Mittwoch, 24. Juli 2024
Risse im Brockhaus 28

Die nachteiligste Kühnheit leistete sich der polnischstäm-mige US-Architekt und Stadtplaner Matthew Nowicki (1910–50) nicht mit seinen Gebäuden und Plänen, sondern durch die von ihm bevorzugte Beförderungsweise. Er flog oft. Zuletzt hatte er auch wirklich weite Wege, leitete er doch gemeinsam mit Albert Mayer die Planungsarbeiten in der neuen indischen Stadt Chandigarh, Punjab. Etwas spöttisch betrachtet, hatte Nowicki einst die deutsche Besatzung Warschaus überlebt, um nun, am frühen Morgen des 31. August 1950 auf Rückflug in die Staaten, bei Kairo ganz zivil mit einer Lockheed Constellation abzustürzen. Die Maschine mit dem treffenden Namen »Star of Maryland« hatte um Mitternacht ein in Brand geratenes Triebwerk verloren und ging beim Versuch der Notlandung in der Wüste unweit eines Dorfes zu Bruch. Sämtliche 55 Menschen an Bord kamen um. Neben einigen US-Managern soll sich ein ägyptisches Filmsternchen unter ihnen befunden haben. Auch Nowicki, erst 40 Jahre alt, kam wohl auf diese Weise um einigen vermehrten Ruhm. Kurz nach seinem Unfalltod wurde in Raleigh, der Hauptstadt North Carolinas, wo Nowicki Hochschullehrer gewesen war, die eindrucksvolle Dorton Arena fertiggestellt, die schon Brockhaus erwähnt. Bislang hat diese Mehrzweckhalle offenbar gehalten. Nowicki gilt als Befürworter eines organischen, unschematischen Bauens. Seine Frau Stanislawa lehrte (bis 1977) an der University of Pennsylvania ebenfalls Architektur. Das kreative Paar war mit Lewis Mumford befreundet, dem Autor des bedeutenden Werkes Mythos der Maschine.



Zwar genoß der jüdische Maler Felix Nussbaum (1904–44) das Privileg, im Dachgeschoß der elterlichen Kaufmannsvilla in Osnabrück schon als Jugendlicher über ein eigenes Atelier zu verfügen, doch er bezahlte es als 39jähriger mit dem Leben. Als er um 1930 mit ersten Ausstellungen Beachtung fand, richtete sich Nussbaum auch in Berlin ein Atelier ein. Seine Malerei wird zur Neuen Sachlichkeit gezählt. Sie hat einen Zug, der an Cartoons erinnert. Bekannt ist etwa das langgestreckte Gemälde Der tolle [Pariser] Platz von 1931, das auch im Brockhaus abgebildet wird. In seinen letzten Lebensjahren, meist in Verstecken malend, behandelte Nussbaum vor allem eben dies: die Verfolgung der Juden. Er hatte sich mit seiner polnisch-jüdischen Gefährtin Felka Platek, die ebenfalls malte, ins Exil nach Italien, Frankreich und Belgien begeben. In Brüssel heirateten sie 1937. Doch bald darauf machte ihnen die deutsche Besetzung einen Strich durch die Leinwand. Als im Sommer 1942 auch in Belgien die Judenhatz begann, tauchten sie mit Hilfe des Bildhauers Dolf Ledel und eines befreundeten Kunsthändlers unter. In dieser nur schwer nachvollziehbaren Bedrängnis entstand unter anderem das Selbstbildnis mit Judenpaß. Zwei Jahre darauf werden die Nussbaums von Wehrmachtsoldaten aufgespürt und verhaftet. Man verschleppt sie ausgerechnet mit dem letzten Deportationszug vom Sammellager Mechelen nach Auschwitz. Hier kamen beide, wie meist angenommen wird, im Herbst 1944 um. Platek war 45.



Wird einer zigfacher Millionär und dann auch noch aus ziemlich undurchsichtigen Gründen ermordet, müßte er doch eigentlich für Brockhaus interessant genug sein. Aber Pustekuchen! Da hilft nur ein Sammelband mit Kriminalfällen*, in dem Autor Julian Symons vertreten ist, den ich neulich schon im Fall Evelyn → Foster bemühte. Nach Symons‘ um 1960 verfaßten Darstellung hatte der Kanadier Harry Oakes (1874–1943), ein wohlerzogener und gutaussehender Bursche, als schnöder Goldsucher begonnen – und tatsächlich grub er dadurch den Grundstock seines Glücks aus. 1935 trugen ihm seine Goldminen bereits so viel Gewinn ein, daß er es vorzog, britischer Staatsbürger zu werden, um sich auf den Bahamas niederlassen zu können. Diese Inselgruppe östlich von Florida verlangte nämlich ungleich weniger Steuern als Kanada. Sie war damals britische Kolonie. Oakes tat sich als Förderer der Infrastruktur, edler Spender und Tennisspieler hervor und pflanzte auf seinem Anwesen in Westbourne sogar eigenhändig Bäume. 1939 verlieh ihm der britische König einen Adelstitel. Doch als Oakes 68 war, verließ ihn das Glück. Sein Gast und enger Freund Harold Christie wollte ihn von der Terrasse aus zum Frühstück locken, bekam jedoch keine Antwort. So klinkte Christie die Mückenschutztür auf und erstarrte vor Schreck. Zwar lag Oakes in seinem Bett, aber offensichtlich erschlagen, außerdem angekohlt. Die Matratze schwelte noch. Christie alarmierte die Polizei.

Der in der Hauptstadt Nassau residierende Gouverneur der Bahamas war damals der Herzog von Windsor, auch er ein Freund des Ermordeten. Da Scotland Yard aufgrund des Weltkrieges schwer zu erreichen war, bat der Gouverneur zwei US-Kriminalbeamte aus Miami, E. W. Melchen und James O. Barker, um Beistand. Das dürfte jedoch ein Mißgriff gewesen sein. Sie hatten sich offensichtlich rasch in den Kopf gesetzt, den für viele naheliegendsten Verdächtigen zu überführen und leisteten sich zu diesem Zwecke einige schwerwiegende Schnitzer, wie sich spätestens im Gerichtsverfahren herausstellte. So versäumten sie eine Untersuchung der Brandrückstände und trumpften mit einem Täter-Fingerabdruck auf, der sich als fadenscheinig erwies. Jener Hauptverdächtige und dann auch prompt Angeklagte nannte sich Graf Alfred de Marigny. Er war Oakes‘ Schwiegersohn und Oakes‘ einziger Dorn im Auge. Nancy Oakes, die Tochter des Multimillionärs, hatte ihn gegen den väterlichen Willen geheiratet, denn der Vater hielt den jungen Mann für einen Taugenichts. Die Verachtung war durchaus gegenseitig, wie Marigny im Verhör unumwunden eingeräumt haben soll. Der Schwiegervater sei ein törichter, alter Kerl gewesen, der nicht mit sich reden ließ. Somit gab er wirklich ein gutes Feindbild ab. Doch die Geschworenen verschmähten ihn. Nach einem langwierigen Prozeß, in dem die Anklage zusehends in sich zusammenfiel, erließen sie (unter Richter Sir Oscar Daly) mit 9:3 einen Freispruch. Und da sich auch keine Alternative fand, gilt der Fall, der bereits viele Zeitungsleute und einige Buchautoren ernährte, bis heute als ungeklärt.

Gewiß hätte es sich auch angeboten, Harold Christie in die Mangel zu nehmen. Allerdings wirft Symons merkwür-digerweise nicht die Frage auf, ob der angebliche Freund des Mordopfers vielleicht ein einleuchtendes Motiv besessen haben könnte. Der Kriminalschriftsteller streift lediglich ein blutverschmiertes Handtuch, das sich in Christies Gastzimmer fand. Der Grundstücksmakler erklärte, das Blut rühre von seinem Versuch her, dem Erschlagenen und Angekohlten Erste Hilfe zu leisten, und dann habe er es eben wieder mit in sein Zimmer genommen. Das nimmt ihm Symons anscheinend ab. Schließlich entläßt er den Leser mit Hinweisen auf andere Ungereimtheiten. In dem offenbar von etlichen Personen bewohnten Haus des Toten hätte doch eigentlich jemand von dem Lärm des Erschlagens erwachen müssen. Ferner unterblieb die Klärung, woher das Brennmaterial stammte. Dabei sei es auch denkbar, jemand habe mit dem Feuer beabsichtigt, eine ablenkende Trugspur zu legen.

In diesem Zusammenhang ist eine Nachbemerkung des Herausgebers zu späteren Aufklärungsversuchen verdienstvoll. Er hebt das auch im Internet angezeigte Buch Who Killed Sir Harry Oakes? von James Leasor hervor, erschienen 1983. In dessen Theorie würde meines Erachtens notfalls auch Freund und Grundstücksmakler Harold Christie passen. »Die Mafia wollte in Nassau in großem Stil Hotels bauen und Spielkasinos etablieren«, schreibt der Herausgeber zum Kern dieser Theorie. »Wenn man ihr dabei freie Hand ließ, wollte sie dafür die Landung der Alliierten auf Sizilien unterstützen und erleichtern. Die einzige echte Opposition gegen diesen Plan kam von Sir Harry Oakes.« Als sich nun aber dieser sowohl einflußreiche wie halsstarrige Mitbürger nicht »überreden« ließ, griff man eben zum Totschlag. Hauptmann Barker aus Miami war ein Maulwurf, der Spuren zu verwischen hatte. Im Ergebnis seien die Alliierten sicher auf Sizilien gelandet, während Nassau in der Tat »zum Paradies der Glücksritter« wurde, wie es sich alle gewünscht hatten. Alle außer Sir Harry.

* Julian Symons, »Tod eines Millionärs«, in: Aufgeklärt! Ungesühnt!, Hrsg. Richard Glyn Jones, Lizenzausgabe Augsburg 1999, S. 675–86



Die elsässische Kleinstadt Oberehnheim (französ. Obernai, elsäss. Ewernah) liegt bei Straßburg, genauer am Fuß des Odilienberges, wie Brockhaus betont. Dieser Name kommt von einer adeligen Dame Odilia, die einst ein Frauenkloster auf den Berg setzen ließ. Die können wir schnell vergessen. Doch wie das Lexikon weiß, hat die Ewernahsche Altstadt (seit 1579) auch den Sechseimerbrunnen zu bieten. Bei diesem Namen runzelt man doch die Stirn und schwimmt eine Weile verunsichert im Internet umher. Abbildungen mit sechs am Brunnenfuß abgestellten Eimern finden sich jedenfalls nicht. Dafür kommt man schließlich auf den Trichter, sich die schwachsinnigen Blumenkübel wegzudenken, die neuerdings unter dem baldachinförmigem Brunnendach schaukeln. Dadurch gewinnen die drei Rollen aus Eisen an Gewicht, die das Foto ebenfalls zeigt. Über sie laufen oder liefen die Ketten. Es dürfte einst ungefähr so gewesen sein, wie sich dieser alten technischen Zeichnung entnehmen läßt. An jeder Kette hingen zwei Eimer; der untere zum Schöpfen, der obere im Wartestand. War der eiserne oder jedenfalls beschwerte Schöpfeimer voll, zog man ihn mittels der Kette hinauf, sodaß nun der leere Eimer absank und zum Schöpfen bereit war. Da jedoch drei Rollen zur Verfügung standen, kommt man mit Leichtigkeit im ganzen auf die namensgebenden sechs Eimer. Wie anstrengend das Fördern war, kann ich leider nicht sagen. Äbtissin Odilia wird es sich so oder so kaum zugemutet haben. Ein anderes Problem bestand wahrscheinlich in der Verunreinigungs- oder gar Seuchengefahr. Man liest aber auch, in den meisten mittelalterlichen Städten habe es diesbezüglich strenge Verordnungen und Überwachungen gegeben, obwohl man noch nicht wußte, was Keime oder Bakterien und gepanschte Impfstoffe gegen Corona sind.



Das Städtchen Oberndorf am Neckar lebt traditionell vom Schwerverbrechen. So unverblümt drückt sich Brockhaus natürlich nicht aus. Er erwähnt lediglich die »Herstellung von Waffen«. Hielte es ein in Oberndorf urlaubender Brockhaus-Redakteur mit meinem Vorwurf, könnte ihn einer von den 14.600 Einwohnern, die auf Gedeih und Verderben von den ortsansässigen Firmen Mauser und Heckler & Koch abhängen, leicht zu einem kleinen Streitgespräch herausfordern. Der Einheimische hat nämlich jede Wette ein »überzeugendes Argument mit durchschlagender Wirkung« im Rucksack, wie eine Firmenwebseite das Sturmgewehr HK437 in der Koseform nennt.*

Während Mauser bereits mit Nazi-Erfahrung aufwarten kann, ist Heckler & Koch erst nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden. Zum Glück gab es in der Folgezeit zahlreiche unbedeutendere Kriege, deren Waffenbedarf sich angenehm summierte. So darf sich Heckler & Koch inzwischen zu den fünf größten Herstellern von Pistolen und Gewehren weltweit zählen. Nach böswilligen Berechnungen linker KritikerInnen werden mit Waffen von Heckler & Koch Stunde für Stunde weltweit vier Menschen erschossen. Natürlich nur für gute Zwecke. Neben den Polizeien und Armeen zahlreicher Nato-Staaten, Bundeswehr und Bundeskriminalamt eingeschlossen, beliefert der schwäbische Fachbetrieb wahrscheinlich auch die eine oder andere Söldnerfirma. In den USA hat er allein drei Zweigstellen. Damit dürfte klar sein, Deutschland hat mit diversen Amokläufen und Kriegen in Nordamerika, Nahost oder Afrika nichts zu tun.

Gründervater Edmund Heckler, bei Mauser und auf einer Esslinger Maschinenbauschule ausgebildet, kam zwar vorzeitig um, jedoch nicht durch Waffengewalt, wie mancher glauben könnte. Dem Schwarzwälder Boten zufolge** erlag er im Sommer 1960 mit 54 Jahren einem schnöden Herzinfarkt. Den Zeitraum um 1940, wo Heckler noch am ehsten das Opfer einer verirrten feindlichen Kugel aus einer Kalaschnikow oder einer Mauser-Pistole hätte werden können, läßt Bote S. Blocher, der Verfasser des Gedenkartikels, unerschrocken im Neckarnebel. Wir erfahren lediglich, Heckler habe es damals bis zum Oberingenieur der Leipziger Hugo Schneider AG gebracht, wobei er auch »maßgeblich« am Aufbau neuer Produktionsstätten beteiligt gewesen sei – vielleicht für Unterhosen? Im Frühjahr 1945 sei Heckler, inzwischen 39, »in seine am Boden liegende Heimatstadt Oberndorf« zurückkehrt. Wahrscheinlich war Schwaben von einem Erdbeben heimgesucht worden. Blocher ziert sich sogar, das bekannte Kürzel jener Aktiengesellschaft anzuführen, HASAG – ein Rüstungsbetrieb, der mit Geschichte schrieb, auch in der Beschäftigung von Zwangsarbeitern. Die feine Gesellschaft hatte mehrere Zweigwerke in Sachsen, Thüringen und Berlin – zwei oder drei davon hat, nach verschiedenen Quellen, in der Tat Heckler aufgebaut und dann auch geleitet. Der pfiffige Schwabe rannte nicht über entlegene Schlachtfelder; er war, für die heimische Wehrmacht unentbehrlich, Lieferant.

Blochers Artikel ist mit einem erstaunlich ungünstig wirkenden Porträtfoto garniert, das den Mitgründer der Oberndorfer Waffenschmiede (offiziell 1949) eher als einen Biedermann zum Fürchten zeigt, obwohl er in den ersten Nachkriegsjahren hauptsächlich Nähmaschinen herstellen ließ und auf manche Hausfrauen und Mütter möglicherweise, kleinmündig, schmallippig und profillos, wie er geraten war, einen vertrauenerweckenden Eindruck machte. Vielleicht wurde er eben von diesen 1956 auch noch in den Gemeinderat gewählt. Diesmal vertrat er nicht die NSDAP, in die er am 1. Januar 1940 aufgenommen worden war. Von Hecklers familiären Verhältnissen verrät Blocher nichts, von Hecklers seelischen ganz zu schweigen. Was dessen Mitstreiter Koch und Seidel angeht, hatten sie ebenfalls schon Erfahrungen bei Mauser – und im Faschismus gesammelt.

* https://www.heckler-koch.com/de/Produkte/Milit%C3%A4r%20und%20Beh%C3%B6rden/Sturmgewehre/HK437, Stand 2024
** S. Blocher, »Im 'Hauptquartier der Sorgen'«, https://www.schwarzwaelder-bote.de/inhalt.oberndorf-a-n-im-hauptquartier-der-sorgen.4c2f294c-ea52-4a7d-9636-27cbc1025864.html, 1. Juli 2010




Brockhaus erwähnt lediglich den schweizer Bildenden Künstler Hermann Obrist, gestorben 1927, dabei wäre doch der Musikwissenschaftler und Kapellmeister Aloys Obrist (1867–1910) schon vom Alphabet her vorrangig gewesen. Die beiden waren Brüder. Der jüngere Bruder Aloys hatte sich den Nordamerikanern sogar als Schießkünstler empfohlen. Dort konnte man am 30. Juni 1910 der New York Times entnehmen: CONDUCTOR AND SINGER SHOT. Mit dem Dirigenten war just Aloys gemeint. Eigentlich war er, seit 1893, mit der ehemaligen Schauspielerin des Weimarer Hoftheaters Hildegard Jenicke verheiratet. Am verhängnisvollen Tage erschoß er aber die 38jährige Opernsängerin Anna Sutter vom Stuttgarter Hoftheater. Die Dame soll etliche Affären gehabt haben, davon die mit Obrist für rund zwei Jahre bis 1909. Als sie sich dann, so die gängige Annahme, in ihrer Wohnung in der Stuttgarter Schubartstraße 8 von Besucher Obrist nicht erweichen ließ, platzte dem 43jährigen Liebes- und Wutentbrannten der Kragen.

Laut zeitgenössischer Lokalpresse war er ursprünglich bereits an der Haustür vom Dienstmädchen abgewiesen worden, weil die Diva, um 10 Uhr vormittags, noch zu erschöpft von der gestrigen Abendvorstellung sei und im Bette liege. Prompt verschaffte Obrist sich gewaltsam Zutritt. Das Dienstmädchen vernahm einen heftigen Wortwechsel sowie mehrere Schüsse, und dann fand es zwei Leichen im Schlafzimmer: sie mit gebrochenem Herzen im Bett, er mit gebrochenem Herzen auf dem Bettvorleger. Der vollbärtige Hofrat Dr. Aloys Obrist hatte zwei Browning-Pistolen mit sich geführt. Seine Weimarer Villa hatte er verkauft; mit seiner Gattin stand er in Scheidung. In jüngster Zeit wohnte er erneut in Stuttgart, wo er einst für kurze Zeit Hofkapellmeister gewesen war, und betätigte sich als Musikschriftsteller – soweit er sich nicht vergeblich nach Sutter verzehrte. Die Sopranistin wurde in Stuttgarter Theaterkreisen trotz ihres freizügigen, daneben arg verschwenderischen Lebenswandels seit Jahren höchstverehrt, daher auch »das Sutterle« genannt. Den Trauerzug mit ihrem Sarg säumten 10.000 Leute.

Hundert Jahre später räumt die Lokalpresse Details ein*, nach denen an jener Erschöpfung Sutters am Tatvormittag wohl auch der Opernsänger Albin Swoboda junior (1883–1970) nicht ganz unschuldig gewesen war. Mit ihm lag die deutlich ältere Diva damals im Bett. Als das Dienstmädchen von Obrist überrannt wurde, sprang Swoboda, klamottenreif, in den Schlafzimmerschrank. Was er dort im Verborgenen miterleben mußte, habe er nie überwunden, wird der Stuttgarter Musikwissenschaftler Georg Günther zitiert. Aus Briefen und Gesprächen mit Kollegen gehe hervor, daß sich Swoboda sein Leben lang heftigste Vorwürfe machte, die Tat nicht verhindert zu haben. Der Baßbariton starb ebenfalls in Stuttgart – jedoch erst mit 86.

Was Hildegard Obrist-Jenicke (1856–1937) angeht, hebt die Weimarer Schriftstellerin Erika von Watzdorf-Bachoff in ihren Erinnerungen** den deutlichen Altersunterschied zwischen den Ehegatten hervor, um 12 Jahre. Jenicke war die Ältere. Die beiden Damen kannten sich. Jenicke habe Obrist auch immer versichert, sollte er sich einmal für eine Jüngere erwärmen, wolle sie ihm nicht im Wege stehen. Doch was die Sutter angehe, habe sich Jenicke zunächst gegen eine Scheidung gesträubt, um ihn vor diesem Weibsbild zu bewahren. Für Jenicke war Sutter zwar eine große Künstlerin, als Mensch jedoch »wertlos«, so jedenfalls Watzdorf. Selbst Obrist habe schließlich Sutters »Untreue und Wertlosigkeit« erkannt. Am schwersten habe es ihn wohl getroffen, daß sie über sein bedingtes Künstlertum spottete und ihm einredete, nur diese »Oma« in Weimar hemme seinen künstlerischen Aufschwung. Im Grunde sei Obrist ein Pedant gewesen, so Watzdorf, was auch aus dem Abschiedsbrief hervorgegangen sei, den er seiner Gattin (vor der Mordtat) geschickt habe und den sie (Watzdorf) kenne. Darin habe er seiner Frau »mit wunderschönen Worten« gedankt, ferner festgestellt: die Sängerin Sutter habe ihre Glanzrolle, die Carmen, gelebt und wie diese ihr Leben verwirkt. Diesen Brief brachte er dann, laut Watzdorf, zur Post, kaufte einen Strauß weißer Rosen und ging zur Schubartstraße 8 …

* Markus Heffner, »Mitten ins Herz«, Stuttgarter Zeitung: http://www.markus-heffner.de/wp-content/uploads/2014/11/STZ_Anna_Sutter.pdf, 29. Juni 2010
** Erika von Watzdorf-Bachoff, Im Wandel und in der Verwandlung der Zeit, Stuttgart 1997, S. 156–58




Der US-Protestsänger Phil Ochs (1940–76) wird von Brockhaus übergangen, obwohl er ein wichtiger Vietnamkriegsgegner und Allendeanhänger war. Bei einem Besuch in Chile freundete er sich auch mit dem Berufskollegen Victor Jara an. Als er später von dessen Ermordung hörte, war er entsetzt. Immerhin erlebte Ochs noch das Ende des Vietnamkrieges (1975) und organisierte eine War Is Over-Kundgebung im Central Park von NYC, an der mindestens 100.000 Menschen teilgenommen haben sollen. Joan Baez stand dort auch auf der Bühne. Das konnte freilich Ochs‘ allseitigen Niedergang nicht aufhalten. Bob Dylan soll ihn einmal aus seinem Auto geworfen und hinter ihm hergeschimpft haben, er sei kein Songschreiber, vielmehr ein Journalist. Das hatte Ochs ursprünglich studiert. Die hübsche klangvolle Stimme muß man Ochs aber lassen. Im Traum vom Weltruhm nahmen sich die beiden Sänger wenig. Ochs scheint allerdings auch einen hinderlichen Zurück-zu-John-Wayne-Knopf im Kopf gehabt zu haben. Er beklagte Amerikas Verkommenheit, zeigte Anflüge von Verfolgungswahn, dafür Schreibhem-mungen. Zu allem Überfluß schädigten Straßenräuber (1973) bei einem Versuch, ihn zu erdrosseln, seine Stimmbänder. So verfiel er in seinen letzten Jahren zielsicher dem Alkohol und, wahrscheinlich in der Nachfolge seines kranken Vaters, der Geistestrübung. Er schlupfte im Haus seiner Schwester in NYC unter und griff lieber zur Flasche als zur Gitarre. Ein Psychiater soll von einer »bipolaren Störung« gesprochen haben. Mit 35 erhängte sich Ochs. Als sein bekanntester Song wird meist I Ain‘t Marching Anymore von 1965 genannt. Vermutlich hat er ihn 1968 auch auf dem Burg-Waldeck-Folkfestival in unserem Hunsrück vorgetragen – und so klingt er leider auch.



Der aus Magdeburg stammende Maler Richard Oelze (1900–80), ausgebildet am Weimarer Bauhaus, hatte sich auch in Südeuropa und vor allem in Paris umgesehen. Dabei habe er eine »eigenständige Form des Surrealismus« entwickelt, schreibt Brockhaus. Er habe meist »geheimnisvoll-visionäre«, teils mit Menschen bevölkerte Landschaften gemalt. Sein bekanntestes Gemälde sei Die Erwartung von 1935/36, das im Lexikon auch abgebildet wird. Dieses eindrucksvolle, fast altmeisterlich gemalte Werk sorgt im Museum of Modern Art, NYC, trotz oder wegen der Klimaanlage für Schauer. Dem Kritiker fällt rasch der unbestimmte Zug daran auf. Es läßt sich schwer sagen, wer hier was erwartet, und wie ihm dabei zumute ist. Er könnte hoffen, er könnte bangen. Ja, die Angst vor dem Unbekannten ist immer ein gutes Geschäft, wie auch unsere Impfpäpste wissen. Auf dem Gemälde sind selbst die zum Horizont starrenden, von uns abgewandten Personen unkenntlich. Nur im Vordergrund scheinen zwei Männer mit Hut nach zwei feschen Damen zu äugen, die in ihrer Nähe stehen.

Auf einem Porträtfoto, das den Künstler selber, wohl in mittleren Jahren, mit Schlips und Pinsel vor der Staffelei sitzend zeigt, wirkt Oelze keineswegs verknittert oder häßlich wie der Glöckner von Notre-Dame. Unübersehbar ist freilich seine umfangreiche Stirnglatze. Vielleicht hatte er es deshalb mit den Hüten, jedenfalls in der Öffentlichkeit. Sein Liebesleben, sofern vorhanden, bleibt ähnlich undurchsichtig wie das Gewölk in jenem berühmten Gemälde. In Paris sei Oelze einmal durch zwei Küsse auf die Wangen von der berüchtigten Künstlermuse Gala Éluard Dalí gleichsam in die eingeweihten surrealistischen Kreise aufgenommen worden, liest man hier und dort. Im Brockhaus-Eintrag werden Sie den Namens des Scheusals Salvador Dalí nicht finden. Schlimmer noch, spart das Lexikon wieder einmal den deutschen Faschismus aus. 1946–62 habe Oelze in Worpswede gelebt. Das dürfte eine glatte Lüge sein. Laut Wikipedia kehrte Oelze 1938 nach Deutschland zurück. In der Künstlerkolonie Worpswede (die seit Jahrzehnten für ihren volkstümlich-braunen Anstrich bekannt war) habe er sich im folgenden Jahr niedergelassen. »Von 1939 bis 1945 leistete er Kriegsdienst und war in Gefangenschaft.« Anschließend habe er erneut in Worpswede gearbeitet, bevor er sich nach Posteholz zurückgezogen habe. Das war 1962.

Das ehemalige Rittergut Posteholz bei Hameln gehörte von 1943–2004 einem echten Baron, Siegfried Hanach von Alten mit Namen. In ihm vermute ich einen engen Verwandten der Schriftstellerin und Bildenden Künstlerin Ellida Schargo von Alten (1911–96). Nach der Autorin Eleanor Moseman* war sie Oelzes Gefährtin, und das wohl schon in Worpswede. Laut taz (2000) war sie bereits seine dritte »Ehefrau«. Jedenfalls nehme ich an, sowohl in ihren Armen wie in denen des preußischen Junkertums fühlte sich der Maler des Unheilschwangeren ganz gut aufgehoben. Auf dem Gut starb er auch mit knapp 80, allerdings »nach langer, schwerer Krankheit«, wie es in der NDB 19 von 1999 heißt. Das Gut soll noch heute einen Wehrturm und eine Kapelle (?) vorzuweisen haben. Ob das Anwesen auch von Nicht-Baronen besichtigt werden kann, ist mir nicht ganz klar geworden. Eins steht fest: Es war nie Postamt. Vielmehr wurde es einst von einem Geheimrat von Post gegründet.

Zurück zu Oelze. Für den Spiegel war er ein »Einsiedler mit Buchhalter-Look«, dem nun (Nr. 41/1964) späte Ehrung zuteil werde. Er habe »seine Alpträume« auf die Leinwand gebracht, dabei »mit äußerster Pedanterie«. Also lediglich ein unpolitischer Tropf mehr? Immerhin wird auch hier erwähnt, Oelze sei damals (freiwillig!) »in Hitlers Reichskulturkammer-Deutschland« heimgekehrt und habe dann im Krieg der Wehrmacht als Karten-zeichner gedient. Die Webseite worpswede.tipps.de umreißt diese Schaffensperiode (2024) noch unkomplizierter: »Der Künstler Richard Oelze wohnte in Worpswede von 1939-1962, unterbrochen durch die Wirren der Zeit.«

* https://muse.jhu.edu/article/713309, 2018



Der argentinische Journalist und Buchautor Héctor Germán Oesterheld (1919–78?) machte sich vor allem einen Namen mit Comicbüchern. Deshalb wird er im Brockhaus-Eintrag über den italienischen Zeichner Hugo Pratt (1927–95) erwähnt, wenn auch nur in Klammern. Pratt war nämlich in der Nachkriegszeit just nach Argentinien ausgewandert. Schon in der Klammer hieß es (1992) zu Oesterheld: »seit 1977 verschollen«. Da lag die Vermutung nahe, der Schriftsteller habe das Schicksal von Elisabeth Käsemann und vieler anderer Opfer der damaligen argentinischen Militärdiktatur geteilt, siehe Folge 20. Und so ist es. Bald nach dem Putsch General Videlas vom März 1976 verhaftet, tauchte Oesterheld nie wieder auf. Sogar seine vier Töchter wurden noch abgeholt und verschwanden. Estela, Diana, Beatriz und Marina hatten wie ihre Eltern zu der revolutionären Bewegung Montoneros gehört.* Ihre Mutter, Elsa Sánchez de Oesterheld, setzte sich später anscheinend unermüdlich für die Anprangerung des Staatsterrorismus ein. Ihr Ehemann stammte aus bürgerlichem Hause, hatte sich jedoch zunehmend »politisiert«. 1968 veröffentlichte er das Comicbuch Das Leben des Che. Oesterheld verfaßte die Szenarien und Texte für seine Comics, während etliche Bildende KünstlerInnen, darunter Pratt, für die Zeich-nungen sorgten. Die englische Wikipedia zählt Oesterheld zu den Meistern seines Faches. Einige deutsche Buchausgaben sind offensichtlich** lieferbar.

* Victoria Eglau, https://www.deutschlandfunk.de/familiengeschichte-von-hector-oesterheld-argentinischer-100.html, 31. Oktober 2016
** https://www.avant-verlag.de/artist/h%C3%A9ctor-g-oesterheld/, Stand 2024




Vielleicht können Sie mir eine Auffächerung des Ofens nach Sorten und Marken erlassen. Brockhaus behauptet, »aus Zweigen und Lehm geformte« Backöfen habe man bereits in der Jungsteinzeit gekannt. Für mich zählt der Zimmerofen zweifellos zu den 10 bedeutensten Erfindungen der Menschheit, höchstens in den Tropen nicht. In Westberlin zog ich von einem mächtigen Kachelofen zum nächsten um und fragte mich jedesmal, wie ein fünfgeschossiges Mietshaus diese ganzen, übereinander gestapelten Monstren nur aushalten kann. In meiner jüngsten Bleibe erfreue ich mich seit Jahren desselben schlichten, anhänglichen und zuverlässigen Dauerbrandofens, wie er einst (1877) aus Irland auf uns gekommen sein soll. Ein Kaminfegermeister versicherte mir einmal, die Kacheln und den ganzen anderen Firlefanz könnte ich getrost vergessen. Entscheidend sei Eisen, denn das halte die Wärme am besten. Nun gut – es hat allerdings auch sein Gewicht und seinen Einkaufspreis. Mein schritthoher, recht schmaler Dauerbrandofen glänzt vor allem durch eine kaum daumendicke Kopfplatte aus Eisen. Eine Achillesferse scheinen jedoch die Schamottsteine zu sein, mit denen er innen ringsum ausgekleidet ist. Sie sind im Laufe der Zeit hier und dort gerissen. Das Vermörteln mit feuerfester Pampe ist mir bereits mehrmals mißlungen. Jener Brandmeister meint zu den Rissen, wenn nicht Transportschaden, dann liegt es an zu starker Hitze. Dafür seien diese Öfen nicht angelegt. Er schenkte mir ein bedauerlich-spöttisches Lächeln und verzog sich in die Kamine benachbarter Häuser. Wahrscheinlich hatte er die niedrige Preisklasse meines Ofens schon auf Anhieb erkannt. Das rotbraun lackierte, schmucklose Stück hat mich (um 2010) fabrikneu keine 500 Euro gekostet. Beim nächsten lege ich also ein oder zwei Nullen zu. Sofern ich bis dahin einen Titel von meiner Platte Leon in die Top Ten gebracht habe, meinetwegen »Schneeschippen«.



Der meist unter e. o. plauen bekannte sächsische Zeichner Erich Ohser (1903–44), eigentlich antifaschistisch gestimmt, paßte sich im Laufe des »Dritten Reiches« aus wirtschaftlichen Gründen demselben an, wobei ihm seine noch heute beliebten harmlosen Bildgeschichten um Vater und Sohn als Sprungbrett dienten. Sie machten ihn wohlhabend. Eine Auswanderung erwog er nicht.* Ab 1940 karikierte er im Gegenteil auch für Goebbels‘ Wochenblatt Das Reich – etwa die Russen als blutrünstige Wölfe, Churchill als verschlagenen Betrüger. Dadurch (weil »unabkömmlich«) konnte es der antikommunistische Patriot wohl auch vermeiden, in Uniform an die Front geschickt zu werden. Ich nehme allerdings an, für einige gute Bekannte oder Freunde Ohsers, etwa Hans Fallada und Erich Kästner, war dieser Opportunismus gar zu schrill. Doch wer heute die erreichbaren Quellen durchgeht, stößt in jeder zweiten Überschrift auf Ohsers »tragisches Ende«, von dem mir fast so schlecht wird wie ihm selbst.

Während Ohser Gattin Marigard und Sohn Christian nach Süddeutschland verfrachtet hatte, teilte er sich in Berlin eine Wohnung mit seinem Freund Erich Knauf, Journalist. Immerhin konnte Ohser das Reißen nazifeindlicher Witze nicht lassen. Ein Nachbar und häufiger Gast protokollierte diese Äußerungen und zeigte die beiden schließlich an. So wurden Knauf und Ohser Ende März 1944 verhaftet. Ohsers Verfahren vor dem Freislerschen »Volksgerichts-hof« war für den 6. April angesetzt, doch am frühen Morgen des Prozeßtages erhängte sich der 41jährige in seiner Zelle. Dadurch kam er vermutlich dem Schicksal zuvor, das Freund Knauf ereilte: der wurde am 2. Mai enthauptet. Knaufs Witwe bekam eine ordentliche Rechnung über die Hinrichtung ins Haus: »158 Reichsmark und 18 Pfennig – zuzüglich 12 Pfennig Porto«, heißt es im Spiegel.**

Diese ganze durchaus schräge Sachlage erwürgt Brockhaus durch die Angabe »(Selbstmord)«. Ohser hätte auch bolschewistischer Bombenleger oder Zeichenlehrer von Goebbels‘ Sohn gewesen sein können, die Redaktion hätte es nicht gemerkt.

* Hartmut Goege, https://www.deutschlandfunk.de/vor-75-jahren-das-tragische-schicksal-von-e-o-plauen-100.html, 6. April 2019
** Katja Iken, https://www.spiegel.de/geschichte/erich-ohser-e-o-plauen-zeichner-der-vater-und-sohn-comics-a-1260108.html, 5. April 2019




Laut Brockhaus wurde das Münchener Oktoberfest 1984 zum 150. Mal gefeiert. Damaliger Bierumsatz: rund fünf Millionen Liter. Etwas früher gab es auf diesem »größten Volksfest der Erde« auch ein paar Leichen zu sehen. Das erwähnt das Lexikon aber aus ästhetischen Gründen lieber nicht. Der Anschlag auf unschuldige BesucherInnen des Oktoberfestes von 1980 wird unter den schwersten Terrorakten der deutschen Nachkriegsgeschichte geführt. Neben zahlreichen, zum Teil schwer verletzten Opfern hinterließ er 13 Tote, darunter die Geschwister Ignaz (6) und Ilona (8) Platzer als die jüngsten der Zufallsopfer. Auch den Attentäter Gundolf Köhler (21), nach offizieller Version zwar »Rechtsextremist«, jedoch als solcher »Einzeltäter«, erwischte es. Etliche BeobachterInnen halten eine Verstrickung faschistischer Gruppen und überdies staatlicher Geheimdienste in den Anschlag für wahrscheinlich.* Jedenfalls sind die beiden Kinder tot. Den Gram von ihren Eltern, Lehrern, Freunden möchte ich nicht erlebt haben.

Um es einmal deutlich zu sagen: Entschlösse sich jemand dazu, mich aus bestimmten Gründen umzubringen, fände ich das zwar ziemlich unangenehm, aber auch verständ-lich. Er hat eben, aus diesen oder jenen »niederen« Motiven, seine Wut auf mich. Aber so? Irgendwo eine Bombe hochgehen zu lassen, die irgendwen trifft?

Nicht völlig anders liegen die Dinge übrigens im jüngsten Gazakrieg. Anfang April meldete dpa für das erste halbe Jahr allein 13.800 tote Kinder, dazu noch zahlreiche verstümmelte oder sonstwie verletzte.** Im Gazastreifen gibt es eben vergleichsweise viele Kinder, und da bleiben solche Kollateralschäden nicht aus. Man muß dazu allerdings sagen: es handelt sich (überwiegend) um palästinensische Kinder, und da unten tobt gerade kein Volksfest, vielmehr ein Krieg. Im Krieg sind Todesopfer üblich und erlaubt. Und wenn es nichtdeutsche Unschuldige trifft, weinen wir keine Krokodilstränen.

* Birgit Lutz-Temsch, »Am Montag jährt sich das Oktoberfest-Attentat«, Süddeutsche Zeitung, wohl 22. September 2005: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/schmerzende-erinerungen-am-montag-jaehrt-sich-das-oktoberfest-attentat-1.757631
** https://www.zeit.de/news/2024-04/04/sechs-monate-gaza-krieg-mehr-als-13-800-tote-kinder, 4. April 2024




Der Österreicher Joseph Maria Olbrich (1867–1908) gehörte zu den »produktivsten Architekten des Jugendstils«, wie Brockhaus weiß. In seinen letzten Arbeiten habe er sich aber um eine »mehr funktionale Aufassung« bemüht. Nur verrät uns das Lexikon nicht, warum Olbrichs letzte Arbeiten schon so frühzeitig stattfanden. Der Künstler wurde nämlich nur 40 – Blutkrebs. Wikipedia sagt ihm ansonsten ein paar unschöne Züge nach, die allerdings nicht nur im Jugendstil anzutreffen sind. Danach war Olbrich eingebildet und gab gern den Chef. Abgerissen wirkende KünstlerInnen haßte er. Olbrich selbst erschien ausschließlich in eleganten Anzügen nebst Hut, Handschuhen und Stock, zwirbelte seinen Oberlippenbart stets mit dem Zirkel seines Reißbrettes ab und pflog überhaupt einen luxuriösen Lebensstil. Das scheint den Blutkrebs aber auch nicht eingeschüchtert zu haben.

Der Berliner Kunstkritiker Karl Scheffler erwähnt in seinen Erinnerungen* einen Unmut unter Fußgängern, als Olbrichs neues Sezessionsgebäude in Wien errichtet wurde. Sie blieben auf der anderen Straßenseite stehen und schimpften laut. Ein Freund von Olbrich mischte sich unter sie, wodurch er erfuhr, sie mißbilligten Olbrichs Eulenfries an dem Gebäude. »Seht nur, das sollen Eulen sein!« höhnten sie. Der Freund wandte bescheiden ein: »Vielleicht sollen es gar keine Eulen sein?« Da fuhren sie ihm entrüstet über den Mund: »Das sieht man doch, daß es Eulen sind!«

Das spricht also wieder eher für unseren Künstler. Nur muß ich bekennen, auf verschiedenen Internetfotos kann ich Olbrichs Eulenfries oder seine Eulen beim besten Willen nicht entdecken. Vorausgesetzt, Scheffler hat, um einer guten Geschichte willen, nicht gelogen, bin ich vielleicht doch zu altmodisch gestimmt.

* Karl Scheffler, Die fetten und die mageren Jahre, Leipzig 1946, S. 25



Im Brockhaus kommen lediglich zwei Literaten namens Olson vor, also keine NaturwissenschaftlerInnen. Der Bakteriologe und Mitarbeiter der US-Armee und der CIA Frank Olson (1910–53) forschte an biologischen Waffen und wurde angeblich unwissentlich in ein Drogenprojekt der CIA eingespannt. Darauf habe er unerwartet depressiv reagiert und sich am 28. November 1953 durch ein Fenster des Hotels Statler, NYC, in die Tiefe gestürzt. Das war offensichtlich ein kleiner Wolkenkratzer. Je nach Quelle sprang Olson aus dem neunten bis dreizehnten Stockwerk. Ja, so einfach ist Geschichtsschreibung nicht.

Der üble Geruch der Angelegenheit wird von niemandem mehr bestritten. 1975 entschuldigten sich US-Präsident Ford und CIA-Chef William Colby bei Olsons Familie. Das Weiße Haus hatte die Drogenversuche inzwischen öffentlich eingeräumt und gewährte der Familie nun 750.000 Dollar Schadensersatz, um sie von einer Klage abzuhalten. Meine Herren! Das war kein Trostpreis. Laut englischer Wikipedia hätte es sich vielmehr, hochge-rechnet, im Jahr 2021 um 3,8 Millionen Dollar gehandelt. Der Schmutz muß also meterdick gewesen sein. In der Tat hält Eric Olson, der Sohn, die Drogengeschichte für ein plattes Ablenkungsmanöver. Sein Vater habe Gewissensbisse wegen im Koreakrieg eingesetzter biologischer Waffen und auch wegen Folterpraktiken an Gefangenen der CIA bekommen. Also mußte er zum Schweigen gebracht – nämlich aus dem Hotelfenster gestürzt werden.

Hannes Stein* führt mehrere starke Anhaltspunkte an, die gegen Selbstmord sprechen, darunter eine vom Sohn bewirkte Obduktion. Danach zeigte die Leiche einen vor dem »Sprung« aus dem Fenster versetzten Schlag auf den Schädel, jedoch keine Glassplitter. Und die Folterpraktiken bestätigt nicht nur Stein, übrigens in einem typisch kaltblütigen beiläufigen Satz. Sondern vor allem behandelt auch Tim Weiner sie. In den 1950er Jahren (Korea- und Kalter Krieg!) gab es ein umfangreiches CIA-Programm für »Übersee-Verhöre«, das auch Geheimgefängnisse einschloß, die in Wahrheit Folterkammern waren. Als Codenamen für die Versuche mit Drogen und Gehirn-wäsche führt Weiner »Artichoke« an. Das ist doch ein einfallsreicher Kosename, der Stein bestimmt gefallen hätte. Die Sache mit den Folterkammern wurde meines Wissens spätestens nach dem willkommenen Anlaß 9/11 gerne wieder belebt. Persönlich verantwortlich für das gesamte Programm seien Allen Dulles, Frank Wisner und Richard Helms gewesen, durchweg hohe Geheimdienst-bosse. Frank Olson wird von Weiner als ein mit Hilfe von Drogen (LSD) in den Tod Getriebener erwähnt.**

Weiner hütet sich demnach, von Mord und Totschlag zu sprechen, wie etwa der Sohn es tut. Stein gefällt es allerdings, Eric Olson als fanatischen Wirrkopf hinzustellen. Dessen juristischen Vorstöße wurden anscheinend wiederholt abgeschmettert. Eine Ausmistung des ganzen Saustalls wäre meines Erachtens sinnvoller, aber das dürfte Olsons Kräfte übersteigen. Weiner hält sowieso nichts von ihr. Es ist beinahe unglaublich, daß er diesem Saustall nach rund 800 Seiten belegreicher Studie noch immer die Stange halten kann.

William Colby, um 1975 Chef der CIA, starb 1996 als Pensionär auf höchst undurchsichtige Weise, wie ich 2015 in meiner Rubrik Grabbeltisch ausführlich dargelegt habe. Dieser erfahrungsreiche Schlapphut (Vietnam!) wird von Weiner x-mal erwähnt. Nur sein Ende streift er merkwürdigerweise mit keinem Komma. Offiziell war es ein Unfall. Immerhin führt Weiner noch einen späten Versuch Colbys an, sich für ein »Bündnis für Demokratische Werte« als Friedensengel zu betätigen (S. 567). Das war 1992, also kurz vor seinem ungeklärten Tod. Dieser könnte sogar mit dem Fall Frank Olson zusammenhängen. Möglicherweise hat Zyniker Colby ähnlich wie Olson auf seine alten Tage noch Gewissensbisse bekommen, drohte unliebsam auszupacken und wurde deshalb recht ruppig aus dem Verkehr gezogen.

Nebenbei behandelt Weiner die 9/11-Anschläge von 2001 in einer für ihn untypischen gerafften Art und Weise. Das bietet den Vorteil, alle handfesten störenden Anhaltspunkte, etwa die Aushebelung der US-Flugabwehr und den Einsturz von WTC 7, kurzerhand unter den Tisch fallen zu lassen. Denn Weiner hängt der amtlichen Version des Anschlages an, wird sich somit hüten, deren Bezweiflern Munition zu liefern. Für mich hat Weiner mit seinem Wälzer das sehr wahrscheinlich wichtigste und beste Sachbuch des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts vorgelegt. Aber nach jener Raffung kann es nur ein Trottel verfaßt haben.

* Hannes Stein, https://www.welt.de/vermischtes/article173524612/Netflix-Serie-Wormwood-Was-die-CIA-mit-dem-Fenstersturz-eines-Biologen-zu-tun-hatte.html, 13. Februar 2018
** Tim Weiner, CIA-Geschichte, deutsche Ausgabe 2007, bes. S. 103–5 + 708/9




Nach Frank Olson fehlt auch der Orchestergraben, jedenfalls in den Einträgen über die Oper (mit Abbil-dungen weit über zwei Seiten) und das Orchester. Diese Gräben kamen erst nach 1800 auf. Man wollte die MusikerInnen und sogar den Dirigenten aus dem Blickfeld der Zuschauerinnen verbannen und versenkte sie daher, wie es ja jeder kennt. Ein nützlicher Nebeneffekt war: Hatten manche Orchestermitglieder nur lückenhaft zu tun, etwa die TriangelspielerInnen und 27. Zweiten GeigerInnen, konnten sie sich in ihren Pausen unauffällig in die Garderobe verdrücken, um ein paar Runden Skat zu spielen. Das Publikum merkte es gar nicht, und der Dirigent drückte ein Auge zu, weil diese KünstlerInnen ohnehin unterbezahlt waren.

Schaut man sich im Internet um, stellten sich freilich auch Nachteile ein. Vor allem wuchs die Unfallgefahr. Die gebrochenen Knochen und Fußknöchel von Orchestergrabeninsassen oder aber überirdischen Wagnerbässen und Ballettmiezen sind kaum zu zählen. Der jüngste Tote fiel möglicherweise Mitte Juli 2013 an. Damals meldete die Ausburger Allgemeine, am legendären Moskauer Bolschoi Theater sei der 65 Jahre alte Geiger Viktor Sedow in den Orchestergraben gestürzt – tot. Der Moskauer Graben sei sechs Meter tief. Das kann natürlich auch eine bayerische Ente sein, um die bekannten Fahrlässigkeiten russischer Architekten zu unterstreichen. Stimmt es dagegen, wird irgendein Münchener Theater schon auf Draht sein und bei der nächsten Aufführung der zeitgenössischen Oper Wolodymyrs heldenhafter Kampf gegen die Donbaßwölfe vorsorglich Scharfschützen-gewehre (nagelneu aus Oberndorf) an die Geiger und Trompeter ausgeben. Sobald die Störrufe aus den hinteren Reihen erschallen, werden alle patriotisch gestimmten Orchestermitglieder die Musik unterbrechen, ihre Flinten auf den vorderen Grabenrand legen und darauflosballern, was das Zeug hält.

Der Wiener Dramatiker Hans Chlumberg ist wahrschein-lich zu unrecht ziemlich unbekannt. Sein 1930 uraufgeführtes Stück Wunder um Verdun nimmt in antimilitaristischer Absicht den Schlachtfeldtourismus aufs Korn, woraus sich ein Riesenkonflikt zwischen den Lebenden und Millionen wiederauferstandener Kriegstoten ergibt. Von diesen möchten jene nichts wissen. Die merkwürdigste Satire gelang Chlumberg allerdings im selben Jahr bei einer in Leipzig stattfindenden Theaterprobe: er stürzte in den Orchestergraben. Das kostete dem 33jährigen Dramatiker das Leben.* Er bekam in Wien die Chlumberggasse. Im Brockhaus (Band 4) hat er immerhin 5 ½ Zeilen. Ohne Sturz.

* laut Christa Karpenstein-Eßbach, in: Raulet / Guilhamon / Meyer (Hrsg): Die streitbare Klio, Frankfurt/Main 2010, S. 120



Der britische Dramatiker Joe Orton (34) wurde 1967 von seinem Lebensgefährten Kenneth Halliwell mit einem Hammer erschlagen. Anschließend nahm Halliwell Tabletten. Aber aufschlußreicher als dieser spektakuläre Doppeltod ist vielleicht der Fall des tschechischen, jüdischen Lyrikers Jiří Orten (1919–41), obwohl ich mir bekanntlich aus Moderner Lyrik, zumal von sehr jungen Künstlern, sehr wenig mache. Brockhaus übergeht ihn jedenfalls. Orten starb bereits mit 22, in Prag. Die einen sprechen von einer Tragödie, die anderen – das sind die wenigsten – von einer Groteske.

Der Kaufmannsohn aus einer mittelböhmischen Kleinstadt war 1936 nach Prag gegangen, um Schauspielschulen zu besuchen, wurde jedoch, seiner »Abstammung« wegen, zunehmend behindert und schikaniert. Prag war seit März 1939 deutsch besetzt. Während sich Orten mit Gelegenheitsarbeiten durchschlägt, veröffentlicht er pseudonym mehrere Gedichtbände, angefangen mit Čítanka jaro (Lesebuch Frühling) von 1939. Ein Jahr darauf folgt Cesta k mrazu (Der Weg zum Frost). Unter Eingeweihten galt er als lyrisches Genie. Was seine Freundin oder Geliebte davon hielt, die Schauspiel-schülerin Věra Fingerová, erfahren wir nicht; sie scheint ihn verlassen zu haben. Orten neigte ohnehin zu Düsternis, Selbstmitleid und »Todessehnsucht«, wie mehrere Quellen versichern, und dann dies. Dazu beutelte ihn selbstverständlich das zeittypische Schicksal des Aussätzigen. Am Abend des 30. August 1941 will er mit seinen Freunden seinen 22. Geburtstag feiern, behauptet Annette Kraus.* Somit hat er immerhin noch welche. Irgendwann am Tage überquert Orten eilig die Straße, weil er, gleichfalls mehreren Quellen zufolge, an einem Kiosk am Rašín-Kai Zigaretten holen will. Da kommt ein Sanitätsauto der Wehrmacht angerast – viel zu schnell, meint Kraus. Woher weiß sie das? Weil Krankenwagen stets zu rasen haben? Jedenfalls erfaßt das Sanitätsauto den jungen »Dichter« und schleift ihn noch eine Strecke mit. »Im nächstgelegenen Krankenhaus wird er abgewiesen, weil er Jude ist. Ohne wieder zu Bewusstsein zu kommen, stirbt Orten zwei Tage später im Kateřinky-Spital.«

Während Vitalis entschieden von einem »Verkehrsunfall« spricht, halten einige andere Quellen die Diagnose, wie Kraus, eher in der Schwebe. So bleibt die Angelegenheit »rätselhaft«. Bei Ortens finsterer Gemütsverfassung wäre sicherlich auch »Selbstmord« denkbar. Dagegen spricht freilich, neben fehlender Ankündigung, die angesetzte Geburtstagsfeier. Aber auch die Unfallversion wahrt den Rätsel-Status, zumal es einige Ungereimtheiten gibt. Nehmen wir einmal an, Orten war bereits seit dem Unfall lückenlos bewußtlos. Dann fragt sich, woher die Geschichte mit den Zigaretten stammt. Vielleicht war ein Freund bereits vorzeitig bei ihm in der Wohnung eingetroffen? Oder eine Hausbewohnerin, die ihn gut kannte, hat seinen Einkaufweg beobachtet oder gar ein paar Worte mit ihm gewechselt? Sie werden vielleicht knurren, das sei doch nebensächlich. Aber gerade mit solchen schmückenden Details werden haltbare Legenden gestrickt. Ein verträumter, unschuldig einkaufender Dichter gerät unter die Dampfwalze der Realität! Dafür kommt keiner auf die Idee, sich zu fragen, ob vielleicht noch ein zweiter, womöglich sogar gleichfalls junger Mensch gestorben sei. Einer, der nur Bäckerlehrling war, jedoch todkrank im Sanitätsauto lag oder zu Hause auf dasselbe wartete.

Von der Polizei der faschistisch besetzten Stadt Prag darf man sich wohl keine Aufklärung erwarten. Vermutlich hat sie dem Krankenwagenfahrer eine Stunde nach dem Unfall seine Schilderung abgenommen und darauf verzichtet, sie an Ort und Stelle zu überprüfen. Auf diese billige Art und Weise war man wieder einen Juden mehr los. Die Situation des Verfolgtseins begünstigt Legendenbildung ungemein. Dann die Jugend des Getöteten, und seine Mission als »Dichter« darf man auch nicht vergessen.

Ein paar Verse, die Kraus zitiert, sind sicherlich notwendig aus dem Zusammenhang gerissen, vom Übersetzungs-problem zu schweigen. Trotzdem glaube ich, hier war wieder einmal ein Rauner am Werk, ein Ungenauer also. Diese Leute flüstern jedem das zu, dessen er – der Hörer – gerade bedarf. »Ein Licht, so fern. Und Angst. Und Böses bringt sie. Und es naht heran.«

Ein ganzes Gedicht, das mir unterkommt, bestärkt mich in meiner Befürchtung. Nebenbei weiß man auch in diesem Fall nicht, ob Orten, der ursprünglich Ohrenstein hieß, es auf deutsch oder auf tschechisch verfaßte. Im zweiten Fall wäre die Übersetzung, auf dieser Webseite eines Prager Verlages, verdächtig sauber gereimt.** Das Gedicht heißt Bei dir ist es schön warm. Schon eingangs bleibt der Bezug unklar: Wo läge der Dichter gern? Was reut ihn denn eigentlich? Nur die letzten vier Verse sprechen deutlich von jener »Todessehnsucht« – die es vor Orten schon millionenmal gegeben hat. »Oh, tot sein, Vater, fort, mit keinem mehr verbunden, / nicht denken und nicht fühlen, das Gestampf hört auf. / Tot sein, allein, sich selbst genug, verschwunden, / für immer zubereitet sein, beendet haben seinen Lauf.«

* Annette Kraus, »Jung, talentiert und voller Todessehnsucht«, https://www.deutschlandfunk.de/der-dichter-jiri-orten-jung-talentiert-und-voller.871.de.html?dram:article_id=457591, 30. August 2019
** »Jiří Orten – Dichter in Kriegszeiten«, https://www.vitalis-verlag.com/themen/kafkas-welt/orten-jiri-dichter-in-kriegszeiten/, 2023




Beruhigen wir uns schnell mit einem englischen Dramatiker, dem Brockhaus sogar rund 15 Zeilen widmet: Thomas Otway (1652–85). Wahrscheinlich war der Mann keineswegs in bester Verfassung, vielmehr bettelarm und hungrig, als er im April 1685 mit einem eben ergatterten Geldstück zum nächsten Londoner Bäcker eilte, um sich ein noch warmes Brot zu kaufen und sogleich seine vermutlich verfärbten und zum Teil bereits wackligen Zähne in dasselbe zu schlagen. Das steht freilich nicht in jenen 15 Zeilen. Schon beim ersten Bissen habe sich der 33jährige tödlich verschluckt, heißt es in einem Nachschlagewerk von 1911. Dieser »account of his death« möge wahr sein oder nicht, Otway sei ein armer Hund gewesen.* Dabei hatte er mit einigen Lust- oder Trauerspielen durchaus Erfolg gehabt; sie wurden viel gespielt. Vielleicht hielten seine Einnahmen nicht mit den steigenden Mieten Schritt. In Berlin wird man demnächst auch viele Leute mit klappernden Zähnen um einen Brotkanten betteln sehen. Als Pechvogel hatte sich Otway bereits früher erwiesen, als er sich, frisch in London eingetroffen, selber als Schauspieler versuchte. Bei seinem ersten Auftritt wurde er (1672) derart von Lampenfieber geschüttelt, daß er die Sache gleich wieder aufgab.

* Encyclopædia Britannica, Volume 20, 1911: https://en.wikisource.org/wiki/1911_Encyclop%C3%A6dia_Britannica/Otway,_Thomas



Mit dem türkischen Politiker Turgut Özal, streckenweise Ministerpräsident, will ich mich um Gotteswillen nicht beschäftigen. Er läßt jedoch aufhorchen, weil er, auch laut Brockhaus, 1983 die Mutterlandspartei (ANAP) ins Leben rief. Vielleicht gab es ja schon eine Vaterlandspartei, von der man sich abgrenzen mußte. Oder sollte Özal Feminist gewesen sein? Wohl kaum, zeigte seine Partei doch deutliche islamische Züge.

Wie auch immer, ist gewieften PR-Leuten seit vielen hundert Jahren sonnenklar, wer auffallen will, muß die anderen mit verblüffenden Lösungen ausstechen. Oft genügt es bereits, einfach das Gegenteil von dem zu machen, was die anderen machen. Plötzlich zäumte der Knappe den Gaul von hinten auf, das kam an. Oder der Edelmann lief mit Mi-Parti-Hosen über das Aachener Kopfsteinpflaster: ein Bein rot, das andere blau gefärbt. Irgendwo sah ich einmal eine moderne Grafik mit einem Pferdeschädel. Sie werden sagen, das sei nicht unbedingt neu gewesen. Aber der Künstler hatte dem Gaul das Hufeisen auf die Stirnblesse genagelt! Das zog. Dann nahm er seine Baseballkappe ab, deren Schild »natürlich« nach hinten gewiesen hatte, und bat die BetrachterInnen seines Werkes, Kollekte gehend, unter schelmischem Augenzwinkern, bitte nur echte Pferdeäpfel in die Mütze zu werfen. Er war nämlich Dadaist und durch einen günstigen Vertrag mit einem Galeristen sowieso schon stinkreich.

Um 1970 verblüffte der aufstrebende Kasseler Filmemacher Adolf Winkelmann die Passanten auf der »verkehrsberuhigten« Königstraße, indem er ihnen mit einer Kamera entgegenkam, die er mit Hilfe eines Gestelles vor seinem langnasigen, grinsenden Gesicht hertrug. Der Witz: das Objektiv war nach innen gerichtet, auf ihn selbst, Winkelmann. Er filmte also hauptsächlich die eigene Visage, allerdings auch die staunenden oder Vögelchen zeigenden BürgerInnen, die ihm gleichsam über die Schultern guckten.

Ich selber bin freilich auch nicht völlig einfallslos. Als ich um 2012 mehrere in eigener Regie aufgenommene CDs mit »Zwergliedern« auf den Markt warf, nannte ich das dreiteilige Gesamtwerk im Obertitel Nie wieder Lieder. Wie sich versteht, wurde es mir aus den Händen gerissen. Ich bekam den Mainzer Kleinkunstpreis und flog erst mal nach Malibu bei Los Angeles, dem Eigentümer eines ausgedehnten, küstennahen Landsitzes Bob Dylan zeigen, was eine Harke ist.



Brockhaus gibt ihn immerhin als »ermordet« aus: Hans Paasche (1881–1920), den heute kaum noch jemand kennt. Der Berliner Großbürgersohn hatte sich, teils in Afrika, vom Marineoffizier zum zähen, gleichwohl humvorvollen Gegner des Kolonialismus und des Krieges gewandelt. Viel Beachtung erzielte er mit einem Buch, in dem er Briefe eines das Kaiserreich Germanien bereisenden jungen Afrikaners namens Lukanga Mukara vortäuscht. So wundert sich der schwarzhäutige Bursche beispielsweise über die vielen Eisenbalkenwege in Deutschland, auf denen in einem fort Wagen hin und her führen. Man baue die Wagen, um Kohlen zu holen, und hole Kohlen, um die Wagen zu bauen. Das nennten die Wasungu, die einheimischen Weißhäute also, »Fortschritt« und »Kultur«.

Paasche zählte zu den Wortführern der damaligen »Lebensreformbewegung«, und 1918 auch kurzzeitig zu den Berliner revolutionären Arbeiter- und Soldatenräten. Bei dem Trauerzug für Liebknecht und Luxemburg sitzt er auf dem ersten Wagen. Zwei Jahre darauf kommt er selber dran. Er hat sich enttäuscht auf sein kleines Gut in Posen zurückgezogen, wo er sich offenbar in kooperativer und ökologischer Landwirtschaft versucht, aber auch nach wie vor pazifistische Flugschriften oder Postkarten verfaßt. Im Frühsommer 1920 steht er vor der sicheren Wahl in den Gemeinderat. Paasche ist jetzt 39. Da kommt ein Trupp Reichswehrsoldaten zu Besuch, weil Paasche auf seinem Grundstück angeblich Waffen gehortet hat – die üblichen Hirngespinste. Der Dorfpolizist geht zum Teich, wo Paasche mit seinen kleinen Kindern badet: man wünsche den Gutsherrn zu sprechen. »Als Paasche auf dem Weg zum Haus die Soldaten sieht, will er umkehren und sich in den nahe gelegenen Wald retten. Man läßt ihm keine Chance. Zwei Schüsse treffen ihn tödlich«, heißt es in einem Gedenkartikel von 2010.* Zu den Begleitern des Trupps gehörten auch mehrere Kriminalbeamte – einen Haftbefehl hatten sie nicht. Keiner von diesen Besuchern wurde je zur Rechenschaft gezogen. Tucholsky schrieb ein Gedicht über den Mord.

Damit waren die Kinder, wohl vier, Vollwaisen. Ihre Mutter, Ellen Paasche, war 1918 mit 29 der sogenannten Spanischen Grippe erlegen, falls es die war. Um 1910 hatte sie Paasche bei Forschungsreisen in der Gegend der Nilquellen begleitet. Wäre sie noch am Leben gewesen, hätte sie vielleicht Schießunterricht genommen. Wenn nicht zwecks Vergeltung, dann um ihre Kinder beschützen zu können.

* Helmut Donat, »Hans Paasche, Offizier, Pazifist«, Ossietzky
12/2010: https://archiv.ossietzky.net/12-2010&textfile=1050




Zu den (meist komischen) Paraderollen des Wiener und Berliner Sängers und Schauspielers Max Pallenberg (1877–1934), Star bei Max Reinhardt, zählten etwa der »Eingebildete Kranke« und der »Soldat Schwejk«. Am 26. Juni 1934 ging es weniger lustig zu. An diesem Tag soll der 56jährige Bühnenkünstler von Prag aus in Begleitung eines einheimischen Fabrikanten mit dem Piloten eines gemieteten Kleinflugzeuges zu einem Gastspiel in dem bekannten Kurort Karlsbad unterwegs gewesen sein, wo er schon früher geglänzt hatte. Kurz vor der Landung sei die Maschine auf dem Flugfeld wegen »Pilotenfehler« zu Bruch gegangen.* Offenbar kamen alle drei Insassen um. Im Brockhaus firmiert der Vorfall kurz und schmerzlos unter »(Flugzeugabsturz)«. Pallenbergs Gattin, die Operndiva Fritzi Massary, war nachweislich nicht dabei. Das jüdische Paar hatte seit einem Jahr im öster-reichischen oder schweizer Exil gelebt. Massary soll ein Haus bei Lugano besessen haben, wo sie die Unglücks-nachricht erfuhr. Sie ging bald darauf in die USA.

* Kay Weniger: »Es wird im Leben dir mehr genommen als gege-
ben ...«, Lexikon der aus Deutschland und Österreich emigrierten Filmschaffenden 1933 bis 1945
, Hamburg 2011, S. 386

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