Sonntag, 23. September 2018
Jean Améry
Geschrieben um 2012


Falls Sie nie von ihm gehört haben: der österreichische Schriftsteller, geb. 1912, ist Standardwerkler in Sachen Selbstmord und Meister des so langatmigen wie spitzfin-digen Essays. Immerhin, 10 Jahre vor seinem Tod macht er sich auf diese Weise zurecht über den angeblich beschaulichen „Lebensherbst“ unseres Alterns lustig. Acht Jahre darauf, 1976, verhöhnt er in Hand an sich legen die beliebte Vorstellung, im Tod fänden wir Ruhe oder Frieden – „als ob der Tod ein Zustand wäre, beschreibbar in Seinskategorien, und nicht vielmehr das nichtige Nicht.“ Kennt er also für Nichtseinskategorien eine andere Bezugsadresse als das Sein? Hat er das Nichts schon einmal bereist? Ja, sogar zweimal („nichtiges Nicht“), denn doppelt hält besser.

Demnach bildet sich Améry wie so viele DenkerInnen ein zu wissen, was jenes „Nichts“ sei, das uns nach dem Tod erwarte, eben „nichts“. Faktisch jedoch befürchtet er durchaus, es könne „drüben“ noch recht ungemütlich werden, wie so manche verräterische Stelle in seinem ermüdenden Erguß beweist. Ich führe nur seine gestelzte Feststellung an, zumeist habe der Selbstmörder „Angst vor dem äußersten Trennungsschmerz, Angst davor, niemals mehr Angst zu haben“. Ja Gottchen – wäre das nicht wunderbar? Wenn das garantiert wäre, hätten wir in Deutschland umgehend 100.000 Selbstmorde jährlich statt nur den zehnten Teil davon.* Doch Améry glaubt offensichtlich selber nicht inbrünstig genug ans nichtige Nichts. Nur liebt er es, auf hochtrabende Weise um den Brei herumzureden, wobei es kaum verblüfft, wenn er aquarellierende Kaffeesatzdrechsler wie Rilke, Wittgen-stein, Cesare Pavese schätzt. Fragt man sich verzweifelt nach Amérys Befunden, kratzt man am Ende notdürftig zusammen: Selbstmord ist nichts Anrüchiges; er kostet viel Überwindung; Wildpferde oder Walnußbäume begehen nie Selbstmord – es ist eine Domäne menschlicher Freiheit.

Das wars. Entsprechend zieht Améry den Namen Freitod vor. Da sich ein Mensch jedoch in der Regel vorsätzlich und gleichsam aus guten schlechten Gründen umbringt, finde ich „Mord“ gar nicht so unangebracht. Dagegen kommt mir ein „freier“ oder auch nur ein „gewählter“ Tod ähnlich lächerlich vor wie eine maßgeschneiderte Hausgeburt, für die ich vor meinem Eintritt ins Dasein nach Gutdünken die Kasseler Villa Henschel, das Regensburger Schloß oder die knapp 30 Hektar kleine Karibikinsel Necker Island bestimmen darf. Auf dieser hatte Ober-Google Larry Page 2007, als Mieter der ganzen Insel, die zukünftige Mutter seiner Erben geehelicht. Auf diese warten derzeit rund 35 Milliarden US-Dollar. Sind sie klug, geben sie dem Alten auf seine nächste Urlaubs-insel ausschließlich Améry-Essays mit, dann fällt er nach zwei Wochen tot um.

In Wahrheit ist jeder Tod erpreßt, also auch jeder „Freitod“, es sei denn, man glaubt an „Willensfreiheit“. Améry selber machte 1978, knapp 66 Jahre alt, in einem Salzburger Hotel mit Schlaftabletten ernst.

* Zu den 10.000 kommen (nach Schätzungen) mindestens 100.000 Deutsche, denen ein Selbstmord mißlang oder die ihn vielleicht auch mit Absicht halbherzig angingen.
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