Donnerstag, 9. Juni 2016
20 Jahre Aussicht vom dreizehnten Stock
Geschrieben 2015


Der aus Österreich-Ungarn stammende Chemiker und Schriftsteller Erwin Chargaff, gestorben 2002 in hohem Alter, wohnte auch hoch, nämlich über Jahrzehnte hinweg in einem kleinen Wolkenkratzer am Central Park in New York City. Sein Essay „Die Aussicht vom dreizehnten Stock“ erschien erstmals 1995/96 in Nr. 25 der Jahres-schrift Scheidewege. Es ist ein bedeutender, pessimi-stischer Rundschlag, den ich in meinem Chargaff-Porträt, den (angeblich) zunehmenden Verlust der Menschlichkeit betreffend, lediglich streifte. Er stellt aber noch einige andere Diagnosen und Prognosen, die vielleicht der Überprüfung wert wären. So glaubt Chargaff, der „Kommunismus“ (der Ostblock) sei im Grunde von der (westlichen) „Konsumenzija“ besiegt worden. Gleichwohl hält er es für unwahrscheinlich, daß sich die westliche „Demokratie“ mit ihrem „korrupten“, für immer mehr Verdruß sorgenden politischen System noch lange werde halten können. Vielleicht kämen verhüllte Militärdikta-turen und Kriege zwischen Großkonzernen (statt Nationen) auf uns zu. Die nächsten empfindlichen Erschütterungen sagt er erstaunlicherweise seinem Gastland voraus, also den von Kriegslasten, Armut und Kriminalität in ungeheurem Ausmaß gebeutelten USA. An den Niedergang des Kapitalismus und der Naturfor-schung scheint der streitbare und wortgewandte Wissenschaftler dagegen nicht zu glauben. Diese beiden „Institutionen“ sprössen munter weiter, wobei sie „einer Art von Symbiose“ entgegengingen. Heute, 20 Jahre später, sind wir, mit Hilfe der emsigen und üppig subventionierten HirnforscherInnen, schon nicht mehr weit vom märchenhaften Gedankenlesen entfernt, und es liegt auf der Hand, nach welchen Wünschen die Werbe-abteilungen unsere Hirne zuerst befragen werden.

Drei Jahre darauf ließ Chargaff in Nr. 28 (1998/99) der Scheidewege seine eindrucksvolle „Selbstbesichtigung“ folgen. Der Mann hatte inzwischen die 90 überschritten. Er beklagt erneut die sprunghafte Entwertung des menschlichen Lebens im Laufe des ausklingenden Jahr-hunderts, das verheerende Weltkriege, Verseuchungen durch Atomwaffen, Kunststoffe und Arzneimittel und als Städte bezeichnete „Mördergruben“ wie NYC aufzuweisen hat. Er spricht von seiner, wohl überwiegend in seinem Naturell wurzelnden Einsamkeit – aber auch von seiner 1995 mit 88 Jahren gestorbenen Ehefrau Vera Broido, die ihm einzigartig viel bedeutet haben muß. Chargaff hatte sie 1926 in Wien als knapp 20jährige Pharmaziestudentin getroffen, und seitdem seien sie unzertrennlich gewesen. Sie sei auch die einzige Frau in seinem Leben geblieben. Einer wie ich kann es kaum glauben. Chargaff, der seinerseits noch 96 wurde, beschreibt Broido, die aus einer „unbürgerlichen Familie von russischen Sozialisten“ stammte, als scheu, still, zurückhaltend, edel im Gesicht, anfänglich ungeübt am Kochherd, dafür zeitlebens unermüdlich im Bergwandern. Sie hatten einen Sohn. Wenn sich Chargaff selber ein unauffälliges Gelehrten-leben bescheinigt, dürfte Broido die typische bürgerliche, vielleicht auch jüdische Hausfrau und Kameradin gewesen sein. Mit ihr war Chargaff überaus glücklich – ob sie ebenfalls überaus glücklich war, läßt er offen, und ich kann es selbstverständlich nicht beurteilen. Er widmet ihr abschließend ein aus zwölf Versen bestehendes erstklas-siges Gedicht, „An die schlafende V.“. Etliche romantische sogenannte Dichter haben ihre „Unsterblichkeit“ mit deutlich schlechteren und weniger tiefschürfenden Hymnen errungen. Nebenbei relativieren diese Verse Chargaffs Neigung zur Frömmelei, die sich auch in beiden Essays wiederfindet.
Deines Lebens Atembrand / ist gestillt zu einem Glimmen. / Aber über dieser Wand / leben tausend Stimmen. // Ja, du bist in dieser Nacht / Holzscheit auf den Fluten. / Aber über dir ist Schlacht, / Schwerter, die von Gottes Atem bluten. // O, wie bist du arm und mächtig, / Schlafende, im Fallen der Gedanken, / wenn in deinem Reiche atemprächtig / alle Säulen deiner Tage wanken!
Nun ja, inzwischen sind die alttestamentarischen Schwerter Schnellfeuergewehren und Drohnen gewichen. Und was wir in den vergangenen, ausgerechnet „rotgrün“ angekurbelten 20 Jahren beobachten, ist eine offenbar unaufhaltsame konsequente „Durchmilitarisierung“ der erfolgreich „globalisierten“ Welt. Das reicht vom Kampf des Kindes um Brot, Wasser oder Aufmerksamkeit, des Schülers um einen Arbeits- oder zunächst Studienplatz über das tagtägliche Wüten auf unseren Straßen und unseren Bildschirmen bis zu dem neuen Völkerrecht, nämlich dem Recht des jeweils Stärksten, jedes nicht genehme Volk zu gängeln und zu züchtigen, wann und wie es ihm beliebt. Gewiß gestaltet sich diese Durchmilitari-sierung nicht ohne Schwankungen und Unberechenbar-keiten. So zeigten sich an der Monatswende Septem-ber/Oktober viele „Linke“ von Putins Rede vor der UNO* überrascht, und zwar sogar angenehm. Ja, was verkündet er denn darin, der Herr Ost-Präsident? Er betont, er halte die um Ausgleich bemühte Weltorganisation, diesen unglaublich kostspieligen Elefantenzirkus, für alternativlos, es sei denn, man bevorzuge „das Recht des Stärkeren“. Entsprechend hält er auch die „staatliche Souveränität“ hoch, verurteilt Einmischung und Export von Demokratie und Revolution, auch seitens der Ex-SU. Für Anarchisten liegt aber schon hier der Hase im Pfeffer: in der stillschweigenden Gleichsetzung von Selbstbestim-mung mit Staat. Überhaupt fehlt Putins so erfreulich bescheiden klingender Stellungnahme jedes Gramm des Zweifels an der eingefahrenen prunksüchtigen Lebens-weise der zivilisierten, inzwischen eher militarisierten Menschheit – womit er Chargaffs Diagnose unterstreicht, die Ex-SU sei der „Konsumenzija“ erlegen.

Kaum vom Rednerpult gestiegen, ließ Putin in Syrien bombardieren. Gewiß, Freund Assad hatte ihn darum „gebeten“. Mir macht aber niemand weis, Putin habe sich plötzlich in den Samariter der unterdrückten und ausgebeuteten Völker der Welt verwandelt. Er ist weder Sozialist noch Soziologe; er ist Machtpolitiker und Pragmatiker. Von den eigentlichen Wurzeln des „Terrors“ hat er so wenig Ahnung wie Merkel und Obama. Der Terror ist die Waffe der Armen und Ohnmächtigen. Er ist der Sturm, den der Imperialismus als Wind säte. So ist er auch die „Toppung“ der Gewalttätigkeit, die der modernen Menschheit Tag für Tag vorgelebt und eingehämmert wird. Folgerichtig stellte Putin in seiner Rede fest, schließlich habe Rußland den Terror schon immer entschieden bekämpft, etwa im Kaukasus, wie wir ja wissen. Bombt er nun auch in Syrien mit, folgt er lediglich dem seit einiger Zeit beliebten Muster des „präventiven Selbstschutzes“: ehe wir die „muslimischen Schlächter“ vermehrt am eigenen Halse haben, bombardieren wir sie lieber dort, wo sie herangezüchtet werden, in Nahost. Nebenbei machen wir dem wankenden Koloß USA auf diese Weise einmal deutlich, daß er auf tönernen Füßen steht. Das empfiehlt sich durchaus – aber nicht etwa um der armen Völker willen, vielmehr um ihres lieben Öls und Gases willen, woran zum Beispiel Paul Schreyer Anfang Dezember erinnert hat.** Im Grunde hat sich am Schema das Kampfes zwischen mindestens zwei erzfeindlichen, um die Fleischtöpfe des Planeten konkurrierenden „Lagern“, wie immer sie auch zusammengesetzt sein mögen, seit vielen Jahrzehnten rein gar nichts geändert. Kapitalismus heißt Konkurrenz, und Konkurrenz braucht Feinde. Kaum habe ich dergestalt über Rußlands wahre Absichten orakelt, läßt auch Putin höchstpersönlich die Katze aus dem Sack, wie Sputnik Deutschland am 11. Dezember meldet.
„Zuallererst verteidigen die russischen Militärs in Syrien unser Land. Unsere Handlungen werden nicht von irgendwelchen unklaren, abstrakten geopolitischen Interessen und auch nicht von dem Wunsch, zu trainieren und neue Waffensysteme zu testen, diktiert – was allerdings an und für sich auch wichtig ist. Das Wesentliche ist aber, eine Bedrohung für Russland selbst abzuwenden“, sagte Putin am Freitag bei einer Konferenz im russischen Verteidigungsministerium.
Wenn „Globallisierung“ überall zu Elefantisierung führt, ist vielleicht nicht auszuschließen, daß sie auch vor den einstmals so eifrig erarbeiteten Grenzen zwischen den diversen Lagern, den sogenannten Islamismus einge-schlossen, nicht Halt macht. Für mein Empfinden läßt sich eine Tendenz zur Verschmelzung der angeblich strikt gegnerischen Gewaltapparate beobachten – flankierend zu Putins Beschwörung von Weltorganisation, womöglich bald auch Weltregierung, jedenfalls einer neuen „antifa-schistischen“ Einheitsfront gegen den „Terrorismus“. Das ist ja auch kaum verblüffend, denn Verwandtes und miteinander eng Ringendes färbt aufeinander ab. Ohnehin dürften die meisten „Terroristen“, von Al Kaida oder IS etwa, mittelbare oder sogar unmittelbare Ausgeburten des Imperialismus (und seines Agentenheeres) sein, wie von etlichen Spitzenpolitikern des Westens sogar schon zugegeben wird. Und auch beim terroristischen Wirken greift eine Unübersichtlichkeit um sich, die kaum noch die Feststellung zuläßt, wer nun den Anschlag Z. befohlen, organisiert, ja wer ihn auch nur ausgeführt habe. Diese „Täter“, die man zum Beispiel nach den diesjährigen (zweimaligen) Pariser Anschlägen jagt und wahlweise erschießt oder präsentiert, sind wohl überwiegend, sofern keine Sündenböcke, schillernde Monster, die man genausogut bei der Mafia wie bei der Polizei, bei Söldnertruppen oder anderen Mörderbanden, wie etwa dem „Verfassungsschutz“, finden kann. Wahrscheinlich können die sich untereinander schon selber bald nicht mehr auseinanderhalten. Mehr noch, hier werden grausame „Selbstläufe“ in Gang kommen, die niemand befohlen und keiner vorausgesehen hat. Jedenfalls ist es kindisch anzunehmen, ein paar große Strategen hätten noch alle Karten fest in der Hand. Auch sie, die Konzern-manager eingeschlossen, werden zu Spielbällen der Selbstläufe im postmodernen globalen Krieg werden. Erst fängt man an, einen kleinen Balkanstaat zu „destabili-sieren“, und am Ende hat man die Welt im Chaos.

Wer auch immer hinter den erwähnten Pariser Anschlägen stand, ihr Nutzeffekt folgt dem Muster 9/11: Sie verbreiten Angst und erhöhen dadurch die Bereitschaft des Bürgers, sich einen „beschützenden“ Staat zu leisten, der ihm selber alle „demokratischen“ Flausen austreibt und ihn bis zum baldigen Exitus knebelt. Kurz, sie befeuern den Weg in die Militarisierung. Selbstverständlich schließt diese auch wieder klassische Angriffskriege ein. Schreyer schrieb seinen Beitrag anläßlich des braven, im Grunde jedoch einzigartig unverfrorenen Berliner parlamentarischen Abnickens von nun ebenfalls gen Syrien „entsandten“ Kampfflugzeugen. Wir sind jetzt dabei. Freilich nennen die Steinmerkels dergleichen tunlichst nicht Angriffskrieg. Heutzutage läßt sich doch wunderbar schwammig und dehnbar vom „Krieg gegen den Terrorismus“ sprechen – das ist reine Selbstverteidigung, das rechtfertigt jeden Einsatz, denn wo auf der Welt wäre kein „Terror“ zu Hause? Dafür hat man schließlich gesorgt.

Ich erfahre jetzt die Dementierung der einst von Kohl gepriesenen „Gnade der späten Geburt“, in meinem Fall 1950. Zum einen lebe ich seit 1999 (Jugoslawien) offen-sichtlich wieder in einem kriegführenden Staat, zum anderen wird sich der Krieg, jüngeren Nachrichten von der Forschungsfront zufolge, nicht auf die staatliche Ebene beschränken. Wer noch ein Hühnchen mit seinem Nachbarn zu rupfen hat, wird ihm einen im Internethandel erworbenen Kampfroboter ins Haus schicken. Wer Weih-nachten nicht mehr erleben soll, kriegt ein Päckchen via Minidrohne aufs Dach. Jedem droht demnächst sein persönliches Dresden.

* Hier in der Übersetzung von Reinhard Lauterbach, Junge Welt, 30. September 2015
** „Die syrische Sackgasse“, Telepolis, 5. Dezember 2015

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