teil. Physik hatte er einst studiert. Die ganze Sittlichkeit des später so genannten »Lebensphilosophen« gipfelte 1983 im Bundesverdienstkreuz.



1951 nahm sich der 28jährige Schriftsteller Tadeusz Borowski (1922–51) das Leben, wie Brockhaus in Klammern andeutet. Der Pole hatte mehrere deutsche KZs durchlaufen. Am 1. Mai 1945 befreiten ihn US-Soldaten in Dachau. Borowski kehrte nach Warschau zurück, wo er auch seine Jugendliebe Maria Rundo lebend vorfand. Er beeindruckte und schockierte seine LeserInnen zunächst mit sachlich-schmucklosen, dafür streckenweise frivolen Schilderungen der Entmenschlichung, die ihm selbst auf Seiten der Häftlinge begegnet war. Proszę Państwa do gazu (Bitte, die Herrschaften zum Gas). Doch dann machte er sich zunehmend die nicht viel menschlicheren Direktiven der Kommunistischen Partei zueigen, die ihn dafür mit einigen Ämtern und Auszeichnungen bedachte. Wie es aussieht, bezahlte er diesen Halt mit Selbstverach-tung. Vielleicht kamen private Enttäuschungen hinzu. Der polnisch-deutsche Historiker Arno Lustiger glaubt*, Borowski sei an dem Widerspruch zwischen seiner Wahrheitsliebe und seiner Anpassung an das kommunistische Regime zerbrochen. »Am 26. Juni 1951 wurde ihm die Tochter Malgorzata geboren, am 1. Juli unternahm er in seiner Küche einen Selbstmordversuch durch Gas.« Zwei Tage später war »die große Hoffnung der durch Krieg und Verfolgung dezimierten polnischen Literatur« gestorben.

* in der Welt vom 20. Januar 2007, online https://www.welt.de/print-welt/article709924/Wer-war-Tadeusz-Borowski.html



Brockhaus stellt lediglich Stammvater August vor, nicht dagegen den jungen studierten Fachmann für Bergbau und Hüttenwesen Arnold Borsig (1867–97). Der kannte keine Angst vor Erwerbslosigkeit, weil er eine von seinem Großvater August gegründete Berliner Lokomotiv- und Maschinenfabrik, die auch Hütten- und Grubenbetriebe umfaßte, in seinem Rücken beziehungsweise unter sich wußte. Er übernahm die Leitung der Borsig-Werke, gemeinsam mit seinen Brüdern Ernst und Conrad, im Jahr 1894. Zudem fürchtete Arnold Borsig keine Arbeitsunfälle. 1897, noch keine 30, wird er, im Verein mit fünf Firmen- oder Kreis-Beamten*, das Opfer eines Grubenbrandes (wohl Gasexplosion) oder der entsprechenden Rettungs-arbeiten in der oberschlesischen Hedwigswunschgrube nahe Gleiwitz, heute Gliwice. Die in dieser Gegend benötigten, mit Hilfe einiger Tausend ausländischer ZwangsarbeiterInnen gefertigten »Kriegslokomotiven« oder andere Zurüstungen lieferte sein Unternehmen ein paar Jahrzehnte später. Am 10. Dezember 1940, gegen Mittag, konnte man in den Berliner Rheinmetall-Borsig-Werken, so lärmend wie es dort auch sonst zuging, sogar exklusiv einer Rede des damaligen deutschen Reichs-kanzlers lauschen. Laut einem Foto im Spiegel (2010) war er dabei von Scheinwerfern, Rundfunkmikrophonen und »Geschützrohren« umgeben.

* Traueranzeige im Zabrzer Kreis-Blatt, 3. April 1897: https://www.sbc.org.pl/dlibra/show-content/publication/edition/190130?id=190130



Auch den Selbstmord des französischen Karikaturisten Jean Bosc erwähnt Brockhaus in Klammern. Der namhafte und vermutlich alles andere als bitterarme Künstler brachte sich vor gut 50 Jahren, am 3. Mai 1973, mit 48 um. Näheres von Boscs Beweggründen und seiner Vorgehensweise wissen (angeblich) weder das Universallexikon noch das Internet. Es gibt natürlich passende Aussprüche von ihm, die seine Wut über die Vereinnahmung und Verflachung aller Gesellschaftskritik bezeugen. Aber ich wäre auch nicht verblüfft, wenn ihn seine Familie angeödet oder ein Tumor gezwackt hätte. Einige Quellen sprechen von einer »chronischen Erschöpfung«, die Bosc seit seiner Soldatenzeit zugesetzt habe. Man darf spekulieren.

Täusche ich mich nicht, hatte sich der Künstler gern über die Absurditäten unseres Lebenswandels lustig gemacht, Militärparaden, Ehebünde und Knollennasen eingeschlossen. Seine Hauptleidenschaft, das Karikieren, nahm er offenbar nicht aus, denn er sagte einmal, sein Erfolg als Zeichner beruhe auf dem Umstand, gar nicht zeichnen zu können. Irgendwie scheint er seine »Masche« aber gefunden zu haben. Mag uns über den Weg laufen, was will, bemerkte Boscs Landsmann Alain wiederholt, wir bleiben immer der eigenartige Zeitgenosse, der ein Huhn in Fuchsfleisch verwandelt. Die Einflüsse können zufällig, abseitig und belanglos bis zur Lächerlichkeit sein; sofern sie uns aus oft unerfindlichen Gründen kitzeln, erheben wir sie auf das Niveau unserer angeblichen Persönlichkeit.

In meiner Stadtrandgegend stapfen einige o-beinige Zeitgenossen umher, die ihr Glück vor allem auf Pferderücken finden. Sie striegeln ihre Apfelschimmel inbrünstiger als ihre Ehegatten und können sich über einen verrenkten Huf ihres Lieblings schier das Herz brechen. Einen Billardstock, auch Queue genannt, nähmen sie noch nicht einmal geschenkt, um ihn als Querstange im Koppeltor oder wenigstens als Zaunlatte zu verwenden. Für den leidenschaftlichen Snookerspieler wiederum stellt sein gedrechselter Stock mit der Lederkuppe die Seele der Welt dar. Schmiegt er das Kinn an ihn, vergißt er seinen heute so genannten Lebenspartner, falls er einen hat. Andere liegen stundenlang im Röhricht auf der Lauer, um einen Fischadler oder den Großen Brachvogel ins Fernglas zu bekommen. Zu dem Brachvogel komme ich gleich. Meine Freundin Marion kann über erstklassig gearbeiteten »Schwalbenschwänzen« in Entzücken geraten, denn sie ist gelernte Tischlerin. Diese gesägte oder gestemmte Verzahnung verbindet Schubladen- oder Stuhlteile wackelfester als jeder CO²-freie 5-Komponenten-Leim.

Jene Zufällig- oder Abseitigkeit kann die Besessenen in der Regel keineswegs daran hindern, »ihr Ding« meilenweit über das fremde Ding zu stellen. Das fremde Ding wird belächelt, verachtet, wenn nicht gar gehaßt. Da ist es »natürlich« nicht weit bis Indochina, wo sich Bosc, bis dahin Schlosser, als junger französischer Soldat die falschen Abwehrkräfte einfing – gegen Machtgelüste aller Art. Zu Boscs liebsten Feindbildern zählte sein hochgewachsener einstiger Staatspräsident General de Gaulle. Doch was hätte er erst zum Hochmut des aalglatten Emmanuel Macron gesagt? Nun ja, es ist egal, denn die Pappnasen gehen, die Posten bleiben.



Die Todesumstände des Johann Friedrich Böttger (1682–1719) läßt Brockhaus gnadenlos offen. Dagegen verheimlicht er die Hauptleidenschaft des sächsischen Alchemisten und Porzellanherstellers keineswegs, weil sie wirklich nicht eben originell war: sie galt dem Gold. Schon als junger Apothekergeselle in Berlin hatte sich Böttger den Ruf erschlichen, wie man wohl sagen darf, Silber in Gold verwandeln zu können. Was Wunder wenn sich verschiedene Fürsten für den angeblichen »Goldmacher« interessierten. Dieses gierige Werben gewann August der Starke von Sachsen, der Böttger (Ende 1701) kurzerhand von Wittenberg aus, wo der Schlawiner Medizin zu studieren gedachte, nach Dresden entführen ließ. Nun wird er in verschiedene gut ausgestattete, freilich auch gut bewachte Laboratorien gesperrt, auf daß er den Kurfürsten umgehend finanzpotent mache.

Aber das dauert und dauert. Vom Gelehrten Ehrenfried Walther von Tschirnhaus läßt sich der Alchemist über-zeugen, »nebenbei« auch nach der Porzellanherstellung zu forschen, was August nicht ungern genehmigt. 1705 wird Böttger vorübergehend auf die Albrechtsburg nach Meißen verlegt. Tatsächlich gelingt ihm, unter »höllischen« Arbeitsbedingungen*, im Lauf der nächsten zwei oder drei Jahre ein gewisser Durchbruch: Unter Verwendung des weißen Gesteins Kaolin und des Minerals Feldspat erfindet er, im Verein mit Von Tschirnhaus und dem Bergbau-beamten und Metallurgen Gottfried Pabst von Ohain, erst rotes, dann weißes, beinahe »durchscheinendes« Hartporzellan und überreicht seinem Mäzen und Knechter, dem Kurfürsten, die erste daraus gefertige Teekanne. Bis dahin hatte man die begehrten Porzellanwaren kostspielig aus Asien einführen müssen. Nun oblag es Böttger, die Produktion des bald darauf weltberühmten Meißner Porzellans anzukurbeln. 1714 wird er, mit Auflagen, sogar offiziell freigelassen, aber da ist seine Gesundheit bereits ziemlich zerrüttet. »Durch den feinen Quarzstaub ist seine Lunge zersetzt, das Kohlenmonoxid aus den Brennöfen und das Hantieren mit Quecksilber verursachen immer heftigere Schwindel- und Krampfanfälle.« Nach manchen Quellen trägt auch sein Durst nach alkoholischen Getränken zu seinem Niedergang bei. Er stirbt, mit 37, im Beisein seiner verwitweten Mutter, die er vor einigen Jahren nach Dresden holen durfte. Eine Ehefrau wird nirgends erwähnt.

Die Verschiebung von Gold zu Porzellan erinnert an ein Phänomen, über dessen Tragweite sich nicht unbedingt alle Menschen im klaren sind: Geld hat keinen Wert an sich. Das merkt man spätestens in Notzeiten, wenn man es essen will. Ob ein Ding als Zahlungsmittel Bedeutung hat, beruht allein auf gesellschaftlicher Übereinkunft. Erklärt die jeweilige Regierung statt Gold Teetassen, Kartoffelsalat, Papierscheine oder vielstellige Zahlen auf schweizer Bankkonten zum Geld, kann man nicht viel dagegen machen – außer die Regierung stürzen.

Was Böttger betrifft, bekam er vom Kurfürsten, laut deutscher Wikipedia, sogar ein gewisses Gehalt. Daneben wohnte der Alchemist zumindest zeitweise im Dresdener Schloß, bezog seine Mahlzeiten aus der Hofküche, Wein wohl eingeschlossen, und nahm an höfischen Vergnügungen teil. August hielt ihn also gewissermaßen in einem goldenen Käfig. Zwar unternahm Böttger 1703 einen Fluchtversuch, der ihn nur bis in die Alpen brachte, bevor er wieder gefangen wurde; aber dafür verriet er 1707 einen nächsten Fluchtplan, in den er mit anderen Staats-gefangenen verstrickt war. Das brachte ihm vermutlich eine Sonderration an Wein ein. Sogar einen Leibarzt soll ihm August bewilligt haben. Schließlich hätte der Kurfürst mit einem totem Böttger auch seine Hoffnungen auf das Gold-Rezept begraben können. So aber kam August wenigstens noch an das »weiße Gold«, wie es viele Quellen gern nennen.

* Andrea Westhoff, »Vom 'Goldmacher' zum Porzellanmacher«, Deutschlandfunk Kultur, 13. März 2019: https://www.deutschlandfunkkultur.de/johann-friedrich-boettger-vom-goldmacher-zum-porzellanmacher.932.de.html?dram:article_id=443429



Für Brockhaus ist nur das berühmte Dokument interessant, das der führende hessische Nazi Werner Best 1931 von Parteigenossen auf dem nahe Bürstadt gelegenen Boxheimerhof erörtern ließ. Darin hatte Best seine Vorstellungen vom Umsturz und den anschließenden drakonischen antikommunistischen »Maßnahmen« niedergelegt. Als die Öffentlichkeit davon Wind bekam, beeilte sich die Parteileitung erfolgreich, von einem privaten Alleingang Bests zu sprechen. Man werde sich selbstverständlich an die demokratischen Spielregeln halten. Ein »Hochverratsverfahren« gegen Best wurde im Herbst 1932 eingestellt.

Der Boxheimerhof soll im frühen Mittelalter Klostergut gewesen sein. Näheres zu erfahren, hindern mich die neuartigen »Bezahlschranken« im Internet. Also schreibe ich (am 11. Dezember 2023) das Bürstädter Stadtarchiv an. Die Antwort? Nicht etwa eine Gebührenordnung, vielmehr gar nichts. Ich könnte mir allerdings denken, es wäre den Verantwortlichen nicht so lieb, die Leute, die zu Bests Zeiten das Gut betrieben und das vielleicht auch heute noch tun, in Verlegenheit zu bringen. Schließlich dürften es damals, 1931, mindestens Bekannte der Nazis, vielleicht sogar Kameraden gewesen sein, die sich durch solch eine geheime Tagung geehrt fühlten. Um 1997 streifte ich das abgeschieden am Waldrand liegenden Anwesen einmal ferienweise mit dem Fahrrad. Täuscht mich meine Erinnerung nicht, beeindruckte es mich nicht sonderlich. Es gab lediglich eine witzige winzige Gutskapelle, die ich gern besichtigt hätte, aber sie war verrammelt. Inzwischen hat man sie offensichtlich aufgehübscht und vermutlich gleichfalls mit einer Bezahlschranke versehen.

Ich kehre zu Werner Best zurück. Der Jurist und SS-General brachte es im »Dritten Reich« zu einem noch deutlich höheren Tier. Er gilt, neben Himmler und Heydrich, als Hauptorganisator der Geheimen Staatspolizei. An der mörderischen Judenverfolgung war er auf unterschiedlichen Posten stark beteiligt. So hat er zahlreiche Polen auf dem Gewissen. Zuletzt wirkte er als Reichsbevollmächtigter im besetzten Dänemark. Ein Kopenhagener Gericht verurteilte ihn nach Kriegsende zunächst zum Tode, doch das angelsächsich-bundes-deutsche Verzeihungswunder sorgte für Abmilderung: Umwandlung in Haftstrafe, vorzeitige Entlassung bereits 1951. Im folgenden warb er unermüdlich für »General-amnestie« aller NS-Täter und half vielen Beschuldigten aus der Patsche. »Demokratische« Firmen und Parteien beschäftigten ihn als juristischen Berater. Seine eigene Bestrafung konnte er mit den üblichen Schlichen und mit Hilfe der Bereitschaft der westdeutschen Justiz, sich verarschen zu lassen, bis zum letzten Atemzug unterbinden. Der Südhesse starb 1989 mit knapp 86 Jahren in Mülheim an der Ruhr.

Allerdings wird behauptet, selbst der kühn kalkulierende Intelektuelle Best sei kein unangreifbares Ungeheuer gewesen. 1947 von seiner Gattin Hilde in der dänischen Haft besucht, habe er Beruhigungsmittel geschluckt, sich an Gesprächszettel geklammert, in wiederholten Weinkrämpfen von Selbstmord als der besten Lösung gejammert, lese ich im Spiegel 23/1996. Hilde habe ihn jedoch angeherrscht, er habe die Haft »hart und biegsam wie Stahl« durchzustehen. Da scheint auch ein bewährter Dialogschreiber aus Hollywood im Besuchszimmer gesessen zu haben.



Die mir bis dahin unbekannte Deutsch-Schwedin Karin Boye (1900–41) hat im Brockhaus immerhin rund 10 Zeilen. Soweit ich sehe, war sie eine hübsche, dunkelhaarige, vor allem lesbische Lehrerin und Literatin aus wohlhabender Familie, jedoch mit sozialistischen Idealen. Sie lebte zeitweise in Berlin, sonst in Stockholm. Wegen ihres ausgefallenen Lebensstils soll sie oft ein schlechtes Gewissen gehabt haben. Harald Wieser stellt sie in einem ausführlichen Porträt* als ausgesprochen widersprüchliche, womöglich schon von daher selbstmordreife Frau dar.

Neben vielen Gedichten und einigen Aufsätzen und Übersetzungen veröffentlichte sie mehrere Romane. Ihr oft hervorgehobener Roman Kallocain erschien 1940, ein Jahr vor ihrem Tod. »Die schauerliche Vision eines Polizeistaates« habe ihr den Titel einer »Großen Schwester George Orwells« eingetragen. Wieser teilt aber weder mit, wie das Werk gemacht ist, noch, ob Orwell es kannte. Dessen 1984 erschien 1949. Wieser teilt nur die Fabel mit und fügt hinzu, das Werk klinge von Seite zu Seite »poetischer«. Noch schwerer wiegt der Mangel: Wieser erklärt nie, warum Lehrerin Boye eigentlich auch noch Schriftstellerin werden mußte, was sie also am Schreiben reizte.

Brockhaus erwähnt ihre Todesart wieder einmal in Klammern. Boye, inzwischen 40, hatte sich im Rahmen eines Besuches bei einer von ihr angehimmelten Kranken auf einem Aussichtsberg bei Göteborg, aber Mütze übers Gesicht gezogen, in den Aprilschnee gesetzt und war so, dank einer Dosis Schlaftabletten, erfroren. Anscheinend gab es weder Ankündigung noch Erklärung. Mindestens zwei anstrengende Liebesbeziehungen waren wohl im Spiel.

* »Eine Optimistin voller Angst«, Spiegel 29/1984, online https://www.spiegel.de/kultur/eine-optimistin-voller-angst-a-3d550bb2-0002-0001-0000-000013509329



In jenen Sommerferien, die mich, per Fahrrad, am erwähnten Boxheimerhof vorbeiführten, traf ich auch den seltenen Brachvogel. Das heißt, gesehen habe ich ihn nie, obwohl das Hessische Ried eher flach ist: ein mit Kieferngehölzen und Pappelhainen gespicktes Brett, das für Heuwiesen und endlose Spargelmieten gut ist. Der schmale Fluß Weschnitz, kaum kniehoch, ist zum Teil eingedeicht. Auf den Deichen oft Schafe, die sich vom dornigen, roa blühenden Hauchechel bereitwillig ritzen lassen. Der Brachvogel soll eine große Schnepfe mit ungewöhnlich langem gebogenem Schnabel sein. Das Außerordentliche ist aber seine Stimme. Sie ließ mich wiederholt im Dreieck Bensheim–Lorsch–Heppenheim aufhorchen. In bayerischen Mooren wird der Kurzstreckenzieher »Märzflöte« genannt – nicht zu unrecht. Er hat mehrere Rufe beziehungsweise Pfiffe. Seinen Brutgesang jedoch gibt er im Flug als gereihten klangvollen, anschwellenden Flötenton von sich, der beim Niedergehen meist getrillert endet. Man glaubt zunächst, er pumpe dieses Lied aus dem Ried. Dann verschwebt es über den Deichen. Im ganzen ruft oder singt der Vogel, der als stark gefährdet gilt, ziemlich laut, wohl seiner Krähengröße entsprechend. Gleichwohl schwingt stets Wehmut mit.



Der rumänisch-französische Bildhauer Constantin Brâncuși (1876–1957) erntete unter anderem für seine verschiedenen Varianten eines Vogels im Raum Weltruhm. Ornithologen könnten behaupten, er habe den leicht gekrümmten Schnabel des Brachvogels kurzerhand senkrecht gestellt und den Rest weggelassen. Er vereinfachte also stark und erzielte damit enorme Wirkungen. Die Westberliner Studentin der Bildhauerei, die ich um 1980 verehrte, hielt große Stücke auf den Meister. Allerdings war er bereits tot. So rannten wir in die Vorlesungen oder Seminare von Robert Kudielka und Jochen Gerz, die damals die Stars der altehrwürdigen Kunsthochschule in der Charlottenburger Hardenberg-straße gewesen sein dürften – obwohl sie gar keine Bildhauer oder Maler, vielmehr Kunstwissenschaftler und Konzeptfritzen waren. Sie konnten vor allem gut reden. Dazu waren sie noch vergleichweise jung und sahen blendend aus. Wer sie, parallel zu Politikern, ÜberredungskünstlerInnen nennen würde, läge nicht falsch. In der alternativen DDR, die ich mir kürzlich unter »Biermann« erwünschte, wären die meisten Schulen bald geschlossen worden. Die Kunsthochschulen zuerst.



Den norwegischen Politiker und Ministerpräsidenten Trygve Bratteli hätte ich sowieso gestrichen – um dafür beispielsweise Lojze Bratuž (1902–37) aus Görz in den Brockhaus zu rücken. Der slowenische Chorleiter und Liedkomponist, von Hause aus Kirchenorganist und Musiklehrer, leitete ab 1930 im Auftrag des Görzer Erzbischofs die slowenischsprachigen Chöre der damals italienisch besetzten Diözese, obwohl er wegen seines Eintretens für seine Muttersprache erst kurz zuvor vorübergehend verhaftet worden war. Ende 1936 sah der Ehemann und zweifache Vater seinem 35. Geburtstag entgegen. Laut Wikipedia wurde er am 27. Dezember in Görz (die Stadt liegt nördlich nahe Triest) nach einer Messe, an der Bratuž als Chorleiter mitgewirkt hatte, von faschistischen Schwarzhemden entführt. Sie zwangen ihren Gefangenen, ein Gemisch aus Rizinusöl, Benzin und Maschinenöl zu trinken. Davon erholte er sich nicht mehr. Er starb am 16. Februar 1937 im Görzer Zentralkranken-haus, einen Tag vor seinem 35. Geburtstag. In der Stadt ist ein Kulturzentrum nach ihm benannt.



Im Austausch gegen den Germanistikprofessor Wilhelm Braune könnte man an Rudolf Braune (1907–32) erinnern. Der Mann war zunächst Buchhändlerlehrling in Dresden, dann kommunistisch gestimmter Schriftsteller in Düsseldorf. In der Regel ist er nur Fachleuten bekannt. Dabei trat er ab 1926 in etlichen linken oder liberalen Blättern mit Feuilletons und Erzählungen hervor und verfaßte in seinem kurzen Leben überdies zwei Romane. Das Erscheinen des ersten Romans, Das Mädchen an der Orga Privat, erlebte er noch (1930), und das Echo bei der Kritik war für einen Erstling durchaus stark. Beide Romane spielen im großstädtischen Milieu Kleiner Leute. In Düsseldorf war Braune für etliche Jahre ständiger Mitarbeiter der kommunistischen Tageszeitung Freiheit, wenn es auch streckenweise Reibereien oder gar Zerwürfnis mit ihm gab, wohl weil er nicht immer ganz 100-prozentig parteilich war und sich auch, vielleicht durchaus »opportunistisch«, wie Biograf Martin Hollender anmerkt, die Veröffentlichung in mehr oder weniger »bürgerlichen« Blättern erlaubte (S. 63).* Zu Braunes Grab in Düsseldorf wurde der Rhein. Angeblich, vielleicht sogar wahrscheinlich, erlitt der 25jährige einen recht verbreiteten Schaden, nämlich einen Badeunfall.

Allein in Deutschland kommen jährlich um 400 Menschen durch Badeunfälle um. Weltweit sind es, laut WHO, um 250.000 Tote. Die meisten Badenden oder Wasserschöpfenden ertrinken, nehme ich an. Der weltweite Verkehr ist freilich noch fruchtbarer: er sorgt jährlich für rund 1,35 Millionen Tote. Soweit ich weiß, fallen sie zu über 90 Prozent im Straßenverkehr an, dabei Fußgänger und Radfahrer eingeschlossen. Leider macht sich die bekannte Lust an der Ungenauigkeit auch in der bedenkenlosen Vermengung der Begriffe »Verkehr« und »Straßenverkehr« im gesamten Internet, dabei selbst in amtlichen Verlautbarungen geltend, was ohne Zweifel auch manche Texte aus meiner Feder schädigt. So oder so hat die WHO wegen der angeführten und zahlreicher ähnlich gearteter Opferbranchen, darunter das Militär, bislang noch nie eine sogenannte Pandemie ausgerufen, falls ich mich nicht sehr irre.

Was Braunes Badeunfall angeht, scheinen wir allerdings ziemlich auf dem Trockenen zu sitzen. Nach Hollender trug er sich am Sonntag den 12. Juni 1932 nachmittags in Düsseldorf-Niederkassel zu. »Vor den Augen seiner jungen Freundin« sei der schwimmende Braune »in den Strudel des Buhnenkopfes« geraten und abgetrieben. Jetzt zitiere ich etliche Sätze einer seltsamen Sekundär-Prosa lückenlos: »Eine Weile werden die Freundin und die Umstehenden bestürzt dagestanden haben, man wird auf das nur selten eintreffende Wunder eines 500 Meter entfernt unversehrt grinsend auftauchenden Schwimmers gewartet haben. (Eine Mutprobe Jugendlicher, vergleich-bar mit dem 'S-Bahn-Surfen' der neunziger Jahre, sei in jenen Jahren das absichtliche Schwimmen in Strudelnähe gewesen, erfuhr [der Leipziger Literaturwissenschaftler] Friedrich Albrecht später von einem Zeitzeugen). Dann wird die Polizei gerufen worden sein, die nüchtern konstatiert haben wird, daß man abwarten müsse; gewöhnlich gebe der Rhein seine Opfer erst nach einigen Tagen frei. So geschah es denn auch …« (S. 72)

Demnach gab es also durchaus einige Zeugen des Unfalls – aber sie werden in dieser Biografie nicht deutlich namhaft gemacht oder sonstwie hinreichend beschrieben. Möglicherweise zählte ein gewisser Ostberliner Robert Büchner zu ihnen; er nämlich soll Albrecht 1969 die Sache mit der Freundin bestätigt haben: »Vor ihren Augen ertrank er (durch Herzschlag) im Rhein« (72). Ob diese Freundin jene »Braut Berti« aus Frankfurt am Main war, die Hollender früher einmal erwähnt (59), oder eine andere Frau namens Dagmar Horstmann, die Hollender zum Phänomen des Strudels an der Buhne anführt (69, 72, 76), bleibt für mein Empfinden gleichfalls unklar. Im Zusammenhang mit Berti beklagte der Biograf jedenfalls vorsorglich, die Spur von Braunes »Freundin« habe Forscher Albrecht bereits 1969 »nicht mehr nachvollziehen« können (59). Vorausgesetzt, der Dichter und Agitator hatte nicht etwa zwei oder mehrere »Freundinnen«, wäre es selbstverständlich keineswegs unwahrscheinlich, wenn die betreffende Dame im Faschismus oder im Weltkrieg zu Tode gekommen wäre. Oder wenn sie gute Gründe gehabt hätte, sich den Nachforschern gegenüber bedeckt zu halten. Geborene ErzählerInnen könnten beispielsweise über einen akuten Kriegszustand des badenden Liebespaares und den Entschluß Braunes nachdenken, sich angesichts dieser verfahrenen Lage lieber dem nächsten Strudel anheim zu geben – freiwillig.

Krimiautoren werden sich zumindest fragen: Hat die Polizei damals »die Freundin und die Umstehenden« unter Umständen befragt, und wenn ja, mit welchem Ergebnis? Wir erfahren es nicht. Braunes Leiche wurde vier Tage später, am 16. Juni, in Duisburg-Walsum angeschwemmt. Ist diese Leiche obduziert worden? Wir erfahren es nicht. Immerhin wurde sie eingeäschert. Braunes per Zug aus Dresden eintreffende Eltern sollen die Urne gleich in ihr Reisegepäck verstaut haben. Aber selbst die Nachlaßlage ist, nach Hollender, bis heute erstaunlich ungeklärt. Offenbar weiß niemand, ob sich womöglich die eine oder andere Freundin Braunes oder aber Braunes Eltern, mit denen er allerdings auf schlechtem Fuße stand, um den Nachlaß gekümmert haben. Hollender vermutet, jemand – etwa auch ein Kollege von der Freiheit – habe sich am Rheinufer flugs der Kleider und damit des Schlüsselbundes Braunes erbarmt und dann einmal in dessen Wohnung nachgesehen, wie es eigentlich um Braunes noch unveröffentlichte Manuskripte bestellt sei. Jedenfalls sorgte jemand dafür, daß Braunes zweiter Roman Junge Leute in der Stadt noch am Ende des Todesjahrs im Wiener Agis-Verlag, später auch noch, neben anderen Braune-Werken, in der SU und in in der DDR erschien (76–86). In der DDR wurde Braunes literarisches Schaffen, trotz mancher Bedenken, geradezu geachtet und gepflegt. Federführend bei den dortigen Aktivitäten zu Braune war der erwähnte Friedrich Albrecht – ein »Prof. Dr.«, wie Hollender wiederholt betont. Sogar ein gewisser Otto Gotsche machte sich für Braune stark (84). Der Mann war nicht nur Schriftsteller, sondern über rund 20 Jahre hinweg auch Ulbrichts persönlicher Referent beziehungsweise der leitende Sekretär des sogenannten Staatsrates der DDR.

Hollenders 174 Seiten starkes Buch (von 2004) klingt in einem Anhang mit einigen kürzeren Feuilletons oder Erzählungen des wahrscheinlich Ertrunkenen aus. Danach kann Braune trotz seiner gelegentlichen klassenkämpfe-rischen Nervensägerei kein Stümper gewesen sein. Am besten hat mir sein Bericht von einem Besuch im Mannesmann-Röhrenwerk, Düsseldorf-Rath, gefallen. Den Abschluß bildet eine 1930 veröffentlichte »Flußgeschichte«, bei der man verblüfft glauben könnte, Braune habe sie als Generalprobe für sein eigenes Ende – beziehungsweise für das vom Krimiautor erwünschte Ende geschrieben. Auch hier bleibt das Mädchen namenlos. Während Hans bereits abgetrieben wird, Richtung »Strudelgebiet«, schwingt sich das schlanke, tropfende Mädchen auf den Schleppkahn und räumt Hansens Kumpels gegenüber ein, es habe sich bloß verstellt. »Ich wollte sehen, ob er wirklich Mut hat. Er wird schon wieder herauskommen, er ist doch Ihr bester Schwimmer. Ein feiner Kerl, der Junge.« Acht Tage später trieb er bei Arnheim ans Land. Natürlich als Leiche.

* Martin Hollender, »eine gefährliche Unruhe im Blut …« / Rudolf Braune, Düsseldorf 2004



Ein Kollege von Rudolf Braune? Laut Brockhaus trat Erich Brautlacht (1902–57) mit »Erzählprosa aus dem niederrheinischen Kleinstadtmilieu« hervor. In der Fußnote machen mehrere im »Dritten Reich« veröffentlichte Werke hellhörig, aber das Lexikon bedeckt die entsprechenden Jahreszahlen mit Schweigen. Ein Antifaschist oder gar Kommunist kann der gelernte Jurist jedenfalls kaum gewesen sein. Leider überschreitet der Eintrag bei Wikipedia die zwei Brockhaus-Zeilen nur geringfügig. Jene Erzählprosa sei humorvoll, idyllisch gewesen. Aber jetzt kommt der Ernst des Lebens: Von 1934 bis 1953 sei Brautlacht Richter am Landgericht Kleve, anschließend, durch Beförderung, Direktor des Klever Amtsgerichtes gewesen. Diese Angaben stellen sich freilich bald als ungenau heraus. Nach Theodor Brauer* war Brautlacht 1934 Amtsgerichtsrat** in Kleve geworden, vorher dagegen, wohl ab 1929, als Assessor am Landgericht in Duisburg tätig gewesen. Bei Wikipedia fehlen Einzelbelege. Dafür führt der Eintrag auch ein paar Hörspiele an, die der Justizbeamte vor seinem Tod in der Sendereihe Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück des Hamburger Rundfunks unterbringen konnte. Warum oder woran er (in Kleve) als 55jähriger starb, wird weder im Internet noch in etlichen Presseveröffentlichungen verraten, die mir freundlicherweise das Klever Stadtarchiv schickte. Diese Abteilung bewahrt allerdings auch Sterbeurkunden auf. Danach sei Brautlacht im Klever St.-Antonius-Hospital einem Darmkrebs erlegen.

Die einstige Residenzstadt Kleve, nur einen Steinwurf von Holland entfernt, war schon im »Dritten Reich« Kreisstadt. Damals hatte sie um 20.000 EinwohnerInnen. Rund 1.000 davon bissen bei schweren Luftangriffen 1944/45 ins Gras. Dabei wurden ingefähr 80 Prozent der Stadt in Schutt und Asche gelegt, wie auch Brockhaus weiß (Band 12). Den Richter Brautlacht verschonten diese Luftangriffe offensichtlich. Brauer teilt jedoch mit, am 7. Oktober 1944 seien sowohl Brautlachts Wohnung wie der Amtssitz auf der Schwanenburg durch Bombenangriff zerstört worden. Nach dem Kriege habe der dichtende Richter seinen Posten als Amtsgerichtsrat wieder eingenommen. 1953 wurde er zum Direktor befördert, was er bis zu seinem Tod auch blieb. Die trutzige Schwanenburg war übrigens zusätzlich die Herberge des (übergeordneten) Landgerichts und eines Gefängnis‘ gewesen. Neben diversen Möbeln habe Brautlacht überdies einen nach Leipzig ausgelagerten, anscheinend beträchtlichen Teil des Verlagsvorrates seiner Bücher durch Bomben verloren, wie Ludger Distelkamp 1982 in der Rheinischen Post (Düsseldorf) verrät. Die Quellen erwähnen eine Tochter und einen Sohn des Ehepaars Brautlacht. Vermutlich überlebten sie jenen Krieg, für den »Innere Emigranten« wie Erich Brautlacht nichts konnten. Nach Brauer übergab Dr. Jürgen Brautlacht den Nachlaß seines Vaters 1996 dem Klever Stadtarchiv.

Wo hat der Vater selber eigentlich in den Kriegsjahren gesteckt? Mit der Ausnahme Brauer wird das in allen Quellen sorglos oder taktvoll ausgespart. Brauer formuliert kongenial humorig, später sei der dichtende Richter »zu ‚vaterländischen Ehren‘ in den Hitlerkrieg« einberufen und dadurch aus seinem Schaffen gerissen worden. Das ist reichlich verwaschen, aber besser als gar nichts. Brautlacht kann Etappenschreiber oder Schlachtmesser schwingend an der Front gewesen sein. Wie er mit solchen Rollen umging, sollen wir nicht erfahren. In der NRZ nennt ihn seine Gattin Claire (1967) einen Träumer und Freund des Wanderns. Ausgiebigem Familienleben habe er das Schreiben vorgezogen. Mehrere Quellen bescheinigen ihm eine Vorliebe für Sonderlinge, Käuze. Alle betonen seinen Humor, seine Güte, seine christliche Frömmigkeit. Als Richter auf der alten Schwanenburg erwerbstätig, habe er sich lediglich als »Pförtner der Gerechtigkeit« begriffen, las ich irgendwo. Nach Heinz Köster (KKL 1982) scheinen System- und Klassenfragen selbst in Brautlachts justiziell geprägter Anekdoten- und Novellensammlung Der Spiegel der Gerechtigkeit, erschienen 1942, keine Rolle zu spielen. Aber was sage ich da »selbst«! Wenn doch, hätte es ihm schließlich leicht den Kopf gekostet. Ich fürchte, in seiner Stellung mußte er verharmlosen. Diese Stellung war so harmlos nicht. Bei Verbrechen oder Vergehen dürfen die einzeln urteilenden Amtsrichter (oder deren Schöffen-gericht) immerhin bis vier Jahre Gefängnis verhängen. Erst die Mord- und Totschlagsachen scheinen in der Regel ans Landgericht zu gehen. Und was »Verbrechen oder Vergehen« sind, entscheidet die sogenannte Gesetzgebung und Rechtsprechung des jeweiligen Systems. Hier und dort kann es zum Beispiel schon ein Verbrechen sein, den Arm mit der flachen Hand nicht zu strecken oder die Viren-schutzmaske in der Arschkippe verschmutzen zu lassen.

Unter meinen Quellen taucht auch ein Martin Hollender auf – ich nehme stark an, das ist just der Biograf von Braune, siehe oben. Hollender gibt*** den Dichter Brautlacht als »bodenständigen, glaubwürdigen und integren Menschen« aus, »der es inmitten seiner Heimattreue verstand, Kitsch und völkischem Pathos zu widerstehen«. Den Richter Brautlacht erwähnt er zwar, hütet sich jedoch, ihn zu beurteilen. Der hohe Posten verschaffte ihm »literarische Muße«. Schließlich habe er Brautlacht die Existenz gesichert und ihn vom »Erfolgszwang des freiberuflichen Dichters« entbunden. Jeder Weltanschauung habe er entsagt. Seine Werke verkörpern »eine unpolitische Welt fernab des Dritten Reichs«.

Ein Nachrufer der Zeitschrift Der Niederrhein rühmt Brautlacht (in Heft 1/2 1958) zunächst wie üblich als »tief religiöse Natur«, gütig, humorvoll … Dann schlüpft Erich Bockemühl jedoch eine etwas befremdliche, unter Umständen sogar Gänsehaut erzeugende Erinnerung heraus. Brautlacht »habe, wie er einmal sagte, kein Recht, sich über den Verirrten und Verbrecher zu erheben, aber die Pflicht, ihn aus der menschlichen Gesellschaft, in der er ein Schädling sei, möglichst zu entfernen.«

* »Erich Brautlacht, Richter und Dichter am Niederrhein«, Kalender für das Klever Land (KKL) 2002, vor allem Werkverzeichnis.
** Früher führten Richter am Amtsgericht grundsätzlich die Bezeichnung »Amtsgerichtsrat« oder »Oberamtsrichter«. Ihr Chef darf sich noch heute »Direktor« nennen. Hat es auch Brautlacht (1953) zum Amtsgerichtsdirektor gebracht, wurde er also für seine Anpassungsfähigkeit nicht etwa bestraft, vielmehr belohnt. Sie wenden vielleicht ein: Was sollte er denn machen? Verhungern? Hätte er in der Tat »Pförtner« der Schwanenburg werden sollen? Wie hätte er dann die Promotion seines Sohnes finanziert?
*** »Niederrheinische Nettigkeiten«, neues rheinland Nr.7/2000,
Seite 45




Einen Weltkrieg früher »fiel« der in Schlesien aufgewachsene Arzt Hans Breuer (1883–1918) – bei Verdun, wie Brockhaus erwähnt. Seine unübersehbare Vaterlandsseligkeit vernachlässigt das Lexikon auch in Band 24 unter »Zupfgeigenhansel«. Jetzt horchen Sie hoffentlich auf. Zuletzt in Gräfenroda am Thüringer Wald praktizierend, ehe er sich 1914 bei der Reichswehrbehörde meldete, war Breuer als Aktivist der deutschen Wandervogel-Bewegung und Herausgeber des bis heute vielmals aufgelegten Liederbuchs Zupfgeigenhansel bekannt geworden. An der Westfront erwischte es den knapp 35jährigen Oberarzt, wohl zuletzt des Lazaretts Merles bei Verdun, im April 1918, als ein Sanitätsunter-stand durch Beschuß verschüttet wurde. Hansels Geige zerbarst.

Ein gutes Jahr darauf unterzeichnete Friedrich Ebert im »Kaisersaal« des Schlosses Schwarzburg bei Rudolstadt die sogenannte Weimarer Verfassung. Das Schloß liegt auf einem schmalen, schroffen Bergrücken des Thüringer Waldes in einer Schlaufe der wilden Schwarza, womit sich der Ort Schwarzburg auch für Maßnahmen der Jugenderholung anbietet. Als »Weimar« in Schutt und Asche lag und die FDJ-ler die Ärmel aufkrempelten, tauften sie die Schwarzburger Jugendherberge auf den Namen des bekannten Goebbels-Gegenspielers Georgi Dimitroff. Um 1990 wurde diese Einrichtung erneut umbenannt – sie heißt nun Jugendherberge Hans Breuer. Überdies bekam Breuer in seinem Geburtsort Gröbers/Kabelsketal (zwischen Halle und Leipzig) die unverzichtbare Straße – auch dies dank der bekannten »Wende«.

Im Musikkoffer aus Sachsen-Anhalt wird versichert*, Breuer habe sich trotz bescheinigter Kriegsuntauglichkeit (wegen Kurzsichtigkeit) freiwillig zum Sanitätsdienst an der Front gedrängt. Dann schrieb er, laut Lutz G. Wetzel**, 1915 vom Elsaß aus im Vorwort zur Neuauflage seines Zupfgeigenhansels: »Draußen, an der Brustwehr, lehnen schweigend die Feldgrauen in der Morgensonne, spähen wohl hinüber, wo Tod und Wunde aus den Stahlschilden bricht. Bald wird Mittag sein. Wandervögel, an die Arbeit.« Als diese Auflage schließlich erschien, meldete sie noch vor dem Vorwort Breuers pflichtbewußtes Ende.

* https://musikkoffer-sachsen-anhalt.de/musik-leben/breuer-hans-1883-1918-herausgeber-des-zupfgeigenhansl/, Stand 2021
** »Die schlichte, schöne Art des Volkes«, Welt, 24. März 2009: https://www.welt.de/welt_print/article3432320/Die-schlichte-schoene-Art-des-Volkes.html




Auch vom bayerischen Schriftsteller Georg Britting (1891–1964) führt Brockhaus etliche Werke an, die im Faschismus erschienen. »Seine Lyrik verbindet Lebensfreude und schwermütige Todesahnung.« Das klingt nicht gerade nach einem Militaristen. Wikipedia behauptet freilich, der Versschmied und Erzähler aus den Schubladen »Expressionismus« und »Magischer Realismus« sei bereits 1914 freiwillig in den Krieg gezogen. Er kam als Leutnant mit Auszeichnung zurück. 1934 soll er verkündet haben: »Wer vier Jahre Schützengraben-gemeinschaft erfuhr und erlebte, der konnte hinfort nichts anderes mehr sein als national und sozial zugleich.« So durfte er sich anscheinend ungehindert im »Dritten Reich« verbreiten und 1935 den Münchener Literaturpreis entgegen nehmen. Nach dem Krieg als »politisch unbelastet« eingestuft, wie auf der Webseite der Georg-Britting-Stiftung zu erfahren ist, habe er gleich weiter publizieren können. Ergo: Bundesverdienstkreuz 1959. Eine Taschenbuch-Werkausgabe von 2008 umfaßt 23 Bände. Britting starb in dem derzeit von mir erreichten Alter (73) in München – Näheres dazu wird nirgends gesagt. Das gilt auch für die erwähnte Webseite, die ihn umfassend vorstellt. Immerhin wird dort eingeräumt, er habe zeitlebens viele Zigarren geraucht und viel Wein oder Bier getrunken. Er erinnert mich, auch von Fotos her, ein wenig an Ernst Kreuder. Ja, das Dach der deutschen »Inneren Emigration« hatte eine ziemlich große Ausladung. Gottfried Benn soll ja auch dazu gehört haben.



Mit dem österreichischen Politiker Christian Broda (1916–87) scheint sich einmal ein Lichtblick einzuzwän-gen. Gelernter Rechtsanwalt und SPÖ-Mitglied, habe er in seiner Eigenschaft als Justizminister (bis 1983) »sozialistische Grundauffassungen bei der Verabschiedung von Reformgesetzen (z.B. zum Straf- und Familienrecht) durchgesetzt, frohlockt Brockhaus. Heute überstrahlt der österreichische Sozialismus sicherlich schon das nördliche Alpenvorland. In Wahrheit dürfte Broda gelernter Klempner oder Bootsbauer gewesen sein, wenn ich an meine früheren Bemerkungen zum Zauberwort »Reform« erinnern darf. Er machte den kapitalistisch-milita-ristischen Kahn windschnittiger. So sägte er an der Stellung des Mannes als »Oberhaupt der Familie«, lese ich in der Deutschen Biographie. Heute haben kriegslüsterne Emanzen wie Von der Leyen und Baerbock das Ruder in der Hand. Broda betrieb ferner die »Entkriminalisierung« der Homosexualität. Jetzt müssen die schwulen Gesundheitsminister beim Liebesspiel mit ihren Freunden von der Pharmaindustrie keine Masken mehr tragen. Broda lockerte das Abtreibungsverbot, verdammte die Todesstrafe und sprach sich für mehr Geld- statt Gefängnisstrafen aus. Nebenbei »wurden in den 1970er Jahren nach einer Reihe von skandalösen Freisprüchen die Prozesse gegen NS-Verbrecher eingestellt«, was Broda heute freilich hier und dort verübelt werde. Dazu erläutert Wikipedia, die österreichischen Sozialdemokraten hätten das »möglichst geräuschlose Einstellen von Strafverfahren wegen NS-Verbrechen« für sinnvoll gehalten, weil nur so verhindert werden könne, daß »von Geschworenen-gerichten zu erwartende Freisprüche von des Massen-mordes Angeklagten dem Ansehen Österreichs schadeten.« Ein bewährtes hinterhältiges Argument, auf das man allerdings erst einmal kommen muß. Dazu muß man eben Rechtsanwalt sein.

Wie es aussieht, bemühte sich Broda im Gegenteil darum, möglichst vielen Ex-Nazis die Wiedereingliederung in ein ordentliches Karriereleben zu erleichtern. Um 1980 habe er sogar den berüchtigten Wiener »Euthanasie«-Arzt Heinrich Gross gedeckt, der zufällig ein Parteifreund Brodas gewesen sei, heißt es in Wikipedia. Ein kritischer Politologe habe Broda das Talent bescheinigt, das Recht gemäß der eigenen Absichten zurechtzubiegen, es somit auch »gegen seine Feinde als Waffe, für seine Freunde als Schutzschild« einzusetzen. Ich selber behaupte seit Jahren, nach den Schulen gehörten in einer alternativen DDR auch die Gerichte geschlossen und die RichterInnen in der Tat zu Klempnern oder Bootsbauern umgeschult. Die Streitfälle müssen von denen behandelt werden, die davon betroffen sind. Ein Amtsgerichtsrat Brautlacht oder ein Justizminister Broda sind doch von nichts betroffen. Sie maßen sich aber möglichst große Befugnisse an, weil ihnen die Macht schmeckt.

Die Stadt Wien teilt mir soeben mit: »Der Christian-Broda-Platz im 6. Bezirk [seit 2008] wird klimafit gestaltet. 25 neue Bäume, erweiterte Grünflächen und eine helle Pflasterung sorgen künftig für mehr Aufenthalts-qualität.« Der Umbau begänne im kommenden Frühjahr (2024). Solche Verlautbarungen sind allerdings vollends geeignet, mir den Magen umzudrehen und mich dem Grabe noch näher zu bringen. Man soll aber nie die Hoffnung aufgeben. Vielleicht wird der Platz noch in diesem Jahrhundert zu einem kleinen Amphitheater umgestaltet, in dem die AnwohnerInnen ihre Verfehlungen mikrofon- und ministerlos im Plauderton verhandeln. Dazu wahlweise Sachertorte oder Wiener Herzerl.



Das Thüringer-Wald-Städtchen Brotterode hat keine 3.000 EinwohnerInnen. Wird es gleichwohl von Brockhaus gestreift, dürfte es bedeutend sein. Und in der Tat. Es ist ein wichtiger Wintersportplatz, der eine »Großschanze« für SkispringerInnen zu bieten hat, Schanzenrekord 123,5 Meter. Zum Glück fiel die Schanze nicht dem von Brockhaus erwähnten verheerenden Stadtbrand von 1895 zum Opfer; sie wurde erst um 1920 erbaut. Nun mag dieser verschneite Superbock bereits ein paar Tote oder Schwerverletzte geliefert haben, aber die kurträchtige Gegend hat für alle Fälle auch an den Sommer gedacht. Neben Eisenach ist das Städtchen Brotterode nämlich schon seit 1955 in ein jährliches Langstrecken-Autorennen mit dem lutherischen Titel Wartburg-Rallye einbezogen. Damals handelte es sich um eine »Zwei-schleifenfahrt über 850 km mit 3 Sonderprüfungen«. Jedenfalls war auch am 10. August 2013, da mich günstigerweise nicht die samstägliche Wanderlust packte, am Südfuß unseres Großen Inselsbergs (916 m) die Hölle los, wie ich später der Lokalpresse entnahm. Es war die 54. Ausgabe des Rennens. Diesmal kam der 270 PS starke Mitsubishi Evo 9 eines (nieder-)sächsischen Top-»Damenteams« just zwischen Steinbach und Brotterode bei »hoher Geschwindigkeit« von der dort kurvenreichen Landstraße ab und prallte gegen einen Baum. Der Wagen habe sofort Feuer gefangen, hieß es. Möglicherweise auch der Baum. Das Rennen wurde abgebrochen. Während die 34jährige Pilotin Janina Depping noch ein paar Tage in der Jenaer Universitätsklinik durchhielt, starb Beifahrerin Ina Schaarschmidt (29) gleich an Ort und Stelle, im schönen Thüringer Wald. Am 15. August war zudem t-online zu entnehmen, die beiden Damen seien keineswegs die ersten Toten dieser traditionsreichen Rallye gewesen. Pilotin Depping macht auf dem Foto ein bißchen den Eindruck, als bereue sie irgendetwas. Das ist freilich schlecht möglich, da Reue gewöhnlich immer erst hinterher kommt. Ob die Wartburg-Rallye auch derzeit noch Brotterode berührt oder überhaupt noch ausgetragen wird, ist mir unklar geblieben. Möglicherweise hat man die schweren Wagen für den Ukrainekrieg beschlagnahmt.



Das kleine Sultanat Brunei, zwischen Malaysia und dem Südchinesischen Meer eingeklemmt, liegt an der Nordküste der riesigen Insel Borneo. Was sollten Sie von diesem Ländchen außerdem wissen? Zumindest das: es hat bis 1984 »unter britischer Schutzherrschaft« gestanden. Dabei ist Brockhaus unverschämt genug, das Wort Schutzherrschaft ohne Gänsefüßchen zu schreiben. Ich habe schon andernorts einiges zu dem weltweit beliebten Decknamen »Schutz« gesagt. Im Bereich der Kolonialpolitik geht es selbstverständlich darum, die Arbeitskräfte und Bodenschätze des betreffenden Landstrichs vor der imperialistischen Konkurrenz und nicht etwa vor Hunger und Hochwasser »zu schützen« – nur möchte man das nicht so deutlich verkünden.

Vielleicht noch ein paar Takte zur »Schutzhaft«. Nach Brockhaus (Band 19) sind zwei Arten zu unterscheiden. Die erste Sorte ist angeblich harmlos oder sogar segensreich, daher auch in sogenannten Demokratien vorgesehen. Die Polizei darf Personen festnehmen, wenn sie gefährdet sind, ob durch andere oder durch eigene Schuld. Paradebeispiel ist der hilflose stockbetrunkene Penner, der zu erfrieren droht. Im zweiten Fall dagegen soll nicht die Person vor der Gefahr, vielmehr der Staat vor der Person »geschützt« werden. Daher 1933, gleich nach dem Reichstagsbrand, die »Verordnung zum Schutz von Volk und Staat«, die wahre Rudel von Systemgegnern hinter Gittern führte, obwohl sie gar nichts Strafbares getan hatten. Aber sie drohten es eben zu tun! Es war also die reinste Vor- und Fürsorge seitens des Staates. Nebenbei hat der oben behandelte Cheforganisator der Gestapo Werner Best unter anderem sofort für die Beibehaltung und Verschärfung der Schutzhaft-Regelung gesorgt. Nun lag die Maßnahme allein im Belieben der Geheimpolizei, jenseits aller richterlichen Überprüfbarkeit. Die Geheimpolizei hatte also ihre Argusaugen auf allem, was nach »potentiellem Straftäter« roch, wie es Jahrzehnte später im deutschen demokratischen Diskurs genannt wurde. Wenn Sie mich fragen, wird die faschistische Schutzhaft-Praxis demnächst durchaus amtlich abgesegnet wiederaufleben. Man wird sich vielleicht einen neuen Namen dafür einfallen lassen. Der Broda, der die geeigneten Argumente und Hüllwörter finden wird, sitzt bereits in der einen oder anderen deutschen Unterprima vorm Computer.



Für Brockhaus lieferte der Historiker und Professor Otto Brunner (1898–1982) »bahnbrechende Arbeiten vor allem zur Verfassungs- und Sozialgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit«, befand sich somit meilenweit vom »Dritten Reich« entfernt. Klee widerspricht jedoch. Ab 1940 sei Brunner Zweiter Vorsitzender der Süddeutschen Forschungsgemeinschaft in Wien zur »Legitimierung des imperialen deutschen Machtstrebens« gewesen. Lehrstuhl 1941; zudem im Beirat der Forschungsabteilung Judenfrage im Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland. 1943 auch Parteieintritt. 1945 zunächst suspendiert, aber 1954–66 Lehrstuhl in Hamburg. Da war vielleicht gerade einer frei geworden, weil sich ein störrischer Kollege gegen Wiederbewaffnung ausgesprochen hatte. In einer Einladung zu einer Veranstaltung 2014 lese ich auf der Webseite der Hamburger Universiät, Brunners Werk sei »bis heute hoch umstritten«. Auf der einen Seite gelte es wegen Brunners »völkisch-nationalsozialistischem Engagement als dauerhaft politisch belastet«; andererseits werde dessen Schöpfer zu den »allerbedeutendsten Historikern« des 20. Jahrhunderts gezählt. 1975 Wissenschaftspreis des Landes Niederösterreich – im Jahr 2014 bereits mit 38.000 Euro dotiert. Das hätte glatt für einen Atomschutzbunker im heimischen Garten gereicht. Brunner ging aber schon mit 84 von uns.



Wie es aussieht, darf der Publizist und Diplomat Lothar Bucher (1817–92) zu den vielen Vätern Wolf Biermanns gerechnet werden. 1848 habe er noch als Abgeordneter der Preußischen Nationalversammlung auf der »äußersten Linken« gesessen, versichert Brockhaus. Dann mauserte er sich jedoch zum Wendehals; zuletzt sei er enger Mitarbeiter Bismarcks gewesen, dem er auch beim Memoirenschreiben unter die Arme gegriffen habe. Diese Sicht wird im Wikipedia-Eintrag ungefähr bestätigt. Tatsächlich habe Bucher, gelernter Jurist, 1848 aus Protest gegen die Konterrevolution den Steuerverweigerungs-beschluß des preußischen Parlaments mitgetragen. Das brachte ihm 15 Monate Festungshaft ein, der Bucher ins Londoner Exil auswich. Dort machte er Karriere als Journalist. Dabei wandte er sich anscheinend trotz seiner Freundschaft mit Lassalle von radikaldemokratischen Auffassungen ab. Als Korrespondent der liberalen National-Zeitung, die in Berlin saß, wurde er zur gewichtigen Stimme. 1861 aufgrund einer Amnestie nach Berlin zurückgekehrt, holte ihn Bismarck zunächst (1864) ins preußische, dann ins Reichs-Außenministerium. Bucher brachte es bis zum Wirklichen Geheimen Legationsrat. Als der Kanzler Bismarck 1890 seinen Hut nehmen mußte, blieb ihm Bucher als persönlicher Berater treu.

Geheimräte waren früher nichts anderes als »Vertraute« oder »rechte Hände« der jeweiligen MachthaberInnen. Die Besprechungen fanden nicht unbedingt in abhörsicheren Wäldern statt, aber stets auf der Höhe der Macht. Geheimräte waren bedeutende, einflußreiche Schalthebel und Türöffner. Ihre diversen Titel wurden zum Teil auch unabhängig von einem Posten verliehen, einfach als Schmeichelei und Abstandshalter. Man mußte diese hohen Beamten, die später vielleicht Ministerialdirektoren hießen, mit »Exellenz« anreden. Was Bucher angeht, der zeitlebens Junggeselle blieb, wird allerdings fast überall betont, er sei bescheiden und höflich aufgetreten. Als Brüller wie Hitler ist er in der Tat kaum vorstellbar. Gleichwohl diente er, wie dieser, den Junkern und Rüstungsbossen.



Ich gestatte mir einen Nachschub zum Eintrag Abbo aus Folge 1, nämlich zu der Willkür und dem Wahnwitz, mit denen Brockhaus im literarischen Fach an seiner nie definierten Unterscheidung zwischen »Dichtern« und den restlichen Schreiberlingen festhält. Den Australier Vincent Buckley (* 1925) stellt er als »Lyriker, Essayist und Literaturkritiker« vor. Professor, in Melbourne, war oder ist er auch. Nur offenbar kein Schriftsteller. Den Niederländer Cornelis Buddingh (* 1918) dagegen nennt er »Dichter«. Er habe »realistische, tragikomische Gedichte«, freilich auch »Romane und Aphorismen« vorgelegt. Den Vogel schießt Brockhaus etwas später, im selben Band 4, unter C ab. Auch der Bündnerromane (aus dem Engadin) Gian Fadri Caderas (1830–91) sei »Dichter« gewesen. Er habe »lyrische Poesie mit romantischen Zügen ..(..).. sowie Erzählungen und Komödien« verfaßt. Demnach scheint es auch unlyrische Poesie zu geben. In der Tat stellt Brockhaus in Band 17 fest, Poesie sei eine »Bezeichnung für Dichtung, besonders für Versdichtung in Unterscheidung zur Prosa«. Somit könnte es hier und dort auch Leute geben, die mit gedichteter Prosa aufwarten. Die sind dann aber nur Schriftsteller. Dies alles ist so hanebüchen wie beliebig, weil Brockhaus auf einer Unterscheidung besteht, die er, wie ich schon eingangs feststellte, nie klar bestimmt hat.
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