Dienstag, 30. Mai 2023
Marlowe
Aus gegebenem Anlaß grabe ich ein Ende 2021 verfaßtes Porträt aus. Nur der erste Satz ist neu.

Haben wir den x-ten Frühverstorbenen zu betrauern? Für Brockhaus wurde Schuhmachersohn Christopher Marlowe, der in Cambridge studiert und bereits Ruhm als englischer Dramatiker, Lyriker und Übersetzer eingeheimst hatte, am 30. Mai 1593 im Alter von 29 Jahren »bei einem Wirtshausstreit erstochen«, aus die Maus.* Immerhin hatte er da ja schon Die tragische Historie vom Doktor Faustus, das Versepos Hero und Leander und das Drama Edward II. vollendet – was wollte er noch mehr? Erfahren zu wollen, worum es denn bei diesem »Wirtshausstreit« gegangen sei, wäre vielleicht zuviel verlangt, können sich doch herkömmliche gedruckte Nachschlagewerke stets auf »Platznöte« zurückziehen. Brockhaus ist aber überdies kaltschnäuzig genug, einen anderen Streit, der unter Literaturwissenschaftlern und -freunden seit mindestens 100 Jahren tobt, mit keinem Komma zu erwähnen: ob Christopher Marlowe möglicherweise an jenem Mai-, Zech- und Zahltag im Londoner Stadtbezirk Deptford keineswegs gestorben und ob er nicht vielmehr mit dem ebenfalls 1564 geborenen Stratforder Dramatiker William Shakespeare identisch gewesen sei. Die AnhängerInnen dieser, beispielsweise ausführlich im Wikipedia-Artikel »Marlowe-Theorie« vorgestellten Sicht (für die Gegenseite selbstverständlich eine Verschwörungstheorie) können sich dabei unter anderem auf Ungereimtheiten des Shakespearschen Lebens und Schaffens stützen, die heute so gut wie niemand mehr bestreitet.** Viele dem »Meister« aus Stratford zugeordneten Werke lassen sich nur für Einfaltspinsel jenem rothaarigen, biederen Kaufmann unterschieben, der weder vor Marlowes (angeblichem) Tod jemals durch literarische Produktion aufgefallen war noch nach seinem eigenen Ableben (1616) Hinweise auf eine solche hinterließ. Zudem war der Kaufmann bar aller höfischen Kontakte und wohl auch aller Fremdsprachen-kenntnisse, ganz im Gegensatz zu dem jungen Marlowe.

Der umtriebige Akademiker Marlowe war zumindest zeitweise als Kundschafter im Auftrage Königin Elisabeths tätig gewesen, hatte dann aber schwer mit Vorwürfen wegen seines unverhohlenen »atheistischen« Denkens und Lebenswandels zu kämpfen. Als er an jenem unheil-schwangeren 30. Mai im Hause der durchaus angesehenen Witwe Eleanor Bull mit Ingram Frizer, Robert Poley und Nicholas Skeres beim Abendmahle saß, waren gerade zwei enge Freunde Marlowes eingesperrt und gefoltert und noch andere »Ketzer« verfolgt oder gar aufgeknüpft worden, darunter Thomas Kyd.*** Marlowe befand sich ohne Zweifel in einer höchst bedrohlichen Lage, ihm winkte die Todesstrafe. Die »Verschwörungstheoretiker-Innen« nehmen deshalb mit etlichen guten Argumenten an, die Messerstecherei in dem Speisezimmer sei lediglich vorgetäuscht worden. Die Genannten hätten vielmehr Marlowe auf diese Weise aus dem Verkehr gezogen, dafür den Untersuchungsrichtern eine »falsche« Leiche unter-geschoben. Fortan habe Marlowe ein anonymes Leben geführt, allerdings unter verschiedenen Pseudonymen, darunter eben »William Shakespeare«, weiterhin literarische Werke veröffentlicht. Wahrscheinlich sei er erst 1655 in hohem Alter gestorben, und zwar in Gent, Flandern, also auf dem Festland.

Die bislang jüngste Munition der DenkmalschänderInnen packte ein pensionierter Münchener Medizinprofessor mit einem 700-Seiten-Wälzer auf den Tisch.**** Sein Werk wurde unter anderem von der FAZ verhöhnt und verrissen*****, was niemanden verblüffen wird, der an die vielen offiziell erlassenen Kanons nicht mehr ganz so fest wie kleine Kinder an den Nährwert des Goldes oder wie die kommunistische Tageszeitung Junge Welt an den »Klimawandel« glaubt. Im Falle Shakespears stehen neben der ungemein einträglichen Stratforder Tourismusbranche immerhin die sogenannte Reputation (auf deutsch »päpstliche Unfehlbarkeit«) und die entsprechenden Einkünfte von vielen Hundert literaturwissenschaftlichen Kapazitäten auf dem Spiel. Sie müssen recht behalten, damit ihre Sterne nicht sinken und ihre Preise nicht fallen. Das nordhessische, minder geweihte Blatt HNA (aus Kassel) nimmt solche Rücksichten erstaunlicherweise nicht, wie ein Artikel von Bettina Fraschke bezeugt.******

* Band 14 von 1991, S. 229
** Als der Wiener Schauspieler und Publizist Egon Friedell 1927 den ersten Band seiner Kulturgeschichte der Neuzeit veröffentlichte, waren ihm die Zweifel an der Identität des »heimlichen Königs« von England durchaus bekannt – weshalb er diese Frage kurzerhand für nebensächlich erklärte: »Vielleicht hieß er nicht Shakespeare: was kümmert uns seine Adresse!« (Zitiert nach der einbändigen Münchener Dünndruckausgabe von 1974, S. 400.) Hauptsache, die verehrbare »Größe« war da, soll sie doch Schüttelspeer, Marlowe oder Windbeutel heißen. Friedell liebte Großes.
*** Der Dramatiker Kyd (1558–94) war wohl im Gefängnis umgefallen und dann, entlassen, nach einem Jahr als 35jähriger an den Folter- und Haftfolgen gestorben.
**** Bastian Conrad: Christopher Marlowe, der wahre Shakespeare, München 2011
***** Werner von Koppenfels, »So eine Maulwurfexistenz ist doch enorm anstrengend«, 18. November 2011: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/bastian-conrad-christopher-marlowe-so-eine-maulwurfexistenz-ist-doch-enorm-anstrengend-11533109.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
****** »Der wahre Shakespeare? Der Dramatiker Christopher Marlowe«, 25. Februar 2014: https://www.hna.de/kultur/wahre-shakespeare-dramatiker-christopher-marlowe-3384721.html



Das vorstehende Porträt war damals vorübergehend in meinem Blog-LdF zu lesen. Dagegen verkniff ich mir die Veröffentlichung der folgenden Arbeitsnotiz.

Die Lektüre von Bastian Conrads Wälzer (in der 5., angeblich »korrigierten« Auflage vom Januar 2016) ist aufgrund der dramaturgischen und stilistischen Mängel kein Vergnügen. Die Stoffülle erschlägt, und neben zahlreichen Wiederholungen verärgert die Armut in Ausdruck und Satzbau, die mit einem Reichtum an Druck- und Layoutfehlern einhergeht. Gleichwohl dürfte an Conrads Argumentation und Beweisführung gegen Shakspere gar nicht, und für Marlowe (=Shakespeare) kaum zu rütteln sein. Der junge Marlowe, denunziert, hatte seine Ketzereien überzogen und wurde 1593 qua »Messerstecherei« mit zumindest stillschweigender Billigung der Krone auf Betreiben seiner hochstehenden Gönner aus dem Verkehr, also in die Anonymität gezogen. Er galt hinfort als tot. Das hatte wohl vor allem den Sinn, die Gönner selber, voran William Cecil, zu schützen – hätte nämlich Marlowe unter Folter »ausgepackt«, wäre es seinen Gönnern gleichfalls an den Kragen gegangen. Daneben retteten sie so die Schaffenskraft eines erst jungen »Genies«. Den gleichaltrigen biederen, völlig ungebildeten Kaufmann Shakspere, geb. 1564, aus dem Nest Stratford, der vorübergehend in London lebte und in der Theaterbranche investiert hatte, kauften sie als Marlowes Strohmann ein, auf daß Marlowes folgende Werke einen »Namen« bekämen und nachlaßfähig wären. Daneben schrieb Marlowe schon zu Shaksperes Lebzeiten unter zahlreichen anderen Pseudonymen, um seine Stratforder »Maske« nicht überzustrapazieren und ihr keine Schnüffler ins Haus zu schicken. Als Shakspere 1616 das Zeitliche segnete, veröffentlichte Marlowe fröhlich weiter unter vielen Pseudonymen, denn er war unglaublich produktiv und starb erstaunlicherweise erst im Oktober 1655 als Tobias Matthew in Gent, Flandern, wie jedenfalls Conrad glaubt, S. 588. Demnach wurde Marlowe trotz aller Ängste, Exilnöte und Arbeitswut 91 Jahre alt! Das ist für die Zeit enorm – merkwürdigerweise aber für den kritischen Conrad nie ein Grund zum Stutzen.

Ähnlich bleibt unerklärt, warum Marlowe das Komplott seines Untertauchens gefährdet, indem er sich, unter anderen Pseudonymen, wiederholt nur notdürftig verschlüsselte Anpinkeleien seines Stratforder Strohmanns gestattet, der sich ungestraft mit fremden Federn schmücken dürfe, obwohl er eine taube Nuß oder ein Arschloch sei. Vielleicht beläuft sich die Erklärung auf Marlowes gewaltige Eitelkeit: er konnte nicht anders. Sie erklärt ja nebenbei auch den Hauptzweck der eigentlich überflüssigen Maske. Wenn schon nicht unter seinem eigenen, wollte Marlowe doch wenigstens unter einem anderen Namen weltberühmt, beweihräuchert und bewallfahrtet werden, eben als William Shakespeare aus Stratford. Doch es wurmte ihn 60 Jahre lang Tag und Nacht. Conrad erwähnt einmal Marlowes eher geringe Körpergröße; entsprechend muß der Minderwertigkeits-komplex des Schustersohnes, der sich nach »echtem« Adel (dem seiner Gönner) verzehrte, höher als der Tower gewesen sein. Nach Conrads Darstellung und Auslegung vieler, teils ungeklärter pseudonymer Quellen war Marlowe so stark von sich eingenommen, daß die Vorstellung, Neid, Bedauern und Selbstmitleid hätten geschlagene 60 Jahre an ihm genagt ohne ihm vorzeitig den Garaus zu machen, umso schwerer fällt.

Medizinprofessor Conrad, brav auch die akademischen Titel der angeführten Autoren nicht unterschlagend, räumt diese Eitelkeit nur hin und wieder und nur beiläufig ein. Die antiautoritäre Perspektive ist nicht sein Blick. Erwähnt er einmal, Leute wie Goethe hätten massiv zum Geniekult um Shakespeare beigetragen, ist es schon viel. An der Bedeutung von »Größe« für die Menschheit rüttelt er nie. Die bereits groteske Überschätzung der schöngeistigen Verse sowohl eines Marlowes wie eines Shakespeares macht er mit. Was soll dieses gezierte Stöhnen »genialer Dichter« über die Sorgen von Herrscherfiguren, während, schon damals, die halbe Welt verhungert oder erfriert? Egon Friedell aufgreifend und wendend, müßte man wirklich knurren: ob Shakespeare, Marlowe, Bacon oder sonst wer, das sei doch scheißegal. Warum daran so unglaublich viel Mühe und Lebenszeit verschwenden wie Professor Conrad?
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