Dienstag, 26. September 2023
Der nasführende Doktor

In diesem Herbst hätte Dr. Alois Anton Führer, meist als Indologe und Archäologe bezeichnet, seinen 170. Geburts-tag feiern und seinen Urenkeln die wenig bekannten Kapriolen auftischen können, die er einst, um 1890, als reifer Mann mittleren Alters in Nepal und Indien vollführt hatte. Er hatte das Licht der Welt, die Quellen schwanken, am 26. September oder 26. November 1853 in Limburg an der Lahn erblickt. Den gealterten, nach wie vor frommen Schlawiner zeigt ein Foto mit mächtigem weißem Vollbart à la Sigmund Freud oder Gottvater selbst. Heute hinge ihm diese Zierde sicherlich schon bis auf die Schuhe. Ja, die Geschichte postmoderner fakes ist uralt.

Nun waren Vollbärte damals nichts Besonderes. Führers Mentor Bühler, den ich wohl kaum in diesem Kalender-blatt umgehen kann, wies natürlich gleichfalls Vollbart auf. Im Jahr 1898 liefen einige Schockwellen durch das Reich der gelehrten AusgräberInnen dieses Planeten. Zunächst war der führende Sanskritforscher Georg Bühler (1837–98), ein 60 Jahre alter Professor und Hofrat aus Wien, im Bodensee ertrunken, und das auch noch am Karfreitag, den 8. April. Er hatte, obwohl in Wien schon der Vorlesungsbetrieb lief, einen Kurzurlaub in Lindau am Bodensee eingelegt, der vorgeblich seiner sportlichen Neigung geschuldet war. Seine Familie – schweizer Gattin und 16jähriger Sohn – lebte in Zürich, wenn ich Charles Allen nicht mißverstanden habe.* Dem britischen Historiker zufolge war sie merkwürdigerweise über seinen Abstecher nicht im Bilde. Vom Haussegen erfährt man aber auch durch Allen nichts. Dasselbe gilt für die Frage, ob Bühler schwimmen konnte. Es ist freilich anzunehmen, war Bühler doch leidenschaftlicher Ruderer. Auch am Karnachmittag stach er mit einem schmalen, windschnittigen Ruderboot solo in See – der Gattin blieb später nur, seine Gasthofrechnung zu begleichen. Man fand das Boot kieloben auf dem See treiben, und an einer anderen Stelle auch noch ein Ruder, das ihm fehlte. Nur der Professor oder seine Leiche ließen sich nicht blicken.

Wie so oft in solchen Fällen beeilten sich bestürzte Kollegen, einen »tragischen« Unfall zu beklagen. Das hallt bis heute in so manchem Nachschlagewerk unkritisch nach. Da es sich offenbar um einen unwetterfreien Karfreitag gehandelt hatte, mutmaßte zum Beispiel Julius Jolly**, möglicherweise sei dem Professor, etwa einer Dampfschiffwelle wegen, das erwähnte Ruder entglitten, und beim Versuch, es zu bergen, fiel er in den See. Oder der schwankende Kahn kenterte, als sich Bühler aufrichtete (und der Fahrtwind in seinen Bart griff). Oder er habe, nach mehrstündigem Rudern, einen Schlaganfall erlitten und sei deshalb ins Wasser gekippt, denn seine Gesundheit sei nicht mehr die beste gewesen. Immerhin muß Jolly redlicher als etwa Bühlers Schüler Anton Führer gewesen sein, sonst hätte er den ertrunkenen Professor nicht schon eingangs seiner Unfallnachricht einen »erfahrenen Ruderer« genannt. Bei Allen ist von Krankheit oder auch nur Altersschwäche keine Rede. Der letzte Zeuge des Karfreitagsdramas habe Bühler nach 19 Uhr auf dem Wasser gesehen, als es schon dunkelte. Somit wäre die Tarnung für allerlei Untaten günstig gewesen.

Es wird kaum verblüffen, wenn Allen einen Selbstmord des »stämmigen«, vielleicht auch beleibten 60jährigen Gelehrten für nicht unwahrscheinlich hält, zumal er auch noch ein Motiv anzubieten hat, nämlich eine schillernde Geschichte mit Bühlers ehemaligem Studenten und langjährigem engen Mitarbeiter Dr. Anton Führer – eine Geschichte, die Bühler womöglich selbstmordreif bedrückte. Sein zuletzt in Indien wirkender Schützling hatte sich, wie es aussieht, bei seinen zahlreichen »Entdek-kungen«, darunter des angeblichen, schon immer eifrig gesuchten, weil bedeutungsschweren Geburtsortes Buddhas, und bei seinen Berichten und anderen Veröffentlichungen der unter ehrgeizigen Wissenschaftlern durchaus beliebten Methode des Fälschens bedient, wobei er auch nicht vor meterlangen Plagiaten aus Schriften seines Mentors Bühler zurückgeschreckt war. Diese Betrügereien werden recht ausführlich von der englischen Wikipedia dargelegt. Ihre Enthüllung setzte also weitere Schockwellen in Gang. Die indisch-britischen Kolonial-behörden sahen sich noch im Herbst desselben Jahres 1898 gezwungen, Führer aufgrund der Betrugsvorwürfe aller Ämter zu entheben und dabei auch gleich einen Stapel Unterlagen aus seinem Büro zu beschlagnahmen. Der Verdacht gegen ihn habe sich seit März 1898 erhoben, also knapp vor Bühlers Tod. Dann hätten ihn Regierungs-beamte als Fälscher und Händler mit gefälschten Antiquitäten entlarvt. Vieles von Führers Betrügereien kam aber erst später, allmählich, ans Licht. Laut Wikipe-dia wurde selbst die Aufsehen erregende Geburtsort-Entdeckung (»Lumbini-Säule«) verschiedentlich angezweifelt und von Charles Allen (2008) gar bestritten. Führer soll zumindest teilweise geständig gewesen sein. So hatte er wiederholt aussagekräftige »Inschriften« auf Denkmälern eigenhändig erfunden. Nach manchen Quellen waren Führers Posten in Indien schon seit längerem durch Schließung oder Mittelkürzungen bedroht – wohl mit ein Beweggrund für den Doktor, sich durch sensationelle »Entdeckungen« unentbehrlich zu machen. Er hatte in Indien auch geheiratet und vielleicht Ernährungssorgen. Mit der Abdankung kam er nun recht glimpflich davon, weil die Vorgesetzten bemüht waren, den Löwenanteil seiner Sünden zu vertuschen, um Schädigung des Rufes der ganzen Branche zu vermeiden.

Zurück zum angeblichen Unfall im April. Laut Allen hatte es selbstverständlich schon damals, vor allem in Wien und Kiel, Selbstmordgerüchte gegeben. Eben deshalb fuhren Bühlers Bewunderer die Unfalltheorien auf. Die Profes-soren Friedrich Knauer und Arthur MacDonnell etwa, so Allen, hätten jedoch eingeräumt, selbst Gelehrte von so hoher Gesinnung Bühlers seien nicht gegen alle »Mückenstiche« gefeit. So war er sicherlich auch nicht gegen Schädigungen seines hohen Rufes immun. Immerhin hatte er einige Unlauterkeiten von Führer entweder großzügig übergangen oder aber für bare Münze genommen und prompt in verschiedenen Schriften mitgefeiert. Laut MacDonnell ging Bühlers Angst vor Rufschädigung gar so weit, ein bemerkenswertes heimliches Buch zu führen. Darin habe Bühler »die Fehler, die er in den Arbeiten anderer Gelehrter fand«, aufgezeichnet, um sie gegebenenfalls, bei Angriffen gegen ihn selbst, als Abwehrwaffen auskramen zu können …

Wie es aussieht, zog sich Führer nach seiner Abdankung in die Schweiz zurück, wo er, inzwischen zum zweiten Mal verheiratet, als christkatholischer Priester wirkte und 1930 mit knapp 77 starb. Schließlich hatte er einst sowohl Orientalische Sprachen wie Katholische Theologie studiert. Damit hatte die Welt einen prominenten Büßer oder Scheinheiligen mehr. Wie Führer, damals noch in Indien weilend, die Todesnachricht vom Bodensee aufgenommen habe, sei unbekannt, teilt Allen mit. Den mutmaßlichen Selbstmord läßt der Brite im Dunkeln.

Sollte sich Führers Mentor Bühler – aus welchen Gründen auch immer, es gibt genug! – in der Tat umgebracht haben, wußte dieser vermutlich zu verhindern, daß er, ob lebendig oder tot, gleich wieder auftauchen würde. Hier gehört vielleicht eine merkwürdige Beobachtung hin, die Allen gleich zu Beginn seines Drowning-Kapitels anführt. Nach Augenzeugen sei Bühler gegen Abend des Todestages mehrmals an derselben Stelle des Sees vor- und zurückgerudert. Hatte er womöglich ein Senkblei dabei, um den günstigsten Sterbeort auszuloten? Jedenfalls ist anzunehmen, er hatte irgendeinen schweren Gegenstand nebst Seil geladen, um sich vorm Abtauchen hinreichend zu beschweren. Auch Allen stößt das »höchst ungewöhn-liche« Ausbleiben der Leiche auf. Allerdings verkneift er sich die Andeutung der denkbaren Alternative: es gab gar keine Leiche. Vielmehr wurde dieses Bodensee-Unglück vom Mentor des Fälschers vorgetäuscht – um in einem recht anderen Sinne abtauchen zu können und die liebe Züricher Familie, Hypotheken und andere Schulden eingeschlossen, endlich vom Halse zu haben. So etwas kommt ja wohl vor.

* The Buddha and Dr. Führer: An Archaeological Scandal, London 2008, hier Paperback-Ausgabe Haus Publishing, London 2011, bes. S. 173–76
** Georg Bühler, Straßburg 1899, Broschüre von 23 Seiten. Siehe auch online unter http://www.payer.de/dharmashastra/dharmash02a.htm. Führer ist mehrmals erwähnt, doch alles Skandalöse und Persönliche (Schüler etwa) umschifft der Würzburger Indologe eiskalt. Den »entsetzlichen Unfall« am Bodensee streift er im letzten Absatz.

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