Donnerstag, 21. Juni 2012
Schnitter im Mond
Enthalten in meinem Buch Der Große Stockraus von 2009


Der Sterbemonat des Erzählers Ernst Wiechert war der August. Es ist die Zeit der Ernte. Im August gehen die gräflichen Mähmaschinen um den großen Roggenschlag, der sich vom Hochwald bis zum Wiesenbach erstreckt. Die Sommerhitze hat die sprudelnden Gesänge der Lerchen versiegen lassen. Offenbar machen die Mähmaschinen wenig Lärm; sie werden von Pferden gezogen. Die Gespanne erinnern den Beobachter an scherenbewaffnete Tiere, die langsam aber unablässig um das goldene Leben kriechen, während der leise Wind den mahlenden Klang der Messer über die Felder trägt und die Garbenbinder-Innen wie Flügel einer Mühle über den Horizont der Halme steigen und sinken. Im Wald klopft hin und wieder ein Specht.

So in Wiecherts bemerkenswerter Novelle Der Schnitter im Mond. Wie sich versteht, kennt sich der Förstersohn aus den ostpreußischen Masuren in der heimischen Flora und Fauna aus. Geboren 1887, ist er nach seiner Studien-zeit bis 1933 als Gymnasiallehrer in Königsberg und Berlin tätig. Dann zieht er sich nach Bayern zurück, denn er kann sich inzwischen von seinen Büchern ernähren, die von den Nazis geduldet, zum Teil sogar gefördert werden. Vermut-lich rechneten sie sich die Chance aus, den angesehenen Autor vor ihre Mehr-Lebensraum-Maschine zu spannen, aber nach meinen Kenntnissen bekamen sie ihn nicht. Ich stelle mir den zartbesaiteten Wiechert als das Gegenteil eines Eroberers vor. In jenen finsteren Jahren brütet übrigens ein anderer Eigenbrötler, nämlich Friedrich Georg Jünger, sein Buch von der Perfektion der Technik aus, die er einer vernichtenden Kritik unterzieht. Es wäre interessant zu wissen, ob sich Jünger und Wiechert jemals über den Weg liefen. Sie waren bestimmt verwandt. In der eingangs angeführten Novelle haben wir Wiechert wie im Brennglas. Sie stammt von 1930. Wiechert liebte die Natur über alles, und sein Vermögen, sie vor unsere Augen und sonstigen Sinne zu stellen, grenzt an Magie. Mit der modernen Technik dagegen stand er auf Kriegsfuß. Nicht von ungefähr läßt er einen nur mit einer Sense ausgerü-steten Mann gegen die drei gräflichen Gespanne antreten. Der Schnitter im Mond ist toll erfunden. Dasselbe gilt nebenbei für Wiecherts Novellen Pan im Dorfe, Die Häßliche und Niels, der Schlangentöter.

Bei jenem einsamen Schnitter handelt es sich um einen wortkargen jungen Fabrikarbeiter. Schon sein Vater, der sein dürftiges Stück Bergland verlor, war ein Sonderling gewesen. Sohn Malte blüht nur auf, wenn er sich sonntags in den Hügeln umtreibt – oder eben jetzt, da er Nacht für Nacht und ungebeten, seiner Fabrikarbeit zum Trotz, zur innig geliebten Sense greift, um die gräflichen Gespann-führer des morgens durch drei makellos handgemähte Schwadenzeilen zu verblüffen, durch die ihre Maschinen wie vom Saum des Roggenschlages abgerückt erscheinen. Es ist eine listige Herkulesarbeit, die sich Malte da aufgehalst hat. In seinen Sensenhieben schwingen Lust und Sehnsucht mit. Ein märtyrerhafter Zug ist unver-kennbar. Bei Wiechert erstreckt sich das Martyrium gern auch in die Gefilde der Geschlechterliebe; seine Helden und die Frauen kommen nie so recht zusammen. Im Fall der Schnitter-Novelle bleibt die Liebe nächtliche Episode – freilich mit verhängnisvollen Folgen, war es doch ausgerechnet die Tochter des Grafen, die sich dem geheimnisumwitterten, verwegenen Schnitter hingab. Es wäre jedoch fehlgegriffen, Wiecherts Helden schüchtern oder verklemmt zu nennen. Es gibt für sie einfach wichtigere Dinge als die Liebe, nämlich die Leidenschaft für die Natur und dann für Kunst (vor allem Musik) und Literatur. Zu beider Ausübung bedarf es einer Versenkung, von der uns die Frauen nur ablenken können. Entweder sie verwirren uns und wühlen uns auf, oder sie hängen wie Kletten an uns. Deshalb mußte Wiechert im Einfachen Leben Marianne, „das Kind“, blutjung halten. Dieser hinterhältig ersonnene Altersunterschied zwischen ihr und Thomas Orla stellte eine unüberwindliche „natürliche“ Kluft dar; selbst der General sah es ein.

Allerdings treibt das Höhere Streben von Wort- oder Notenakrobaten gerne gar zu weiße Blüten. Wer Ernst Wiecherts Jugenderinnerungen Wälder und Menschen folgt, hat einerseits viel Humoriges, Sentimentales und Salbungsvolles zu überwinden, ehe er fündig wird – andererseits blendet ihn die „Reinheit“, die der Förster-sohn auf jeder dritten Seite beschwört, wie Schneefelder. Die Verlagsinserate in der 1936 bei Langen/Müller erschienenen Erstausgabe übertreiben keineswegs: der Königsberger Musterschüler ist vom schieren „Reinheits-wollen“ durchdrungen. Hartnäckige LeserInnen kehren nach 250 Seiten und 25 Jahren mit dem gemachten Schriftsteller in die masurische Heimat zurück. Im Gedenken an seinen ersten Adler, den er dort schoß, steigt Erkenntnis auf. „Der Hochwald war fort, fremde Scho-nungen sahen mich an ... Was unwandelbar erschienen war, hatte sich gewandelt.“ Wiechert ahnt jedoch, daß diese Ernüchterung nicht unbedingt dem Kindheitsort anzulasten ist. Möglicherweise sei alles noch wie am ersten Tag, und nur er selber sei – in einem großen, blitzenden Automobil – „als ein Fremder“ bei dem stillen, wartenden Forsthaus vorgefahren. Es kommt hier kaum auf den Zeitraum an. Mein motorsägendes Wüten jenseits des Waltershäuser Schloßbergs kam mir bereits nach wenigen Monaten als Waldwanderer sehr unwahrscheinlich vor. Zog mich 2003 vom Bahnhof aus die imposante rote Backsteinfassade der Puppenfabrik magisch an, muß ich ein Irrläufer gewesen sein. Sehe ich mich gar, von Wiechert angeregt, noch um 40 so manche Frau anhim-meln, kann es sich eigentlich nur um Luftspiegelungen handeln. Schizophrenie wäre ja noch harmlos; tatsächlich sind wir in 7 bis 70 Lebensphasen gespalten. Der Adler hat sicherlich mehr Federn, doch dieses Problem hat er nicht.

Drei Jahre nach seinen nur zähneknirschend genießbaren Kindheitserinnerungen legt Wiechert mit Das einfache Leben sein vermutlich noch am wenigsten unbekanntes Werk vor, das auch sein bestes sein dürfte. Dieser Roman spielt in den gewässerreichen Masuren. Der General steht einem Herrengut vor; „Aussteiger“ Orla, ehemals Kommandant eines Kriegsschiffes, heuert bei ihm als Fischer an. Das Buch ist hervorragend komponiert, besticht durch knappe, schlichte Sprache und erspart uns jegliches Pathos. Bei einigen Novellen Wiecherts oder etwa seinem letzten Roman Missa sine nomine (Messe ohne Namen) ist das leider nicht der Fall. Wie sich versteht, wurde Wiechert ausgiebig vorgeworfen, ein anspruchs-loses, naturverbundenes, ja demütiges Leben zu „verklären“. Daß ich nicht lache! Was ist denn mit den Legionen von Hirnrissigen, die solchen Kälbern wie dem Fortschritt, dem Freien Markt, der Mobilität die Hufe küssen? Die uns bedenkenlos jedes Unheil, jede Verwü-stung, jede Entwurzelung zumuten und dabei noch ihre eigene systematische Aushöhlung preisen? Sie verklären ihre Kälber nicht; sie beten sie an.

Wiechert war ein Meister der Fabel. Obwohl sie an einer gewissen Verstiegenheit kranken, sind seine Personen noch im letzten Roman verblüffend und fesselnd erfunden. Wiechert schloß Missa kurz vor seinem Tod ab. Dabei geht das erwähnte Pathos mit einem befremdlich einfältigen Tonfall einher. Den zeigen häufige „unds“ oder „wohls“ an; außerdem Wendungen oder besser Windungen wie „doch aber“ und „denn ja auch“. Es klingt, als sprächen der Freiherr Amadeus oder sein Freund, der aufsässige Pfarrer Wittkopp, ausschließlich zu den Kindern der Torfstecher-Innen, die sich mit dem alten Kutscher des Freiherrn, Christoph, aus Ostpreußen in die Hohe Rhön flüchten konnten. Das Eindringliche droht in Betulichkeit umzu-schlagen. Daneben nimmt Amadeus in seinem Schafstall am Rande des Hochmoors Züge eines Opferlamms – christushafte Züge an. Er wird zum Erlöser. Doch einen politisch eingefärbten Kriminalfall und die betörende Landschaft breitet Wiechert spannend wie immer aus.

Von Kriegsheimkehrer- und Vertriebenenschicksalen unbeleckt, da im Todesjahr Wiecherts erst geboren, sollte ich mich vielleicht hüten mit Steinen zu werfen. Wiechert hatte zwei unfaßbar grausame Weltkriege und dazu, aller „inneren Emigration“ zum Trotz, einen dreimonatigen Aufenthalt im KZ Buchenwald zu verdauen, als er diesen Roman schrieb. So kreist er darin um die folgenden Fragen. Wie wäre es zu begreifen, daß die Menschen untereinander ein solches Grauen anrichten? Sind Amadeus oder sein Bruder Erasmus – durch Wegsehen, durch Zurückschlagen – womöglich mitschuldig daran? Ließe sich das restliche Leben mit solcher Hypothek anders als in Verzweiflung verbringen? Doch wie auch immer: wer nie dem nackten Terror ins Auge sah, hat leicht reden von Zivilcourage oder gar erbittertem Widerstand. Laut Günther Schwarbergs Buch über den jüdischen Schlagertexter Fritz Löhner-Beda hatte Wiechert die Ehre, in Goebbels Tagebuch einzugehen. „So ein Stück Dreck will sich gegen den Staat erheben.“ Goebbels persönlich schickt Wiechert ins KZ. Am 30. August 1938 läßt er sich den Buchenwaldhäftling vorführen, um ihn zur Sau zu machen. „Ich bin in bester Form und steche ihn geistig ab. Eine letzte Warnung! Darüber lasse ich auch keinen Zweifel. Der Deliquent ist am Schluß ganz klein und erklärt, seine Haft habe ihn zum Nachdenken und zur Erkenntnis gebracht. Das ist sehr gut so. Hinter einem neuen Vergehen steht nur die physische Vernichtung. Das wissen wir nun beide.“

Was hätten wir davon gehabt, hätte er Goebbels verflucht? Wiechert starb am 24. August 1950 auf seinem Rütihof in Uerikon am Zürichsee.
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