Sonntag, 30. September 2018
Roßkur
Erstveröffentlichung 2010 in Die Brücke

Auf dem Geestrücken unweit der Mündung der Aller in die Weser liegt Verden. Die Marsch ist flach wie ein Brett. Nicht daß sie ohne Reize wäre; zum Beispiel ist sie der Tatort unsrer Geschichte. Von der Marsch aus gesehen wäre die Stadt Verden fast hübsch zu nennen. Ihr Dom etwa bescheidet sich anstelle prahlerischer Türme mit einem Stumpf. Doch dafür erhebt sich nahe der nördlichen Allerbrücke ein um 1970 errichtetes Kreistagsgebäude aus Waschbeton, das schon als kleiner Wolkenkratzer bezeichnet werden kann. Was Wunder, wenn auch unsere Geschichte phallokratischen Geist atmet. Zwar hat Verden seit 2001 einen ermordeten Arbeitsamtsdirektor zu bieten, aber um diesen geht es hier nicht. Verdens Volkssport wird klar, wenn man um das nahe am Dom gelegene Pferdemu-seum weiß. Verden frönt der Zucht und der Züchtigung von Pferden.

Tatsächlich hatten auch unsere beiden Heldinnen mit dem Pferdesport zu tun, sonst hätten sie sich kaum getroffen. Tanja war ein stämmiges, breithüftiges Mädchen mit blondem Bubikopf, das gern über alle vier Backen lachte; keine Spur von einer Amazone. Sie galt als große Spring-reithoffnung und zählte trotz ihrer Jugend bereits zum Deutschlandkader. Dagegen wirkte Dörte eher unschein-bar, fast schüchtern. Allerdings sollen die Brüstchen der kleinen, drahtigen Frau ähnlich spitz wie Senkbleie gewesen sein. Dann waren sie vermutlich auch Gombrecht unter Dörtes klatschnassem Fähnchen nicht entgangen. Dörte schätzte Pferde, weil sie Sattlerin gelernt und sich bald nach der Lehre selbstständig gemacht hatte. Ihre Werkstatt lag unweit des Domes in einem Hinterhäuschen, in dem sie auch wohnte. Von ihrer zurückgezogenen Lebensweise her war es nicht unpassend, ihren kurzen, dichten Haarschnitt mit einem Maulwurfspelz zu vergleichen. Sie war schon als Schülerin nicht sonderlich gesellig gewesen. Zu ihren lieben Angewohnheiten zählte es, nach Feierabend mit dem Fahrrad südlich der Aller durch die Wesermarsch zu gondeln, bevor sie unter ihre Dusche ging. Und dabei passierte es.

An einem drückend heißen Nachmittag wurde sie in den Wiesen und Feldern südlich des Dorfes Hönisch von einem Gewitter überrascht. Der Sturm peitschte die Ahornbäume und schüttete den Regen in wahren Sturzfluten über den asphaltierten Fahrweg. Dörte hatte Glück, denn im fahlem Licht der ersten Blitze war der Umriß einer Feldscheune vor ihr aufgeschienen. Sie rettete sich unter das überhängende Dach. Da es von der Rückseite der Scheune her stürmte, brauchte sie nicht durchs Tor zu schlüpfen, das einen Spalt breit offen stand. Obwohl sie fröstelte, verfolgte sie beeindruckt das grandiose Schauspiel der entfesselten Natur.

Plötzlich fuhr sie herum. Jemand hatte unmittelbar hinter ihr aufgelacht. Es war Gombrecht. Er stand mit breitem Lächeln im Spalt des Scheunentors. »Ein teuflisches Wetterchen, nicht wahr?« nickte er und rieb sich leutselig die Hände. »Mich hat es mitten im gemütlichem Ausritt erwischt.« Seine tadellos rasierten Hamsterbacken wackelten.

Sie kannte den fülligen Reiter, der Ende 40 sein mochte, nur flüchtig. Jetzt hörte sie aus dem Dunkel der Scheune auch sein Pferd scharren. Gombrecht hielt etliche Springpferde. Er zählte zu Dörtes Kunden, weil sie die nächstgelegene Sattlerei betrieb. An der Lindhooper Straße, nur einen Steinwurf von der Pferderennbahn entfernt, besaß er ein Geschäft, das mit hochwertigen Gebrauchtwagen handelte. Seine gierigen Augen verengten sich bereits. Dörte wurde immer mulmiger zumute, doch es war schon zu spät, sich aufs Fahrrad zu stürzen. Gombrecht ergriff Dörtes Handgelenk wie mit einem Schraubstock und zog sie jäh in die düstere Scheune.

Was er mit ihr machte, werden sich die meisten LeserInnen denken können. Vermutlich hatte er sich blitzschnell ausgerechnet, alle Schreie seines Opfers würden in dem Inferno, das ringsum tobte, leicht untergehen. Und spätere Beschuldigungen würde er als bekannter Geschäftsmann, Förderer des Lokalsportes und Duzfreund der grünen Landrätin lässig von sich weisen können. Die Wunschträume solcher frustrierter EigenbrötlerInnen, die nie mit einem Mann gesehen werden, sind ja bekannt. Seine Schimmelstute würde ihn kaum verpetzen. Sie scheute mehrmals, während sich Gombrecht an Dörte verging, und schlug mit ihren Hufen an irgendwelche Bleche. Und draußen die Donnerschläge! Doch die Schimmelstute habe ihr andererseits die Anspornung gegeben, sich wieder aufzurappeln und sich durch Gombrecht nicht ihr Leben verpfuschen zu lassen, sagte Dörte später. In ihrer Vorstellung habe sich die Schimmelstute aufgebäumt, um mit einem Hufschlag Gombrechts grinsenden Schädel zu zerschmettern. Dieses Bild sei ihr hartnäckig treu geblieben, bis Tanja kam.

Das Unwetter ließ nach, als Gombrecht längst verschwun-den war. Dörte wankte zu einem Bauernhaus, das hinter dem nächsten Deich hervorlugte. Sie durfte das Telefon benutzen. Ihre Mutter holte sie wenig später mit dem Auto ab. Deren Trost nahm sie an, nicht aber deren Ratschlag, zur Polizei zu gehen. Oder zumindest ins Ökozentrum in der Artilleriestraße, wo es eine Frauenselbsthilfegruppe gab, wie die Mutter gehört hatte. Doch Dörte schüttelte den Kopf.

Von ihren Albträumen einmal abgesehen, sann sie in den folgenden Tagen und Wochen nur auf Vergeltung. Gombrecht mußte schwer getroffen werden – wie von jenem Pferdehuf. Sie war sicher, auf keine andere Weise ihr seelisches Gleichgewicht wiederfinden zu können. Einen gewissen Halt gab ihr die vertraute Arbeit. Trotz ihrer Übermüdung zwang sie sich, wie gewohnt ab 9 Uhr morgens in der Werkstatt zu sitzen. Schärfte sie mit dem Halbmond auf ihrem Pappelholz einen Lederriemen aus, schnitt sie Speckscheiben von Gombrecht. Führte sie an einer Taschennaht die stumpfen Sattlernadeln überkreuz, nähte sie Gombrechts Ausweis der Männlichkeit an der Innenseite seines Oberschenkels fest. Alles in allem gingen ihr natürlich weder die Arbeit noch die Rachegedanken besonders konzentriert von der Hand. Ihre Gedanken rotierten und verhakten sich oft wie eine aufsässig gewordene Lochzange. Manchmal heulte sie unvermittelt – nicht nur wegen der Schändung, sondern auch wegen ihrer Einfalt und Hilflosigkeit.

Leider ritt Gombrecht keine Turniere mehr, wie sie wußte. Er trainierte nur noch seine Kinder. Sonst hätte sie sich einen hübschen Anschlag zugetraut. In einem unbeobach-teten Moment kurz vorm Aufruf wäre der Sattelgurt anzuschneiden; dann mischt sich die Täterin wieder unters Tribünenpublikum, um innerlich frohlockend mitanzu-sehen, wie der Springreiter am Beginn des Dreifachen Oxers in die Luft geschleudert wird und sich am Gestänge des Hindernisses den Hals bricht. Genau danach lechzten ja die Leute, wenn sie schon so viel Eintritt bezahlten. Selbst wenn die Sabotage am Gurt aufflöge, gäbe es niemals ein Motiv, das auf Dörte als Täterin verwiese, denn niemand wußte von der Verbindung zwischen ihr und Gombrecht. Sie hatte ihn auch ihrer Mutter gegenüber als Fremden ausgegeben.

Oft sah sie die schweren Limousinen vor sich, die Gombrecht stets fuhr. Doch leider hatte sie keine Ahnung, wie ferngesteuerte Bomben anzubringen sind, von ihren mangelhaften Beziehungen zu Bombenherstellern ganz zu schweigen. Allerdings lag es ihr fern, unschuldige Dritte in Gefahr zu bringen. Nur Gombrecht durfte zerschmettert werden.

Eines Nachmittags betrat eine dralle, junge Frau die Werkstatt und setzte einen noch ziemlich neuen Sattel auf dem kleinen Tresen ab. Dörte konnte sie nicht einordnen, weil sie das Geschehen im Reitsport nur am Rande verfolgte. Es war natürlich Tanja. Sie wies auf einen langen Riß in der Kniepausche, den sie einem herausstehenden, rostigen Nagel auf dem Sattelplatz verdanke.

»Saßen Sie bereits auf?« erkundigte sich Dörte spontan, während sie verstohlen die kräftigen, braungebrannten Beine der jungen Reiterin musterte.

Tanja stutzte, begriff und erwiderte lachend: »Nein – Glück gehabt!«

Dörte grummelte verlegen und griff nun ganz geschäfts-mäßig nach dem kleinem Block mit den Abholzetteln und ihrem Kugelschreiber. »Auf welchen Namen geht die Sache, bitte?«

»Gombrecht. Tanja Gombrecht.«

Dörte ließ ihren Kugelschreiber sinken und sah das hübsche, blonde Mädchen entsetzt an. Schließlich vergewisserte sie sich fast tonlos: »Sie sind die Tochter des Autohändlers Gombrecht aus der Lindhooper Straße ..?«

»Ja, ganz recht«, erwiderte Tanja verstört. »Aber warum fragen Sie ..?«

Plötzlich wurde Dörte von einer Art Erleuchtung durchzuckt. Da hatte sie Gedanken gewälzt, auf welche Weise Gombrecht empfindlich zu treffen sei – vor ihr stand ihre Chance! Weiter bedachte sie sich nicht. Stattdessen verschränkte sie ihre Arme und sagte, während sie dem Mädchen bohrend in die Augen sah, fast beiläufig:

»Wußten Sie, daß Ihr Vater ein Vergewaltiger ist?«

Tanja fuhr zusammen. Nun lag der Schreck auf ihrer Seite. Sie erwiderte leise:

»Was haben Sie da gesagt?«

Dörte wiederholte es. Jetzt platzte es aus ihr heraus wie das Unwetter in der Wesermarsch und das Inferno, das der ekelhafte Gombrecht in ihrem Schoß angerichtet hatte. Sie erwähnte auch die Krach schlagende Schimmelstute und die hochmodische, türkisfarbene Herrenunterhose aus Seide, die sie bei ihren Abwehrversuchen zerrissen hatte. Dieses Heraufbeschwören nahm sie bereits arg mit, doch dann paarte es sich dummerweise mit der Ahnung, Gombrechts Tochter, die ja für ihren Vater weißgott nichts konnte, unrecht zu tun, also wider ihren Vorsatz doch einen unschuldigen Dritten zu schädigen. Das ließ sie plötzlich innehalten und schluchzend auf ihrem Schemel zusammensinken. Sie preßte die Hände vors Gesicht und hätte sich am liebsten in einem Sattelhorn verkrochen.

Tanja war freilich nur im ersten Augenblick erschrocken. Die kleine, drahtige Sattlerin hatte ihr ohnehin seltsam gut gefallen, und nun wurde sie zusätzlich von dem Häuflein Elend angerührt, zu dem die Frau jäh geschrumpft war. Der von Dörte angeprangerte Tatbestand verblüffte sie eigentlich wenig. Sie traute es ihrem Vater zu. Sie wußte, er nahm ihre Mutter bedenkenlos mit Gewalt, sofern es ihm einmal an besserem Ersatz mangelte. Es hatte zahlreiche Seitensprünge gegeben. Hielt er sich noch im Zaum, wenn er sie, seine vollbusige Tochter, in zärtlicher Vaterliebe an sich drückte, dann wahrscheinlich nur, weil er sich nicht den Ast absägen wollte, auf dem er saß. Er brauchte Tanja als ein fehlerfrei funktionierendes Spitzenpferd. Er wollte den Namen Gombrecht spätestens auf dem Siegertrepp-chen der übernächsten Olympiade sehen. Es belastete sie schon seit Monaten, diese Rollenverteilung zu durch-schauen. Im Leistungskurs Englisch hatten sie letztes Jahr Allan Sillitoes Long Distance Runner durchgenommen – dieser Junge hatte ihr imponiert! Sie hatte sich ausgemalt, es dem Jungen nachzutun und den nächsten Turniersieg wenige Pferdelängen vor dem Ziel triumphal zu verschenken, indem sie kurzerhand stoppte und geruhsam von ihrem schäumenden Gaul stieg. Aber womöglich hätte ihr Vater einen Herzstillstand erlitten – das wollte sie nun auch wieder nicht.

Tanjas kühne Sportlernatur setzte sich durch. Sie ging kurzentschlossen um den Tresen, beugte sich über Dörte und barg deren dunkelsamtigen Kopf an ihrem Schoß, während sie fast gleichzeitig Dörtes bebende Schultern und festen, schmalen Hüften liebkoste.

Dörte erstarrte nur im ersten Moment. Dann umfaßte sie Tanjas dralle Hüften und schob ihre dürstenden Lippen unter Tanjas Hemd. Wenig später lagen sie im Neben-zimmer auf Dörtes Küchensofa. Den Schlüssel in der Werkstattür hatten sie im Vorüberwanken herumgedreht. Ob sie auf ihrem Sofa weitere Strafmaßnahmen ausheckten, ist uns nicht bekannt.
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