Sonntag, 10. September 2023
Geteiltes Leid …

Im April 1943 wirft sich Myrtek Stanowitsch, Anfang 20, wegen Drohungen des Nazi-Ortsgruppenleiters, er werde gemeldet und folglich erschossen, bei Metz vor einen Zug.* Der polnische Kriegsgefangene und »Fremdarbeiter« im Saarland hatte wohl einst Elektriker gelernt. Sein Vergehen: »Rassenschande«. Stanowitsch hat nämlich Aline Söther geschwängert, geboren am 10. September 1923. Die Landwirtschaftshelferin und Tochter eines einheimischen, wenn auch kommunistischen Bergmanns liebt ihn nämlich, heißt es. Aber es ist verboten. Und bald nach dem Unglück und der Geburt ihrer Tochter Rita (die zu den Großeltern kommt) wird Söther nach Ravensbrück verschleppt, wo sie 1945 mit erst 21 Jahren umkommt, angeblich durch Typhus. In Wahrheit sei sie, kurz vor der Befreiung des KZs, von SS-Schergen erschossen worden, behauptet die Saarbrücker Zeitung 2015.** In diesem Jahr wurde in Söthers Heimatdorf Beckingen ein Platz nach ihr benannt.

Zwar erwähnt die Lokalpresse anläßlich der Platzeinwei-hung auch eine Enkelin Söthers, sogar namentlich, doch mein Versuch, mit dieser ins Gespräch zu kommen, scheitert. Ich fürchte allerdings, die Enkelin hätte ebenfalls keine Einzelheiten über das Temperament, die Wünsche und die Liebe der Bergmannstochter gewußt. Solche Opfer: Bergmannstöchter und radbrechende Elektriker, sind der Welt meistens nicht sonderlich wichtig. Dafür gibt es über den DDR-Bergmann Adolf Hennecke Literatur in Förder-turmhöhe, wie ich stark vermute. Über Söthers Geliebten Stanowitsch scheint die Nachwelt noch nicht einmal einen Teelöffel voll zu wissen. Hat er aber Glück, wird er im Saarland noch als zukünftiger Held ausgegraben, weil er immerhin kein Russe war.

Es liegt mir freilich fern, Stanowitsch beleglos zu ver-klären. Zum Beispiel könnte ja geargwöhnt werden, er habe Söther glatt im Stich gelassen – und gleich auch noch mit einem Kind. Nebenbei spricht der noch heute beliebte »Schienensuizid« auch nicht unbedingt für Stanowitsch. Ob die beiden eine Flucht oder einen sogenannten Paarselbstmord erwogen, wissen wir nicht. Beides wäre kaum verblüffend gewesen, weil auf Söthers »Vergehen« schließlich bekanntermaßen KZ stand. Ich selber wälze die Frage, wie ich mich im Ernstfall am besten umbringen könnte, seit Jahren um und um. Mit Aline hätte ich vielleicht sogar meiner Höhenangst getrotzt. Man erklimmt nach Schichtende gemeinsam den erwähnten Förderturm, nimmt sich oben bei der Hand und macht am besten die Augen zu. Vielleicht noch ein letzter Kuß – und dann auf Wiedersehen!

Was denn ein Ernstfall wäre ..? Na, ich denke etwa an die Gründung eines grünen BDM (Bund Deutscher Mädels) durch dessen zukünftige Generalsekretärin Annalena Baerbock.

* Margit Stark, »Gedenken an verfemte Liebe«, Saarbrücker Zeitung, 10. September 2015: https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/merzig-wadern/beckingen/gedenken-an-verfemte-liebe_aid-1589959
** Norbert Becker, »Zum Gedenken an NS-Opfer«, Saarbrücker Zeitung, 14. September 2015

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