Mittwoch, 18. September 2024
Risse im Brockhaus 35

Der Siebenschläfer ist ein putziges Nagetier so ungefähr zwischen Maus und Eichhörnchen. Rücken den Wäldern Forsthäuser oder Gartenhütten auf den Pelz, betrachtet er gerne auch diese als sein Revier. Er ist nämlich auch ein Krawallmacher*, wovon Brockhaus keine Ahnung hat. Mir etwa hat er, statt namensgemäß zu pennen, durch sein rammeliges oder ranziges Toben in den verschalten hohlen Wänden meiner einstigen Gartenhütte (um 2007) schon manche Stunde Nachtschlaf geraubt. Übrigens ist er auch ein Freßfeind. Als ich erstmals eigene Äpfel geerntet hatte, war ich so dumm, sie voller Stolz auf der Brüstung meiner überdachten Veranda aufzureihen. Ich sagte mir, kommt mal ein netter Mensch zu Besuch, wird er gleich von diesen herrlichen, rotwangigen Früchten angelächelt. Puste-kuchen! Nachts wache ich auf und sehe, dieser Knilch aus der Familie der Bilche, der da gerade seinen buschigen Schwanz um die Hüttenecke zieht, hat von meinen rund 30 Äpfeln schon mindestens 1o fein säuberlich angenagt! Offensichtlich gedachte er erst einmal alle 30 durchzu-kosten, um sich dann ausschließlich das wohlschmek-kendste Exemplar einzuverleiben. Ich hätte sie ihm allesamt an den Kopf werfen können, aber natürlich war er längst in Deckung gegangen.

Überhaupt unterschätzen romantisierende Stadtbewoh-nerInnen oft, welchen Ärger einem ein sogenanntes naturnahes Leben einbringen kann. Manchmal glaubte ich fast, alle Flora und Fauna habe sich ausgerechnet nur gegen mich verschworen. Die Disteln stachen, die Nesseln brannten, die Mäuse stahlen wie die Raben. Nacktschnecken verstecken sich unverforen in einem feuchten Tuch, das man an einen Nagel gehängt hat. Die Zwergkrokodile namens Ohrwürmer finden jeden Weg unter deinen einzigen, sorgfältig abgeleckten Teelöffel. Jede Hüttenecke, die man vorübergehend aus den Augen läßt, verhauen die Spinnen mit ihren klebrigen Fallen. Ameisen kennen jede Ritze, in die sie notfalls flüchten können; Stechmücken jede hervortretende Schlagader an deinem die Spitzhacke schwingenden oder die Laptop-Tastatur quälenden Arm.

Der Gipfel war eine Kohlmeise, die meinen erkalteten Hüttenofen mit einem Nistkasten verwechselt hatte. Plötzlich brach in dem Ofen Radau aus. Vorsichtig die Klappe aufgeklinkt, fliegen mir diese sowie die rußschwarze Kohlmeise fast ins Gesicht. Sie war durch mein Schornsteinrohr eingedrungen oder gefallen. Ein geistesgegenwärtiger Fußtritt gegen meine Hüttentür war alles, was ich noch tun konnte. Sonst hätte sie mir noch meine ganze reinliche Bleibe versaut. Glauben Sie aber nicht, sie hätte mir aus Dank für ihre Befreiung ein hübsches Lied gesungen. Stattdessen beschimpfte sie mich vom nächsten Obstbaum aus wie ein Rohrspatz. Hören Sie dafür wenigstens das folgende Stück.

* siebenschlaefer (mp3, 699 KB)



Man kann gar nicht oft genug dazu auffordern, dem Ruhm und der angeblichen Unersetzbarkeit sehr vieler Kunstwerke mit mehr Vorbehalten zu begegnen. Das reicht von ägyptischen Grabbeigaben bis über Piet Mondrians meist farbenfroh gemalte Knastfenstergitter hinaus. Brockhaus macht uns die Ruinen auf dem 120 Meter hohen Inselberg Sigiriya schmackhaft, der auf Sri Lanka zu finden sei. Aber es sind Ruinen eines »befestigten Königspalastes« vom Ende des 5. Jahrhunderts. Brockhaus schwelgt besonders von Wandmalereien, die »himmlische Nymphen« zeigten, die den herrschenden Königstrotteln Blumensträuße überreichen.

Aber sie seien doch wunderschön? Bedenken Sie bitte folgendes. Im Gegensatz zur Natur hat die Kultur eine soziale Dimension. Sollten Sie also einen Spinnen-Ragwurz (seltene heimische Orchidee) liebreizender als die weißblühende Ästige Graslilie empfinden, ist es nicht weiter verwerflich, solange der Kommerz aus dem Spiel bleibt. Dagegen werden die meisten Kunstwerke für die Eliten aller Epochen von begabten Speichelleckern geschaffen, die von dem Geld bezahlt werden, das den Kleinen Leuten vorenthalten worden ist. Sollten sie Schönes liefern, dann nur, um uns von dem Häßlichen in den gesellschaftlichen Verhältnissen abzulenken. In der Kunst gibt es keine einheitlichen Werte, die weltweit für alle gelten. Es gibt vielmehr unterschiedliche Klassen oder Völker, gegensätzliche Kriegsparteien und Ungerechtigkeit in rauhen Mengen. Erwähnt Brockhaus also lobend, die ganze Anlage auf jenem asiatischen Inselberg sei von der UNESCO zum »Weltkulturerbe« erklärt worden, betreibt er die übliche Augenwischerei. Es handelt sich vielmehr um ein Erbe weniger Könige.

Eine weitere Konsequenz wäre, nicht entsetzt zu sein, wenn im Eifer revolutionärer Umstürze Stuckdecken in Schlössern wie dem in Friedrichswerth an der Nesse oder kostspielige »Informelle Gemälde« in einem Erfurter Museum kurzerhand zerschlagen werden. Für diese Gebilde haben die entstehenden Freien Republiken ohnehin keine Verwendung. Ihre Rühmung und ihre Beschützung würde nur das Geld kosten, das die Freie Republik ohnehin nicht mehr hat. Die Freie Republik schaffte das Geld nämlich gleich nach dem Umsturz ab. Sie bezahlte nur noch ein paar verstockten Kuratoren und Konservatoren die Überfahrt nach Sri Lanka.



Vom ursprünglich proletarischen Schriftsteller Alan Sillitoe (1928–2010) aus Nottingham, England, hebt Brockhaus vielleicht zurecht die berühmte Erzählung Die Einsamkeit des Langstreckenläufers hervor. Mag er deren Grundeinfall auch so wenig vorläuferlos erfunden haben wie beispielsweise Marlen Haushofer ihre Wand, bleibt der Einfall doch verblüffend gut. Das Sport-As der Schule entschließt sich beim Rundendrehen in einem bedeutenden Wettstreit zwischen mehreren Schulen dazu, den Sieg zuletzt triumphal zu verschenken, auf daß sein schmieriger Schuldirektor vor Wut und Scham in den Brettern der Zielgeradentribüne versinke. So stillt der Junge seinen Rachedurst und rettet sein Selbstwertgefühl.

Die Erzählung wird in meiner Kurzgeschichte Roßkur gestreift*, die ich bislang nur »offline« in meinem Blog stehen habe, weil sie mir zu unerheblich vorkam. Sollten Sie anders urteilen, bitte ich um eine Kurznachricht. Ich bekomme ohnehin so gut wie nie Leserbriefe. Seit über 10 Jahren nicht.

* https://siebenschlaefer.blogger.de/stories/2700232/



Der portugiesische Advokat und Komödiendichter António José da Silva »der Jude« (1705–39) kam mit 34 um. Er hatte bereits wiederholt Folter und Haft erlitten und sich mit Lippenbekenntnissen herausgewunden, ehe er 1739 in Lissabon von der »heiligen« Inquisition zum Tode verurteilt und enthauptet wurde. Seine Leiche wurde anschließend öffentlich verbrannt.* Das teilt sogar auch Brockhaus mit. Die Schuld des Deliquenten hatte vornehmlich in jener Eigenschaft bestanden, der er seinen Spitznamen verdankte. Sowohl Da Silva wie seine Frau Leonore, die wahrscheinlich etwas später im Gefängnis starb, sollen sich zumindest zuletzt, als Todgeweihte, ausdrücklich zu ihrem jüdischen Glauben (und den entsprechenden Gebräuchen) bekannt haben. Sie hinterließen eine Tochter – und Da Silvas barocke, oft für Marionetten und mit viel Gesang eingerichtete Komödien, rund ein Dutzend an der Zahl. Anscheinend waren sie nicht unbedingt originell, jedoch bei den Massen beliebt. Zum Teil parodierten sie die in der Elite gefeierten Opern und zeigten auch sonst satirisch-volkstümliche Züge. Dadurch hatte Da Silvas Ketzertum, wie zu vermuten steht, noch schwerer gewogen. Die Stadt Lissabon setzte ihm 1912 ein Denkmal. 1996 folgte gar ein auf Anhieb preisgekrönter Spielfilm des Brasilianers Jom Tob Azulay mit dem Titel O Judeu (Der Jude). Allerdings forderte diese Würdigung ein weiteres, fast gleichaltriges Todesopfer, nämlich den Mann in der Titelrolle, ebenfalls Brasilianer. Der 33jährige Schauspieler Felipe Pinheiro war Ende 1993 in seiner Wohnung in Rio de Janeiro noch während der Drehzeit einem Herzinfarkt erlegen. Da er überall als Hauptdarsteller des Streifens geführt wird, hatte er entweder Glück – oder ein gutes Double.

* Edgar Prestage in der 1911 Encyclopædia Britannica: https://en.wikisource.org/wiki/1911_Encyclop%C3%A6dia_Britannica/Silva,_Antonio_Jos%C3%A9_da



In seiner Jugend soll der Franzose Siné (1928–2016) zeitweise Nachtclubsänger gewesen sein. Später, als bekannter Karikaturist, entwarf er auch Buch- und Plattenumschläge; er schätzte vor allem Jazzmusik. Nebenbei war er, wie so viele, Katzennarr. Seinen Wehrdienst soll der junge Mann vornehmlich in der Arrestzelle abgeleistet haben. Er war wirklich strenger Antimilitarist, wobei ihm besonders der unselige Algerienkrieg ein Feld bot. Brockhaus erklärt (1993), Sinés »aggressiver Zynismus« gehe »bis zur Anarchie«. Ich nehme an, das ist der übliche grobe Unfug, der den Anarchismus entweder mißversteht oder aber verleumdet. Möglicherweise war »bis zum Nihelismus« gemeint. Siné selber hielt sich für einen Bilderstürmer oder Ketzer. Da blieb es nicht aus, daß man ihm eines Tages auch die bis zur Stunde beliebte Keule »Antisemitismus« auf den Schädel hieb, weil er den Staat Israel oder dessen StangenhalterInnen nicht liebte. Immerhin betont die Tiroler Tageszeitung in ihrem Nachruf*, den Vorwurf des Antisemitismus habe Siné stets zurückgewiesen; auch sei er in dieser Sache vor Gericht freigesprochen worden, während die berüchtigte Zeitschrift Charlie Hebdo verdonnert wurde, ihrem ehemaligen langjährigen Mitarbeiter Schadenersatz zu zahlen. Siné hatte sich 2008 mit dem Skandalblatt überworfen. Anschließend gründete er gemeinsam mit seiner Gattin Catherine ein eigenes satirisches Blatt, das sich einigermaßen halten konnte. Demnach war er nicht gerade bettelarm. Auf Korsika hatte er beispielsweise ein Haus, das 2004 Ziel eines Bombenanschlages war. Hier will jemand 1.200 Euro für eine polizeifeindliche Siné-Karikatur. Mit 87 soll der Künstler einem Lungenkrebs erlegen sein.

* https://www.tt.com/artikel/11465862/franzoesischer-karikaturist-sine-im-alter-von-87-jahren-gestorben, 5. Mai 2016



Über die gut drei Seiten zur Sklaverei will ich nicht meckern. Unter dem Sozialreformer und Kanzler Gerhard Schröder, um 2000, kamen dann massiv Nachgeburten namens Zeitarbeit, Leiharbeit, Billigarbeit, Gar keine Arbeit auf – Sie dürfen aber nicht denken, er habe das erfunden. In Westberlin waren Sklavenhändler lange vor ihm bekannt. Ich war 1975 in die Frontstadt gegangen, weil ich dort ohnehin schon eingebürgert gewesen war, hatten mir doch drei Instanzen der Kriegsdienstverweigerung meine Gewissensgründe nicht abgenommen. Verfügte man damals über einen in Westberlin ausgestellten Behelfsmäßigen Personalausweis, mußte man nicht »zum Bund«. Auslöser meines Umzugs war die Auflösung meiner Ehe gewesen. Ich war der mobilere Ex-Gatte, weil ich keine feste Arbeitsstelle hatte.

Aufgrund dieses Ortswechsels hatte ich allerdings kaum noch Freunde. Einen Gipfel meines Verlassenheitstraumas erlebte ich in der riesigen Halle der Reinickendorfer Hammerschmiede Hugo Kummers. Sie war nahezu leer. Hugo, ein rosiger Koloß mit Spinnenbeinen und Orang-Utan-Armen, schmiß das Büro, während sein Bruder Hans, ein Schweißer, hin und wieder auftauchte, um mir das kalte Biegen von Profileisen zu zeigen oder an seinem Porsche einen neuen Heckspoiler anzubringen. Mein einziger Kollege war ein Jungarbeiter, der seine kurzangebundene Berliner Schnauze zum Frühstück mit Matjes-Filets und Springers B.Z. fütterte.

Nach Kummer schlug ich mich nur noch tagelöhnernd bei jenen, allen Scherben-Fans wohlbekannten Sklaven-händlern durch.* Ich arbeitete lediglich, um mir Schmalz für meine Stullen und ein Tenorbanjo für meine neue Wirkungsstätte im Straßentheater Kreuzberger Asphalt-oper kaufen zu können. Den Vogel schoß ein Verleiher ab, der gleich in dem Hochhaus am Zoo-Eingang residierte. Angeblich hatte er mich fürs eigene Büro als Bote angeheuert. Dann stellte sich heraus, daß ich vormittags in alle Bezirke zu düsen und an Wohnungstüren zu klingeln hatte, um einmal nachzusehen, warum Kollege A. oder Z. mal wieder nicht auf seiner Leiharbeitsstelle erschienen sei.

Diesen eigentlich schmeichelhaften Posten als Sklaven-treiber gab ich rasch wieder auf. In der Asphaltoper widmeten wir uns vor allem der Mieteragitation. Wir holten uns in den Hinterhöfen mit unseren aufwieglerischen lustigen Liedern Genickstarre und jedesmal ein paar Groschen oder Fuffziger. Wie ich den Medien entnehme, könnten wir diese Mission inzwischen nahtlos wieder aufnehmen, weil es die Rotgrünen als ihre vornehmsten Aufgaben betrachten, Elektroautos, Schützenpanzer und Wohnungsnot produzieren zu lassen.

* https://www.youtube.com/watch?v=-tMvqjH5EYo (1971)



Der russische Pianist und Komponist Alexandr Skrjabin mußte seinen Klavierdeckel bereits mit 43 zuklappen. Warum, verrät Brockhaus nicht, obwohl er die Werke des zwirbelbärtigen Künstlers über den Klee lobt. 1915 soll ihn eine Blutvergiftung erledigt haben, angeblich wegen eines Lippenabzesses. Erfreulicherweise hatte er da bereits seine 2. Klaviersonate gis-Moll op. 19 (von 1897) geschaffen, ein farbenprächtiges, sprühendes Werk, an dem sich der Nachwuchs vielleicht nicht den Hals, aber in rund 11 Minuten alle 10 Finger brechen kann.

Eher noch könnte man die Hände allerdings eingedenk des Juniors Julian Skrjabin (1908–19) über dem Kopf zusammen schlagen. Den kennt Brockhaus natürlich nicht. Julian war als zweites Kind des berühmten Vaters und dessen Geliebten Tatiana Fyodorovna Schloezer zur Welt gekommen. Selbstverständlich lernte der Sprößling sofort Klavierspielen, wahrscheinlich noch vor der Beherrschung sämtlicher Schließmuskeln und dem Spielen mit Bauklötzen. Ob er als Knabe vier bestimmte, gekonnte Préludes, die den Tonfall seines Vaters zeigen, selber schuf oder ob seine Mutter sie lediglich aufgrund ihres Schmerzes später als Werke des Sohnes ausgab, ist unter Forschern umstritten. Der Vater konnte nicht mehr befragt werden, da tot.

Mit 10 wurde Julian Schüler von Reinhold Glière, dem wir ein interessantes, vielleicht etwas zu schwülstiges Konzert für Koleratursopran verdanken. Aber mit 11 war Glières Schüler tot wie eine Wasserratte. Der Komponist leitete damals das Konservatorium in Kiew. Ebendort soll sein prominenter Schüler im Juni 1919 »unter mysteriösen, nie geklärten Umständen«, wie es überall formelhaft heißt, im Fluß Dnepr ertrunken sein. Einzelheiten werden so gut wie nirgends erwähnt. Wohltuende Ausnahme stellt die russische Wikipedia dar, die ich freilich ähnlich souverän beherrsche wie das Piano: gar nicht. Vertue ich mich nicht, hatte Julian am verhängnisvollen Tag mit Lehrer und Mitschülern ein Picknick- und Badevergnügen auf einer Flußinsel. Dabei soll er sich, möglicherweise aus Schamhaftigkeit, abgesetzt haben. Später suchte man ihn, da er sich nicht zur Heimkehr eingefunden hatte. Anscheinend fand man ihn trotz der Dunkelheit noch am selben Abend. Er lag tot in Ufernähe im seichten Wasser, vermutlich ertrunken und angeschwemmt. Eine amtliche Untersuchung, Obduktion eingeschlossen, habe nie stattgefunden. Zwar lägen einige Berichte vor, doch seien sie durchweg auf Hörensagen gegründet. Nimmt man nun hinzu, daß der verunglückte Knabe zu Jähzorn und Dickköpfigkeit neigte und naturgemäß manche NeiderInnen besaß, sind weder Selbstmord noch ein Gewaltverbrechen ausgeschlossen.

Soweit ich sehe, hielt sich damals auch die Mutter im Raum Kiew auf. Julians Tod soll Schloezer-Skrjabina schwer und nachhaltig getroffen haben. In der Tat starb sie drei Jahre darauf ebenfalls, in Moskau. Der Rheinhesse Carl Zuckmayer, um 1900 aufgewachsen in der Gegend von Mainz, bemerkt in seinen Erinnerungen*: »Daß Kinder überhaupt am Leben bleiben, läßt sich höchstens durch eine Kette von Glücksfällen oder durch Schutzengel erklären, und nur ihre Vergeßlichkeit bewahrt die Erwachsenen davor, in ewiger Angst um ihren Nachwuchs zu zittern.« Das ist in grammatischer Hinsicht nicht ganz lupenrein gesagt, da der Bezug des ersten »ihre« unklar bleibt, sonst aber sicherlich grundsätzlich wahr. Seit dem Corona-Terror unseres Gesundheitsstaates ist es sogar besonders wahr.

* Als wär's ein Stück von mir, Sonderausgabe Frankfurt/Main 2006, S. 155



Fünf Zeilen über den Prager Maler Antonin Slavíček (1870–1910) schließen, eingeklammert, »Selbstmord« ein. Mit 38 habe er beim Baden in einem Wildwasser einen Schlaganfall erlitten, heißt es dazu im Internet. Seine rechte Körperseite blieb gelähmt; mit der linken Hand jedoch kam der »impressionistische« Landschafter nicht zurecht. Darauf habe er sich, mit 39, in großem Gram erschossen. Er hinterließ Frau und drei Kinder.

Slavíček hatte zunächst ländlich, dann in Prag gelebt. Eine Professur an der Akademie entging ihm, weil die Abteilung »Landschaft« nach dem Tod des Lehrstuhlinhabers geschlossen wurde. Geldnot hatte die Familie aber nicht gelitten, hatte doch Gattin Bohumila, eine verwaiste Bauerntochter, gut geerbt, versichert jedenfalls die tschechische Wikipedia. Auch von der eigenen Familie her war Slavíček in seinem künstlerischen Weg durchaus bestärkt und unterstützt worden. Somit scheint ihn wirklich erst die halbseitige Lähmung und der brutale Strich durch seine Malleidenschaft niedergeschmettert zu haben. Das kann man natürlich gut nachvollziehen.

Andererseits heißt es beiläufig, als junger Mann sei er einmal (1888) wegen Liebeskummer vorübergehend in ein mährisches Kloster abgetaucht. Mehr ist freilich von Slavíčeks Gemütsleben oder gar den Grundlinien seines Charakters nirgends zu erfahren. Ein echtes Versäumnis. Vielleicht neigte er ja doch schon von Hause aus zu Schwermut oder Trübsinn. Das hieße, er wäre nie ein »Kämpfer« gewesen. Auch das läßt sich gut nachvollziehen.



Trotz überaus erfolgreicher, dann grausam gekürzter Laufbahn wird der SU-Fechter Wladimir Wiktoro-witsch Smirnow (1954–82) im Brockhaus übergangen. 1982 nahm er an den Weltmeisterschaften in Rom teil. Bei einer simultanen Attacke im Kampf gegen den Deutschen Matthias Behr (Tauberbischofsheim) brach dessen Klinge, doch aufgrund der angesetzten Stoßkraft bohrte sich der immer noch spitze Rest des Degens durch Smirnows Maske sowie durch Smirnows Auge ins Gehirn. Der 28jährige Russe starb eine Woche darauf im Krankenhaus.

Behr blieb beim Fechten und in Tauberbischofsheim, zunächst als Nachwuchstrainer, dann als Leiter des »Olympiastützpunktes«. Selbstverständlich hatte er beträchtlichen Gram, wie er 2004 Christiane Moravetz von der FAZ schildert. Nun verbanden sich die Ehe- und Berufssorgen, die einer sowieso schon hat, mit dem stets gegenwärtigen Vorfall in Rom. Doch es stehe ja fest: Beide Waffen waren vor dem Kampf geprüft worden, somit treffe ihn keine Schuld. Der Unfall war Zufall. Allenfalls ließe sich behaupten, er persönlich, Behr, sei damals zum Anlaß dafür »auserwählt« worden, die Sicherheitsstandards im Fechtsport zu erhöhen, sagt Behr. Es sei wie immer: »Wenn in einer Kurve mal was Schlimmeres passiert auf einer Straße, dann wird sie begradigt.«

Die Autos scheinen sehr wichtig zu sein. In einem anderen Gespräch* bekennt Behr, 2002 habe er noch einmal kurz vor dem Selbstmord gestanden, nämlich am Geländer einer Autobahnbrücke. Zurückgeschreckt sei er nur aufgrund des jähen Gedankens, durch seinen Sprung könnten womöglich Dritte, gar Kinder, zu Schaden kommen.

Ein so naheliegender wie ausgezeichneter Gedanke, der leider wenig verbeitet ist. Auch beim jüngsten Seuchenwahn fand er leider nur in wenige Köpfe Eingang, wie gerade** der Kindheitsforscher Michael Klundt erläutert.

* https://www.focus.de/sport/mehrsport/fechten-behr-stand-vor-dem-selbstmord_aid_454910.html, 9. August 2014
** »Viele Covid-Zwangsmaßnahmen waren schädlich und eine strukturelle Kindeswohlgefährdung«, https://www.nachdenkseiten.de/?p=119830, 19. August 2024




Der US-Großkünstler Robert Smithson (1938–73) starb im Dienst. Allerdings könnten manche die Sinnhaftigkeit seines Dienstes anzweifeln. 1970 legte er beispielsweise in einem Salzsee in Utah einen unter Experten berühmten 500 Meter langen Damm in Form einer Spirale an, genannt Spiral Jetty. Das Farbfoto, das Brockhaus davon bringt, ist mehr als spaltenbreit. In seinem 8-Zeilen-Eintrag dagegen hatte das Lexikon nur für die eingeklam-merte Bemerkung »Flugzeugabsturz« Platz. Die meisten Internetquellen verfahren in dieser Hinsicht kaum aufschlußreicher.

Smithson galt als Star unter den damals aus dem Ring von Stonehenge, GB, wiederauferstandenen »Landartlern« Was nun seinen finalen Absturz (aus den Wolken, aber keineswegs aus dem Ranking) betrifft, wählt die Webseite seiner Witwe Nancy Holt eine Art Mittelweg.* Sie erwähnt sowohl das Unglück wie die Namen zweier Mitsterber, nämlich den Piloten Gale Ray Rogers und den Fotografen Richard I. Curtin. Dabei beläßt sie es allerdings und murmelt nur noch ein paar gelehrt klingende Zauber-formeln. Offenbar hält sie den Vorfall für einen zufälligen, kaum vermeidlichen Schicksalsschlag. Dazu bedarf es schon starker Nerven und eines vermutlich fetten Erbes.

Kratzt man verschiedene spärliche Angaben zusammen, kreisten die drei Männer am 20. Juli 1973 vormittags in einer Beechcraft E 55 Baron rund 25 Kilometer nordwestlich von Amarillo, Texas, wie ein Weißkopfseeadler über einer bereits von Smithson vorbereiteten Fläche für eine neue große Erdskulptur, Durchmesser über 40 Meter. Ausgerechnet bei diesem Inspektions-Rundflug lief etwas schief, wodurch das Flugzeug abstürzte. Dadurch kam der 35jährige Großkünstler nebst Dienerschaft um. Laut Suzaan Boettger** waren Rogers und Curtin 26 und 23 Jahre alt. Alle drei seien auf der Stelle gestorben. Die englische Wikipedia erwähnt die Mitsterber namenlos und führt anstelle eines Maschinenschadens einen »Pilotenfehler« ein. Der Mann habe die erforderliche Geschwindigkeit nicht eingehalten und sich außerdem ablenken lassen. Danach könnte es so ähnlich wie (1991) beim Filmemacher Martin Kirchberger gewesen sein, siehe Nasen-Lexikon.

Ob nun technisches, menschliches oder kollektives Versagen: die Kunst ging weiter, darin sind sich alle Quellen einig. Die Witwe und weitere Kollegen vollendeten nämlich die Amarillo Ramp. Sie dürfen sie jederzeit besuchen. Wer werkgerecht anreisen will, benutzt ein atomgetriebenes Unterseeboot.

* https://holtsmithsonfoundation.org/amarillo-ramp (Stand 2024)
** Suzaan Boettger, Earthworks, University of California Press, 2002, S. 234




Den dänischen Historiker Frederik Sneedorff (1760–92) läßt Brockhaus weg, weil es der Mann (mit 28) erst zum »außerordentlichen« Professor an der Kopenhagener Universität gebracht hatte. Das bedeutete: kein Lehrstuhl, kein Forschungsgeld. Gleichwohl unternahm Sneedorf etliche Reisen, die ihn durch halb Europa führten. Seine Briefe von diesen Reisen wurden viel gelesen. Am 14. Juni 1792 befand er sich im Rahmen eines Englandbesuches auf der Fahrt nach Penrith, Grafschaft Cumbria. Als die Pferde seiner Postkutsche plötzlich scheuten und durchgingen, wollte er sich durch Absprung retten, landete aber unglücklich auf seinem Kopf und erlitt einen Schädelbruch, an dem er anderntags starb. Dies als Beleg für die Feststellung zu nehmen, die Verkehrsunfälle hätten nicht erst mit dem Auto begonnen, wäre aber verfehlt, weil nicht ein Zunftkollege des 31 Jahre alten Verunglückten zu wissen scheint, warum die Postkutschengäule scheuten. Vielleicht war in einer nahegelegenen Textilfabrik gerade eine von diesen frühen Dampfmaschinen explodiert. Oder sie hatten an einer Dornenhecke ihre vorgeschriebenen Scheuklappen eingebüßt.

Fast genau das gleiche Schicksal widerfuhr am 13. Juli 1842 unweit von Paris dem genau gleichaltrigen ältesten Sohn Ferdinand Philippe d'Orléans (1810–42) des französischen »Königs« Louis-Philippe: scheuende Kutschpferde, Absprung, Schädel auf Pflaster, aus. Der einzige Unterschied: durch diesen wahrscheinlich übereilten Sprung des »liberalen und sehr populären Prinzen« kam die gesamte französische Thronfolge ins Wanken. Klaus Malettke behauptet, eigentlich sei es dem Kutscher gelungen, den Wagen »unter Kontrolle« zu halten.* Der Prinz hatte zu panisch reagiert. Männer wie Alfred Hitchcock oder Helmut Kohl wären einfach sitzen geblieben. Kanzler Scholz sitzt heute noch. Aber am falschen Ort.

* Klaus Malettke, Die Bourbonen, Band 3, Verlag Kohlhammer 2009, S. 192



Da mir die stellenweise spitzfindige soziologische Sülze, die Brockhaus auf knapp drei Seiten zur Solidarität serviert, nicht sonderlich schmeckt, will ich mir ein paar eigene Gedanken machen. Unvergeßlich ist mir zum Beispiel der 2001 ergangene Aufruf unseres Bundeskanzlers Gerhard Schröder, jetzt gelte es, dem von Terroristen bedrohten oder regierten nordamerikanischen Volk unsere »uneingeschränkte Solidarität« entgegen zu bringen. Glücklicherweise hatten die Anschläge auf Twintowers und Pentagon den Präsidenten Bush nicht zum Einarmigen gemacht. Ein solcher hatte laut Jost Herbig nachgewiesenermaßen in der Neandertaler-Horde von Shanidar gelebt, wo er sogar das vergleichsweise biblische Alter von rund 40 Jahren erreichte. Ob die NeandertalerInnen das Gefühl hatten, ihn »mitschleppen« zu müssen, ist nicht überliefert. Jedenfalls taten sie es, obwohl er durch einen Geburtsfehler arg behindert war. Die »Solidarität« mit den Starken war vielleicht in der Altsteinzeit noch nicht so hoffähig. Da mußte erst Sozialdemokrat Schröder kommen.

Auf dem Floß der Medusa wäre der Einarmige vermutlich als einer der ersten zu den Haifischen gewandert. Die französische Fregatte La Meduse war 1816 vor der Küste Westafrikas in Seenot geraten. Da die Rettungsboote nicht ausreichten, wurde eilends ein Floß gezimmert. Die Boote nahmen dergestalt 200 Personen in Schlepp. Angesichts der rettenden Küste wurden die Taue jedoch gekappt. Das Floß trieb ab. Mit den Vorräten und dem Trinkwasser schrumpften auch die guten Sitten. Schwache wurden ins Wasser gestoßen und ertranken. Trinkwasserdiebe wurden erwürgt. Je schmäler die Floßbesatzung, desto höher die Überlebenschancen, rechnete sich jeder aus. Man aß bereits Tote. Als das Floß nach 12 Tagen endlich entdeckt wurde, lebten nur noch 15 Personen. In der Hoffnung, sie seien resozialisierbar, hätte man aus ihnen immerhin noch eine Landkommune bilden können. Die solidarische Linie auf dem Floß der Medusa wäre selbstverständlich gewesen, keinen zu opfern. Man trägt Mangel, Leiden und Risiko gemeinsam. Wenn schon Untergang, dann für alle.

Genauso verfuhr – trauen wir Bruno Franks ausgezeichnet geschriebenem Roman* über ihn – Miguel Cervantes rund 200 Jahre früher unweit von Algier, wobei er sich allerdings bös in die Nesseln setzte. Um der höllischen Sklaverei unter dem Korsarenchef Dali-Mami zu entkommen, hatte er sich mit zwei Dutzend anderen Elenden, die er aus der Stadt gelotst hatte, in einem Garten versteckt, wo sie ihr Fluchtschiff erwarteten. Solange es nicht eintraf, schlich sich der junge Dorador wiederholt unter Lebensgefahr in die Stadt zurück, um für alle neue Nahrungsmittel zu besorgen. Schließlich kam das Schiff – aber Dorador blieb aus. Cervantes beschwor sowohl seine Mitsklaven wie den Kapitän, den Dorador jetzt nicht im Stich zu lassen. Sie murrten stark, denn natürlich hätten sie sich lieber auf der Stelle in Sicherheit gebracht. Sie wollten schon ablegen, da tauchte Dorador endlich im Garten auf. In seinem Gefolge hatte der Verräter den grinsenden Dali-Mami mit seinen Schergen. Jetzt hätten die Flüchtigen Cervantes nur zu gerne gelyncht.

Das Verrätertum ist allerdings ein »Kulturfolger«, das die schönsten Moraltheorien in Makulatur verwandeln kann. Nebenbei bemerkt, zählen die SchriftstellerInnen im allgemeinen zu den unsolidarischsten Banden der Welt. Alles, was ihre Konkurrenten um die Palme der Poesie abwertet, boykottiert oder aus dem Verkehr zieht, ist ihnen willkommen. Für sie ist Ruhm unteilbarer als die Menschenwürde. Müßten sie mit ihren noch unbekannten Kollegen, die am Hungertuch nagen, die »Gemeinsame Kasse« anarchistischer Kommunen praktizieren, würden sie lieber aufhören zu schreiben und zu signieren und in talkshows zu glänzen und Literaturpreise einzustreichen. Ein Krösus wie Martin Walser schwingt seine »Moralkeule« eher gegen Antifaschisten statt gegen Kapitalisten oder Auflagenkönige. Um unsolidarisch sein zu können, muß man die Fähigkeit besitzen, sein Langzeitgedächtnis wie einen Laptop ausschalten zu können. Das gelingt Großen, die nie klein waren.

Neulich erzählte mir meine Berliner Freundin U., die gerade ein Plakat entworfen und abgeliefert hatte, das einzige, wofür sich die PR-Frau der auftraggebenden Bühne interessiert habe, seien der Schriftzug und die Adresse eben dieser Bühne gewesen – ob sie nicht ein bißchen zu klein geraten seien? U.s Bemerkungen über Plakatgestaltung, Sehgewohnheiten, Blickfänge gingen an der Dame vorbei: sie wollte ihre Bühne größer haben. Also tat ihr U. den Gefallen, schließlich brauchte sie das Geld. Mir gegenüber schimpfte sie dann auf den »Narzißmus« und »Autismus« ihrer Kundin. Diese Wortwahl verblüffte mich, hätte ich selber doch eher vom üblichen »Eigennutz« der Menschen gesprochen, der mich seit Jahren mindestens jede Woche einmal zur Weißglut bringt, und stachele er auch in mir selbst. Die Dame wollte eben ihr Theater gewürdigt sehen – U. wollte ihr Geld …

Die Sache mit dem eigenen Hemd, das einem stets am nächsten sei, ist ein derartiger Gemeinplatz, daß man kaum darüber zu schreiben wagt. Gleichwohl fürchte ich, nicht jedem Menschen ist die Tragweite der Angelegenheit klar – eingeschlossen deren Tragik. Es ist ja genau diese Eigennützlichkeit, die sämtliches gesellschaftliches Leben zersetzt – und sehr wahrscheinlich ist sie unvermeidbar. Denn auch in dieser Hinsicht sind wir nur Tiere. Aber die Tiere sind nicht mit der menschlichen Schmerzempfind-lichkeit geschlagen. Sie hätten es viel einfacher als wir, diese ganzen Ideen von Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Solidarität und so weiter zu verwirklichen. Natürlich denken sie gar nicht daran, da wären sie ja blöd. Alle mir zugefügten Schmerzen (eine Begleiterscheinung des Bewußtseins) treffen mich ungleich mehr als den Bruder. Entsprechend die Lust. Niemand wird jener PR-Frau vom Theater den Mückenstich, das Sterben und jenes Loch abnehmen, das ein viel zu kleines Theater-Logo auf dem Plakat in ihr Herz gebrannt hat. Wahrscheinlich ist dieses Loch auch die Quelle der beliebten Doppelmoral, die ich in jedem dritten Beitrag beklage.

Der jüngste Corona-Terror war vermutlich ganz im Sinne Schröders. Gegen die Feinde muß das Volk die Reihen schließen, die Impfstoffe rausschießen und die Querköpfe aus der Volksgemeinschaft ausschließen. Die Feinde waren eben die angeblich furchtbaren Corona-Viren. Passend denkt der Arzt und Medizinhistoriker Gerd Reuther soeben über Seuchengefahr und die sogenannte Weltgesund-heitsorganisation WHO nach.** Ich fasse zusammen: Laut Reuther sind Seuchen stets regional. Es gibt sowenig einen globalen Klimawandel wie eine globale Gesundheit. In Wahrheit sind bei der Anfälligkeit die persönlichen und sozialen Verhältnisse entscheidend, und die sind niemals überall gleich. Das schmeckt freilich unserer (nie gewählten) WHO ganz und gar nicht. Sie faßt nämlich zu gerne »Pandemien« ins Auge und hält dazu stets diverse Erreger-Kandidaten bereit. Dabei waren bereits Pest und Spanische Grippe (1347 und 1918) lediglich betrügerische Inszenierungen großflächiger Seuchen. Dann wurden sie, in der Geschichtsschreibung, von Jahr zu Jahr größer.

Unter dem Strich stellt Reuther fest, bei einer »Pandemie« handele es sich keineswegs um einen »Fachausdruck für ein Krankheitsgeschehen«, vielmehr um eine Waffe interessierter herrschender Kreise, um den »Obrigkeits-modus« einschalten zu können. Die nächste kommt bestimmt.

* Cervantes, 1934, hier Ausgabe Ostberlin 1978, S. 159–62
** Gerd Reuther, https://www.manova.news/artikel/die-pandemiedrohung, 17. August 2024




Als Knabe litt ich zeitweise an zwei Unvermögen: es mißlang mir, auf zwei Fingern zu pfeifen, ferner, mit einer Peitsche zu knallen. Ich bekam die entscheidenden Bögen einfach nicht heraus. Dagegen führt uns der japanische Meister der dekorativen Malerei Tawaraya Sotatsu (um 1600) laut Abbildung im Brockhaus vor, wie der untersetzte, feiste und verzückte Gott des Donners gleich mit zwei Peitschen zu Werke geht. Offenbar sorgt er mit diesen Geräten für die bekannten rollenden Donner-schläge, die mir als Knabe oft genug Angst einjagten. Auch ich hätte gewissen Leuten, ob groß oder klein, nur zu gern Angst eingejagt, aber ich brachte eben das Knallen mit der Peitsche nicht zustande. Immerhin schärften mir mehrere wohlmeinende Erwachsene ein, die Gespannführer und Kutscher unserer heimischen Gutshöfe knallten keineswegs, um ihre Gäule zu erschrecken und zu strafen. Sie benutzten ihre Peitschen lediglich für optische, akustische und antippende Signale, als Verständigungs-mittel also. Gleichwohl waren es auch Herrschaftsmittel, wie ich allerdings noch nicht als Knabe erkannte.

Meine Mutter Hannelore leistete einen Teil ihrer land- und hauswirtschaftlichen Ausbildung auf einem ostpreu-ßischen Gutshof ab, auf dem es nur so von edlen Pferden wimmelte. Dort gefiel es ihr umso mehr, als bald ein »Eleve« ein Auge auf sie geworfen hatte. Eleve nannte man damals die angehenden Land- und Forstwirte. Der junge Mann ritt ausgezeichnet und nahm meine Mutter sogar zur Jagd auf Wildenten mit. Eines Tages gab es einen häßlichen Vorfall an der Flußschwemme, in deren unmittelbaren Nachbarschaft einige Eleven gerade badeten. Nun rückte der oberste Pferdeknecht des Gutshofes mit Dutzenden von Trakehnern an. Plötzlich jedoch zog er einem sogenannten Zigeuner eins mit der Peitsche über, weil dieser die Schwemme bereits mit seinen beiden dickbäuchigen Wagenpferden besetzt hatte und nicht sofort gehorsamst weichen wollte. Nach dem Hieb, der sogar einen blutigen Striemen in seinem Gesicht hinterließ, funkelten die schwarzen Augen des Zigeuners ähnlich wie die des Donnergottes. Dann zog er mit seinen Brüdern und Wagenpferden wortlos ab.

Wenige Tage später wurde der Pferdeknecht erstochen aufgefunden. Der Mordverdacht lag auf der Hand. Es gelang der Polizei aber nicht, die Zigeuner, die sich aus dem Staub gemacht hatten, zu stellen. Vielleicht waren auch das Frontgeschehen (gleichfalls mit Donner verbunden) und damit »die Russen« schon zu nahe. Die ersten Gutshöfe hatte man bereits räumen müssen. Meine Mutter versicherte mir, die Eleven an der Flußschwemme seien von dem Übergriff des Pferdeknechts empört gewesen. Sie alle wären bereit gewesen, bei einer Gerichtsverhandlung für den Zigeuner auszusagen. Das hätte sicherlich Stunk gegeben, kamen doch die meisten Eleven gleichfalls von Gutshöfen, somit aus höheren Kreisen. Für »Zigeuner« Partei zu nehmen, gehörte sich in diesen Kreisen normalerweise gar nicht.

In der Achtung meiner Mutter war ihr Lieblingseleve durch sein mutiges Eintreten noch höher gestiegen. Das nützte jedoch nichts. Sämtliche Eleven wurden alsbald an die Front berufen und der Schwarm meiner Mutter »fiel« schon nach wenigen Wochen ins Soldatengrab. Wie sich versteht, war sie untröstlich. Ich selber ärgerte mich später ebenfalls, weil ich mir sagte: Im günstigen Fall hätte der Eleve jede Wette meine Mutter geheiratet, und dann wäre ich, im Jahr 1950, als gut betuchter und aussichtsreicher Junkersohn auf die Welt gekommen.

Mindestens hätte mir mein Wunschvater das Knallen mit der Peitsche beigebracht. Sehen Sie bei Interesse beispielsweise https://de.wikihow.com/Mit-einer-Peitsche-knallen. Allerdings wurmte mich mein Unvermögen nicht mehr, nachdem ich ein eigenes Fahrrad bekommen hatte. Zum Radfahren benötigt man keine Pferde; man ist selber der Antrieb.



Im Brockhaus hat der österreichische Schriftsteller Jura Soyfer (1912–39) sogar ein Porträtfoto. Man sieht einen fröhlichen jungen Mann. Der Sohn eines jüdischen Industriellen hatte sich in seiner Wiener Schulzeit für den Marxismus erwärmt. Er verfaßte Artikel für die Arbeiter-presse und versuchte sich auch bald als Dramatiker und Lyriker im Geiste Brechts und Majakowskis. Nach den Februarkämpfen 1934 tritt er der nun illegalen Kommunistischen Partei bei. Er schreibt Flugblätter und arbeitet an Romanen, läuft freilich auch, zum Leidwesen des Parteifunktionärs Franz Marek, »allen Röcken nach«. Sowohl seine frühe Jugendfreundin Marika Szécsi wie seine spätere Geliebte Helli Ultmann bescheinigen dem eher schmächtigen, gleichwohl anziehenden jungen Autor – nach seinem Tode – Charme, Witz und Tapferkeit. Das Wiener Kellertheater ABC führt einige Stücke von Soyfer auf. Im Stück Der Lechner Edi schaut ins Paradies müssen Edi und Fritzi auf der Fahrt mit einer Zeitmaschine erkennen, daß der technische Fortschritt nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist, weshalb sie in dem entsprechenden Büro darum bitten, wenigstens die zukünftige Produktion von Menschen einzustellen. Das war vergleichsweise kühn. Dem kommunistischen Parteiprogramm zuliebe endet das Stück jedoch mit Durchhalteparolen.

Im März 1938, einen Tag nach dem »Anschluß« Österreichs an das faschistische »Deutsche Reich«, wird der auf Skiern flüchtende Autor unweit der schweizer Grenze verhaftet. Man sperrt ihn zunächst im KZ Dachau, dann im KZ Buchenwald ein. Er beteiligt sich am Widerstand und schreibt neue Texte. Nach dem Ausbruch einer Typhusepidemie dem Kommando der »Leichenträger« zugeteilt, infiziert sich Soyfer und stirbt im Februar 1939 im Alter von nur 26 Jahren an Bauchtyphus. Damit hatte sich jener Stücktitel auf makabere Weise erfüllt. Zu allem Überfluß hatte der Häftling aufgrund eines Einreisevisums in die USA bereits die Genehmigung seiner Entlassung in der Tasche gehabt.

Soyfers Werk wurde erst in den 1970er Jahren wieder ausgegraben, wobei ihm vor allem eine Art Kaffeehaus-Politrockband aus Wien zu stimmgewaltigem Widerhall verhalf. Ich erwähnte schon einmal die Kreuzberger Asphaltoper. Ihre MitstreiterInnen stellten die Schmetter-linge aus den Alpen noch über die einheimischen Mannen um Rio Reiser, Ton Steine Scherben genannt. Die Schmetterlinge komponierten etliche Songs auf Texte von Soyfer, darunter Das Lied von der Erde, ursprünglich das Lied des Kometen Konrad aus Soyfers Stück Der Weltuntergang von 1936. Hier setzte die Band dem Pathos Soyfers, statt es abzumildern, noch eins drauf, aber das fand man, in den »undogmatischen« Kreisen um 1977, gerade stark. »Denn nahe, viel näher als ihr es begreift, hab ich die Erde gesehn …« Ein anderes Gedicht von Soyfer, das Lied des einfachen Menschen, endet mit einer ausgesprochen eleganten Durchhalteparole, auf die DDR-Staatsdichter Johannes R. Becher niemals gekommen wäre: »Ihr nennt uns Menschen? Wartet noch damit!«

Rund anderthalb Jahre nach Soyfer, mit dem er seit Jahren befreundet war, starb gleichfalls in Buchenwald der Wiener Journalist und Schriftsteller Ernst Spitz. Der knapp 38jährige bekam den Nazi-Stempel Auf der Flucht erschossen.*

* Andreas Hutter 2007 im ÖBL: https://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_S/Spitz_Ernst_1902_1940.xml



Manche Menschen würden sich für ein Mittagsmahl mit zartbitterem, auf der Zunge zergehendem Spargel verständlicherweise ein Bein ausreißen. Würden ihnen aber auch die Rückenschmerzen schmecken, die Mann oder Frau bei der Ernte des Gemüses ereilen? Friedrich Georg Jünger rankt eine hübsche, anekdotenreiche Erzählung um den Spargel, den er als Knabe in der niedersächsischen Heide vor der Nase hatte. Das Stechen der hellen Stangen aus den sandigen Sargzeilen und dabei auch das Stechen im eigenen Kreuz erwähnt er durchaus; aber die Fragen der Lohnarbeit und der Eigentumsver-hältnisse spart er lieber aus. Diesbezüglich steuerte ich später für die Platte Leon ein Zwerglied bei, dessen Titel just von Jüngers Erzählung entlehnt ist: »Spargelzeit«.

Jünger konnte ähnlich farbig getupft erzählen, wie ihm damals beim Gang in die Felder die Kleider der Spargelstecherinnen entgegen leuchteten. KritikerInnen maulten gelegentlich, trotz seiner Knappheit, von einem betulichen Zug. Dieser Vorwurf zerschellt jedenfalls an einer anderen Geschichte aus demselben Band*, die »Der Knopf« heißt und auch in derselben Gegend spielt. Sie dreht sich nicht um Spargel, vielmehr Stolz. Das heißt, eigentlich entwickelt sich der Eigensinn des biederen und fleißigen Häuslers Schleen, ein schmächtiger Mann, zu nicht weniger als tödlichem Hochmut. Schleen hat einen seltenen Hirschhornknopf seiner Jacke verloren und deshalb seine junge, dralle, stets heitere Ehefrau angewiesen, in der Stadt einen Ersatz zu besorgen und dann anzunähen. Aber Dora kommt nicht gleich dazu. Schleens Mahnung nach einigen Tagen läßt sie auch wieder verstreichen. Sie nimmt den Schaden an der Jacke erheblich weniger wichtig und dringend als ihr Mann. Der jedoch verbeißt sich gleichsam in den fehlenden Knopf. An diesem »hing jetzt nicht nur die Jacke, sondern alles andere.« Wir ahnen längst, die beiden Eheleute passen eigentlich gar nicht zueinander; es hat sich viel Enttäuschung und Ärger aufgestaut, bis der Knopf das Faß zum Überlaufen bringt. Deshalb greift Schleen nach wiederholten vergeblichen Ermahnungen zu einer verblüffenden Waffe: er teilt Dora auf einem Zettel mit, jetzt helfe nur noch Schweigen. Von da an spricht er kein Wort mehr mit ihr.

Diese Waffe verletzt die heitere Dora von Tag zu Tag schmerzlicher. Sie kann Schleens Verstocktheit nicht verstehen. Selbst als der Knopf angenäht ist und Dora den Pfarrer zu ihrem Gatten vorgeschickt hat, bricht Schleen sein Schweigen nicht. Jetzt sei es zu spät, sagt er dem Pfarrer und läßt den Seelsorger stehen. Man fragt sich natürlich, warum Dora nur den Fehler begehen konnte, sich ausgerechnet mit dem schon immer wortkargen und verschlossenen Schleen zu verheiraten. Jüngers Antwort: Sie war Vollwaise, sie war arm – und Schleen bot ihr eben ein vermeintliches Zuhause. Darin wird es jetzt, mitten im Sommer, kälter als im Keller des Wohn- und Stallgebäudes der Schleens. Doras Verzweiflung wächst schneller als der Nieswurz am Bach. Sie weiß keine Erklärung und kein Mittel für Schleens unheimliches Untergraben der ehelichen Gemeinschaft. Seine Waffe hat etwas Spitzfindiges, dem sie einfach von Natur aus nicht gewachsen ist.

Schleen hatte das Annähen des Knopfes durchaus als Bereitschaft des Einlenkens durch Dora empfunden, nur hatte er sich für sein Schweigen insgeheim bereits eine gewisse Frist gesetzt, die noch nicht abgelaufen war. Deshalb hielt er unbeugsam an seiner Roßkur fest. Und bevor der erlösende Termin eintreten kann, ist nun auch Doras Leidensfähigkeit erschöpft. Sie hält die Kälte nicht mehr aus. Als Schleen schon zu Bett gegangen ist, verrammelt sie wie eine Schlafwandlerin die Fensterläden, stellt eine Bohle unter die Klinke der Schlafzimmertür, nimmt eine Kerze und zündet auf dem Speicher das Stroh und im Stall das Heu an. Dann sinkt sie vor der Schlafzimmertür weinend zusammen. Zwar hört sie noch Schleens Rufe, sie möge ihn um Gotte willen herauslassen, doch diese Worte kommen nun umgekehrt auch für Doras wundes Herz zu spät. Da ein kräftiger Wind bläst, brennt das abgeschieden gelegene Haus rasch ab. Wie die meisten LeserInnen annehmen dürften, kommt dadurch auch Dora ums Leben. Die kinderlose Kleinfamilie ist ausgelöscht.

An dieser Schlußszene verstehe ich eine Kleinigkeit nicht. Ich empfinde sie als dramaturgischen Schnitzer. Wie sollte Dora imstande sein, die Fensterläden des Schlafzimmers von außen zu verriegeln? Meines Wissens geschah das in meiner Jugend stets von innen. Gewiß bestand die Möglichkeit, die aufgeschwenkten Lädenflügel an der Hauswand festzustellen, etwa durch die witzigen gußeisernen Männchen. Das waren aber keine Riegel, vielmehr Klemmen. Äußere Riegel wären einer Einladung an Einbrecher oder andere Unholde gleichkommen – die ja von den Fensterläden, neben Unwettern, gerade abgewehrt werden sollten. Vielleicht besorgen Sie sich den Text einmal und zerstreuen meine Bedenken.

* Friedrich Georg Jünger, Erzählungen 1, Stuttgart 1978



Der Jurist Wilhelm Spies (1907–94) fehlt im Brockhaus. Dabei brachte er es unter Hitler, laut Klee, immerhin bis zum Oberkriegsgerichtsrat und nahm sich noch am 9. Mai 1945, einen Tag nach der Kapitulation, heraus, in Norwegen vier junge Soldaten wegen Fahnenflucht zum Tode zu verurteilen. Am nächsten Tag wurden sie erschossen. Leider weiß auch Wikipedia wenig über diesen eisenharten Mann. »Nach 1945« ist er demnach, wie schon früher, erneut Landgerichtsrat in Braunschweig, ab 1965 sogar Landgerichtsdirektor gewesen. Ruhestand 1972. Jahrzehnte später flackert in der Braunschweiger Zeitung Empörung auf.* Noch 1972 habe Spies jene Urteile für »rechtsstaatlich unbedenklich« erklärt. Nach Moral fragen wir also nicht; nur nach dem jeweils herrschenden Rechtsstaat. Das Blatt behauptet sogar, die Karrieren von Braunschweiger Nazi-Juristen könnten Bücher füllen. Es zählt auch gleich noch ein paar auf. Außerdem sei Friedrich Knost, 1936 Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, in der Demokratie bis zum Regierungsprä-sidenten in Braunschweig aufgestiegen. Der Mann war schon 1933 in die NSDAP eingetreten. Von wackeren Entnazifizierern wurde er 1948 »entlastet«. Was Spies angeht, teilte der Spiegel bereits 1972 (in Nr. 32) Einzelheiten zu Norwegen mit, weil es nun doch noch, in München, zu einem Ermittlungsverfahren gekommen war. Das verlief freilich, wie es aussieht, im Sande. Spies starb 1994 mit 86 Jahren. Wo, ist nirgends zu erfahren. Wenn ich demnächst selber abgetreten bin, wird sich zeigen, ob Spies im Himmel oder in der Hölle landete. Trifft das erstere zu, werde ich mächtig auf den Putz hauen.

* Eckhard Schimpf, https://www.braunschweiger-zeitung.de/archiv/article150346718/Ein-Filbinger-aus-Braunschweig.html, 15. April 2007



Bekanntlich ist der Mensch von alters her Explosivexperte. Den sozusagen philosophisch-kriminellen Gesichtspunkt des Sprengens klammert Brockhaus jedoch zumindest in diesem Eintrag aus. Ich habe dabei im Auge, daß der Mensch nicht nur Gewalttäter, sondern auch Selbstschä-diger ist. Im Notfall schreckt er nicht davor zurück, seine eigenen, mühsam errungenen Werke sowie sich selber in die Luft zu sprengen. Er würde sich lieber ein Bein abhacken als etwa dem einrückenden Feinde eine wunderbare, mordslange Eisenbahnbrücke zu überlassen. Also weg damit. So erging es zum Beispiel 1945 der rheinpfälzischen Marnheimer Brücke (Pfrimmtalviadukt), kurz bevor die Alliierten einfielen. Aus Görlichs Stadtgeschichte von Wolfhagen (Nordhessen) ist Ähnliches zu erfahren. Am 30. März 1945 jagten die Nazis die Anlagen der »Lufthauptmunitionsanstalt« im Garster-felder Holz in die Luft. Gebäude, Wälder und andere Werte waren vernichtet. »Den Rest besorgte die anschließende Plünderung« – durch die Einheimischen und die sogenannten FremdarbeiterInnen. Ich sagte ja schon, das eigene Hemd … Aus den hellen Stoffballen für Pulverbeutel nähten sie sich zum Beispiel Hochzeitskleider. Das Leben geht weiter … Für den Landwirt Johannes Kranz aus Philippinendorf allerdings nicht. Bei der Sprengung waren nämlich zahlreiche Granaten und Blindgänger in die Landschaft geschleudert worden. Kranz erlitt bei der Feldbestellung »schwere Verletzungen, an denen er starb«.*

Immerhin gibt Brockhaus noch den Hinweis, »Unterwassersprengungen« dienten unter anderem zur Tieferlegung von Flußbetten und dergleichen. Im September 2022 dienten sie dazu, russisch-deutsche Erdgas-Pipelines in der Ostsee unbrauchbar zu machen. Die Suche nach den TäterInnen wurde zielstrebig sabotiert. Jetzt gibt es aber starke Anhaltspunkte dafür, daß es Experten aus dem osteuropäischen Land waren, das wir seit vielen Monaten mit Waffen und Euros vollstopfen.** Sozusagen zur Belohnung für den Ärger, den es uns mit der Sprengung von Nord Stream bereitet hat. Möglicherweise ein Novum in der Weltgeschichte?

* Paul Görlich, Wolfhagen. Geschichte einer nordhessischen Stadt, Wolfhagen/Kassel 1980, S. 164
** »Nord-Stream-Sprengung – neue Enthüllungen bringen die Bundesregierung in Zugzwang«, https://www.nachdenkseiten.de/?p=119718, 16. August 2024




Ich bleibe noch kurz in Nordhessen, um Sie und Brock-haus mit dem zeitweiligen Potsdamer Polizeipräsidenten Karl von Starck (1867–1937) bekannt zu machen. Nach Hederichs Stadtgeschichte von Zierenberg (S. 84) erwarb der Mann um 1912 »vom Staat« 550 Hektar Wald an der Schartenburg zum Preis von einer Million Mark. Ihm gehörte nämlich bereits Gut Laar, das unmittelbar am Flüßchen Warme liegt. Im noch heute einigermaßen reizvollen Warmetal gibt es allein zwischen Zierenberg und Obermeiser drei größere Anwesen, von denen mir schon eins genügen würde. Gut und Schloß Laar liegen ungefähr auf halbem Wege. Das Warmetal hat unter anderem Schwarzspechte und Wasseramseln, aber eben auch Karl von Starck beziehungsweise dessen Nachkommen zu bieten. Laut Wikipedia ist Laar bis zur Stunde in Familienbesitz. Karls Alter hatte es 1902 erworben. Der Sprößling, ein gelernter Jurist, brachte es (1917) sogar noch zum Regierungspräsidenten in Köln. Als solcher soll er einen gewissen Konrad Adenauer ins Amt des dortigen Oberbürgermeisters eingeführt haben. Über Starcks Ruhestand (im Faschismus) wissen wir möglicherweise gar nichts, jedoch tat er seinen letzten Atemzug, mit knapp 70, ebenfalls in seinem Warmeschloß. Eine Clan-Webseite scheint es nicht zu geben. Das erspart einem wenigstens die Mühe, den Lack von ihr abzukratzen.

Das Warmetal (einschließlich Malsburg und Schloß Escheberg) wird in meinen Erzählungen vergleichsweise häufig gestreift. An Schloß und Gut Laar, wenn ich es auch umtaufte, kommen Bott und seine neue Kasseler Flamme Ruth van Ginnecken sogar wandernd und rastend vorbei. Sie mustern, über die Warme hinweg, die alten Bäume des Schloßparks und einen dicken, hemdsärmeligen Mann, der auf der Schloßterrasse an seinen Rosenstöcken zupft. Hoffentlich lebt der Mann nicht mehr, kommt er doch in meinem Bott-Band nicht gerade gut weg.



Könnte das Berliner Kabinett Scholz die Ukraine nicht mit Starfightern beliefern? Das sind beziehungsweise waren Kampfflugzeuge der US-Firma Lockheed, die unsere Bundeswehr ab 1961 bezog. Der Großeinkauf führte zu Ausredennot beim damaligen »Verteidigungsminister« Franz Josef Strauß im Rahmen der sogenannten Starfighter-Affäre, an die sich heutige wehrdienstwillige Gymnasiasten wahrscheinlich gar nicht mehr so recht erinnern können. »Von insgesamt 916 Maschinen«, schreibt Brockhaus, seien bis 1987 sage und schreibe 269 »verloren« gegangen. Sie waren abgestürzt. Mitten im Frieden! Dabei seien 110 Piloten ums Leben gekommen.

In gewissen Volkskreisen war damals von diesem Kampfflugzeug als »Witwenmacher« die Rede, kein übler Spitzname. In der Tat fuhren die Witwen gar nicht so schlecht, erstritten sie doch allein vom Hersteller, wohl um 1975, durch eine Sammelklage rund sieben Millionen Dollar. Das war damals viel Geld. Renten und Zuwendungen von Lebensversicherern bekamen sie natürlich auch noch. Es hatte sich also gelohnt, daß sie einst von irgendwelchen Schurken gezwungen worden waren, sich mit einem Jägerpiloten zu verheiraten.

Die Riesen-Korruption in industriellen und politischen Kreisen, die damals im Spiel war, erwähnt Brockhaus mit keinem Wort. Mir jedoch fehlt dazu gerade die Lust. Man darf jedenfalls ziemlich sicher sein: von sämtlichen horrenden Kosten des Großeinkaufs trugen sowohl Lockheed wie Bonn nicht eine müde Mark. So etwas wird immer restlos auf andere »MarktteilnehmerInnen«, somit die Volkswirtschaft und das Volk im ganzen abgewälzt. Was ich allerdings vielleicht noch merkwürdig finden darf: Soweit ich sehe, werden nirgends auch nur zwei oder drei verletzte oder getötete Opfer der Abstürze erwähnt, die es doch nach aller Wahrscheinlichkeit – bei dieser eindrucksvollen Absturzrate von fast einem Drittel der 916 Bundeswehr-Maschinen – auch am Boden gegeben haben muß. Vielleicht steht dazu in einigen Büchern ein bißchen. Vielleicht streuten sich diese Schäden auf dem Lande ähnlich vorteilhaft wie Mist zum Düngen und wie die Abstürze selber in zeitlicher Hinsicht. Man stelle sich einmal vor, die 269 Jäger wären alle auf einen Schlag und an einem Ort heruntergekommen, etwa im Bonner Regierungsviertel! Ich nehme allerdings an, man legt die Trainingsrouten der Piloten eher über Arbeiterviertel und Naturschutzgebiete.

Mindestens einen recht deftigen Unfall hatte es übrigens durchaus gegeben, nämlich am 22. Mai 1983 in Südhessen, wie die Welt dankenswerterweise erst unlängst berichtet hat.* Bei einer Flugschau unweit des Frankfurter Rhein-Main-Flughafens stürzte ein kanadischer Starfighter ab. Er fiel auf die Bundesstraße 44 und dort wiederum genau auf das Auto der fünfköpfigen Familie des Pfarrers Martin Jürges, der auch noch ausgerechnet als Friedensfreund bekannt war. Alle fünf verbrannten. 500 Meter weiter waren übrigens rund 25.000 Leute im Stadtwald versammelt, um den Wäldchestag zu feiern. »Viele entgingen also nur um Haaresbreite dem Feuertod.« Das ist natürlich wieder so eine Welt-Verschwörungstheorie. Schließlich geht es nicht an, das ganze moderne Verkehrs- und Militärwesen in die Nähe des hellsten Wahnsinns zu rücken, der je durch unsere astronomischen Riesenteleskope beobachtet worden ist.

* Martin Klemrath, https://www.welt.de/geschichte/article245379568/Starfighter-Die-brennenden-Flugzeugtruemmer-trafen-ausgerechnet-eine-Pfarrersfamilie.html, 22. Mai 2023
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