Donnerstag, 23. Juni 2022
Emporismus
2009


Diese in sämtlichen Lagern angebetete Ideologie dürfte im Aufrechten Gang wurzeln. Die Welt stellt sich ja erheblich anders dar, wenn man sie nicht wie Schnecken und Robben oder wie ein Ochse zu bewältigen hat. Sie erhält den Zug nach oben. Der Recke hat freie Hände und sieht mehr als eine Schnecke. Er sieht sich aller anderen Kreatur überlegen. Ein Ende der Überlegenheit sieht er verständ-licherweise nicht, schiebt sich doch die Hürde »Horizont« auf gekrümmter Erde stets hinaus.

Der Emporismus will und verheißt nicht etwa Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, vielmehr Zielstrebigkeit, Fortschritt, Unsterblichkeit. An etlichen gotischen Domen wurde über mehrere Jahrhunderte hinweg gebaut. Lichtenberg machte sich schon vor rund 200 Jahren über Emporismus lustig; vertikale Einteilungen seien Hirnge-spinste. In F. G. Jüngers erstaunlich kenntnisreicher Untersuchung Die vollkommene Schöpfung von 1969 tauchen bereits massive Zweifel an einer auf uns Krone der Schöpfung abgezielten Auslese der Evolution auf. 20 Jahre später gibt ihr der Paläontologe Stephen Jay Gould mit seinem Buch Zufall Mensch den Rest, indem er die fesselnde Geschichte der Fossilienfundstätte Burgess Shale in den kanadischen Rocky Mountains erzählt. Danach sind wir eher ein betrübliches Überbleibsel einer zufällig untergegangenen, nie mehr erreichten faunischen Vielfalt. In seinem nächsten Buch Illusion Fortschritt von 1996 macht Gould – neben dem Emporismus – auch unserem Neuigkeitswahn und unserem Trendsettertum den Garaus. Doch die Fortschrittsgläubigen führen unerschüttert ihr »Onto-Genie« ins Feld: im einzelnen Lebenslauf – vom Säugling zum Weisen – liege ja ebenfalls das Empore vor. Verbitterte Greise als Gipfel der Reife.

Was mich betrifft, wären mir der Schwarzgeldzüchter Helmut Kohl als Oggersheimer Milchgroschenknirps, der Balkanzüchtiger Joschka Fischer als Frankfurter Pflastersteinewerfer lieber gewesen. Meine recht bunten Lebenserfahrungen sind wahrscheinlich breiter als Kohl; gewiß kommt man mit ihnen nie nach oben, aber in die Tiefe. Eine Krönung germanischen Reckentums stellt Greis Otto Schily dar, dem die Innere Sicherheit bereits als Betonmehl aus der Bügelfalte rieselt. Emporstrebende Großväter für das Empire; Empörung für uns.

→ Siehe auch Heft 4 Stehsarg
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