Freitag, 27. September 2024
Risse im Brockhaus 37

Sonderlich viele Frauen dürften dem Ruf der kämpfenden spanischen Republik kaum gefolgt sein. Deshalb hätte ich Gerda Taro (1910–37) durchaus in den Brockhaus aufge-nommen. Während sich zum Beispiel Eileen O'Shaugh-nessy, Orwells erste Gattin, an den Schreibmaschinen und Telefonen der POUM nützlich machte, betätigte Gerda Taro ihre Kamera – sogar an der Front. Die Tochter eines jüdischen schwäbischen Kaufmanns hatte ab 1929 die nichtstaatliche Gaudigschule in Leipzig besucht, der es um die Förderung der Selbsttätigkeit ihrer Schützlinge ging. Nach kurzer Haft wegen antifaschistischer Umtriebe traf Taro im Herbst 1933 gemeinsam mit ihrer Freundin Ruth Cerf in Paris ein. Sie fand Arbeit in einer Bildagentur, nachdem sie den ungarischen Fotografen Robert Capa kennengelernt hatte, der ihr Lehrer und Geliebter wurde. Von da an arbeiteten sie zusammen. Capa, weitaus bekannter als sie, kam »erst« 1954 mit 40 als Kriegsberichterstatter in Indochina um, wo er auf eine Landmine trat. Zwei Jahre darauf folgte ihm sein Freund und Mitgründer der Pariser Magnum-Agentur David Seymour ins Grab. Der knapp 45jährige wurde beim Beobachten eines Gefangenenaustausches im Krieg um den Suez-Kanal erschossen.

Taro hatte ihren ersten Presseausweis im Februar 1936 erhalten. Schon im Sommer traf sie mit Capa im republikanischen Barcelona ein. Das Gespann besuchte diverse Fronten. Die »geschossenen« Fotos gingen im Rahmen verschiedener Zeitschriften um die Welt. Selbstverständlich bildete Taro, neben den Greueln des Krieges, auch gerne unerschrockene Kämpferinnen ab. Auch ihr selber hat es laut Alfred Kantorowicz‘ Kriegstagebuch nicht an Mut gefehlt. An der Cordoba-Front sei die »anmutige Reporterin« 1937 mit »Baskenmütze über dem schönen rotblonden Haar« und einem »zierlichen Revolver« im Gürtel aufgetaucht, um zu einer polnischen Kompanie vorzudringen. Sie hatte ursprünglich gleichfalls einen polnischen Nachnamen getragen, Pohorylle. Zu ihren fototechnischen Eigenheiten gehörte die Untersicht, durch die sich der Himmel weitete. Davon abgesehen, war die »lässige Schönheit« aus Schwaben, laut Irme Schaber*, der erste weibliche Frontfotograf überhaupt.

Allerdings kam sie schon nach einem knappen Jahr unter die Erde. Zu Taros letzten Arbeiten zählt ein Foto des Ortsschilds von Brunete (bei Madrid) mit bewaffneten Kämpfern davor. Am 25. Juli 1937 erlebt sie an der Brunete-Front einen anhaltenden Luftangriff der berüch-tigten faschistischen, wenn auch nicht gekennzeichneten deutschen Legion Condor. Sie hockt in einer Art Fuchsbau, fotografiert – und bleibt unversehrt. In der Nacht jedoch, beim Rückzug der RepublikanerInnen, verunglückt sie. Nach der bevorzugten Darstellung geriet sie unter einen eigenen Panzer, weil sie vom Trittbrett eines Lastwagens abgerutscht war. Der Panzerfahrer habe das gar nicht bemerkt. Die knapp 27jährige erlag anderntags ihren Verletzungen.

Als Taro am 1. August auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise bestattet wurde, folgten Tausende dem von Pablo Neruda und Louis Aragon angeführten Trauerzug, der sich in eine Demonstration gegen die heuchlerische »Nichteinmischungspolitik« der westlichen Demokratien verwandelte. Unter der Hand lieferten sie Franco Waffen und »dämmten«, im Falle Frankreichs und Portugals, die Flüchtlingsströme ein. Was den Einsatz der Legion Condor angeht, sollte Hermann Göring später in Nürnberg schwärmen, er sei »ein ausgezeichnetes Training für Mensch und Material« gewesen. Gefeierte Bomberpiloten wie Johannes Trautloft wurden, nach 1945, nicht etwa aufgeknüpft oder mit 20 Stockhieben bedacht; sie wurden Stellvertretender Luftwaffeninspekteur der Bundeswehr und gingen (1970) als Generalleutnant in den Ruhestand.

Alberto Giacometti schuf für die verunglückte Fotografin ein Grabmal, das allerdings nicht mehr erhalten sein soll. In Stuttgart gibt es seit 2008 einen Gerda-Taro-Platz. Schaber behauptet, viele Aufnahmen von Taro seien nach dem Zweiten Weltkrieg dem berühmteren Capa zugeschrieben worden – vor allem aus kommerziellen Gründen, weil sie sich auf diese Art besser verkaufen ließen. Zudem habe Capa eingeräumt, wegen der unter anderem geschäftsschädigenden Kommunistenhatz in den USA habe es sich für ihn angeboten, eine nachträgliche Arbeitsteilung einzurichten: »Ich war der Fotograf und Gerda die Kommunistin.« Sie war ja tot.

Wie putzmunter dagegen die umkämpfte Mittelmeer-Republik noch für Jahrzehnte war, habe ich neulich erst in meiner Skizze »Abschied von Iberien« nachgewiesen – ein ausgezeichneter Beitrag zum Thema »Utopie«, wenn ich das in aller Bescheidenheit sagen darf. Sehen Sie bei Interesse Nasen A-52.

* Gespräch mit der Deutschen Welle, 24. Juli 2012: https://www.dw.com/de/gerda-taro-pionierin-der-kriegsfotografie/a-16109547



Nach Brockhaus kann die süddeutsche Kleinstadt Tauberbischofsheim (südlich von Würzburg) mit Romantik, einer Garnison und einem »Bundesleistungs-zentrum des Fechtsports« glänzen. Aus diesem erlauchten Winkel kommt zum Beispiel der Degenfechter Elmar Beierstettel (1948–85), im Haupt- oder Nebenberuf, ganz wie man will, Kriminalhauptkommissar. Um 1975 errang er zwei Silbermedaillen bei Weltmeisterschaften. Über ihn persönlich, etwa Temperament, Weltsicht, Familie, ist freilich im Internet so gut wie nichts zu erfahren. Da hilft selbst der Fachbuchautor Richard Möll nicht weiter. Und leider schließt diese Dürre auch Ursache und Umstände von Beierstettels Tod mit 37 Jahren ein.

Als Beierstettels Sterbeort wird Tauberbischofsheim angegeben. Möll beläßt es in seinem 1987 erschienenen Werk Die Fecht-Legende von Tauberbischofsheim dabei, einen kurzen Abschnitt über Beierstettels Werdegang so verschwommen, platt und den Leser beleidigend wie möglich mit dem Satz einzuleiten: »Bedingt durch ein tragisches Geschick«, sei der Athlet »nicht mehr unter den Lebenden«. Beierstettels Club beantwortet meine Anfrage mit höflichem Schweigen. Tauberbischofsheims Stadtarchiv tut das Gleiche. Dafür hat die örtliche Redaktion einer fränkischen Tageszeitung postwendend eine beinahe erfrischend knappe Antwort für mich übrig. »Hallo Herr R., Sie werden nicht viel über die Todesursache von Herrn Beierstettel finden, weil darüber nicht berichtet wurde. Viele Grüße …«

Damit liegt auf der Hand, die liebe Familie, wie immer sie aussehen mag, hält wieder einmal den Deckel über den Sarg. Und alle vor Ort, die des Schreibens kundig sind, hüten sich, gegen den Deckel zu schnipsen, weil die berüchtigte Privatsphäre im fränkischen Schwaben mindestens so heilig wie die Jungfrau Maria ist. Oder weil die Familie zufällig den Hauptfabrikanten oder den Polizeipräsidenten des Kreisstädtchens stellt. Ist sie nicht dumm, dürfte sie allerdings ahnen, jeder Neugierige wird sich jetzt, aufgrund unserer Blockade, möglicherweise das Naheliegendste sagen: a) Der Sportler hat sich umgebracht; b) er litt an unschöner Krankheit; c) er baute einen peinlichen Unfall mit seinem Auto oder Motorrad; d) er verlor in seiner Eigenschaft als Kriminalbeamter im Rahmen einer sogenannten Ermittlungspanne seinen Degen und fing sich dafür einen tödlichen Messerstich ein.

Immerhin ist von Möll im erwähnten Abschnitt (S. 123) zu erfahren, Polizist Beierstettel habe zuletzt das Tauber-bischofsheimer Rauschgift-Dezernat geleitet. Einen Exkurs über Doping verbiete ich mir aber. Der vorletzte Satz des Abschnitts bewegt mich dazu, meine Vermutungen a) (Selbstmord) und d) (Fehler im Dienst) nicht als heißeste AnwärterInnen auf die Lösung dieses Falls auszugeben – es sei denn, das typische Nachruf-Leerwort des Fechtfachmanns wäre eine Finte. »Wie alle anderen Tauberbischofsheimer Fechter, die abgetreten sind, verstand er Erfolg im Sport und Beruf miteinander zu koppeln, volle gesellschaftliche Anerkennung zu erwirken und ein ausgefülltes Leben zu meistern.«

Man könnte sicherlich einwenden, ich möge den Mann doch gefälligst vergessen; so wichtig sei ja nun ein Degenfechter auch wieder nicht. Das würde ich sogar zugeben. Im Grunde glaube ich seit langer Zeit, jeder Mensch, der freiwillig Spitzensportler wird, könne eigentlich nur einen Dachschaden haben. Aber wo wollen Sie hier die Grenze ziehen? Schauen Sie sich doch nur die Branche der Stardirigenten oder das Kabinett Scholz an, dann können Sie sich bereits vor einer Flut an Kandidaten nicht mehr retten. Dennoch halte ich an Beierstettel fest. Jetzt geht es mir nämlich nicht mehr um ihn, vielmehr ums Prinzip. Vielleicht darf ich das an einer namhaften Schauspielerin verdeutlichen, die Sie womöglich für durchaus wichtig halten.

Die 51jährige Berliner Schauspielerin Susanne Lothar starb am 21. Juli 2012. Ja, so ein Pech! Woran oder warum sie starb, wollte der Rechtsanwalt ihrer Familie nicht verraten. Er verweigerte Auskunft um der »Privatsphäre« der Verstorbenen oder der Angehörigen willen. Die müsse geschützt werden. »Und so blühten die Spekulationen«, schrieb die Münchener Abendzeitung am 26. Juli nicht ohne Folgerichtigkeit. Anzeichen für eine Krankheit etwa habe man bei Lothar, die 2007 ihren Ehemann Ulrich Mühe durch eine Krebserkrankung verloren hatte, noch am 30. Juni auf dem Münchener Filmfest nicht bemerkt. In Schauspielerkreisen werde von Selbstmord gemunkelt. Soweit das Blatt. Und wenn schon! Hat der Rechtsanwalt die von ihm vertretene »Privatsphäre« verriegelt, weil in dieser ein Selbstmord als Makel gilt? Das würfe kein sonderlich vorteilhaftes Licht auf die von ihm Vertretenen. Wenn aber nicht – was wäre dann in diesem Todesfall noch schützenswert? Jeder, selbst die Münchener Abendzeitung, wußte, daß mit Lothar eine ausgesprochen empfindsame und »verletzliche Charakterdarstellerin« verstorben war. Da liegt doch ein Selbstmord gleichsam von Jugend an in der Luft. Eine andere Frage ist, warum ausgerechnet ein derart angreifbarer Mensch die Brennpunkte öffentlichen Interesses aufsucht, Theaterbühnen und Filmfeste zum Beispiel. Aber sie führt vom Thema ab.

Leider ist auch die »Privatsphäre« ein verdammt weites Feld. Immerhin ist sie, ungeachtet ihrer Abmessungen, nie ein »natürliches« Feld. Ihre Grenzen werden in jeder Kul-tur und in jeder Epoche anders gezogen. In kapitalistisch verfaßten Demokratien kreist die »Privatsphäre« vor allem um die jeweiligen Einkommensverhältnisse, ob sie nun zu Hause im Wandsafe oder auf entlegenen, meerum-rauschten Steuerparadiesen geschützt werden. Das hindert freilich die wenigsten GroßverdienerInnen daran, erstens mit ihren Platinuhren zu protzen, zweitens in Talkshows oder gut honorierten Zeitungsinterviews ihr Innerstes nach außen zu kehren, drittens den Bürokraten, Polizeibeamten und Berufsschnüfflern ihres Landes zu gestatten, die menschliche Würde mit Füßen zu treten, sobald einer auch nur einen zwergfichtengroßen Schatten auf die Fassade der kapitalistischen Demokratie wirft.

Wahre Demokratie lebt von Öffentlichkeit, Aufrichtigkeit, Nachvollziehbarkeit. Ich kann den anderen mitsamt seiner Beweggründe und seinen Bedürfnissen umso besser verstehen, je mehr ich von ihm weiß. Erst dadurch kann ich auch mich selber besser verstehen, denn alleinge-lassene Beschränktheit bleibt immer beschränkt. Aus diesem Hauptgrund – Vertiefung des Verständnisses – schreiben manche Leute sogar, nicht aus Erwerbsgründen. Vielleicht könnte sich durch die Vertiefung des Verständnisses selbst die Erhöhung des Schutzes der »Privatsphäre« erübrigen, nämlich insofern, als durch diese Bildungs- und Vertrauensbildungsarbeit Angst abgebaut wird. Eine Gesellschaft ohne einschüchternde Strukturen und Drohgebärden würde weder Panzerschränke noch Schützenpanzer noch Rechtsanwälte benötigen. Sagen Sie das mal unserer Verbotstante vom Innendienst im Kabinett Scholz, die lacht sich schief.

Ein beliebtes Mittel der Einschüchterung und der Vorteilsnahme stellen in Deutschland seit vielen Jahren auch sogenannte Titel, genauer akademische Grade dar. Amtlich zählen sie übrigens nicht zum Namen. Man hat kein verbrieftes Recht, mit ihnen angeredet zu werden. Schreiben Sie jedoch einem Stadtarchiv als Dr. oder Prof. oder besser noch beides, kriecht es Ihnen sofort in den Arsch, selbst wenn es noch nie von Ihnen gehört hat. Aber ich persönlich habe dergleichen nicht vorzuweisen, noch nicht einmal Abitur. Deshalb ist es mir schon wiederholt geschehen, als »Hobbyhistoriker« beschimpft zu werden. Werfen Sie doch Van Gogh einmal an den Kopf, er sei nur ein Hobbymaler! Da schneidet er sich gleich auch sein anderes Ohr noch ab. Um 2007 war ich vorübergehend Mitarbeiter bei Wikipedia und rückte einen Eintrag über Ernst Kreuders hübsches Buch Die Gesellschaft vom Dachboden in die Mammutenzyklopädie. Prompt hielt mir einer auf der Diskussionsseite vor, das sei kein Lexikonartikel, sondern »bestenfalls ein schlechter Essay«. Heute werden da die korrekten, schablonenmäßigen Einträge gleich von auf Speichern versteckten Schlapphüten geschrieben.

Ihr letzter Rat an mich könnte sein, das Tauberbischofs-heimer Stadtarchiv öffentlich anzuprangern, vielleicht auch mit Verklagung zu drohen. »Nennen Sie den Namen von Ihrem Widersacher – was meinen Sie, wie schnell der klein wird!« Nein, das wird er nicht. Erstens sind er oder sie abgebrüht, und zweitens können die immer behaupten, sie hätten meine Email-Anfrage (an personalisierte Adresse) nie zu Gesicht bekommen. Wie sollte ich ihnen das Gegenteil beweisen? Ein Freundin riet mir, schnell reich zu werden, einen Waffenschein und eine Pistole (»aus Oberndorf am Neckar«) zu erwerben und mit dem nächsten Fernzug, falls noch einer führe, nach Würzburg zu reisen, um das schöne, wenn auch von Wegelagerern wimmelnde Taubertal zu erwandern. In jeder noch so kleinen Kreisstadt fänden sich jede Wette mindestens eine Friedhofsgärtnerin oder ein Stadtbibliothekar, die irgendetwas wüßten. »Setz‘ ihnen die Knarre auf die Brust oder stopf ihnen die Taschen mit Zaster, das zieht immer!«

»Und wenn nicht ..?«

»Dann war es jedenfalls ein erholsamer Urlaub. Sofern du ihn unverwundet überstehst.«



Beim Tee erwähnt Brockhaus sogar, der holländische Arzt C. Dekker habe ihn um 1657 in Brandenburg am Hofe des Großen Kurfürsten eingeführt. Dekker war damals vielen Leuten als »Tee-Doktor« bekannt. Er selber hatte sich als junger Mann in Cornelis oder Cornelius Bontekoe (1647–85) umgetauft, weil am väterlichen Lebensmittelge-schäft**** in Alkmaar ein Schild mit einer gefleckten Kuh gehangen hatte. Fortan hieß er also Buntekuh. Den Grund der Umbenennung kennt auch Stan Verdult nicht.* Bemüht man die Brechstange, weht einen aus jenem Schild bereits der Duft von Heilkräutern an. Auch sonst erscheint die Umbenennung keineswegs abwegig, wenn man den bunten, ja sogar schillernden Werdegang des jungen Mannes bedenkt. Das schließt sogar seinen nicht eben schnöden frühen Tod mit ein.

Anhänger von Descartes und von heute sogenannten »Naturheilverfahren«, hatte sich Bontekoe vor allem auf die Empfehlung damals noch wenig verbreiteter (und entsprechend teurer) Drogen wie Tee, Kaffee, Kakao und Tabak verlegt. Diese Arznei- und Genußmittel waren zu seiner Zeit so umstritten wie Bontekoe selber. Wahr-scheinlich praktizierte er nach seinem Medizinstudium in Leiden nicht zufällig an wechselnden Orten. Zwar hatte er aufgrund seiner neuen drogistischen Behandlungen viel Publikumszuspruch, aber auch viel Ärger mit Kollegen oder Apothekern, die fanden, er grabe ihnen und ihren eigenen, angeblich jeweils individuell zugeschnittenen Mixturen sozusagen das Wasser ab. Bontekoe ging zwei Ehen ein, die in Tod der Gattin und Scheidung endeten, und verfaßte mehrere diagnostische Bücher, die ihm fast aus der Hand gerissen wurden. 1681 zunächst in Hamburg niedergelassen, stieg er im folgenden Jahr in die Schar der Leibärzte des in Berlin oder Potsdam residierenden brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm auf und wurde dazu Professor in Frankfurt/Oder. Doch schon 1685, mit ungefähr 37 Jahren, nimmt er in Berlin ein jähes Ende – er stürzt auf einer Treppe und stirbt daran. War auch hier zuviel Tee im Spiel?

Bei der von Bontekoe in der Regel empfohlenen Dosierung schwanken die Quellen. Mal soll er seinen Patienten lediglich 50, mal 200 Tassen täglich, wahlweise acht bis zehn »Näpfchen« pro Stunde (Kemper) verordnet haben. Manche skeptischen, vielleicht auch nur mißgünstigen Zeitgenossen hielten Bontekoe ohnehin eher für einen Agenten der holländischen Ostindienkompanie als für einen Arzt. Kemper behauptet**, wie viele Kartesianer habe Bontekoe scharf zwischen Leib und Seele getrennt und jenen als Maschine mit einem Blutkreislauf aufgefaßt, die im Grunde einfach zu bedienen und zu warten sei. Er habe alle Krankheiten auf den im Alter zunehmenden »Scharbock« oder »Skorbut« zurückgeführt, weshalb er auch nur noch ein Heilmittel benötigte – eben zum Beispiel das Schmier- und Treibmittel Tee. Auch Kemper merkt Unlauteres an, wenn er versichert, Bontekoe sei an den Tee-Importen nach Deutschland »beteiligt« gewesen. Fest steht jedenfalls, daß der Holländer entscheidend dazu beitrug, die oben aufgezählten Genußmittel dem Berliner Hof schmackhaft zu machen. Nach Noack/Splett half seine Verordnung von Tee sogar, das Nierenleiden des Kurfürsten höchstpersönlich »spürbar« zu mildern (S. 67).*** Dafür scheiterte Bontekoe selber, wenn nicht am üppigen Teegenuß, an der Tücke des Objekts.

Die einzige mir bekannte Quelle, die die näheren Todesumstände nicht mit der Formel vom »Treppensturz« übergeht, kam gut 200 Jahre später als Zeitschriftenauf-satz eines just aus Alkmaar stammenden Schriftstellers heraus.**** Danach hielt sich Professor Bontekoe am 13. Januar 1685, von Frankfurt/Oder kommend, besuchsweise in Berlin und im Hause des kurfürstlichen Kunstmalers Jacob Vaillant auf, wo gespeist – und möglicherweise auch viel Tee, wahlweise Wein getrunken wurde. Täuscht mich das Niederländische nicht, wurde Bontekoe in diesem Hause, nachdem er einmal Austreten gegangen war, von seinem Diener und einigen besorgten Gästen am Fuße einer Treppe in einer Blutlache gefunden. Er hatte sich einen Schädelbruch zugezogen und konnte nicht mehr gerettet werden. Finstere Machenschaften werden nirgends geargwöhnt. Dafür dürfte es zu dieser Abendzeit recht dunkel im Haus gewesen sein. Wahrscheinlich sei der Professor auf der ihm unvertrauten Treppe gestolpert und anschließend heftig genug abgestürzt, um geradewegs im Sarg zu landen.

* Stan Verdult, »Cornelis Bontekoe nam afstand van 'den Heyloosen' Spinoza«, Spinoza-Blog, 25. Mai 2011: https://web.archive.org/web/20120210124558/https://spinoza.blogse.nl/log/cornelis-bontekoe-1647-1685-nam-afstand-van-den-heyloosen-spinoza-1.html
** Hans-Georg Kemper: Komische Lyrik – lyrische Komik, Tübingen 2009, S. 56
*** Lothar Noack / Jürgen Splett: Bio-Bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der Frühen Neuzeit. Berlin-Cölln 1640-1688, Berlin 1997, S. 65–72
**** Cornelis Willem Bruinvis, »Cornelis Bontekoe, de theedoctor«, in: Elsevier's Geïllustreerd Maandschrift. Jaargang 2, Amsterdam 1892, S. 404–16, bes. 405: https://www.dbnl.org/tekst/_els001189201_01/_els001189201_01_0033.php. Zwar ist das Porträt, das Bruinvis gibt, mit etlichen Fußnoten versehen, allerdings zum Treppensturz ausgerechnet nicht. Man weiß also nicht unbedingt, woher der Autor die Einzelheiten genommen hat. Da er aber, unter anderem, auch Apotheker, Archivar und Stadtrat gewesen sein soll, will ich einmal hoffen, er hat sie nicht erdichtet.




Ich hoffe, über das Telefon muß ich nicht so viel Worte machen wie Brockhaus (unter → Fernsprecher). In den Anfängen war es ohne Zweifel eine Sensation. Wie Michael Hederich erwähnt (S. 107), zählte das Zierenberger Stadtnetz 1905 bereits 30 TeilnehmerInnen! Der nächste Knüller kam im Jahr 1959. Man stellte Ecke Mittelstraße/Kirchplatz plötzlich einen »öffentlichen Münzfern-sprecher« auf! Das waren damals so eine Art gelblackierter, teils verglaster Ein- bis Zweipersonen-Hochkantbehälter, die uns wahrscheinlich die Abteilung Folter der CIA angedreht hatte. Daher der volkstümliche Name Telefonzelle.

Prompt erzählte mir eine Geliebte Jahre später eine Geschichte, die man glauben kann oder nicht. Mit einem Vorgänger von mir pflegte sie ausschweifend zu telefonieren, dabei vorzugsweise spätabends – bis ihr Alter es ihr verbot. Da mußte sie wohl oder übel jedesmal ein paar Hundert Meter zur nächsten Telefonzelle pilgern. Zu allem Unglück stand die Zelle auch noch vor einer Fleischerei, die freilich, gegen Mitternacht, gar kein Licht mehr brennen hatte. Das kam aber ihrem Alten zugute. Anscheinend gab es damals schon Spanngurte mit diesen Zahnradspulen zum Einrasten, und Petras Alter war immerhin Schreinermeister. Kaum hatte er ihr Ausweichmanöver spitzgekriegt, schlich er sich zu der spärlich beleuchteten Zelle, legte den Gurt um diese und zurrte ihn kräftig fest. Nun war sie gefangen. Im ersten Augenblick war sie sprachlos. Dann wollte sie ihren Geliebten anflehen, ihr zur Hilfe zu eilen, die Atemluft werde schon knapp – aber nun streikte das verdammte Telefon, weil sie keine Münzcn mehr hatte! Da setzte sie einen Notruf ab, der kostenlos war. Während sich der feixende Alte natürlich sofort, mit samt seinem gelösten Gurt, aus dem Staub machte, heulten Polizei und Feuerwehr heran. Petra stand in der geöffneten Tür und schüttelte ihrem Vater Schimpfworte und Fäuste hinterher – was ihr später auch noch als Widerstand gegen die Staatsgewalt ausgelegt wurde. Die Bullen hätten sie am liebsten gleich in die Klapsmühle gefahren. Zwei Tage lang bemühte sich Petra vergeblich, in den anliegenden Häusern einen Augenzeugen ihrer Einsperrung aufzutreiben. Keiner wollte etwas gesehen haben. Im Ergebnis bekam sie einen fetten Strafbefehl, weil sie die Ordnungskräfte irregeführt und dem Steuerzahler eine Menge unnötiger Kosten aufgebürdet hatte. Den Schreinermeister sah Petra nur noch einmal in ihrem Leben wieder: als ihr Geliebter mit einem gemieteten Kastenwagen vorfuhr, um gemeinsam mit ihr die Bücher und Klamotten der mißratenen Tochter einzuladen.

Denkt man ein wenig darüber nach, ist es eigentlich erschütternd, welche interessanten Schauplätze und Tatorte unzählige Roman- und Drehbuchautoren mit dem Fortfall der Telefonzellen eingebüßt haben. Ich denke nur noch an Kommissar Düsters Versuch, den Mord an der Kasseler Krankenschwester Elvira Bühnke aufzuklären. Das war um 1965. Im Glauben, er habe soeben die Wohnung des richtigen Verdächtigen aufgespürt, marschiert Düster zur nächsten Telefonzelle, um sich mit seiner Vorgesetzten Lilly, einer Karlskirchener Kriminalrätin, über die nächsten Schritte zu beraten. Da hört er die aufquietschenden Reifen jenes stattlichen, weinrot lackierten Opel Kapitäns P 2,6, den er schon vor Bechtholds Haus bewundert hatte. Am Steuer der wutschnaubende Bechthold! Er hatte offenbar Lunte gerochen. Jetzt rast er auf Düster und die Telefonzelle zu. Was soll der Kommissar machen?

Sie dürfen es unter https://siebenschlaefer.blogger.de/stories/2872853/ nachlesen.



Der Bergassessor, Multi-Unternehmer und SS-Obersturmbannführer Wilhelm Tengelmann (1901–49) fehlt im Brockhaus, obwohl er im »Dritten Reich« von Ämtern und Titeln geradezu überhäuft* war, trotzdem in der »Demokratie« ungeschoren blieb. Tengelmann stammte aus einer Essener Kapitalistenfamilie. In die NSDAP war er bereits 1930 eingetreten. Später wurde er auch noch zum »Wehrwirtschaftsführer« ernannt. Ein Parteiamt bekleidete er nie, doch erfreute er sich guter Beziehungen zu Göring und Himmler. Er war vor allem als Industriemanager Hans Dampf in allen Gassen. 1933 war er allerdings auch für einige Monate Landrat in Unna. Wikipedia behauptet, er habe gleich Hunderte von Kommunisten verhaften und zum Teil schwer mißhandeln lassen.

Laut Heiko Bruder** erwarb Tengelmanns Bergwerkgesellschaft Hibernia AG 1937 bei Haltern am See ein bäuerliches Anwesen, um es in ein Jagdhaus nebst Mustergut zu verwandeln. Das hieß dann bald darauf Gut Borkenberge. Im Jagdhaus – tatsächlich ein abgeschieden gelegener stattlicher Herrensitz – ruhte sich Tengelmann zuweilen, von Herne aus, von seiner Ämterlast aus, wobei ihm oft hohe Jagdgäste Gesellschaft leisteten. Die Fotos zeigen unter anderem ein wuchtiges Doppelbett im »Schlafzimmer des Ehepaars Tengelmann«. Darin läßt sich natürlich noch kein sicherer Beweis für die Annahme erblicken, er sei nicht etwa, wie so manche braune Genossen, schwul gewesen. Nebenbei war Tengelmann auch lizenzierter Flieger. Für die Zeit nach dem Endsieg hatte er bereits eine Zufahrtstraße zu einem nahen Segelflugplatz der Luftwaffe ins Auge gefaßt. Aber Anfang April 1945 quartierte sich überraschenderweise ein Stab der US-Armee im Jagdhaus ein …

Über die abschließende Wikipedia-Zeile kommt anscheinend niemand hinaus: »Nach Kriegsende wurde Tengelmann von den Alliierten vernommen, juristisch aber nicht belangt. Er konnte seine Unternehmerkarriere fortsetzen, da er einem von seinen Vorfahren begründeten und nicht arisierten Unternehmen vorstand.« Allerdings ging Tengelmann bereits 1949, mit 48 Jahren, von uns. Als Sterbeort wird das Kurheim Zabel bei Berchtesgaden angeben. Es mag also sein, Tengelmann wurde von der einen oder anderen typischen Managerkrankheit ereilt, dagegen wohl kaum von seinem schlechten Gewissen.

* https://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/finde/langDatensatz.php?urlID=1439&url_tabelle=tab_person
** https://www.heiko-bruder.de/hullern-gut-borkenberge/bauinitiator-tengelmann.html, Stand 2020




Als Hauptwerk des italienischen Architekten Giuseppe Terragni (1904–43) gelte die Casa del Popolo, »erbaut [um 1934] als Casa del Fascio in Como«, teilt mir Brockhaus mit einem Anhauch von Enthüllungswut mit. Also nachgeforscht. Danach wird der Sohn eines Bauunternehmers fast überall als hervorragender Vertreter der »architektonischen Moderne« bezeichnet – die sich in der Tat dem Faschismus andiente. Terragni soll sich sogar offen zum Faschismus bekannt haben. Man glaubt es gern, sobald man von seinem vorzeitigen Ende hört: Er starb 39jährig im Sommer 1943 »an den Folgen seines Einsatzes als Soldat an der deutsch-italienischen Front in Russland«, wie es in der deutschen Wikipedia heißt. Diese krasse Erdnähe (nahe Stalingrad) hatte er nicht verkraftet.

Terragnis Hauptwirkungsort als Architekt war seine Heimatstadt Como gewesen, wo er dem Volk auch jenen flotten Klotz vorsetzte. Just zu dieser Zeit war sein Bruder Attilio, laut englischer Wikipedia, der faschistische Bürgermeister der nördlich von Mailand gelegenen Stadt am Comer See. Terragnis wichtigste architektonische Förderin sei eine von Mussolinis Mätressen gewesen. Fotos zufolge verströmte der gutaussehende Avantgardist durchaus Charme. Man vergaß ihn auch später nicht: 2004 bekam er eine Briefmarke.

Bruder Attilio soll 1958 »im Amte« gestorben sein: als Vertreter der Lombardei im römischen Senat. Er war also noch aufgestiegen. Die AfD, die gerade den Thüringer Landtag erobert hat, wird bei den Enkeln gleich einen supermodernen Parteipalast für Erfurt bestellen.



Der römische Maler Pietro Testa (1611–50) glänzte vor allem mit grafischen Arbeiten (Zeichnungen und Radierungen) zu religiösen/mythologischen Themen. Bei aller zeitüblichen Theatralik spricht aus diesen Arbeiten doch eine ungeschönte Bitterkeit, die möglicherweise beiläufig auf das vorzeitige Ende ihres Schöpfers vorausweist. Dazu sagt Brockhaus aber kein Wort. Wikipedia (deutsch) sagt das abgeleckte Trostwort »tragisch«. Testa stammte aus der Toskana, hatte sich freilich schon als Jüngling, zum Zwecke seiner Ausbildung, nach Rom begeben, wo er sich unter anderem mit Pier Francesco Mola und Nicolas Poussin anfreundete. Ebendort soll er, mit knapp 40 Jahren, im Tiber ertrunken sein. Warum, ist umstritten. Das stellt immerhin auch die englische Wikipedia fest.

Während sich die frühen Biografen beeilten, von einem bedauerlichen Unfall zu sprechen, um nicht an Testas Seelenheil und dem christlichen Begräbnis zu rütteln, das ihm der katholische Klerus bewilligt hatte, neigt Ann Sutherland Harris zu der Annahme, er habe sich umgebracht. Sie führt* zum einen jüngste Enttäuschungen in Testas Karriere ins Feld. So wurde ein üppiger Auftrag, die Apsis der Kirche San Martino auszumalen, nach einigem Hin und Her zurückgezogen. Dafür waren Testas Fresken in der Kapelle St. Lambert in Santa Maria dell'Anima, wenn nicht bereits beseitigt, so doch von Zerstörung bedroht. Nebenbei lag im zweiten Fall der liebe Kollege Jan Miel auf der Lauer, weil doch auch er sehr hübsche Fresken zu malen verstand. Zum anderen verweist die US-Kunsthistorikerin von der University of Pittsburgh, Pennsylvania, auf unheilschwangere Züge in Testas letzten Arbeiten. Neben »vielen pessimistischen Bemerkungen« in Testas nachgelassenen Schriften sei hier an seine Radierung Il suicidio di Catone von 1648 und seine unabgeschlossene Arbeit am Sujet Selbstmord der Dido zu erinnern.

Übrigens ist Testas nahezu nackter, blutverkrustet und bäuchlings aufs Bett gelagerte Recke Cato von einer Schar ausgesprochen hämisch wirkender Überlebender umgeben, die meinen Satz von der »ungeschönten Bitterkeit« mitgeboren hat. Man wäre nicht erstaunt, wenn der Tod bringende Dolch nicht eigenhändig von Cato, vielmehr, zum Beispiel, von Jan Miel geführt worden wäre. An Mord verschwendet Sutherland allerdings keinen Gedanken. Sie vertraut Testas Zeitgenossen und Kollegen Passeri, demzufolge »Pietro was found drowned in the Tiber in the early spring of 1650, near the church of Santi Romualdo e Leonardo de' Camaldolesi«. Na und? Das ist schon als Beschreibung des Leichenfundes höchst ungenau und besagt darüber hinaus noch gar nichts über den Ort des Todes und nur wenig über die Umstände des (angeblichen) Ertrinkens dieses begabten Künstlers. Hier bietet sich das Projekt eines x-ten Historischen Romanes an – greifen Sie zu.

* Ann Sutherland Harris, »Notes on the Chronology and Death of Pietro Testa«, in: Paragone Nr. 213, Mailand November 1967,
S. 35–70




Das vor allem in Australien beheimatete Thermometer-huhn haßt es, auf Eiern hocken zu müssen. Deshalb bewegt es Jahr für Jahr Unmengen an Material, etwa Pflanzenreste oder Erde, um in Mulden oder in Form von Hügeln Brutanlagen zu bauen, in denen Fäulnis- und Sonnenwärme dafür sorgen, die Eier auszubrüten. Um stets die ideale Bruthitze zu halten, hat es im oder am Schnabel ein Organ, mit dem die Temperatur in der Anlage überwacht werden kann. »Die Jungen schlüpfen völlig befiedert und flugfähig und leben sofort selbstständig«, teilt Brockhaus mit. Da können sie also gleich die Ärmel aufkrempeln, um auch wieder so eine raffinierte Brutanlage zu bauen.

Oft sei das Thermometerhuhn 11 Monate im Jahr mit der Herstellung und Wartung seiner Brutanlage beschäftigt, versichert das Lexikon abschließend. Da faßt man sich schon an den Kopf. Auf dem hiesigen Friedhof liegen in einem Grab zwei weibliche Personen, die 1982 am selben Tag gestorben sind. Die eine, Carola, war 20 Jahre, die andere, Daniela, einen Monat alt. Zum Hergang dieses Doppeltodes sind sicherlich etliche Geschichten denkbar. Den Grund findet aber niemand heraus. Die einen Lebewesen fallen aufwendigster Brutpflege anheim; die anderen sterben wie die Fliegen.



Zum Schriftsteller Ludwig Thoma (1867–1921), Sohn eines Forstbeamten aus den bayerischen Alpen, zeigt Brockhaus (1993) erstaunlicherweise eine befremdliche biografische Wende an, die in der Literatur gern »verdrängt« oder verharmlost werde. Zunächst Rechtsanwalt, war Thoma um 1900 Redakteur des bekannten Münchener, mindestens kaiserreichfeindlichen Satireblattes Simplicissimus geworden. Wegen antiklerikaler »Beschimpfungen« handelt er sich sogar sechs Wochen Gefängnis ein. Daneben wartete er mit frechen Lausbubengeschichten und einigen vielgespielten Komödien auf. 1914 habe er sich jedoch ziemlich überraschend freiwillig zum Militärdienst gemeldet. Das sei mit einem »Übertritt« ins national-konservative Lager einhergangen. Jetzt habe er etwa im Miesbacher Anzeiger zahlreiche Attacken gegen Demokratie und Judentum vorgetragen. Bald darauf starb der bäuerisch-klobig wirkende Bayer allerdings, 1921 mit 54. Er soll einem Magenkrebs erlegen sein.

Nach Barbara Just war Thoma aber schon von Hause aus, ganz wie der Vater, deutsch-national gesinnt.* Übrigens starb der Oberammergauer Oberförster Max Thoma bereits, als Ludwig erst Sieben war. Jetzt hat die frömmelnde Mutter sieben oder acht Kinder am Hals. Sie betreibt Gasthöfe. Als Schüler ist Ludwig aufsässig. Als Rechtsanwalt und Literat hat er jedoch Erfolg. 1907 kann er heiraten, ein Jahr darauf mit Gattin Marietta ins eigene Haus am Tegernsee ziehen. Mariettas Scheidung hatte er mit Geld (an den Gatten) erkauft – 1911 ist er selber für die Scheidung reif. Er soll Marietta gelangweilt haben. Später erwärmt er sich für die jüdische Ehefrau Maria, die allerdings verheiratet bleiben will. Ihr vermacht er beträchtliche Vermögenswerte.

Mehrere Quellen betonen, Thoma habe die militärische »Niederlage« von 1918 als ausgesprochen bitter empfunden. Er war eben besonders heimat- und vaterlandverbunden. Möglicherweise neigte er auch zum Hochstapeln, denn die Annahme seiner Dissertation (»Zur Lehre von der Notwehr«) als Jurist sei unbelegt, behauptet Gertrud M. Rösch in NDB 26 (2016). Somit hätte er sich seinen Doktor-Titel frech angemaßt. Er scheint überhaupt ein gebrochenes Verhältnis zur Macht besessen zu haben. Vielleicht war der Vater nicht nur national, sondern auch autoritär gestimmt. Dem Biografen Martin A. Klaus (2016) wird bescheinigt, er habe Thomas Kindheit auf den Zahn gefühlt, doch den Befund referiert das Internet leider nicht.

* Barbara Just, https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/ludwig-der-zerrissene/, 25. August 2021



Nach einigen Fotos im Internet glänzte der Münchener Komponist Ludwig Thuille (1861–1907) durch einen feschen Zwirbelbart mit aufwärts gebogenen, messerscharfen Spitzen. Brockhaus hält ihn außerdem für »einen der bedeutensten Kompositionslehrer seiner Zeit«. Der Spätromantiker habe sogar eine viel benutzte Harmonielehre verfaßt. Eben – damit kam er doch reichlich spät, wenn Sie mich fragen. Denn wieviele durchaus hinreichende, gedruckte Harmonielehren mögen damals weltweit bereits in Umlauf gewesen sein? Sicherlich viele tausend. Sie alle mußten mühsam verfaßt, gedruckt und an den Mann gebracht werden. Andererseits kam Thuilles Tod verdammt früh, sodaß er unser Mitgefühl verdient. Laut Wikipedia erlag er mit 45 »plötzlichem Herzversagen«. Die Mammut-Online-Enzyklopädie rüffelt mich auch gleich: Thuilles Harmonielehre sei durchaus »wichtig« gewesen, habe sie doch »die ältere Art der Akkordbezeichnung mit den neuen Ideen der Funktionstheorie von Hugo Riemann« verbunden. Deshalb werden dann Thuilles Kinder, zwei Stück, auch wieder je eine Harmonielehre verfaßt haben, die zwar nicht die großen Terzen umstieß, aber den Text mit kleinen farbig gedruckten Komponistenporträts ausschmückte, etwa des Vaters engen Freund Richard Strauss zeigend. Strauss, nur geringfügig jünger als Thuille, durfte sogar den deutschen Faschismus noch erleben.

Ich habe erst kürzlich das verbreitete Phänomen der → Streuung behandelt, und genau sie ist es, die oft den Blick auf Zusammenhänge und im Grunde irrsinnige Gesetzmäßigkeiten verhindert. Da können zuweilen Ballungen nützlich sein. Der wahrscheinlich nur Fachleuten bekannte Weimarer Organist und Komponist Johann Gottlob Töpfer (1791–1870) habe auch ein Lehrbuch der Orgelbaukunst vorgelegt, teilt Brockhaus mit. Dadurch habe er sich »zum führenden Theoretiker der romantischen Orgelbaukunst« aufgeschwungen. Von wievielen vorangegangen Lehrbüchern der Orgelbaukunst er dabei gezehrt oder abgeschrieben habe, verrät Brockhaus nicht.

Ich greife zuletzt den Vorarlberger Baumeister Peter Thumb (1681–1766) heraus. Neben der berühmten Wallfahrtskirche in Birnau am Bodensee verdanken wir ihm die Bibliothek des Sankt Gallener Benediktinerstifts. Sie ist auch im Brockhaus abgebildet. In diesem erlesen gearbeiteten, sündhaft kostspieligen Gemach zeigen nun also diverse Universallexika, Fachbücher und Erbaungsschriften aus soundsovielen Jahrhunderten ihre schweins- oder rindsledernen Rücken. Während sie dort stehen und während sie alle einst verfaßt und gebunden worden sind, setzte die Menschheit ungerührt Kinder in die Welt und ließ sie wahlweise verhungern oder von Feinden des Vaterlands totschießen – Millionen Kinder und Millionen Feinde. Oder war es eher umgekehrt? Daß die Gelehrten von diesen heillosen Zuständen unbeirrt an ihrem Glauben festhielten, auch sie müßten jetzt noch unbedingt ein wichtiges Werk auf den Markt beziehungsweise aus dem Fenster werfen?



Der berühmte Dirigent Heinz Tietjen (1881–1967) dürfte ein ziemlich großer, aalglatter Fisch gewesen sein. Um das zu vermuten, genügt es bereits, aus Brockhaus‘ 10 Zeilen herauszupicken, von 1927–44 sei er Generalintendant der Preußischen Staatstheater, 1948–54 Intendant der Städtischen Oper Berlin, 1954–59 der Hamburger Staatsoper gewesen. Verschiedene Internetquellen bestätigen die Vermutung. Ich zitiere die wenigen Zeilen, die kürzlich (November 2022) eine SWR-Sendung über den Liebhaber hoher Ämter ankündigten:

>Unsichtbare leben länger. Nach dem Motto hat Heinz Tietjen eine beispiellose Karriere in der Weimarer Republik und im NS-Staat gemacht. Mit Hitler habe er nie gesprochen, behauptete Tietjen über den Mann, der ihn als Generalintendant der Preußischen Staatstheater und Festspielchef in Bayreuth für unersetzlich hielt. Auch Göring schätzte ihn, obwohl der 1881 in Marokko geborene Diplomatensohn als politisch linker Weltmann galt. Nach dem Krieg erschuf er sich eine »saubere« Biografie ‒ ein Machtmensch, der janusköpfig und raffiniert durch alle Systeme lavierte. 1967 verstarb Tietjen mit 86 Jahren in Baden-Baden.<

Wikipedia schreibt, bei der »Entnazifizierung« 1947 sei Tietjen »vollständig entlastet« worden. Er hatte sich als Judenretter, gar Widerstandskämpfer dargestellt, was einige ForscherInnen für lachhaft zu halten scheinen. Der Berliner Magistrat jedoch setzte ihn im nächsten Jahr prompt wieder in Amt und Würden. Später reichte man eine Tietjenstraße (in Tempelhof) und das Bundesver-dienstkreuz nach. Den hochfrisierten Brockhaus-Eintrag nicht zu vergessen.



Offenbar ist mit Top-Quark keine Speise, vielmehr irgendein Phänomen aus der sogenannten Elementar-teilchenphysik gemeint. Ich will den Fingerzeig aber dazu nutzen, einen Anwärter auf meine gleichnamige persönliche Top-10-Liste der schwachsinnigsten Schlager und Popsongs aller Zeiten vorzustellen. Es handelt sich um den Titel You Might Need Somebody aus den USA. Dort wurde er erstmals 1980 von einem Sänger vorgetragen; später »coverten« ihn mindestens die Sängerinnen Randy Crawford und Shola Ama, wodurch er recht hohe Verkaufszahlen erreichte, weil ihn sogar in Deutschland jeder Radiosender bis zum Erbrechen in unsere Ohren bohrte.

In der Tat läßt er sich von der Musik her durchaus als geschickt gemachter Ohrwurm bezeichnen. Die Versionen der genannten Sängerinnen nehmen sich nicht viel; ich halte mich deshalb an Shola Ama, die peinlicherweise in Gestalt einer CD in meinem verglasten Bücherschrank steht: Much Love, 1997. Jener Hit, eine langsame Soulnummer, ist Titel 3 auf der CD. Der Komponist kam mit wenigen gefällig gesetzten Harmonien und einer anspruchslosen Melodie aus; der Arrangeur verstand es, Baß- und Gitarrenfiguren und ein Saxophon (falls es eins ist) sparsam einzusetzen, hinderte die britische Sängerin allerdings nicht daran, ein paar Reizworte bis zur Ohrenentzündung zu wiederholen. Amas Stimme ist von der Klangfarbe her noch blasser als ihre Haut (Zimt), dafür fast schneidend wie eine Motorsense, was sie jedoch durch leichtes Beben zu mildern versteht. Vielen wird ihr Vortrag deshalb zu Herzen gehen. Eigentlich handelt es sich um eine Beschwörung. Der Texter läßt sie im Kern versichern, wie alle Menschen bräuchten wir jemanden, der uns liebe und unsere Einsamkeit verscheuche; in dieser Hinsicht böten sich aber immer eine Menge Kandidaten an, und so wären wir also gut beraten, wenn wir den ersten besten, der unser Herz zum Glühen bringt, nicht etwa abblitzen ließen. Ja, das verkündet Ama im Ernst. Und mehr nicht.

Nach meinen Erfahrungen verhält es sich mit den Chancen eigentlich eher umgekehrt. Man hat oft Mühe, überhaupt wen für sich zu interessieren – und beißt doch mal einer an, ist es garantiert der Falsche. Ama predigt jedoch Nachsicht. Nehme ihn trotzdem! Er mag ein Lump oder ein Windbeutel sein, lasse die Chance nicht verstreichen.

Auf diesem Einwand möchte ich allerdings nicht weiter herumreiten. Kurz und schlecht, einen dümmlicheren Song muß man erst einmal finden. Auf meiner Liste bekommt er mindestens Platz 3. Als SchöpferInnen des Werkes nennt das Internet das Duo Tom Snow / Nan O'Byrne.



Die Karibikinsel Hispaniola, ein Nachbar Kubas, besteht heute aus den Staaten Haiti (im Westteil) und der östlichen Dominikanischen Republik. Der Westteil, früher »Saint-Domingo« genannt, war einträgliche Kolonie der Franzosen gewesen. Auf den Plantagen wurde vorwiegend Zuckerrohr und Kaffee angebaut. Als haitianischer »Freiheitsheld« gilt auch im Brockhaus der schwarze Einheimische Toussaint Louverture (1743–1803). Ursprünglich Sklave in Saint Domingo, habe er sich 1791, nach der aus Paris proklamierten Sklavenbefreiung und schon fast 50, den Aufständen von Schwarzen und Mulatten angeschlossen, die sich gegen die weißen Herrschaften richteten. Er konnte lesen und schreiben und stieg rasch auf. Schließlich sei er »im Dienst der französischen Revolutionsregierung« sogar zum Oberbefehlshaber Saint Domingos erhoben worden. Nachdem er den spanischen, größeren Teil der Insel Hispaniola erobert hatte, habe er deren Unabhängigkeit verkündet (1801). Darauf jagten und besiegten ihn jedoch französische, inzwischen napoleonische Truppen und schafften ihn als Gefangenen nach Frankreich. Die Sache stinkt nach Verrat und bleibt zumindest im Brockhaus offen.

Wie ich Roi Ottleys Buch über die Sklaven Nordamerikas entnehme*, schlugen die Kämpfe auf und um Hispaniola auch in den damals noch jungen USA hohe Wellen. Einerseits mußten ungefähr 25.000 weiße, als Herren entthronte Flüchtlinge aus Saint Domingo untergebracht werden; andererseits sahen sich die nordamerikanischen schwarzen Sklaven in ihren eigenen Freiheitsbestrebungen beträchtlich beflügelt. Der durchschnittliche US-Bürger wurde derweil mit den schon damals beliebten Greuelgeschichten über die Revolutionäre gefüttert. Gegen diese Lügen oder Verzerrungen hätte sich sogar der britische Konsul James Stephens verwahrt, behauptet Ottley. Der Konsul schlug seinem Mutterland die Entlassung Hispaniolas in die Unabhängigkeit vor. Was den »Freiheitshelden« angeht, muß er auch nach Ottley sowohl in militärischer wie in politischer Hinsicht ein Schlitzohr gewesen sein. Er habe zerlumpte Haufen in schlägkräftige Truppenteile verwandelt und Frankreich, Spanien und England geschickt gegeneinander ausgespielt. »Er erklärte die Unabhängigkeit Haitis, die zunächst von Napoleon anerkannt wurde. Aber später sah Napoleon in Toussaint ein Hindernis für einen französischen Imperialismus in der Neuen Welt. So sandte er 25.000 [Mann starke] Truppen unter seinem Schwager Le Clerc nach Haiti, um die Republik zu zerstören. Durch Verräterei wurde Toussaint gefangengenommen, und er starb in einem französischen Gefängnis.«

Ottley versteht unter »Haiti« die ganz Hispaniola umfassende neue »Negerrepublik«. Deren Chef saß nun in der Festung Fort de Joux, die bei Pontarlier in Ostfrankreich lag. Die deutsche Wikipedia behauptet, dort sei er im April 1803 »an den Folgen der harten Haftbedingungen« gestorben. Die englische Schwester bietet an: Erschöpfung, Unterernährung, Schlaganfall, Lungenentzündung und möglicherweise Tuberkulose. Toussaints Bezwinger, das liebe französische Mutterland, hatte die überseeische Sklaverei inzwischen wieder für rechtmäßig erklärt, durch Napoleon im Mai 1802. Die karibische »Negerrepublik« konnte sich natürlich nicht lange halten, obwohl es Toussaints Nachfolger Dessalines gelungen war, auch Leclercs Mannen von der Insel zu vertreiben. Laut Ottley trafen damals auf Dessalines Einladung hin sogar nahezu 30.000 ehemalige Negersklaven aus den USA in Haiti ein. Es kam zu neuen Machtkämpfen und Teilungen auf der Insel. 1915 zeigte sich, welcher Imperialist in Zukunft das Sagen in der Karibik haben würde: Die USA rückten ein und erklärten ihre gnädige Bereitschaft, Haiti unter ihre »Schutzherrschaft« zu nehmen. Da waren die Enkel jener 30.000 Ex-Sklaven vom Regen in die Traufe gekommen.

Ein jüngster deutschsprachiger, durchaus lesenswerter Magazinbeitrag** ist von der Überzeugung geleitet, die damalige haitische Revolution habe »dem System von Kolonialismus und Sklaverei einen entscheidenden ersten Schlag« versetzt. Mal sehen, ob ich den letzten noch erlebe.

* Roi Ottley, Die schwarze Odysee, deutsche Ausgabe Hamburg 1949, S. 112–17
** Carlo Greppi, »Happy Birthday, Toussaint Louverture«, https://www.jacobin.de/artikel/toussaint-louverture-haiti-revolution, 20. Mai 2024




Unter etlichen volkstümlichen Namen dieses merkwürdigen, bei uns bereits seltenen Pilzes, beispiels-weise Rote Koralle, Hahnenkamm, Rötliche Bärentatze, hat sich Brockhaus ausgerechnet den unvorteilhaftesten ausgesucht, nämlich (Roter) Traubenziegenbart. Der Pilz zählt zur Gattung »Korallen« und lebt am liebsten in warmen Buchenwäldern. Er ist sogar eßbar, mild im Geschmack. Aber was könnte bei ihm an Trauben und an Ziegenbärte erinnern? Meines Wissens sind Trauben rundliche, nicht spitzige Sachen, und Ziegenbärte wachsen in der Regel nicht (bis 20 Zentimeter) in die Höhe, hängen vielmehr herab. Aus ähnlichen Gründen kann mich die eigentlich reizvoll klingende Bärentatze nicht überzeugen. Ich schlage Strubbelrotfuchs vor.



Der Maler, Cartoonist und Buchillustrator Hans Traxler, geboren 1929, lebt zur Stunde noch, da muß ich vorsichtig sein. Für einen Eintrag im Brockhaus hat sein Ruhm (1993) nicht ausgereicht, obwohl er das Satiremagazin Titanic bereits 1979 mitgegründet und bald darauf den Kanzler Kohl, nun als »Birne« gestaltet, noch viel populärer gemacht hatte. Seit 1951 in Frankfurt/Main ansässig, muß der Mann unverwüstlich, vielleicht aber auch zahm geworden sein. Meist wird allerdings von »Altersmilde« gesprochen. Laut jüngstem Hessenschau-Beitrag* zeichnet und veröffentlicht Traxler noch als 95jähriger Greis. Zu meiner Zeit vertrat er den frechen und antiautoritären Biß, den wir auch an seinen Kollegen Bernstein, Gernhardt, Waechter schätzten. Ihr Handwerk verstanden sie alle, meisterhaft. Jetzt versichert Kenner Thomas Kronenberg, Traxler zeichne einfach, worauf er Lust habe. Mit seinen Bildergeschichten wolle er keine Mißstände aufdecken oder inhaltsschwere Diskussionen anregen. Es gehe ihm vor allem um Komik.

Vielleicht würde es zu diesem Zwecke schon ausreichen, den bieder wirkenden Sozialdemokraten Olaf Scholz auf einen Besenstiel statt auf ein Panzerrohr zu setzen. Oder Nancy Faeser (von Karl Lauterbach) mit einem Sahnetorten-Spritzbeutel pieken zu lassen. Aber wer weiß, ob dergleichen nicht schon irgendwo zu sehen ist. Bei der postmodernen Bilderflut ist es sicherlich nicht so einfach, nicht-gestohlene Einfälle vorzuweisen. Beim Zahnarzt etwa liegen Ausgaben der französischen Zeitschrift La Caricature des Jahrgangs 1831 herum – und siehe da, Charles Philipon hat seinen König Louis-Philippe respektlos als Birne ausgegeben.

* https://www.hessenschau.de/kultur/caricatura-ausstellung-die-duenen-der-daenen-hans-traxler-arbeitet-einfach-immer-weiter-v1,traxler-caricatura-100.html, 30. Mai 2024



Ich nehme an, im großen und ganzen sind die deutschen Flüsse so sauber wie die deutschen PolitikerInnen. Zur nordfriesischen Treene sagt Brockhaus diesbezüglich kein Wort. Sie kommt von Sörup her und mündet, weiter südlich, bei Friedrichstadt in der Eider. Stichproben im Internet deuten für 1977 und später eine eher mangelhafte Wasserqualität an. Alles andere wäre auch verwunderlich, dürften doch die lieben Landwirte, deren gefleckte Kühe so gern fotografiert werden, regelmäßig Hektoliter an schnuckeligen Düngemitteln in der Treene landen lassen, von den Kuhblasen ganz zu schweigen. Dies hat mich um 1977 aber nicht sonderlich gejuckt. Westberliner Freunde hatten bei Schwabstedt ein altes Bauernhäuschen erworben, wo ich einmal Sommerfrische machen durfte. Morgens schnürte ich über die Wiese hinterm Haus und ließ mich begierig in das braune, moorige, würzig duftende Wasser der Treene gleiten. Dagegen war die Spree in Berlin eine Jaucheleitung, so empfand ich es jedenfalls. Immerhin lese ich auf einer Kanu-Webseite, die Wasser-qualität der offiziellen Schwabstedter Flußbadeanstalt sei in den jüngsten fünf Jahren durchweg »ausgezeichnet« gewesen. Wer es glaubt, wird selig.

Das Bauernhäuschen kam sogar ohne Kühlschrank aus. In der Küche gab es eine Art Falltür, durch die man in ein größeres Kellerloch stieg. Dort war die Butter davor sicher, im Lehmboden zu versickern. Sie schmolz nie und wurde nie ranzig. Nach jeder zweiten Mahlzeit belästigte ich die GastgeberInnen und weiteren Gäste mit taufrischen Liedern zur Gitarre, denn damals hatte ich mit dieser Unsitte – dem Liedermachen – gerade angefangen. Vermutlich hätten es noch nicht einmal Tom Snow und Nan O'Byrne gewagt, den Leuten solche Erstlingswerke zuzumuten. Aber man ermutigte mich. Schließlich gehörte das Häuschen einem linken Lehrerehepaar.

Bei solchem Müßiggang am Treenestrand liegt ein Blick aufs Treideln nahe. Brockhaus bestimmt es beinahe erschöpfend so: »Ziehen eines Schiffes oder Bootes mit Tier- oder Menschenkraft auf Flüssen und Kanälen vom Ufer aus.« Von der Erschöpfung der Ziehenden spricht er lieber nicht. Allerdings erinnere ich mich an den russischen Maler Ilja Jefimowitsch Repin, Band 18. Der dortige Eintrag ist mit einer farbigen Abbildung versehen, Titel laut Brockhaus Burlaken an der Wolga, entstanden um 1870. Nach den Treidelpfaden wird man an unseren Flüssen, soweit ich sehe, auch keinen nennenswerten Schiffsverkehr mehr entdecken. Ein paar Lastkähne und Ausflugsdampfer, und die sogenannte Wasserschutzpolizei, die vor allem UrheberInnen von »Falschnachrichten« aufzustöbern und bei Nancy Faeser abzuliefern hat. An der Treene fährt man selbst zwischen benachbarten Dörfern nicht Boot; man nimmt das Auto. Boot wäre viel zu langsam. Desgleichen, wenn Pendler von Friedrichstadt nach Treia (Luftlinie 20 Kilometer) mit einem Linienschiff fahren wollten. Bei den vielen Flußwindungen stünde ihre Stechuhr beim Autozuliefer-betrieb in Treia schon auf Mittagspause, wenn sie schließlich einträfen.

Gerade versetzt mir der wohl leitende Redakteur der Nachdenkseiten einen Schock.* Er ruft schon in der Überschrift »Autoland ist abgebrannt«. Das meint er aber nicht etwa mit jener antiautoritären »klammheimlichen Freude« des Mescalero oder des Verkleinerungstheo-retikers E. F. Schumacher aus der Zeit just um 1977 – nein, er bedauert es vielmehr. Er hört mit Schrecken, schon wieder wollten VW, Mercedes, BMW und andere in Deutschland Werke stillegen und damit viele wertvolle Arbeitsplätze vernichten. Er fürchtet das Gespenst der »Deindustrialisierung«, das uns auf den Irrweg der Verarmung locken möchte. Der Artikel könnte auch in der zahmen Proletkult-Zeitung Junge Welt oder in Wagenknechts (!) Pressebulletin stehen. Im kommenden Jahr wird Berger womöglich schon vor »einschneidenden Kürzungen« bei der Rüstungsschmiede Rheinmetall warnen. Von jener »revulutionären« Gesinnung, die sich doch eigentlich Herausgeber Albrecht Müller so gern ans Revers heftet, ist dies alles unbeleckt. Das um 1977 beschworene grundsätzliche »Umdenken« ist so wenig erwünscht wie ein Umsturz. Eine Abschaffung des vielfach verheerend wirkenden Autoverkehrs und des unermüdlichen Strebens nach mehr Bequemlichkeit wird mit keinem Komma erwogen. Stattdessen sorgt man sich um die Sorgen der Automobilkonzerne bis in jedes Detail. Ein abschließender Schlenker auf das gute alte Pferd ist eher ein Hohn. Man hat sich im blinkend verbarrika-dierten Kadaver der Welt eingerichtet. Den Verwesungsgeruch, mit nachhaltigst arbeitenden, solarbetriebenen Pumpen abgesaugt, schicken wir in die Weiten des Universums, das ja unendlich sein soll.

* Jens Berger, »Autoland ist abgebrannt«, https://www.nachdenkseiten.de/?p=120760), 4. September 2024



Ich sprach schon einmal davon: einige deutsche Städtchen seien lediglich bekannt, weil es dort einmal eine Feuersbrunst oder einen fetten Mord gegeben habe. So auch Treuenbrietzen. Nur Brockhaus weiß das nicht. Stattdessen stellt er ausgerechnet den dortigen Fahrzeugbau heraus, voran Anhänger und Lkw-Zubehör … Treuenbrietzen liegt südlich von Berlin im Kreis Potsdam-Mittelmark und hat inzwischen rund 7.500 Einwohner-Innen. Immerhin klärt das Lexikon hinsichtlich des Ortsnamens auf, man habe das Städtchen einst als das »trockene Brietzen« von Wriezen im Oderbruch unterscheiden wollen. Andere Quellen behaupten, es sei durchaus um die »treuen« Bürger von Brietzen gegangen. Wie auch immer, könnte man vielleicht auch das bekannte Lied Sabinchen war ein Frauenzimmer als trocken bezeichnen. Die PR-Leute der Stadt walzen es kräftig aus, weil in dieser angeblichen Parodie auf eine Moritat eben »Treuenbrietzen« erwähnt wird. Von dort kommt nämlich ein Schuster, um Sabinchen schöne Augen zu machen, um ihre Ersparnisse zu erleichtern und ihr dann mit einem Rasiermesser den Schlund abzuscheiden. Aber wenn Sie mich fragen, ist so ein Einzelfall gegen alle vielfältigen Folgen und Begleiterscheinungen der gerade verhandelten Automobilproduktion doch eher harmlos. Stellen Sie sich einmal vor, Sahra Wagenknecht würde im Parteibulletin verkünden: Alle AutofahrerInnen sind MörderInnen. Sie hätte sofort den Staatsanwalt am Hals und bei der nächsten Wahl Einbußen um 15 Prozent. Deshalb wird sie es lieber nicht verkünden. Mir jedoch wird sie vorhalten, an jenen Folgen und Begleiterscheinungen der Automobilproduktion zu sterben sei doch immer noch besser, als in der Ukraine an der Front zu fallen. Ja, genau das wird sie mir sagen. Schließlich zählt sie zu den geschicktesten Verfechtern der »Theorie des Kleineren Übels«, die Deutschland nach der Auflösung der USPD hervorgebracht hat.
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