Freitag, 16. August 2024
Risse im Brockhaus 31
ziegen, 14:25h
Sieh an, laut Brockhaus war auch der Geisteswissen-schaftler Srinivasa Ramanujan (1887–1920) »Autodidakt« – und nach 32 Jahren Lebenszeit gleichwohl weltberühmt. Das hält unsere Hoffnung wach. Der spätere Wahl-Brite hatte das Licht der Welt im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu und in einer verarmten Brahmanen-Familie erblickt. Sein Himmel ist die Mathematik. Zwar bewältigt er die Oberschule, gilt freilich nur im genannten Fach als »Wunderkind«. 1909 wird der gläubige Hindu in einem eher fragwürdigen Versuch, ihn von seiner Besessenheit zu heilen, mit der 10jährigen Janaki verheiratet, die anscheinend von seine Mutter für ihn ausgesucht worden ist. Gelegentliche Beiträge zur Problem-Mathematik in Zeitschriften beheben leider seine Geldnot nicht. Versuche, einen Collegeabschluß zu erringen, scheitern mehrmals an dem geringen Interesse, das er für alle anderen Fächer aufbringt, und wohl auch an seiner Armut.* 1912 ergattert Ramanujan (sprich »Rah-mah-nu-dschän«) einen Job in der Hafenverwaltung von Madras, der ihm außer festem Monatslohn Spielraum für seine Knobeleien gewährt. Daneben bemüht er sich um Kontakte in der weiten mathematischen Welt.
Nach einigen Abweisungen zieht er in Gestalt des britischen Professors Godefrey Harold Hardy (1877–1947), den aus den eingereichten Formeln sofort Ramanujans Genie anspringt, das vermeintlich große Los. Hardy holt ihn 1914 nach Cambridge und verschafft ihm ein Stipendium. Nun findet der indische Strohwitwer (der seine erst 15jährige Gattin lieber zu Hause ließ) einerseits rasch enorme Anerkennung in der Fachwelt, andererseits setzen dem strengen Vegetarier Ernährungsprobleme, das naßkalte Klima und Heimweh zu. An Tuberkulose erkrankt, ist auch die kriegsbedingte Mangellage nicht zu seiner Gesundung angetan. 1919, nach Kriegsende, leidend nach Indien zurückgekehrt, stirbt Ramanujan schon ein Jahr darauf mit 32 Jahren. Seine Witwe S. Janaki Ammal Ramanujan wird dagegen geschlagene 95 Jahre alt. Gemeinsame Kinder sind in meinen Quellen nicht erwähnt. Ramanujan, der nun große Sohn des indischen Kontinents, erscheint wiederholt auf Briefmarken. Er findet Eingang in diverse Kunst- oder Schundwerke. Seit 2011 gilt Ramanujans Geburtstag (22. Dezember) in Indien offiziell als Nationaler Tag der Mathematik. Alle paar Jahre geht die Meldung durch die Medien, der Mathematiker Soundso habe nun auch das von Ramanujan hinterlassene mathematische Problem XYZ überprüft und Ramanujans Lösung für stichhaltig befunden.
Möglicherweise begreifen Nicht-Fachidioten, wie man sie heute zuweilen schimpft, nicht ganz, was das indische Genie der Welt eigentlich geschenkt habe. Folgt man Ernst Horst (FAZ 1993), bereicherte er sie auf dem Gebiet der »reinen Mathematik, die nur des freien Laufs der Phantasie bedarf, um gewaltige Denkgebäude aus dem Nichts zu schaffen«, und die natürlicherweise, unter ihren Betreibern, »ganz spezifische Persönlichkeiten« hervorbringe. Welche, sagt Horst leider nicht.
Der heutige Freiburger Professor Stefan Kebekus, geboren 1970, bricht 1997 auf der Webseite seiner damaligen Universität in Bayreuth eine Lanze für die Mathematik im allgemeinen, ohne Ramanujan auch nur zu erwähnen: »Differential- und Integralrechnung wird an den Schulen gelehrt, weil sie Grundlage sämtlicher Natur- und Ingenieurwissenschaften ist und zum Verständnis vieler anderer Wissenschaften benötigt wird.« Wie sich versteht, zehren auch die Computer von Rechenkünsten. Mathematisch hoch aufgerüstet, steuern sie beispielsweise U-Bahn- oder Telefon-Netze, Kraftwerke und viele allermodernste medizinische Geräte, etwa der Computertomographie. Das ist ein bildgebendes Verfahren der Diagnostik, bei dem der mutmaßlich Kranke zwecks Bestrahlung in eine Röhre gesteckt wird, bei der man unwillkürlich an Genf denkt. All diese Errungenschaften besitzen nämlich ungefähr die Kragenweite der gleichfalls von Kebekus angeführten riesigen Teilchenbeschleuniger unserer spielfreudigen AtomphysikerInnen, vor allem hinsichtlich ihrer Heilkraft und ihrer gesellschaftlichen Unverzichtbarkeit. Vermutlich darf man sich den Hinweis, durch Jahrtausende hinweg hätten unsere Vorfahren Häuser, Brücken, ja sogar gotische Dome ohne Zurhilfenahme jeder höheren Mathematik gebaut, zumindest an den Universitäten von Bayreuth und Freiburg nicht erlauben. Man wird erbost zu hören bekommen, sie seien aber unfähig gewesen, Flugbahnen von Mondraketen oder auch nur von Drohnen-Geschossen zu berechnen.
Schwieriger sei freilich die »nicht-angewandte«, also jene »reine« Mathematik zu rechtfertigen, räumt Kebekus immerhin ein, beispielsweise die viele hundert Jahre lange Beschäftigung zahlreicher genialer Gehirne mit dem Problem der Quadratur des Kreises oder der Fermatschen Vermutung. Im Gegensatz zu Ramanujans Mentor Hardy, der noch meinte, für diese zahlentheoretischen Spielereien gäbe es keinerlei Anwendung, verweist Kebekus jedoch auf die Verschlüsselungen in der Nachrichtentechnik, die eben aus dieser Ecke gekommen seien. Eine frohe Botschaft also für unsere Geheimdienste: es ist nicht nur ein müßiges teures Spiel, das sie treiben. Forscher- und LehrerInnen wie Kebekus sprechen sich deshalb dafür aus, jene Unterscheidung zwischen reiner und angewandter Mathematik fallen zu lassen. Aber um Gotteswillen nicht die Mathematik selbst! Oder gar die Spionage.
Zu solchen »Mischlingen«, wie sie Kebekus im Auge hat, zählte wahrscheinlich auch schon ein berühmter deutscher Vorläufer und Leidensgenosse Ramanujans, der Göttinger Professor Bernhard Riemann (im selben Band 18), der 1866 bei einem vergeblichen Kuraufenthalt in Italien gleichfalls der Tuberkulose erlag. Riemann kam auf 39. Er soll sowohl wichtige Beiträge zur Zahlentheorie wie zur oben hervorgehobenen Differential- und Integralrechnung beigesteuert haben. Nach ihm sind zahlreiche mathematische Strukturen benannt, darunter auch eine Riemannsche Vermutung. Die soll die Verteilung von Primzahlen betreffen. Und sie gilt nach wie vor als unbewiesen – aber wichtig sei sie schon. Ein US-Institut habe deshalb für eine »schlüssige Lösung« des von Riemann aufgespürten Problems eine ganze Million Dollar als Belohnung ausgelobt, heißt es im Internet. Die wartet jetzt auf Sie. Heimsen Sie dann auch noch den Nobelpreis ein, sind Sie bereits um zwei Millionen reicher.
* J. J. O‘Connor / E. F. Robertson, https://mathshistory.st-andrews.ac.uk/Biographies/Ramanujan/, Juni 1998
Raphia ist der Name für eine tropische, ausgesprochen langblättrige Palmengattung. Anscheinend liefern einige Arten Fasern, aus denen Einheimische seit Jahrhunderten Seile oder Körbe, ja sogar kunstvolle Bastgewebe herzustellen pflegen. Dazu bildet Brockhaus ein mehrfarbiges Kissen ab. Die Hauptzeichnung im Kissenmuster stelle eine doppelköpfige Schlange dar, behauptet das Lexikon. Das könnte schon sein. Die grob stilisierte Schlange windet sich mit ihrem einen Ende nach links, mit dem anderen nach rechts. An beiden Enden sitzen Köpfe. Die weisen ziemlich große Augen und ungefähr armlange Zungen auf.
Somit kann diese Schlange auf zwei Zungen und vier Augen zurückgreifen, was ja möglicherweise in manchen Situationen durchaus vorteilhaft ist. Allerdings könnte jemand befürchten, dafür fehle ihr jeglicher sogenannter Darmausgang. Es sei denn, sie sei gewissermaßen ein unkrimineller Erbrecher. Damit wirft sich jedoch die grundsätzliche Frage auf, was eigentlich von unseren Vorstellungen zu halten sei, wie eine halbwegs günstige Existenzform auszusehen habe. Wie muß ein Lebewesen beschaffen sein? Es muß gar nicht. Bei uns sind die Pferde eben meistens vier-, die Menschen zweibeinig. Was andere Sternensysteme oder kosmische Winkel angeht, sollten wir lieber den Mund halten, weil es ja andere, uns unbekannte »Existenzformen« geben könnte, von denen uns weder eine Ahnung noch eine Vorstellung möglich ist. Von daher haben Sience-Fiction-Autoren natürlich schlechte Karten, wenn sie solche fremden Lebewesen erfinden möchten. Mag ihnen auch ein beinloses und nie von Hunger geplagtes Marsmännchen gelingen – ihre Leserschaft können sie mit dergleichen Abscheu- und Unverständlichkeiten nur in die Flucht schlagen.
Auch eine Liebesgeschichte etwa läßt sich schlecht schreiben, wenn ein Teil der in sie Verstrickten (es müssen ja keine Paare sein) gar nicht weiß, was Liebe ist. Für mich wäre das sogar die Rettung, weil mir Liebesgeschichten seit etlichen Jahren sowieso gehörig auf den Senkel gehen. Remarques Pariser Arzt Ravic etwa, den ich kürzlich in floristischen Belangen bemühte, beschimpft sich sogar wiederholt selber, weil er nun, mit der blonden Joan, schon wieder auf diese bereits milliardenmal aufgeführte Posse hereingefallen ist, von der man letztlich nur den berüchtigten Katzenjammer hat. Remarque schreckt also nicht davor zurück, die Angelegenheit noch einmal zu verdoppeln: erst wiederholen sich die Liebesgeschichten, und dann auch noch die Selbstbeschimpfungen.
Wer hätte noch nicht von dem »russischen Abenteurer« Grigori J. Rasputin (1869–1916) gehört? Oft wird er sogar zum russischen Dr. Mabuse aufgeblasen. Brockhaus beschreibt (und bewertet) sein Ende so: »Als seine Anmaßungen und Ausschweifungen sich zu einer Belastung für die Monarchie auswuchsen, wurde er von der Hofgesellschaft ermordet.« Nach einigen Internetquellen ist das aber ein gar zu dünner Aufguß der Tatsachen. Wahrscheinlich schwärzte man diesen vollbärtigen Ras-Putin schon damals nur zu gern als Sündenbock an. Er war sowieso von Natur aus schwarzhaarig. Der ansonsten hochgewachsene, vor allem durch seinen Blick dämonisch wirkende Wanderprediger und Geisterheiler mit der kräftigen Nase stammte aus einem sibirischen Bauerndorf. Dann stieg er bis in die St. Petersburger Hofkreise auf. Sogar die schwermütige Zarin (Alexandra) schenkte ihm und seinen Heilkünsten (kranke Zarensprößlinge) ihr Vertrauen. Dabei nahm er sich wohl letztlich (1916) zuviel heraus. Wer weiß, ob er nicht auch schon mit der Zarin hurte, und ob sie beide nicht ohnehin deutsche Spione waren, die das Reich dem Feinde auslieferten. Nach der Kunde von Rasputins früheren Wundertaten liefen nun die wildesten Gerüchte über seine Ausschweifungen und Verfehlungen in den Salons und Küchen der Hauptstadt um. Ende Dezember 1916 war das Faß zum Überlaufen reif. Rasputin hatte den Zaren (Nikolaus II.) auch vorm Krieg gewarnt, und in der Tat, die Niederlagen der russischen Truppen häuften sich.* Unter Federführung der beiden Fürsten Jussopow und Pawlowitsch und eines Duma-Abgeordneten wurde der knapp 48jährige Aufsteiger in eine Villa gelockt, offensichtlich mißhandelt und gedemütigt, schließlich erschossen und in die nahe, anscheinend eisfreie Kleine Newka geworfen. Eine Obduktion der geborgenen Leiche bestätigte die Mißhandlungen. Ermittlungen der Polizei wurden freilich im Keim erstickt. Die beiden Fürsten durften sich erst einmal aufs Land verdrücken, während Volksvertreter Purischkewitsch bei der nächsten Duma-Sitzung wie gewohnt, wenn auch augenzwinkernd, seine Orden blinken ließ. Bis die Bolschewiken kamen. Das war allerdings schon wenige Wochen nach dem Mord der Fall. Das prunkvolle Zarenreich wurde zertrümmert.
* Brigitte Vankann, https://www.deutschlandfunk.de/edward-radsinskij-die-geheimakte-rasputin-100.html, 25. Juni 2001
Die meisten Marksteine aus Leben und Werk des schwäbischen Malers Jörg Ratgeb scheinen zu wackeln, man gibt sie in der Regel nur ohne Gewähr. Brockhaus entschied sich für: geboren um 1480, gestorben in Pforzheim 1526. Die Berliner Kunsthistorikerin Uta Baier behauptet jedoch*, selbst Ratgebs stets hervorgehobenes grausames Ende auf dem Pforzheimer Marktplatz um 1525 sei nicht zweifelsfrei erwiesen. Dafür zieht Brockhaus aber eine maßgeschreinerte Schublade für Ratgebs Kunstschaffen aus dem Ärmel: Er habe »die realistische Malerei der Spätgotik zu einem expressiven Frühmanierismus« gesteigert.
Der vielbeschäftigte Kirchen- und Klostermaler, streckenweise Betreiber von Meisterwerkstätten, war mit einiger Sicherheit in Schwäbisch Gmünd geboren worden und aufgewachsen. Ein erster, wohl prägender Zusammenprall mit der volksfeindlichen Obrigkeit soll ihm um 1510 in Heilbronn widerfahren sein, wo er ohne Bürgerrecht zu schaffen hatte, weil er sich vergeblich darum bemühte, seine Ehefrau oder Geliebte, eine Leibeigene des württembergischen Herzogs Ulrich, von diesem freizukaufen. Entsprechende Bittgesuche weist Ulrich ab. Die Angelegenheit erledigt sich dann insofern von selbst, weil Ratgebs Gefährtin anscheinend früh unter die Erde kommt. Im Lichte dieses Vorfalls könnte es merkwürdig anmuten, wenn Ratgeb später im Bunde mit eben diesem Fürsten auf Seiten der Bauern gegen die kaiserliche Besatzungsmacht kämpfte. Aber Ulrich, 1519 verbannt, schlug sich gewiß nur deshalb auf die Seite der aufständischen »Rotten«, um den Habsburgern (unter Kaiser Karl V.) sein Fürstentum wieder abzujagen. Dieser Kampf geht verloren. Der Herzog kehrt erst 1534 siegreich zurück, worauf er flugs die für ihn einträgliche sogenannte Reformation einführt. Das merkte ich bereits in Folge 19 beim gemeuchelten Stallmeister Hans von Hutten an.
Seit 1522 erneut in Stuttgart bezeugt, finden wir Ratgeb im April 1525 als Mitglied des gewählten dortigen revolutionären Stadtrates wieder. Beauftragt, mit den aufständischen Bauern zu verhandeln, schlägt er sich prompt auf deren Seite und wird nun zum Kriegsrat und Kanzler des Bauernführers Matern Feuerbacher ernannt. Doch wie schon gesagt, nach wenigen Wochen scheitert die Erhebung. Der flüchtende Maler und »Rädelsführer« Ratgeb wird in Pforzheim festgenommen und ebendort zum Tode durch Vierteilen verurteilt. Die Begründung ist nicht gerade originell: »Hochverrat«.
Bei der Hinrichtungsart Vierteilen, selbst im rauhen Mittelalter eher selten vorgenommen, wurde der Deliquent von der Henkersmannschaft an den vier Gliedmaßen gepackt oder kreuzförmig zwischen Pferde oder Ochsen gespannt und so zerrissen. In gnädigen Fällen hatte man ihn vorher schon getötet. In anderen war der Henker im Gegenteil darauf bedacht, ihn im Laufe der vorausgehenden Peinigung tunlichst bei Bewußtsein zu halten, damit er auch die Vierteilung noch genießen könne. Möglicherweise hatte Ratgeb zu Lebzeiten von seinem niederländischen Kollegen Dierick Bouts gehört. Der führte um 1470 eine Vierteilung durch berittene Pferde auf seinem Gemälde Martyrium des Heiligen Hippolyt vor. Dieser Kollege muß Nerven wie Drahtseile gehabt haben.
* Uta Baier, »Jerg Ratgeb. Vom Kirchenmaler zum Bauernkrieger«, Arsprototo Nr. 3/2012
Die seit 1922 bestehende Monatszeitschrift Reader‘s Digest, gegründet von einem findigen Ehepaar Wallace im Staat New York, dürfte zu den wirksamsten Langstreckenraketen gehören, die die Yankees jemals erfunden haben. Heute erscheint sie in mindestens 20 Sprachen. Gesamtauflage, je nach Quelle, 10 bis 17 Millionen. Das ursprüngliche Konzept bestand darin, nachgedruckte, teils umgeschriebene Artikel nebst Buchauszügen zu bringen. Natürlich nahm man nicht alles. Die Beiträge mußten christlichen, patriotischen, kulturoptimistischen und vor allem antikommunistischen Geist atmen. Eine deutsche Ausgabe erschien erstmals 1948 unter dem Titel Das Beste aus Reader’s Digest. Auch meine Großeltern hatten sie selbstverständlich abonniert. Sie machte in Heinrichs verglastem Bücherschrank viel mehr her als das Wochenblatt Christ und Welt, weil sie eben im Format von schmalen Büchern gedruckt wurde.
Fast könnte man glauben, 1963 sei die Langstreckenrakete mitten in Tokio eingeschlagen. Dort hatte der Architekt Antonin Raymond um 1950 einen langestreckten, zweigeschossigen Neubau mit flachem Hinterhofgebäude für das japanische Reader’s Digest errichtet. Die tragenden Betonpfeiler sollen eine leichte Neigung nach außen gezeigt haben. Es stürzte aber anscheinend nicht ein; vielmehr wurde es laut englischer Wikipedia schon 1963 aus mir unbekannten Gründen abgerissen und durch ein neungeschossiges Büro- und Pressegebäude ersetzt. Raymonds Werk hatte sogar Preise errungen. Vielleicht war es einfach dem Ehrgeiz und dem Geldbedarf seines Fachkollegen Shōji Hayashi im Wege.
Später beglückte Raymond Japan auch noch mit einer in der großen Hafenstadt Nagoya errichteten Kirche, die an eine wenig windschnittige Ausgabe jener Handbimmel erinnert, wie sie zu meiner Knabenzeit die Schrott- und Lumpensammler betätigten. Das war jedoch sicherlich sowohl im Sinne des Ehepaars Wallace (Christentum), wie es Raymonds eigener Langlebigkeit förderlich gewesen sein könnte. Er starb mit 88.
Brockhaus kennt lediglich einen deutschen Schriftsteller Reding. Der erfolgreiche belgische Gewichtheber Serge Reding (1941–75) hat den Sprung ins Universallexikon also nicht geschafft. Vielleicht war er zu kleinwüchsig und zu dick. Wie zumindest jeder Sportjournalist weiß, wog Reding, bei einer Körpergröße von 1 Meter 72 und einer Schuhgröße von 43, »in seinen besten Zeiten« um 140 Kilogramm. Viel mehr als diese Zeiten erlebte der Fleischberg aus den belgischen Ardennen auch nicht, starb er doch schon mit 33 in einem asiatischen Hotel.
Reding hatte sich erst mit 17 in Brüssel für »Gymnastik« erwärmt. Bis dahin war er gern durch die Wälder gelaufen. Im Februar 1959 nimmt der noch nicht 18jährige, 90 Kilo schwere Junge das systematische Training im Gewichtheben auf. 10 Jahre darauf hebt er seinen ersten Weltrekord. Erstaunlicherweise ist »Amateur« Reding, nach dem Militärdienst, ab 1964 in der Belgischen Nationalbücherei als Bibliothekar tätig, weshalb er schwerlich als tumber Bergbauernbub verunglimpft werden kann. Nach Redings »Hobbys« befragt, gibt Nationaltrainer André Dupont 1972 »Lesen« und »Kino« an. Als Sportler sammelt Reding Medaillen bei Meisterschaften und Olympischen Spielen (Silber in Mexiko City 1968) und bricht wiederholt Weltrekorde. In München 1972 geht er leider leer aus. Der tödliche Anschlag auf Israels Olympiamannschaft, dem auch mehrere Gewichtheber zum Opfer fielen, habe ihn derart aus dem Gleichgewicht gebracht, daß er anderntags im »Drücken« drei Fehlversuche hatte, ist öfter zu lesen. Tommy Kono dagegen, damals Cheftrainer der deutschen Heber, führt dieses Mißlingen auf eine Handgelenk-verletzung Redings zurück, die er sich beim Aufwärmen zugezogen habe. Zuvor sei der Belgier, in München, in bester Form gewesen. Aber Reding habe in seiner ganzen Laufbahn ohnehin zuviel Pech gehabt. Wie auch immer, das Gold ging wieder einmal an Redings »Angstgegner« Wassili Alexejew aus der UdSSR, den der Belgier im unmittelbaren Vergleich nie schlagen konnte. Auch Redings erste Ehe mit einer jungen Polin, Ewa Cernewska, scheitert.
Bei der Weltmeisterschaft von 1974 in Manila erringt »The Big Belgian« erneut Silber und verliebt sich zudem in eine junge philippinische Kellnerin, Yvonne S., die er in den folgenden Monaten öfter besucht. Bei diesen Aktivitäten »überhebt« sich der Verzückte, wenn wir der Boulevardpresse aus dem Juni 1975 trauen wollen. »Zweitstärkster Mann der Welt stirbt nach Liebesnacht«. Quellen zufolge, die sich seriöser geben, hat der 33jährige Koloß mit dem Stiernacken in seinem Hotel in Manila einen Herzinfarkt erlitten – mehr nicht. Man glaubt es gern, weil Reding um des lieben Muskelaufbau willens vermutlich im Laufe der Jahre einige Pfund Anabolika zu sich genommen hatte, wie unterschiedliche Quellen argwöhnen. Laut Spiegel (20/1988) kann solches Doping sogar zu »tiefer Depression« führen – in welcher just Reding »Selbstmord begangen« habe. Wieder andere Quellen hegen aufgrund der undurchsichtigen Umstände Raub- und Mordverdächte. Trainer Dupont zum Beispiel versichert, Reding habe ein gesundes Herz gehabt. Zu einer Gegen-Autopsie in Belgien sei es befremdlicherweise nicht gekommen. Dupont scheint zu glauben, der leichtgläubige Schwergewichtler sei von jenem Mädchen, das ihm den Kopf verdrehte, als eine Art Türöffner nach Europa, vielleicht auch als Geldquelle mißbraucht worden. Drei Millionen Franken (70.000 Euro?) seien verschwunden. Verstehe ich richtig*, hatte Reding vor, in einem Hotel ein Restaurant zu eröffnen, vielleicht im Verein mit seiner neuen Flamme. Und dann starb er in einem Hotel.
Zu den Anhängern der Selbstmord-Version hatte der Spiegel bereits 1977 gezählt.** Als Grund führte er auch damals »Depression« beziehungsweise »Angst« ins Feld. Trainer Dupont habe einmal erzählt, vor wichtigen Wettkämpfen habe Reding »wie eine Silberpappel gezittert«. Nur erzählt uns der Spiegel seinerseits so wenig wie sonstwer im Internet, wie sich Big Belgian denn umgebracht habe. Nebenbei scheint das Schicksal seiner neuen Braut ähnlich im Dunkeln zu liegen. Knöpfte die Polizei sich diese Zeugin vor? Tauchte sie spurlos unter? War sie damals beispielsweise 25, war sie genau von meinem Jahrgang. Sie könnte also noch leben und sich nach dem Muster vieler Virenphobisten hinter einer Gesichtsmaske verbergen, sobald sie einen Supermarkt oder ein Verlagsgebäude betritt … Letzteres, um ihre Memoiren zu verkaufen.
* Philippe Hereng / Rudolf Marton in der belgischen Tageszeitung Le Soir, 28. Juni 1995: http://www.lesoir.be/archive/recup/la-mort-de-reding-reste-inexpliquee-il-y-a-20-ans-deced_t-19950628-Z09Q0D.html
** Spiegel 28/1977, siehe ca. Mitte: https://www.spiegel.de/sport/angst-vor-dem-sieg-a-a2c8dcef-0002-0001-0000-000040830734
Den Reemtsma-Konzern konnte Brockhaus schlecht übergehen, weil es 1992 einfach noch zuviele Raucher-Innen auf der Welt gab. Das fiel mit der Ethnologin Katrin Reemtsma (1958–97) schon leichter, war sie damals doch noch nicht ermordet worden.
Ich vermute, sie hatte ein gleichermaßen fettes wie schweres Erbe. Möglicherweise trug es auch zu ihrem schrecklichen Ende bei. Geboren 1958 in Lüneburg, stammte Katrin Reemtsma just aus dem bekannten Industriellenclan, der zu Anfang des Jahrhunderts entscheidend von dem tatkräftigen Erfurter Kolonialwarenhändler und Zigarrenmacher Bernhard Reemtsma beflügelt worden war. Nach Karl Heinz Roth* kam dessen Firma schon in den »Goldenen« 1920er Jahren dank dem Siegeszug der Zigarette und geradezu mafioser Unternehmens-Strukturen (mit Hehlerei, Betrug, Bestechung und Meineid) zu großem Reichtum. Und wie erst rauchten die Schornsteine und Soldaten im sogenannten Dritten Reich! Sohn Philipp F. Reemtsma investierte in Nazi-Organisationen mindestens 35 Millionen Mark. Sein Bruder Alwin brachte es bis zum SS-Standartenführer. Erbe Jan Philipp Reemtsma, der 1996 als Opfer einer spektakulären Entführung in die Schlagzeilen geriet, hatte seine Geschäftsanteile bereits 1980 verkauft und einige Jahre später das Hamburger Institut für Sozialforschung gegründet. Es machte sich unter anderem durch vieldiskutierte Wehrmachtsaus-stellungen verdient. Katrin Reemtsma war eine Nichte dieses Sozialforschers, Germanisten und Mäzens.
Schon als junge Studentin der Ethnologie und Volkskunde hatte sich Reemtsma für unterdrückte Minderheiten eingesetzt. 1978 nahm sie in den USA am ungewöhnlichen »Longest Walk« des American Indian Movement (vom Pazifik zum Atlantik) teil. Ab 1983 war sie hauptberuflich Referentin für Sinti und Roma der Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen. 1987 nach Berlin gegangen, beschränkte sie sich auf ehrenamtliche Mitarbeit und verfaßte ansonsten freiberuflich Gutachten für Gerichte oder das Europäische Parlament sowie zahlreiche Artikel für die Verbandszeitschrift Pogrom, außerdem mehrere Sachbücher. Zu Beginn der 1990er Jahre traf sie den serbischen Roma Asmet S., einen Flüchtling aus Jugoslawien. Daraus ergab sich eine Lebensgemeinschaft mit zwei Kindern, die 1997 fünf und drei Jahre alt waren. Unter Verwandten und Kollegen galt das Liebes- und Familienleben als ungestört, wenn nicht gar harmonisch. Selbst nach der Bluttat wollten sich keine überzeugenden Anhaltspunkte für den jähen Riß im Gefüge finden. Reemtsma, inzwischen 38 Jahre alt, war am Mittag des 9. Juni 1997 mit einem Küchenmesser erstochen worden – von ihrem gleichaltrigen Lebensgefährten in der gemeinsamen Wohnung in Berlin-Friedenau.
Immerhin waren die beiden Kinder nicht zugegen. Der angeblich angetrunkene Täter ließ sich widerstandslos festnehmen. Die ErmittlerInnen zogen einen Streit um seine finanzielle Abhängigkeit von seiner Frau in Betracht. Allein zwischen Mai 1996 und Februar 1997 soll diese ihm rund 200.000 D-Mark überwiesen haben. Über den Verbleib des Geldes wollte sich Asmet S., in der Presse als großer, schlanker Mann mit buschigem Schnauzbart beschrieben, in den Verhören oder vor Gericht nicht äußern. Ansonsten werteten die BeobachterInnen seine Aussagen als »wirr«. Er habe von Untreue seiner Gefährtin, aber auch von Telepathie und Elektrizität und davon gesprochen, Katrin lebe ja noch. Auf der anderen Seite kam ein gerichtlich bestellter Gutachter zu dem Ergebnis, bei dem Angeklagten liege weder ein wahnhafter Zustand noch eine akute psychische Störung vor. Vielleicht war er »nur« in seinem männlichen Stolz verletzt – eine weltweite Erscheinung, gerade wie Rauchen oder Eifersucht, zu deren Erklärung es keiner Völkerkunde bedarf. Schließlich war Asmet, wie es aussieht, von seiner Gefährtin mehr oder weniger ausgehalten worden, das kann trotz der Annehmlichkeit demütigend sein.
Es gab auch Mutmaßungen, seine Lebensgefährtin habe in jüngster Zeit mit Trennung gedroht, da er sich zu sehr gehen lasse, die Kinder vernachlässige und dergleichen mehr. Doch dazu wollte er anscheinend ebenfalls nichts sagen. Bei den Plädoyers habe er seinen Blick gelangweilt durch den Saal schweifen lassen, schreibt die taz.** Nach den mir zugänglichen Quellen bleibt der Fall undurch-sichtig. Im Oktober 1997 wurde Asmet S. wegen Totschlags zu 12 Jahren Haft verurteilt.
* Karla Koriander, »Blauer Dunst, braune Politik«, Ossietzky 12/2007
** Jens Rübsam, »Ein Urteil, viele Fragezeichen«, taz 1. November 1997
Vom prominenten deutschen Erzähler Erich Maria Remarque (1898–1970) stellt Brockhaus zunächst seinen »Welterfolg« Im Westen nichts Neues heraus, erschienen 1929. Der Antikriegsroman wurde bislang in mindestens 50 Sprachen übersetzt. Mein Lieblingsbuch von dem Villenbesitzer im schweizer Tessin heißt jedoch Die Nacht von Lissabon. Ich sage das, obwohl mir die titelgebende Nacht (des Jahres 1942) entschieden zu lang vorkommt. Aber dazu später.
Dieser Roman von 1962 spielt also im Zweiten Weltkrieg. Im Kern geht es darin um die abenteuerliche und anrührende Rettung einer Ehe, die andernfalls im Mittelmaß versunken wäre. Ein deutscher, antifaschistisch gestimmter Flüchtling in Paris hat einige Zeit vor besagter Nacht den Paß eines verstorbenen Österreichers ergattert, dazu etwas Geld und ein paar wertvolle Zeichnungen. Nun heißt er Josef Schwarz. Plötzlich ergreift den Mittvierziger die verrückte Idee, mit Hilfe dieser Ausstattung den umgekehrten Weg anzutreten, nämlich nach Osnabrück, also ins faschistische Deutschland und damit in die Höhle des Löwen. Dort ließ er vor Jahren seine Gattin Helen zurück. Man spürt, er hängt noch an ihr; die Trennung ist unbewältigt. Er redet sich ein, es gehe lediglich um einen Besuch. In der Tat gelingt ihm die gefahrvolle Einreise. Das Paar findet gleichsam über nacht zu neuer Nähe. Als Schwarz seine Rückreise vorbereitet, eröffnet ihm Helen, sie werde ihn begleiten. Sie will dem »Dritten Reich« die Treue aufkündigen, obwohl ihr Bruder Georg bereits »Obersturmbannführer« ist, Georg Jürgens. Eben dieser Nazi setzt dem Paar in der Folge hartnäckig zu. Nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen gelingt es ihm sogar, seine abtrünnige Schwester und den ihm verhaßten Schwager in Marsaille aufzuspüren. Schwarz wird gequält und gedemütigt, kann Jürgens jedoch auf einer Autofahrt mit Hilfe einer Rasierklinge töten. Das Paar nutzt die schicke Nazi-Limousine gleich zur Weiterfahrt nach Lissabon. Schwarz hofft auf Ausreise nach den USA und die dazu erforderlichen Visa. Inzwischen erhärten sich freilich wiederholte Andeutungen, wonach Helen schwer erkrankt ist. Offenbar wird sie unaufhaltsam von Krebsgeschwüren zerfressen. Sie droht zu verfaulen und übel zu »riechen«. Während Schwarz nach den Visa jagt, bringt sie sich deshalb, auch Josef zuliebe, in einer Lissaboner Absteige rechtzeitig um. Schwarz ist natürlich erschüttert. Er erwägt den Gang in die Fremdenlegion, um die Nazis vielleicht in Afrika oder sonstwo zu bekämpfen. Soweit die eigentliche Geschichte.
Um nicht als »Illegaler« aufzufliegen oder auch nur zwecks Beruhigung der Nerven hatte sich so mancher Flüchtling gern im Pariser Louvre aufgehalten, bei den berühmten Gemälden und Skulpturen. Papiere waren in der damaligen Barbarei der »malenden Tierrasse« alles. Ohne korrekte Papiere galt der Mensch keinen Pfifferling. Jetzt, auf der sommerlichen Flucht vor Wehrmacht und Gestapo, finden Josef und Helen am ehsten Zuflucht in der Natur. Sie verlangte weder Paß noch Arierausweis. »Sie gab und nahm, aber sie war unpersönlich, und das war wie eine Medizin.« (S. 202) Eine Zeitlang kann sich das Paar in einer verlassenen Waldvilla verstecken. Neben gut verkorkten Weinflaschen findet Helen alte Kleider, Masken und Kerzen und regt eine gespenstische Kostümparty an, die mit Gelächter endet. Auch dazu bedarf es keiner Personalpapiere. Im Grunde ringen die beiden den äußerst widrigen Umständen, trotz verschiedener Gefängnis- oder Lageraufenthalte und Helens tödlicher Krankheit, einen Sieg ab. In Osnabrück dagegen hätten sie, mit Helens Worten, jede Wette nur ein »mittelmäßiges, langweiliges« Leben geführt, die jährliche »Urlaubsreise« eingeschlossen. Deshalb bereuen sie ihren Ausbruch nicht (220).
Remarque erzählt die Geschichte durchaus fesselnd, anschaulich und, für mein Empfinden, auch unsentimental. Die oben angedeutete, mich verärgende Streckung geht überwiegend aufs Konto der zeittypischen »Rahmenhandlung«. Das war damals modern. Remarque mußte unbedingt einen gleichfalls auf die Ausreise hoffenden Ich-Erzähler bemühen, dem Schwarz, nach Helens Begräbnis, die ganze Geschichte im Laufe der Nacht in diversen Lissaboner Kneipen häppchenweise unterbreitet. Diese Konstruktion ist völlig überflüssig, da der konturlose Ich-Erzähler bis zum Ende weniger als ein Abklatsch von Schwarz bleibt. Es genügt, wenn er zwei Ohren hat und ab und zu bestätigend nickt. Zu Spannung oder Erkenntnis trägt die »Rahmenhandlung« nicht das Geringste bei, im Gegenteil: sie sorgt für die lähmende Länge. Selbst vor wiederholten banalen Streiflichtern aus Lissabons Nachtleben schreckt Remarque nicht zurück, um seine Geschichte tüchtig zu strecken. Triftigere Aussagen, die er hier und dort in das Kneipengespräch einflicht, etwa über Verfolgung und Vergänglichkeit, hätte er ohne Zweifel genausogut beziehungsweise besser in Schwarzens Geschichte einbauen können. Aber dann wäre der Roman »zu einfach« ausgefallen – und eben zu kurz. Der Verleger nimmt dem Romancier die Geschichte nur ab, wenn er sie vielfach »gebrochen«, also durch Streuung von Splitterhäufchen und Ameisenstraßen hinreichend aufgeblasen hat. Meine Bertelsmann-Lesering-Ausgabe (o. J.) hat rund 280, nicht sehr eng bedruckte Seiten. Als Lektor hätte ich daraus vielleicht 180 gemacht.
In der Tat wollte ich es Anfang 2023 wissen. Gerade unschlüssig, welches Schreibprojekt ich aus meinem Eisschrank ziehen sollte, warf ich mich jäh auf Remarques Roman. Ich benötigte keine drei Wochen, um das Werk auf rund 100 Manuskriptseiten zu stutzen. Die »Rahmenhand-lung« flog selbstverständlich hinaus. Ferner berichtigte ich etliche kleinere stilistische und dramaturgische Mängel. Zurück blieb ein, wie ich glaube, temporeicher, enorm spannender Text, der Remarques heutige Erben womöglich in wutschnaubende Stiere verwandeln würde, falls sie ihn zu Gesicht bekämen. Die Nagelprobe darauf könnte ich aber frühstens im Jahr 2040 machen, soweit ich das Urheberrecht kenne (70 Jahre Schutz ab Tod des Autors). Möglicherweise lebe ich dann gar nicht mehr. Das wäre Pech – aber meinen Spaß mit der »Verhunzung« habe ich jedenfalls gehabt.
Remarque starb schon mit 72, angeblich an dem gern bemühten gummihaften »Herzversagen«. Da hatten ihm also die ganzen kostbaren Maßanzüge, Teppiche und Gemälde in seiner Villa nichts mehr genützt. Nach verschiedenen Internetquellen muß er ausgesprochen eitel gewesen sein. Manche denken sich das freilich schon, wenn sie in den Vorspannen der Artikel lesen, von Hause aus hätte der Künstler »eigentlich« Erich Paul Remark gehießen. Ja Mensch – wer will denn schon ein Buch von einem kaufen, der »Paul Rückenmark« oder so ähnlich heißt! Also hat er sich Erich Maria Remarque genannt. Und später wahrscheinlich eine gewisse Marlene Dietrich, der er nachlief, wegen ihres unmöglichen Namens ausgelacht.
Übrigens erschien Die Nacht von Lissabon, auf Lizenz, auch in der DDR. Bloggerin Claudia Meerbach aus Dresden behauptet allerdings, in der Aufbau-TB-Ausgabe habe man damals am Schluß zwei Sätze über russische Emigranten gestrichen; abtrünnige SowjetbürgerInnen durften nicht sein.* Trifft ihre Behauptung zu, wäre es eine betrübliche Fälschung von vielen betrüblichen Fälschungen, die sich Kommunisten schon herausnahmen. Alles im Dienst der Weltrevolution.
* https://ueberdenkastanien.wordpress.com/2016/04/05/erich-maria-remarque-die-nacht-von-lissabon/
Brockhaus deutet wieder einmal Kontinuität an: der Evolutionsbiologe und Zoologe Bernhard Rensch (1900–90) sei von 1937–55 in Münster »auch« Direktor des dort sitzenden westfälischen Naturkundemuseums gewesen. Sonst ein arbeitssamer Forscher. Sechs Zeilen.
Nach Klee und verschiedenen Internetquellen war Rensch zwar nie Parteimitglied, aber immerhin in mehreren anderen NS-Organisationen zahlend oder aktiv. Auch scheint er in der Frage, wie Rassen entstehen, eine bei den Faschisten nicht mehr »durchsetzungsfähige« Ansicht vertreten zu haben.* Gleichwohl ist kaum daran zu rütteln, daß er »Mitläufer«, sprich Nutznießer des faschistischen Regimes war. Unter einigen Fotos sehen wir den kahlköpfigen Zoologen mit dem unumgänglichen Schimpansen im Arm. Der war braun, und Rensch verstand es, ihn zu streicheln. Als neuer Chef des westfälischen Landesmuseums zum Beispiel (1937) konnte er zufällig Hermann Reichling ersetzen, der den Affen scheints zu wenig gestreichelt hatte. Die Nazis hatten ihn bald nach 1933 aus dem Amt entfernt. Als sich Reichling später im Wirtshaus abfällig über sie äußerte, lernte er sogar für drei Monate ein KZ von innen kennen, Esterwegen.
1937 habilitierte sich Rensch an der Münsteraner Universität; darauf Dozent. 1944 erklomm er, nach zwei Jahren Fronteinsatz als Soldat, einen zoologischen Lehrstuhl an der Prager Universität. Mit dem Kriegsende kehrte er nach Münster zurück, um sich pflegen oder »entlasten« zu lassen, wie ich annehme. Ab 1947 war er demokratischer Zoologie-Professor an der Münsteraner Universität. Emeritiert 1968. Dann erfreute er sich eines ausgedehnten Ruhestands. Klee behauptet, noch 1970 habe sich Rensch in einem Buch (Homo sapiens) beiläufig als Befürworter der Eugenik (Erbgesundheitslehre) gezeigt, Zwangssterilisation eingeschlossen. Rensch hatte jedenfalls Widerstandskraft geerbt: er starb in Münster mit 90.
* Anne Cottebrune 2003 auf https://library.fes.de/e-afsrez/80587.htm, zu Rensch siehe unten Thomas Potthast
Die deutsche Grammatik hat tausend Pferdefüße. Der Pferdefuß stellt zum Beispiel eine Zusammensetzung (ein Kompositum) dar. Dieser Weg ist im Deutschen nicht nur erlaubt, sondern sogar beliebt. Oft verhilft er zu genauen, mindestens jedoch verknappenden Bezeichnungen. Eine gewisse Hauptregel für solche Wortbildungen scheint es immerhin zu geben. Das Grundwort ist meist Zweitglied. Es sagt, um welche Sache es sich handelt. Das Bestimmungswort dagegen (Erstglied) beschreibt diese Sache näher. Folglich handelt es sich bei meinem Auftaktwort 1. um Füße, 2. um die Füße von Pferden.
Aber in manchen Fällen nützt einem die Hauptregel wenig. Beim französischen Filmregisseur Alain Resnais, geboren 1922, könnten Sie beispielsweise schon ins Schleudern kommen. Brockhaus verkündet, er habe »als Dokumentarfilmer mit Kunstfilmen« begonnen, etwa über Van Gogh und Gauguin. Demnach machte der Mann 1. Filme, 2. aus Kunst. Sie tippen sich vielleicht an die Stirn? Dann verraten Sie mir doch einmal, ob Kunsthonig ein Honig über Kunst sei. Denn das wäre die Analogie, und die soll ja in Zweifelsfällen oft weiterhelfen. Er ist es natürlich nicht. Er ist ein Honig aus Kunst, also etwa aus Weizenstreu, Pattex-Kleber und Mäusekot.
Eigentlich hätte ich gedacht, zu Resnais‘ Zeiten seien Filme stets aus Kunst gewesen, also etwa aus Zelluloid. Aber so meint es Brockhaus natürlich nicht. Er meint Filme über Kunst oder KünstlerInnen. Entsprechend wäre er verpflichtet, »Ersatzkaffee« als einen Kaffee über Ersatzstoffe zu bestimmen – doch dieses schöne Kompositum sucht man in Band 6 vergeblich.
In Hederichs Zierenberger Stadtgeschichte führte der Zusammensetzungswahn (1962) zu folgender Bildunterschrift: »Kirchturmblick«. Das ist, für mein Empfinden, schlechtes, unklares Deutsch. Zeigt die Abbildung den Turm der evangelischen Stadtkirche oder blicken wir vom Turm aus auf die Stadt? Hederichs Rettung ist freilich die Abbildung, die den Turm zeigt. Besser, man hätte »Blick auf den Stadtkirchturm von der X-Gasse aus« unter sie geschrieben, denn ein Straßenschild ist nicht im Bild.
Somit scheint der Teufel bei dieser grammatischen Frage im Detail zu stecken. Und warum sagen wir nicht: in der Einzelheit? Weil wir es nicht mehr gewohnt sind. Es klingt unbeholfen, weil uns viele tausend Fremdworte längst eingehämmert worden sind. Brockhaus etwa erklärt uns gleich nach Resnais, Resonanz, aus dem Lateinischen und Französischen geborgt, bedeute im Deutschen: Widerhall, Wirkung, Anklang. Wer aber würde diese schönen Worte heute noch verwenden?
Die deutsche Sprache verarmt. Dafür dürfen wir sie aber durch ganz geile Komposita aufblasen, etwa Aftershavelotion.
Für Brockhaus war der Bildende Künstler Alfred Rethel (1816–59), um 1853 »seelisch erkrankt«, eine überragende Begabung. Berühmt ist vor allem seine Holzschnittfolge Auch ein Totentanz (1849), aus der das Lexikon Blatt 6 »Der Tod als Triumphator« abdruckt. Alle sechs Blätter der Serie zeigt und erläutert Andreas Mertin in einem Magazinbeitrag.*
Der Sohn eines rheinländischen Gutsbesitzers galt schon früh als zeichnerisches »Wunderkind«. Nach seinem Kunststudium in Düsseldorf und Frankfurt/Main findet er als Freskenmaler, dann mit jenen Grafiken zum Totentanz Beachtung. Ein frühes gemaltes Selbstporträt läßt einen empfindsamen, fast weiblich wirkenden Jüngling in Rethel vermuten. Anzeichen von geistiger Umnachtung sollen sich bereits bei seiner 1847 in Angriff genommenen Arbeit an den Karlsfresken im Krönungssaal des Aachener Rathauses gezeigt haben. Eine Heirat im Jahr 1851 rettet ihn nicht. Zwei Jahre darauf landet er, familiär geleitet, in einer Bonner Irrenanstalt, wo angeblich unheilbare Gehirnschädigung festgestellt wird. Darauf nehmen ihn Geschwister im Düsseldorfer Haus seiner Mutter in Obhut. Er wird nur 43.
Ob Rethel eher reaktionär oder eher revolutionär gestimmt war, ist offenbar umstritten. Jedenfalls scheint er Grausamkeit und Drohgebärden verabscheut zu haben. Dagegen liegt seine patriotische Ader auf der Hand. Wahrscheinlich war er gemäßigter Demokrat. Brockhaus hebt allerdings seine Neigung zum Monumentalen und Mythologischen hervor. Insofern hätte er vielleicht das Zeug zu einem Wanderprediger, etwa einer sanftmütigen Ausgabe des Rasputin gehabt. Aber dann wäre er ermordet worden.
* Andreas Mertin, »Der Totentanz von Alfred Rethel, https://www.theomag.de/101/am540.htm, 2016
Die aus Nordfriesland stammende Lebenskünstlerin und Autorin Franziska (Fanny) Gräfin zu Reventlow (1871–1918) endet, laut viereinhalb Brockhaus-Zeilen, in Muralto bei Locarno. Ja, wie kommt sie denn dahin ..? Aufgewachsen im Schloß von Husum an der Nordsee, wo ihr Vater Landrat war, kämpfte die braunhaarige, wohlgestaltete und lebenslustige »Fanny« eine Jugend lang gegen das häusliche autoritäre und engstirnige Klima an. Auch die Mutter war ein Schreckgespenst. Mittels einer Ausbildung zur Lehrerin und einer Heirat hangelt sich Reventlow südwärts, zunächst nach München, das um 1900 ein ausgeprägtes schräges Künstler- und Philosophenmilieu zu bieten hat. Hier wird sie zur gefragten Geliebten und zu einer geflügelten Gestalt. Die sogenannten Kosmiker um Wolfskehl, Schuler und Klages sehen das Ideal der griechischen Hetäre in ihr. Vom (feministischen) Aufstand der »Blaustrümpfe« hält sie nicht viel: »Wir sind dazu da, es gut zu haben und uns nicht beklagen zu müssen.«
Meistens hat sie es eher schlecht. Zum Beispiel mißlingt es ihr, vielleicht aus Mangel an Begabung, sich einer frühen Leidenschaft gemäß als Malerin durchzusetzen. Dafür erntet sie Achtungserfolge mit satirischen Artikeln oder Erzählungen, die allerdings wenig Geld abwerfen. Auf der Flucht vor Pfändungen wechselt sie ihre Wohnungen wie ihre Hemden. So ernährt sie sich über Jahre hinweg ziemlich mühsam und nervenaufreibend mit abenteuerlichen Gelegenheitsarbeiten, darunter auch Edel-Prostitution, und als Übersetzerin französischer Literatur für den Münchener Verlag Albert Langen. Sie nimmt ihre ständige Geldnot mit Humor – gleichwohl zehrt diese an ihr. Zudem bleibt sie auf Dauer von zwei Fehlgeburten angeschlagen, die sie 1894 und 1904 erleidet. Dazwischen, 1897, bringt sie Sohn Rolf zur Welt, dessen Vater sie konsequent verheimlicht. Sie selber geht im Lauf der Jahre und Jahrzehnte in zahlreiche Memoiren ein, darunter die Unpolitischen Erinnerungen von Erich Mühsam. 1914 zählt »die Gräfin« zu den wenigen deutschen Künstlern, die der allgemeinen, patriotischen Kriegsbegeisterung nicht auf den Leim gehen. Als Rolf, 1916 an die französische Front eingezogen, nach wenigen Monaten desertiert, ist sie noch stolzer auf ihren Sprößling. Sie lebt inzwischen, seit 1910, unter anderen freisinnigen oder verrückten Menschen in Ascona bei Locarno (am Lago Maggiore). Hier zieht sie sich im Sommer 1918 vor allem innere Verletzungen zu, als sie von ihrem Fahrrad stürzt. Die näheren Umstände sind auch von Biografin Ulla Egbringhoff nicht zu erfahren.* Reventlow wird ins Krankenhaus von Locarno gebracht und dort operiert. Bei diesem Eingriff – bei dem man eine »Darmverschlingung« festgestellt habe – sei die 47jährige »an Herzversagen« gestorben.
Rolf Reventlow stirbt 1981 in München mit 83 Jahren. Er war überzeugter Antifaschist. Er führte ein wechselvolles Leben, darunter in Spanien (Republik) und Algerien, betätigte sich aber hauptsächlich als Journalist und Gewerkschafts- oder Parteisekretär. Er gehörte seit ungefähr 1953 der Münchener SPD an, bei deren »Säuberung« von zu links gearteten Genossen er kräftig geholfen haben soll. Andererseits soll er (1959) gegen das marktwirtschaftliche und verteidigungsfrohe Godesberger Programm gestimmt haben. Aus seiner zweiten Ehe mit Else Reimann (1939 wieder geschieden) hat er eine Tochter, Beatrice, geboren 1926. Ob ihn die eigene »Vaterlosigkeit« berührte, streift Sabine Kneib merkwürdigerweise mit keinem Wort.** Seine Autobiografie Kaleidoskop des Lebens soll in München als unveröffentlichtes Typoskript liegen.
* Ulla Egbringhoff, Franziska zu Reventlow, Reinbek bei Hamburg 2000
** Sabine Kneib, »Else und Rolf Reventlow – zwei politisch engagierte Journalisten«, Friedrich-Ebert-Stiftung, http://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/newsletter/newsletter/NL%202005/NL%2002%202005/html022005/kneib.html, o.J.
Der mexikanische Geiger, Komponist und Dirigent Silvestre Revueltas (1899–1940) dürfte hierzulande noch unbekannter als beispielsweise Marc Blitzstein sein. Ich wurde vor Jahren nur deshalb auf ihn aufmerksam, weil er mir in den vorzüglichen Erinnerungen des Schriftstellers Gustav Regler begegnete.* Regler war vorübergehend kommunistischer Politkommissar gewesen, nämlich im Spanienkrieg bei den berüchtigten Internationalen Brigaden. Wir befinden uns jetzt im faschistisch bedrängten Madrid des Herbstes 1936. In einem Saal des Hauses der Kultur, »einem charmanten Palast eines abwesenden Granden«, der neuerdings von Milizen und Arbeitern wimmelt, erklimmt ein kleiner, nicht nur stämmiger, vielmehr »wuchtiger« Mann das Podium. Er baut sich vor dem auf ihn wartenden Orchester auf und hebt seinen dünnen Taktstock. Es handelt sich um den Gast und Unterstützer aus Mexiko Silvestre Revueltas, wie Regler von einer Genossin erklärt worden ist, und er wird jetzt ein eigenes Stück dirigieren. Wie bestellt, explodiert in der Nähe des Kulturpalastes eine Bombe, als der Taktstock über Revueltas schwebt. Niemand springt auf, und auch der Dirigent scheint durch den Zufall noch an Entschlossenheit und Grimmigkeit zu gewinnen. »Die Musik war wie eine Kaskade von Kristallkugeln, dann noch härter: wie erkaltende Lava, wenn sie in scharfen Platten klirrend zusammensinkt; sie war wie ein Wetterleuchten an Hochspannungsdrähten entlang, dann wehten mexikanische Lieder hinein, um plötzlich abgelöst zu werden von fordernden Fortissimi, Sturmglocken gleich und Schreien, die lange in Kehlen festgesessen hatten. / Ich war erschrocken vor soviel Wildheit …«
Gleichwohl seien die Zuhörer, kaum da die Wildheit verklungen war, nach vorn gestürzt, um dem untersetzten Dicken, dem vermutlich ein paar schwarze Haarsträhnen auf der verschwitzten Stirn klebten, die Hände zu schütteln und eine Wiederholung des besonders »leidenschaft-lichen« Schlußsatzes der »Symphonie« zu erzwingen, versichert Regler. Den Titel des Stückes nennt er nicht. Möglicherweise hatte es sich um Sensemayá gehandelt, siehe unten. Aber für ordentlich geschulte Kommunistenohren hätte wahrscheinlich jedes Werk des Mexikaners eine Anstrengung, wenn nicht Zumutung dargestellt. Heute ist das alles salonfähig, so wie damals schon Weill oder Blitzstein. Aber heute ist Revueltas nicht nur tot, sondern auch weitgehend vergessen. Zum Zeitpunkt jener sicherlich ungewöhnlichen Aufführung im umkämpften Madrid hatte der Komponist nur noch vier Jahre zu leben, was natürlich keiner ahnte. Regler kommt im folgenden nicht mehr auf Revueltas zurück, obwohl er später selber noch, erzwungenermaßen, als Exilant nach Mexiko ging. Dort traf er freilich, über die USA, erst im Laufe des Jahres 1940 ein: Revueltas‘ Todesjahr. Der knapp 41jährige Musiker erlag Anfang Oktober in Mexiko City verschiedenen Krankheiten, zu denen vermutlich, neben Alkoholismus, auch die Gefühle der Verlassenheit und der Vergeblichkeit zählten.
Erstaunlicherweise wird der Musiker aus dem fernen Mexiko im Brockhaus mit immerhin gut 10 Zeilen bedacht. Revueltas war ein Geigenwunderkind, ab Fünf oder Acht, je nach Quelle. Er stammte aus einer kinderreichen, den Künsten ergebenen Kaufmannsfamilie, studierte teilweise in den USA, erwärmte sich für Volk, Sozialismus, Revolution und war wohl von 1929–36, unter Carlos Chávez, stellvertretender Leiter des mexikanischen Sinfonischen Orchesters. Dann begab oder stürzte er sich offensichtlich in den revolutionären Spanienkrieg. Kaum war er eingetroffen, überfiel ihn die Nachricht von der Ermordung des einheimischen Schriftstellers und Musikers Federico Garcia Lorca, worauf er, im Spätsommer 1936, unverzüglich eine Homenaje an diesen schuf. Für Herbers, Schruff und andere Fachleute zählt dieses Stück zu Revueltas‘ besten Werken. 1938, als sich die Niederlage der zerstrittenen und von Paris bis Moskau verratenen RepublikanerInnen abzeichnete, nach Mexiko zurückgekehrt, hatte sich der Komponist, wie es aussieht, hauptsächlich als Musiklehrer und Schöpfer von Filmmusik über Wasser zu halten. Viele seiner Werke blieben auf Jahrzehnte hin unveröffentlicht und entsprechend unbekannt, weil es im damaligen »revolutionären« Mexiko keine Musikverlage gab. Revueltas verfiel, wohl in Mexiko City, zunehmend der Enttäuschung, der Vereinsamung und dem Alkohol. Diesem soll er allerdings bereits als junger Student in den Staaten, um 1920, gehuldigt haben. Damals starb auch sein Vater, der offenbar mehr Schulden als Vermögen hinterließ. Damit setzten Revueltas wahrscheinlich auch noch wiederholte Geldnöte zu.
Der Berliner Musikjournalist Christian Schruff spricht sogar, mit anderen, von einer »großen Armut« des Komponisten.** Das macht sich gewiß immer gut, vor allem im Falle Mozarts, bedeutet aber wenig, wenn man die Relationen nicht kennt. Laut Brockhaus war Revueltas Professor für Violine am Staatskonservatorium in Mexiko City gewesen, wenn auch nicht gesagt wird, von wann bis wann. Gewiß könnte er auch als gut besoldeter Spanienheimkehrer stets knapp bei Kasse gewesen sein, weil die Alkoholika und Barbesuche eben recht kostspielig sind. Zudem dürfte Revueltas unter deftigen Unterhaltspflichten gestöhnt haben, soll er doch zweimal verheiratet und Vater mehrerer Kinder gewesen sein. Aber wen, wenn nicht ihn selber, sollte man für diese angeborene oder erst später erworbene Trink- und Beischlaffreudigkeit verantwortlich und haftbar machen? Den Papst? »Die mexikanische Revolution«?
Auch was Revueltas‘ Ableben angeht, wird nicht mit schmunzel- oder mitleidsträchtigem Kolorit gespart. So warten etliche Quellen mit der plakativen Geschichte auf, nach einer Art Sauf- und Siegesfeier wegen des Erfolges des Films La Noche de los Mayas, zu dem Revueltas die Musik beigesteuert hatte, sei er nicht mehr auf die Beine gekommen. Da war der in der Tat sehr erfolgreiche Film allerdings schon seit rund einem Jahr in den Kinos. Schruff zufolge ist diese Geschichte von Revueltas‘ Ende eine Ente. Die genannte Filmmusik hält er für Revueltas‘ »originellste« Arbeit. Wie der Komponist nun tatsächlich (1940) das Zeitliche segnete, verrät auch Schruff nicht. Er spricht nur von einer »regnerischen« Oktobernacht. Andere Quellen erwähnen eine Lungenentzündung. Da läßt sich natürlich gut vorstellen, wie der Komponist beim Nach-Hause-Wanken in regnerischer Nacht wegen zu leichter Bekleidung zum Kotzen auch noch ins Husten verfällt.
Schruff nimmt an, nach dem Triumph des Faschismus in Spanien habe sich auch Revueltas besiegt gefühlt und deshalb seine Zuflucht verstärkt in Sarkasmus und Alkohol gesucht. Mit dieser, für den »Musikstunden«-Hörer vereinfachten Feststellung ist freilich noch lange nicht gesagt, warum sich der kurzhälsige, dicke Mann gebrochen wähnte. Jede neue Niederlage fällt schließlich auf einen bestimmten Boden, den vielleicht schon etliche frühere Niederlagen und vielleicht auch die ganz frühen Anlagen, zum Beispiel zu Kurzhälsigkeit oder Schwermut, brüchig gemacht haben. Auch in Revueltas‘ Fall sind die entsprechenden Schilderungen oder Angaben so gut wie nicht vorhanden oder jedenfalls nicht erreichbar. Wie seine diversen Familienleben aussahen, weiß oder erwähnt kein Mensch. Jedenfalls scheint er, bei seiner Zeugungsfreude, nicht schwul gewesen zu sein, woran ich zunächst gedacht hatte. Somit war er mit Aaron Copland, der sich für ihn einsetzte, »nur« kollegial befreundet. Vielleicht hatte er ja überhaupt keine Freunde, weil sein Charakter, ob unverträglich, schwierig, weinerlich, dafür nicht geschaffen war. Aber eben von diesem Charakter erfährt man wenig – nimmt man Revueltas‘ auffallend widersprüchliches Schaffen einmal aus.
Das schon erwähnte Orchesterstück Sensemayá zum Beispiel, vor Revueltas‘ Abreise nach Spanien aufgrund eines Gedichts des Kubaners Nicolás Guillén entstanden, weht mit Grusel verbreitender Feierlichkeit durch den Saal. Da zieht wohl fast jeder unwillkürlich seinen Kopf ein. Jenes Gedicht soll den Titel tragen: »Lied um eine Schlange zu töten«. Möglicherweise hieß die Schlange Das Weiße Haus. Ich selber ziehe entschieden das kurze, umwerfend komische Konzertstück El renacuajo paseador (Die wandernde Kaulquappe) vor, ursprünglich 1933 für ein Puppentheaterstück geschrieben. Die Kaulquappe unternimmt die Wanderung mit einer neuen Freundin, der Maus. Sie gehen etwas trinken und amüsieren sich. Einer Katze können sie noch entkommen, doch dann landet die gut aufgelegte Kaulquappe im Schnabel einer hungrigen Ente. Tragisch, tragisch, würde der typische Wikipedianer sagen, aber in Revueltas‘ Musik behält ein winziges, ausgelassenes Tänzchen das letzte Wort. Vielleicht veranstaltet es die gesättigte Ente im Verein mit der schadenfrohen Maus.
Recht bedacht, stelle ich mir Revueltas am ehesten als Walroß vor – ein Walroß, das jederzeit dafür gut ist, ein Klümpchen durchgekauter Kokablätter oder eben eine ausgesprochen quirlige Kaulquappe auszuspucken. Ein CD-Book behauptet***, ein Jahr vor seinem Tod habe Revueltas bekannt, er sei ein alter Tagträumer, trommele am liebsten auf einer zerbeulten Waschbütte herum und gebe sich dabei seinen Phantasien von fernen Ländern und großartiger Musik hin. »Schon als Kind verlor ich mich lieber in Träumen als etwas Nützliches zu tun.«
* Gustav Regler, Das Ohr des Malchus, Köln 1958, S. 376
** Christian Schruff, SWR2, 2010: Musikstunde 1 und Musikstunde 2
*** Ebony Band Amsterdam, Homenaje a Revueltas, Channel Classics 2004
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