Montag, 15. Juli 2024
Risse im Brockhaus 27

Beim Schriftsteller Börries Freiherr von Münch-hausen (1874–1945), auch Jurist, Soldat und Gutsherr, speist uns Brockhaus wieder mit eingeklammertem Selbstmord ab. Die Nazifreundlichkeit des Freiherrn fällt völlig unter den Tisch. Von dieser war der Selbstmord übrigens nicht unbeleckt. Man beachte das Todesjahr.

Börries saß auf dem Schloß und Rittergut Windischleuba bei Altenburg im östlichen Thüringen. Da er von Hause aus nicht am Hungertuch nagte, konnte er sich unbekümmert der Literatur, insbesondere der Ballade widmen. Er verdiente freilich gar nicht so schlecht an seinen Veröffentlichungen und Lesungen, weil er es nicht versäumte, die Feldzüge des Ersten Weltkrieges teils zu Pferd, vor allem aber mit anfeuernden Versen zu begleiten, und nach dem schmählichen Zusammenbruch 1918 rechtzeitig den Faschisten in den Arsch zu kriechen. 1933 schwor er Hitler öffentlich Gefolgschaftstreue; 1944 reihte ihn Goebbels auf der berühmten Liste unter die Gottbegnadeten (KünstlerInnen) des »Dritten Reiches« ein. Ein Foto in einem 2013 erschienenen Buch* seiner weitläufigen Verwandten Jutta Ditfurth zeigt den durchaus hübschen, noch jungen Dichterprinzen um 1900 mit dem damals unerläßlichen hochgezwirbelten Schnauzbart. Den trug er mit Anfang 60 nicht mehr, wie spätere Abbildungen belegen, dafür Stirnglatze. Ditfurth berichtet:

>Münchhausen war auch auf den Lippoldsberger Dichtertagen von 1936 ein Star. Dabei handelte es sich um eine Mischung aus Volksfest und elitärem Dichtertreffen auf Hans Grimms (Autor von Volk ohne Raum) großem Gut [bei Bad Karlshafen an der Weser]. Münchhausen und Grimm kannten sich seit ihrer Arbeit bei der Militärstelle des Auswärtigen Amtes im Ersten Weltkrieg. Unter den Zuhörern waren Wehrmachtsangehörige, SA-Leute und Hitlerjugend – bis zu 4.000 Menschen nahmen teil. Münchhausen las aus seiner Ballade »Totspieler«. Hermann Claudius beschreibt Münchhausen als »den König«, der »mit seinem achtsitzigen Maybach unter intensivem Hupen in den Klosterhof« brauste, »die Hornschutzbrille« zurückschob, »im weißen Staubmantel elastisch dem Wagen« entstieg und »mit unnachahmlich charmanter Geste seiner Rechten den Kreis der Freunde« begrüßte.<

Knapp 10 Jahre später hatte der Baron die Nase voll. Er hatte 24 Ausgebombte im Schloß, die ihm auf dem Kopf herumtanzten und einen elendigen Anblick boten, und vor seiner Tür standen die Niederlage und die Alliierten. Am 16. März 1945 nahm der knapp 71jährige einen kräftigen Schluck Schlaftabletten. Sein Sekretär habe dies als Gehirnschlag getarnt, die Familie habe von Herzversagen gesprochen, schreibt Ditfurth. Sie selber nennt es so: »Die Ratte verließ das sinkende Schiff, auf dem sie so wohl genährt worden war.« Das Tierchen kann sich jedoch trösten: in Altenburg und Göttingen besitzt es, laut Internet bis zur Stunde, das »Ehrenbürgerrecht«.

* Jutta Ditfurth: Der Baron, die Juden und die Nazis, Hamburg 2013, bes. S. 121, 276/77, 294–98



Den Namen der einstigen Kopfjäger Mundurukú vom Amazonas müssen Sie auf dem vierten u betonen, behauptet Brockhaus. Tun wir ihm also den Gefallen. Nach Wikipedia dürfen Sie aber auch die »Eigenbezeichnung Wuyjuyu oder Weidyénye« verwenden. Ein Leckerbissen für ErforscherInnen des Clandenkens, soll es doch bedeuten »Die Unseren«. Die anderen sind also unsere GegnerInnen. Jenen Vier-u-Namen sollen ihnen Nachbarn verliehen haben. Er bedeutet »Rote Ameisen«, was auf die Angewohnheit der Mundurukús anspielte, stets als ganzes Heer anzugreifen. Sie setzten somit mehr auf die Masse als auf die Heimtücke. Daß ihre Pfeile vergiftet waren, wußte man ja sowieso im ganzen Amazonasbecken. Die Weißen hatten allerdings Stöcke, die Feuer und Bleikugeln spieen. Die Mundurukús wußten sich trotzdem zu helfen. Um 1800 von den Portugiesen unterworfen, halfen sie diesen prompt, die anderen, also die nächsten brasilianischen Indianerstämme zu jagen. Dabei fielen offenbar für beide Bundesgenossen preisgünstige Sklaven ab. So gingen die Mundurukús nebenbei zu Ackerbau, Viehzucht und Handel über. Darin sind ihnen die Weißen aber wahrscheinlich ebenfalls überlegen. Die Weißen holzen den Regenwald ab, schürfen nach Gold und stauen riesige Seen zwecks Stromerzeugung auf. Apropo. Den Gesamtsieg trägt hier der berühmte nordamerikanische Strom Mississippi davon. Er hat vier i‘s, zwei s-Zwillinge und ein p-Pärchen. Das einzige Normale an diesem Namen ist das Eingangs-M. Das kommt wahrscheinlich, wie so vieles, von Mama oder Mummy.



Für Brockhaus war der Nordfriese Jens Mungard (1885–1940) »Dichter«. Neben Prosa und Bühnenstücken habe er in seiner sylter-friesischen Mundart eine vielseitige Lyrik geschaffen, darunter Balladen. Allerdings scheint er ungefähr das Gegenteil des Freiherrn Börries gewesen zu sein, denn als Mungards Todesort gibt das Lexikon in seinem 7-Zeilen-Eintrag das KZ Sachsenhausen an. Von daher dürfte sich ein Blick ins Internet empfehlen.

Mungards Kinderstube war vielleicht schon der Anfang vom Ende. Während er seine Mutter früh verlor, tyrannisiert ihn der Vater, ein Schiffer, Landwirt und Sprachforscher, so lang es nur geht. Zwar übernimmt der Sohn, inzwischen verheiratet, 1910 den großen väterlichen Hof in Keitum, Sylt, doch der Schiffbruch läßt nicht lange auf sich warten. Der friesischen Kultur und dem Schreiben zugetan, hat Mungard offensichtlich weder das Zeug zum Unternehmer noch zum Ehemann. Zur Krönung fällt der Hof 1921 einem anscheinend nie aufgeklärten Brand zum Opfer. 1933 wird das Ehepaar geschieden. Obwohl anfangs von den Nazis begeistert, eckt Mungard doch zunehmend an. Seine erste »Schutzhaft« hat er 1935. Ein späteres Schreibverbot mißachtet er – so wird er 1939 ein letztes Mal verhaftet und ins KZ gesteckt. Dort soll er ein Jahr darauf, 55 Jahre alt, den Folgen seines Aufbegehrens erlegen sein.

Was den Hofbrand angeht, liegt es nahe, eine Sanierungsmaßnahme von Mungard selber zu argwöhnen, also einen Versicherungsbetrug. Spricht der Eider-Kurier von einer »Brandstiftung«, könnte es schließlich auch der Hofeigentümer gewesen sein.* Dem steht jedoch der Hinweis entgegen, die Brandversicherung habe aufgrund der damaligen Inflation nur »wertloses Geld« herausgerückt. Das hätte sicherlich auch Mungard absehen können. Vor allem aber kann man sich diesen gebeutelten Hoferben und ins Friesische verliebten Patrioten nur schlecht als kaltblütigen Mann vorstellen, der stets seinen Vorteil sucht. Dem Faschismus gegenüber hat er das jedenfalls nicht getan. Das bestätigen auch einige Ehrungen, die Mungard in jüngerer Zeit erfuhr.**

* https://www.eider-kurier.de/artikel/nordfriesland/jens-mungard-ein-widerstaendiges-leben-1593.html, 29. August 2016
** https://gemeinde-sylt.de/stolperstein-jens-emil-mungard/, 18. Februar 2020




Wer Männer davor warnen möchte, ihre Augen vor allem auf knusprige Knaben zu werfen, sollte unbedingt vom schlechten Beispiel des Bielefelder Tuchfabrikantensohnes Friedrich Wilhelm Murnau (1888–1931) sprechen. Das tut Brockhaus leider nur sehr begrenzt. Der schwule Provinzler hatte sich in Berlin zum Schauspieler und bald auch berühmten Stummfilmregisseur gemausert, wobei er bereits mit seinen ersten Arbeiten aufhorchen ließ, etwa Nosferatu (1922) und Der letzte Mann (1924). Ab 1926 wirkte Murnau in Hollywood, USA, und von dort aus auch auf der Pazifikinsel Tahiti, wo er den Film Tabu drehte, dessen Premiere für den 18. März 1931 angesetzt war. Diese erlebte Murnau aber nicht mehr. Und wer war schuld?

Wenn nicht Murnau selber, dann sein angeblich erst 14 Jahre alter »Butler«, wie sich einige Quellen verschämt ausdrücken. Butler Eliazar Garcia Stevenson, mal als Polynesier, mal als Filipino, auf der Webseite der Bielefelder Murnau-Gesellschaft sogar als Luft* ausgegeben, begleitete den Filmkünstler am 11. März auf der Küstenstraße von Los Angeles aus zu einer Besprechung in Monterey. Trauen wir dem Spiegel am meisten**, ließ Murnau seinen (Liebes-)Diener in der Nähe von Santa Barbara »erstmals« ans Steuer seines »hired Packard touring car«, wie die englischsprachige Wikipedia ergänzt. Prompt stieß der blutjunge Fahrschüler, möglicherweise von Hause aus eher mit Fischerbooten vertraut, gegen einen Lastwagen oder einen Strommasten und stürzte anschließend, jedenfalls laut Spiegel, eine Böschung hinunter. In der Wikipedia gab es nur einen Zusammenprall mit der Böschung, worauf sich der Mietwagen überschlagen habe. Bei diesem Unfall soll lediglich Murnau ums Leben gekommen sein. Der 42jährige erlag noch am selben Tag in einem nahen Krankenhaus seinen Verletzungen und wurde bald darauf in Berlin-Stahnsdorf begraben.

Die Liste der Literatur über Murnaus Filmschaffen und sein Leben ist wahrscheinlich länger als ein erigierter Elefantenpenis. Dagegen ist das Schicksal von Murnaus »Schützling« aus der Südsee anscheinend niemandem mehr als ein Komma wert. Broll hält es noch nicht einmal für nötig zu erwähnen, daß der Boy bei dem Unfall mit leichten Verletzungen davonkam. Anders der SWR2. Hier wird sogar ein mitgemieteter, gleichfalls überlebender Chauffeur erwähnt, den Murnau angeblich seinem Boy zuliebe auf den Rücksitz verbannt hatte.*** Jedenfalls hätte der Junge am Lenkrad auch gestorben sein können: Broll hätte es nicht gemerkt. Geht es gar um die Herkunft und die Zukunft des Boys, seine Gewissensqualen vielleicht eingeschlossen, herrscht internetweit Tote Hose. Wikipedia gibt aber immerhin Lebensdaten an: 1900–85. Demnach war der Fahrschüler bereits über 30 gewesen! Übrigens könnte auch noch ein Vierter in dem gemieteten Auto gesessen haben, ein Schäferhund nämlich, der gleichfalls mit dem Leben davonkam. Alter, Geschlecht und Aufgabenbereich werden nicht genannt. Vielleicht hat ihn Murnaus Nachlaßverwaltung gleich verkauft, um wenigstens den Autovermieter befriedigen zu können.

So oder so bleibt der Eindruck, Murnaus grobe Fahrlässig-keit habe sich im Licht der Nachweltscheinwerfer in nichts aufgelöst.

* https://murnaugesellschaft.de/leben-und-werk/biografie/, Stand 2024
** Simon Broll, »Verfluchtes Genie«, https://www.spiegel.de/einestages/125-geburtstag-von-regisseur-friedrich-wilhelm-murnau-a-951346.html, 20. Dezember 2013
*** Julia Haungs, https://www.swr.de/swrkultur/film-und-serie/swr2-zeitwort-20240311-friedrich-murnau-stirbt-bei-einem-autounfall-100.html, 11. März 2024




Laut Brockhaus war Robert Daniel Murphy, gestorben 1978, ein friedliebender US-Diplomat. Naja, wer‘s glaubt. Da der Beamte aber nachweislich nie in Mittelamerika tätig war, können wir ihn ohnehin vergessen. Dort hatte das Land Guatemala 1993 eine neue US-Botschafterin bekommen, Marylin McAfee, geboren 1940. Während diese Diplomatin Menschenrechte und Gerechtigkeit hochhielt, steckte die dortige CIA lieber mit »dem mörderischen guatemaltekischen Geheimdienst« unter der Decke, lese ich bei Tim Weiner (CIA, S. 597). Die einheimischen Spione setzten nun Gerüchte in Umlauf, McAfee hätte eine Affäre mit ihrer Sekretärin, einer Dame namens Carol Murphy. Die Schnüffler hatten nämlich McAfees Schlafzimmer verwanzt und an Murphy gerichtete zärtliche Bemerkungen mitgeschnitten. Diese Informationen nahm die CIA gern entgegen. Bald darauf (1994) kursierte »das Murphy-Memo« im Weißen Haus und in Zeitungshäusern der USA. McAfee war natürlich entsetzt. Sie kam aus konservativer Familie, war verheiratet und trieb es keineswegs mit ihrer Sekretärin. Vielmehr besaß sie einen zwei Jahre alten schwarzen Pudel, der zufällig ebenfalls Murphy hieß. Die Wanze hatte aufgezeichnet, wie sie ihn tätschelte und lobte. Und der Geheimdienst ihres Arbeitgebers, der US-Regierung, hatte die eigene Botschafterin kaltblütig verleumdet.

Weiners Darstellung wird von der englischen Wikipedia bestätigt. Danach überstand McAfee die Anwürfe, bis sie ihren Posten 1996 aufgab. Im Jahr darauf sei sie zur »Career Ministerin« beförderte worden, was auch ihre Bezüge steigen ließ. Zur Stunde scheint sie noch zu leben. Möglicherweise im Gegensatz zu ihrem Pudel. Andernfalls wäre Murphy jetzt schon über 30, für einen Haushund enorm.



Der Nähmaschine widmet Brockhaus (mit Abbildungen) anderthalb Spalten. Um 1850 auf den Markt gekommen, wanderte die Nähmaschine vorzüglich in die neuen städtischen Schneiderwerkstätten und Konfektions-fabriken, die bald wie Pilze aus dem Boden sprossen. Das steht bei Mottek. Selbst so mancher Bauer vom Dorf habe sich damals verleiten lassen, seine Kleider nicht mehr eigenhändig zu nähen: er kaufte sie. Zeit ist Geld. Wünschte er seine Fenstervorhänge zu erneuern oder zu ändern, gab er sie weg: in eine Schneiderwerkstatt, die eben schon eine Nähmaschine besaß. Allerdings mußte er das Geld erst einmal verdienen. Just dazu benötigte er eben mehr Zeit.

Als die Nähmaschinen, dank der »Rationalisierung«, preiswerter wurden, zogen sie hier und dort auch in die Haushalte des Kleinen Mannes ein. Meine Großmutter, eine Lehrersgattin, besaß eine Singer, die am oberen Schwungrad angeworfen und mit dem Fußtrittbrett in Gang gehalten werden mußte. Helene säumte ihre Gardinen sozusagen eigenhändig und eigenfüßig. Die Beliebtheit der Nähmaschine in DDR-Haushalten streifte ich in Folge 16 unter Gugelot.

Laut Brockhaus war das erste Haushaltsgerät, das elektrifiziert wurde, die Nähmaschine. Wie sich versteht, liefen auch die Nähmaschinen, die ich als Polsterer zu benutzen hatte, mit Strom. Aber ich haßte sie. Der Vorschub klemmte, die Nadel brach, die Fadenspule verwandelte sich in Sekunden in einen Dschungel, in dem Tarzan vor lauter Lianen steckengeblieben und erdrosselt worden wäre. Zum Glück hatte mein letzter Chef, ein vielbegabter Raumausstatter, eine eigene Nähstube mit zwei Kolleginnen, die mir mehrmals wöchentlich aus der Patsche halfen.

Ich nähte immer am liebsten mit der Hand. Das muß der Polsterer ja an seinem Werkstück ohnehin oft tun. Hat meine Hose heute einen fußlangen Riß, schließe ich auch diesen, notfalls durch Aufsetzen eines Flicken, mit der Hand. Das geht natürlich nicht in Windeseile. Aber wenn ich eins im Überfluß habe, dann Zeit.



Die Nashornviper, eine »bunte Puffotter«, hat lediglich drei Zeilen. Sie selber werde bis 1,3 Meter lang. Sie lebe im tropischen Afrika. Hornähnlich gereckte Schuppen auf der Nasenspitze gereichen ihr nicht gerade zur Zierde. Keine Verunglimpfung bitte: sie hat auch Giftzähne!

Immerhin schmückt Brockhaus den knappen Eintrag mit einer farbigen Zeichnung. Das kühne Muster der Schlange muß jeden Popart-Dekorateur entzücken, doch in den Farben wirkt die Zeichnung eher blaß. Vielleicht kommt es auf die Farben auch gar nicht besonders an, weil die Nashornviper »weitgehend« nachts unterwegs sei oder auf der Lauer liege, wie ich dem Internet entnehme. Dort sind die Farben auch nicht umwerfender. Nachts sind alle Vipern grau.

Man bedenkt nicht immer, daß Tiere selbst am Tage von einem prächtigen Kleid wenig haben. In der Höhle des Löwen hängt kein Spiegel, und die Löwin ist zu schlecht erzogen, um ihrem Gefährten mal zu versichern, der neue Anzug stehe ihm wirklich wunderbar.



Da Brockhaus bekanntlich auf Bischöfen steht, hält er es auch für unnötig uns zu erklären, wie ein winziges Städtchen bei Heilbronn zu einem derart aufgeplusterten Namen kam: Neckarbischofsheim. Es hat inzwischen 4.200 EinwohnerInnen. Das Stadtwappen präsentiert in der Tat einen stabtragenden Kirchenboß. Das könnte freilich auch einer beflissenen Anpassung an den Ortsnamen entsprungen sein.

Laut Internet erfreute sich das Städtchen um 1000 der ersten urkundlichen Erwähnung: Damals schob König Otto III. das Fischerei- und Jagdrecht in Biscovesheim dem Bischof von Worms unter die Kutte. Es hieß also bereits so. Das Stadtrecht wurde dem Ort erst um 1450 verliehen. Und der Zusatz »Neckar« erfolgte gar erst um 1800, weil es im neuen Großherzogtum Baden drei Siedlungen namens Bischofsheim gab. Aber schlimmer noch, scheint es in Süddeutschland überhaupt jede Menge Bischofsheime zu geben. Zum Beispiel gibt es auch eins in der Rhön. Ferner stoße ich auf Bischofsheim (Mainspitze), das zwischen Mainz und Rüsselsheim liegt. Eine Webseite erklärt dazu: >Kein Bischof, sondern die Lage an einer Mainbiegung gab Bischofsheim seinen Namen (bieschen = biegen). Die erste urkundliche Erwähnung findet sich im 11. Jahrhundert als »Bissescheim circa menum« (Bissescheim in der Nähe des Mains).<

Das ist allerdings ernüchternd. Möglicherweise hatten all diese mittelalterlichen Bischofsheime gar nichts mit Bischofssitzen, sondern eher mit Maulfaulheit und Eitelkeit zu tun. Man verschliff den Namen im Laufe der Zeit, und als er beim »Bischof« angekommen war, krönte man sich nur zu gern mit dem entsprechenden würdevollen Wappen. Wahrscheinlich haben es die Heimatforscher und Namenskundler gar nicht so leicht.

Tatsächlich finde ich eine andere landeskundliche Webseite, die meine Vermutung zumindest im Falle Neckarbischofheims bestätigt. >Das Wappen wird seit 1898 geführt. Es symbolisiert den Ortsnamen (bis 1806 nur Bischofsheim) und geht zurück auf das älteste bekannte Gerichtssiegel von 1766, das einen Bischof mit Krummstab, begleitet von tulpenartigen Arabesken, zeigt.< Na sehen Sie: das macht doch etwas her, wenn auch die Tulpen inzwischen, wohl 1950, geopfert worden sind.



Der zumindest zeitweise hochgelobte tschechische Bratscher, Pianist, Komponist und Dirigent Oskar Nedbal (1874–1930) war ein äußerst dankbarer Gegenstand für zahlreiche zeitgenössische Karikaturisten: ein Koloß auf Streichholzbeinen, jedoch mit wehender, langer Nase – und Musik im Blut, was auch viele ZeichnerInnen zu zeigen verstehen. Dieser Koloß fiel mit 56: »Selbstmord«, wie Brockhaus meint. Die Gründe dürfen wir erwürfeln. Jedenfalls ist es bei dieser Gestalt vielleich kein Wunder, wenn sich Nedbal vornehmlich der »leichten Musik« verschrieb, so sein anscheinend wichigster, vielleicht auch einziger Biograf.* Mit der sozialpsychologischen Kragenweite leichter Musik hält sich Buchner allerdings nicht nennenswert auf. Er verehrt seinen Gegenstand und nimmt ihn wacker in Schutz.

Nedbal stammte aus einer kinderreichen musikalischen Familie in Tabor. Die Stadt liegt zwischen Prag und Budweis. Am Prager Konservatorium studierte Nedbal natürlich auch. Zu seinen Lehrern zählte Dvořák. Bald darauf prägte Bratschist Nedbal ein Streichquartett, übernahm verschiedene angesehene Dirigentenposten und versuchte sich auch erfolgreich als Komponist. Seine vielaufgeführte, weltberühmte Operette Polenblut** soll Nedbal eine Zeitlang fast allein über Wasser gehalten haben. Gleichwohl brach ihm schließlich unter anderem die Geldnot das Genick. Beschützer Buchner kommt freilich nie auf die Idee, der reise- und speiselustige Stardirigent hätte sich vielleicht einmal von einem anarchistisch gestimmten Musikkritiker in Fragen des gehobenen Lebensstils beraten lassen können. Der Kritiker hätte wohl abgeraten.

Obwohl Nedbal auch ein ausgezeichneter Organisator war, gibt ihn Buchner gern als gutmütigen, im Grunde einfältigen Kerl mit Humor und Herz. Deshalb sei er auch den üblichen Intrigenschmieden seiner Branche nicht gewachsen gewesen. Die hauptsächlichen Wirkungsorte Nedbals waren Wien und Prag, und zwischen denen gab es allein in patriotischer Hinsicht unablässig Eifersüchteleien und Schlammschlachten. Kamen »natürlich« die persönlichen »Hinterhältigkeiten« (Buchner) der Branche hinzu. Buchner glaubt: hätte sich Nedbal energischer gegen seine Neigung zu Zersplitterung und Überforderung gestemmt und sich zum Beispiel rechtzeitig mit dem Chefdirigentenposten in Prag begnügt, hätte er seine zweite Gattin Marie nicht als Witwe zurück- oder gar sitzengelassen. Kinder hatten nicht zu leiden, weil Nedbals einziger Sprößling (Oskar aus erster Ehe) offenbar bereits als Knabe gestorben war. Beide Schicksale – von Oskar und dessen »nach langer Krankheit« frühverstorbenen Mutter – spart Buchner beinahe brutal aus.

Koloß Nedbal sah sich seelisch, gesundheitlich und auch finanziell zunehmend gebeutelt. 1923 suchte er sein Heil als Chef des Slowakischen Nationaltheaters in Preßburg (Bratislava). Nur war das im Licht der Branche ein eher unbedeutender Wirkungsort, und in finanzieller Hinsicht sogar eine Katastrophe. Zuletzt wurden selbst die spärlichen staatlichen Subventionen gestrichen. Im Dezember 1930 hatte Nedbal in Belgrad sein Ballett Das Märchen vom Hans zu dirigieren. Nun erreichte ihn die Nachricht, in Bratislava habe man soeben ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet, wegen Betruges, wohl Hinterziehung von Versicherungsgeldern. Nedbal schickte seinem Theater einen Abschiedsbrief, in dem er seinen Selbstmord ankündigte. Dann erklomm er den Zweiten Stock der Belgrader Oper und warf sich aus einem Fenster (S. 308). Etliche andere Quellen behaupten, Nedbal habe sich in Zagreb befunden und ein Fenster des dortigen Ballettsaals der Oper gewählt, sparen jedoch die Stockwerkfrage aus. Vielleicht kam ihnen die geringe Sprunghöhe nicht ganz geheuer vor. Ein Ballettsaalfenster macht sich allerdings dekorativ. Ich selber sage mir, bei Nedbals Leibesumfang und Zerrüttung tat es offensichtlich schon der Zweite Stock. Nedbal hatte unter anderem an Atem- und Herzbeschwerden, Schweißausbrüchen und einer Nierenentzündung gelitten. Er hatte jede Menge Wein in sich hineingeschüttet. Und dann drohten auch noch Konkurs, europaweite Schande und Knast.

Zum Nachhall des Sprunges verrät uns Buchner kein Wort, die Witwe Marie eingeschlossen. Immerhin verschleierte er die Eskapade, die zu Nedbals Flucht in den sonnigen Süden führte, keineswegs. Nedbals erste Ehefrau war 1903 gestorben. Ihren Namen übergeht Buchner. Bald darauf suchte der Bratscher ausgerechnet bei Frau Hoffmann Trost. Das war Marie, die Gattin seines Freundes Karel Hoffmann, der im Tschechischen Quartett die Erste Geige spielte. 1906 ging Nedbal mit seiner neuen Flamme auf eine ausgedehnte Fernreise, die ihm, laut Buchner, wahre Wonnen bescherte. Wie man sich denken kann, bedeutete dieses Intermezzo das Ende von Nedbals Wirken im Streichquartett. Er stürzte sich jetzt aufs Dirigieren und Komponieren. Später ging er mit Marie die zweite Ehe ein, falls ich nichts verwechselt habe. Ob sie Hausfrau oder sonstwas war, verrät Buchner nicht. Sein Werk ist durchaus üppig illustriert, und so kann man aus einigen Fotografien immerhin schließen, Marie liebte es, zeitgemäß die abenteuerlichsten Hüte auf ihr Haupt zu stülpen. Ein Hündchen hatte sie ebenfalls. Hier ein Foto aus dem Internet, das das Ehepaar Nedbal in späten Jahren, nämlich 1928 zeigt. Zwei Jahre darauf war Marie Witwe.

Buchners Werk hat gewiß seine Mängel, dafür muß man ihm freilich zugute halten, daß es auch gewisse Schwächen seines Gegenstandes nicht verschweigt. So nennt Buchner neben der Unentschiedenheit die Rastlosigkeit, neben dem mitreißenden Schwung die Unruhe, neben der Gutmütigkeit die Starrköpfigkeit Nedbals. Möglicherweise hatte die Witwe also einen durchaus typischen Rechthaber verloren. Buchners Werk soll 1986, nach 10 Jahren, noch einmal erweitert und überarbeitet erschienen sein, sodaß er vielleicht ein paar von den eigenen Schwächen und Versäumnissen ausgebügelt hat. Diese 2. Ausgabe war antiquarisch nicht oder nur bei Inkaufnahme des Ruins zu haben.

* Alexandr Buchner, Oskar Nedbal, Prag 1976
** Polenblut: https://www.operetten-lexikon.info/?menu=114&lang=1




Mit dem erfolgreichen Bühnenbildner Caspar Neher (1897–1962) möchte ich mich gar nicht näher beschäftigen. Brockhaus muß ihn natürlich erwähnen, zumal Neher häufig mit Jugendfreund Bertolt Brecht zusammen gearbeitet hat. Dafür drängt sich die nicht mit Caspar verwandte Schauspielerin Carola Neher auf (1900–42), die leider im Brockhaus fehlt. Dabei trat auch sie wiederholt in Brecht-Stücken auf. Pikanterweise wurde sie jedoch die zweite Ehefrau des Brecht-Konkurrenten Klabund (1890–1928), den Sie vielleicht gar nicht kennen. Er war zu seiner Zeit, den »Goldenen Zwanzigern«, ein durchaus gefeierter Dramatiker und Lyriker, nur lebte er nicht lang. Er litt an Tuberkulose. Verschwommen linksgerichtet, neigte er offenbar zum flotten, flüchtigen Schreiben* – kaum verwunderlich, hing doch die tödliche Diagnose rund 15 Jahre über Klabunds weich modelliertem Haupt. Der Krankheit zum Trotze war er aber auch als Herzensbrecher erfolgreich. Seine erste Ehefrau Brunhild »Irene« Heberle wurde ihm bereits 1918 geraubt: die an Kehlkopf-Tuberkulose leidende, 23 Jahre alte Pianistin überstand die Geburt des gemeinsamen Kindes nicht. Auch das Kind starb. Man möchte fast sagen: Gott sei dank.

Als Klabund 10 Jahre später im Schweizer Kurort Davos mit 37 Jahren ebenfalls von der Erde abtreten mußte, weil sich seine Tuberkulose mit Lungen- und Hirnhautent-zündung verbunden hatte, saß just die zweite Gattin neben ihm, Carola Neher, wohl ein hübsches Geschöpf. Ihre Schauspielkunst kann ich nicht beurteilen. Allein über Nehers Liebesdrama mit Klabund gibt es jedoch drei Bücher. Ihren ersten großen Erfolg hatte sie 1925 in der Meißener Uraufführung von Klabunds Stück Der Kreidekreis gefeiert. Es wurde 1948 von Brecht in das Stück Der kaukasische Kreidekreis verwandelt. Zu diesem Zeitpunkt war auch Neher schon tot. 1933 (über Wien und Prag) in die SU geflüchtet, das Gelobte Land, geriet sie drei Jahre darauf in die sowjetische Strafindustrie. Nach längerer Leidenszeit soll sie 1942, inzwischen 41, in einem Lager an Typhus erkrankt und gestorben sein. Die Frage, ob Brecht oder Lion Feuchtwanger sie nicht hätten retten können, ist umstritten.

1932 hatte sich Neher mit dem Ingenieur Anatol Becker verheiratet. Sie trafen gemeinsam in Moskau ein. Von ihm bekam Neher 1934 einen Sohn, Georg Becker. Drei Jahre darauf wurde dessen Vater als »Trotzkist« überführt und erschossen. Was aus Georg wurde, scheint bestenfalls eingeschworene Antiputinisten zu interessieren, die ich aber lieber ignoriere. Möglicherweise ist der Junge in der SU als Waise und Adoptivsohn beträchtlich geschunden worden. Die DB führt ihn als Musikwissenschaftler, verrät aber nicht, ob er noch lebt. Wer seine Eltern waren, soll Georg erst nach dem Krieg erfahren haben. 1959 wurden seine Eltern »rehabilitiert«, wie ich der SZ entnehme.** 1975 sei ihm die Ausreise »nach Deutschland« gestattet worden – Ost oder West? Im November 2013 sei er bei der Einweihung einer Carola-Neher-Straße in München zugegen gewesen. Da war er also knapp 80.

* Rüdiger Frommholz, »Henschke, Alfred«, in: NDB 8 (1969)
** https://www.sueddeutsche.de/muenchen/viertel-stunde-leidenschaftlich-geliebt-und-gelebt-1.5266873, 16. April 2021




Für Brockhaus sind die realistischen, anschaulich geschriebenen, vielgelesenen Romane und Erzählungen Božena Němcovás (1820–62) zumindest teilweise »romantisch-sentimental«, daneben patriotisch gefärbt. Auf einem beigefügten Porträtfoto wirkt die schmallippige Autorin unter ihrer strengen, kunstlosen Frisur ziemlich verhärmt. Aber das Internet kennt auch andere Abbildungen, die mal an eine Prinzessin, mal an eine feurige Zigeunerin denken lassen. Und eigentlich geht es ja nicht um die Autorin, vielmehr ihre Werke. Diesbezüglich macht Radio Prag Němcovás patriotischer Neigung alle Ehre.* Sie sei die bedeutenste und berühmteste tschechische Schriftstellerin überhaupt. Vor allem habe sie »die schöne tschechische Prosa näher an die gesprochene Sprache« gebracht. Wahrscheinlich meint Markéta [»die Perle«] Kachlíková die schöngeistige oder belletristische Prosa. Bei solchem Verdienst kann man wohl auch die »idyllischen und idealisierten« Züge in Kauf nehmen, die etwa Němcovás in 30 Sprachen übersetztes Buch Die Großmutter zeigt.

Vertue ich mich nicht, war Němcová, Tochter eines Wiener Herrenkutschers, vorwiegend auf dem ostböhmischen Lande bei ihrer Großmutter Magdalena Novotná aufgewachsen. Sie erfuhr eine gewisse Schulbildung, wobei sie anscheinend gern von ihrer deutschen Muttersprache zum Tschechischen überlief. Schon als 17jährige wurde sie leider, wie ich zu sagen wage, dem zwar patriotisch, jedoch nicht sehr fleißig und rücksichtsvoll gestimmten Finanzbeamten Josef Němec als Gattin in die Arme geworfen. Er war erheblich älter als sie. Die Zerrüttung dieser Ehe blieb nicht lange aus. Soweit ich sehe, fand Němcová eben im Schreiben eine gewisse Zuflucht. Später, als Alleinstehende in Prag, hatte sie ein schweres Los. Sie hatte drei oder vier Kinder, zudem nicht selten die kaisertreue Polizei am Hals. Auch die Autorenhonorare waren damals mager. Sie soll darunter gelitten haben, Freunde anpumpen zu müssen, sei allerdings im Wirtschaften grundsätzlich ungeschickt gewesen.

Der Radiobeitrag aus Prag spricht auch von »bürgerlichen« Anfeindungen, weil sich Němcová »Liebesaffären« gegönnt habe. Darüber finde ich nichts Näheres. Laut Deutschlandfunk gehen solche Liebschaften in der Tat aus ihrem umfangreichen, oft gerühmten Briefwechsel hervor.** Allerdings zitiert Stolzmann nur eine erschütternde Klage aus dem November 1861 über ihren meist entfernt lebenden Gatten, mit dem es zahlreiche Versöhnungsversuche gab. >Kaum war er morgens aufgestanden, fing er an zu fluchen, und er fluchte und zeterte, bis er wegging, und es war ihm egal, ob die Magd da war oder der Diener. Wenn er in der Administration gefragt wurde, warum ich nichts schreibe, sagte er, die wird ihr Lebtag nichts mehr schreiben, sie ist blöd, gehört ins Irrenhaus. In den Wirtshäusern hat er mich verleumdet. Wenn er nach Hause kam, ging es weiter. »Du Luder, du krepierst eines Tages hinter einem Zaun, auf dich wird man nicht einmal spucken, wenn du wenigstens Zündhölzer verkaufen würdest!« – und so ging es Tag für Tag.<

Hauspersonal hatte das Ehepaar also immerhin – für mich ein Wermutstropfen. Aber ohnedem hätte es Němcová wohl kaum zu ihren Manuskripten gebracht. Und Briefe mußte sie ja auch noch schreiben. Zwei Monate nach der Niederschrift jenes rückblickenden Briefes, so Stolzmann, sei Němcová, knapp 42 Jahre alt, einer Krebserkrankung erlegen. Ihr Begräbnis gestaltete sich, nach anderen Quellen, als »patriotisches Großereignis«. Dann gingen bei dem sowieso meist abgebrannten Witwer die ersten Anfragen von Übersetzern wegen der Großmutter ein. Das Buch war 1855 veröffentlicht worden.

* Markéta Kachlíková, https://deutsch.radio.cz/zum-150-todestag-der-bedeutendsten-tschechischen-schriftstellerin-bozena-nemcova-8552254, 4. August 2012
** Uwe Stolzmann, https://www.deutschlandfunkkultur.de/nationale-ikone-100.html, 30. November 2006




Wenn Brockhaus den deutlich jüngeren Gitarristen Pat → Metheny (* 1954) aufs Schild hebt – warum hat er dann (1991) den Songschreiber Randy Newman (* 1943) im Keller sitzen lassen? Für mich unerklärlich. Immerhin hatte der Südstaatler aus musikalischem und wohlha-bendem Hause damals bereits sieben oder acht Alben vorgelegt. Mag er auch als Sänger keine Markéta sein, stellt sein oft von verblüffender Warte aus vorgetragener Biß doch jede nordamerikanische Klapperschlange in den Schatten. Newman ist ein Meister des Rollenspiels (Verwandlung!) und des Sarkasmus‘. Man könnte ihn auch den Ambrose Birce der englischssprachigen Popmusik nennen. Jedenfalls gilt das gerade für jene sieben oder acht Alben, während er sich neuerdings, in seiner »Altersmilde«, auf die »vermeintlich richtige Seite« geschlagen haben soll, wenn er etwa 2017 gegen Putin vom Leder zieht.* So etwas höre ich mir aber lieber nicht an. Möglicherweise ist Newman im Grunde seines Herzens zeitlebens ein waschechter patriotischer Yankee geblieben. Das würde sich auch mit seiner Vorliebe für Filmmusik decken, der er anscheinend seine Haupterfolge und das entsprechende Honorar verdankt. Das Gefühl, auf dem falschen Dampfer zu sein**, hat sich schließlich schon in vielen Fällen im Laufe der Zeit verflüchtigt.

* https://www.srf.ch/kultur/musik/pixar-songwriter-wird-80-zwei-gesichter-ein-songwriter-wer-wird-schlau-aus-randy-newman, 28. November 2023
** Mama Told Me Not to Come von 1970




Der Lehrer und Schriftsteller Ernst Niebergall (1815–43) ist zumindest in Südhessen als Darmstädter Lokal- und Dialektdramatiker berühmt. Als sein Hauptwerk gilt das Stück Datterich von 1841, »die Tragikomödie eines Aufschneiders«, wie Brockhaus erläutert. Nur verschwendet das Lexikon einmal mehr kein Wimpernzucken darüber, daß der Ärmste bereits mit 28 Jahren den Weg allen Fleisches ins Moderreich zu gehen hatte. Warum? Lagis-Hessen teilt sehr aufschlußreich mit, »infolge einer Lungenentzündung«, und dabei bleibt es im gesamten Internet. Immerhin erwähnt die Frankfurter Rundschau auch eine Halde aus leeren Rotweinflaschen, die sich unter seinem häuslichen Kranken- und Sterbelager fand.* Wen wunderts, wenn jener Titelheld Datterich sein Zittern vom Saufen hat. Daneben soll Niebergall Schulden hinterlassen haben. Frau oder Kinder werden nicht erwähnt. Vermutlich waren weder Niebergalls Gemüt noch seine Abwehrkräfte in bester Verfassung. Nach Brockhaus Band 13 stecken hinter einer Lungenentzündung meist Bakterien oder Viren. In den letzten 100 Jahren sei sie in der Statistik der Volkskrankheiten günstig zurückgefallen. Davon hatte Niebergall also noch nichts.

* https://www.fr.de/kultur/schreibt-sich-niebergall-11152121.html, 12. Januar 2019



Mag das Niesen hin und wieder auch Begleiterscheinung einer Lungenentzündung sein – wir alle genießen es in harmloser Form zeitlebens durch ungefähr täglichen Befall. Es handelt sich um einen »Reinigungsreflex der oberen Luftwege«, wie Brockhaus weiß. Es wird von der Nasenschleimhaut aufgrund diverser Reize ausgelöst, voran beißende Gerüche und Temperaturstürze. Im Volksglauben habe es zweifache Bedeutung. Einerseits werde angenommen, durch das Niesen verließen uns Seelenstoffe oder Dämonen; andererseits gerade umgekehrt, Böses führe in uns hinein. Somit hat es den zwieschneidigen Zug von Gefahr und Glück. Zur Abwehr des Schädlichen sei bereits in der Antike ein Heilswunsch üblich gewesen. Deshalb muß jeder, der in Schwaben oder Hessen aufgewachsen ist, noch heute, sobald sich ein Mitmensch prustend schüttelt, alles in allem ungefähr hundertmal wöchentlich »Helf Gott« oder »Gesundheit« sagen. Mein Großvater Heinrich hat das unter Höflichkeit verbucht. Er hat mich auch stets ermahnt, Briefe nie unbeantwortet zu lassen. Aber acht von 10 Leuten, denen ich schreibe, husten mir was. Sollte ich sie einmal zu fassen bekommen, werde ich ihnen Pulver von den geriebenen unterirdischen Teilen der Hahnenfuß-Pflanzengattung Nieswurz in die Visage blasen. Und kurz darauf »Gesundheit« sagen.



Der italienische Journalist und Schriftsteller Ippolito Nievo (1831–61) war auch Jurist, vor allem jedoch Patriot. Nach Vollendung seines angeblich bedeutenden* Historischen Romanes Le confessioni d'un Italiano, der erst posthum veröffentlicht wurde, nahm er sogar unter Garibaldi am zweiten italienischen Unabhängigkeitskrieg (gegen Österreicher, Spanier, Franzosen usw.) und 1860 am berühmten »Zug der Tausend« rothemdiger Freischärler gegen das spanisch besetzte Sizilien teil. Zum Jahresende war die karge Insel »befreit«.

Brockhaus erwähnt natürlich jenen Roman, kommentiert dagegen Nievos betrübliches vorzeitiges Ende lediglich mit »gestorben auf See«. Dazu folgendes. Inzwischen 29 und Oberst bei Garibaldis Truppen, außerdem so etwas wie ein Finanzminister der Insel, schiffte sich Nievo am 4. März 1861 in Palermo auf dem Dampfer Ercole zwecks einer diplomatischen Mission gen Neapel ein. Normalerweise wären die schätzungsweise rund 80 Personen, die sich an Bord befanden, in 16 Stunden auf dem Festland gewesen. Sie kamen jedoch nie an, weil dieses, nach beliebter Angabe »altersschwache« Schiff namens »Herkules«, wahrscheinlich bei stürmischer See, aus bis heute ungeklärten Gründen mit Mann und Maus und allen Planken im Mittelmeer oder sonstwo verschwand. Man fand nicht die geringsten Überreste. Es muß so ähnlich wie vor inzwischen 10 Jahren im Indischen Ozean mit einer in Kuala Lumpur Richtung Peking gestarteten Boeing 777 gewesen sein. Da Nievo Unterlagen über Garibaldis Finanzgebaren, die er dem Turiner Parlament zwecks Entkräftung verschiedener »Verleumdungen« vorzulegen gedachte, mit sich geführt hatte, kamen natürlich einige nachdenkliche Köpfe auf die Idee, eben der Einblick in diese Dokumente sei durch das bedauerliche Unglück verhindert worden. Keine zwei Wochen später schwang sich der in Turin residierende, mit Garibaldi verbündete sardinisch-piemontische Patriot Viktor Emanuel II. zum »König von Italien« auf.

* Steffen Richter, https://www.welt.de/print-welt/article678386/Liebe-Kinder-ich-kann-mitreden.html, 25. Juni 2005



Vom usbekischen Schriftsteller Hamza Hakimzoda Niyoziy (oft auch Nijazi, 1889–1929) hebt Brockhaus hauptsächlich Verdienste um das sowjetisch-usbekische Drama hervor. Sein Pech dagegen fällt unter den Tisch. Niyozi wurde mit 40 Jahren ermordet. Zwar war er einst streng muslimisch erzogen worden, doch später trat er der KP bei. So fand er sich offenbar zunehmend im Spannungsfeld zwischen Aberglauben und fanatischer Frömmigkeit einerseits und Aufklärung und Bolschewismus andererseits zermürbt. Sohn eines Apothekers und Heilkundigen, beherrschte Niyozi mehrere Sprachen und war auch Musiker, Schulreformer und Agitator. Als er sich Mitte März 1929 im Dorf und Wallfahrtsort Shohimardon vor einem angeblichen Schrein gegen Machenschaften der örtlichen Geistlichkeit wandte und den Schrein mit Gefährten abschlagen wollte, wurde er, laut englischer Wikipedia, von einer »wütenden Menge« zu Tode gesteinigt. Auch Messer sollen im Spiel gewesen sein. Fünf Täter seien später hingerichtet worden. Die Landesregierung ließ den Schrein entfernen – aber die Einheimischen bauten ihn wieder auf. Niyozi bekam in dem Dorf ein Mausoleum. In seiner Geburtsstadt Kokand hat er, seit 1959, nach wie vor ein eigenes Museum. Ein recht teuer erkaufter Nachruhm.

Derzeit scheint die ehemalige Sowjetrepublik Usbekistan einen Eiertanz zwischen Moskau und Washington zu vollführen. Auf dem Papier ist sie kein Gottes-, vielmehr ein demokratischer und marktwirtschaftlicher Rechtsstaat. Das in Bern sitzende Außenministerium unserer eidgenössischen Oberdemokratie behauptet, Reisende hätten sich in Usbekistan gleichwohl vor »gleichge-schlechtlichen Handlungen« und Kritik an der Obrigkeit zu hüten, da beides strafbar sei. In Deutschland dagegen sind die gleichgeschlechtlichen Handlungen sowohl an Baggerseeufern wie bei Kabinettssitzungen erlaubt.



Die Inselgruppe Nikobaren (22 Inseln, davon 12 bewohnt) erstreckt sich ziemlich ausgedehnt im östlichen Golf von Bengalen, und zwar gar nicht so weit von Kuala Lumpur, Malaysia, entfernt. Sie gehört jedoch zu Indien. Hoffentlich wurde jene Boeing von 2014 nicht gerade dort versteckt, sonst kommen gar keine Touristen mehr. Neuerdings, wie behauptet wird, hat die Inselgruppe auch unter Springfluten und Erdbeben zu leiden. Vielleicht hilft beten. Brockhaus meint, die Nikobarer, ursprünglich animistisch gestimmte Landwirte und Fischer, seien schon scharenweise zum Christentum übergetreten, also nicht etwa zum Islam. Na, Gott, wer zuerst kommt, malt zuerst: das waren zwischen 1600 und 1800 die mit Kanonen und Missionaren bestückten Schiffe der Portugiesen, Briten und Dänen.

Den Animismus kennt vielleicht nicht jeder. Nach Brockhaus Band 1 bezeichnet das Wort die mutmaßliche oder offensichtliche Angewohnheit vieler Naturvölker, sich alle Welt beseelt vorzustellen, also auch Hängebauch-schweine, Mangroven und Buschmesser. Daraus hätten sich dann verhältnismäßig eigenständige Geister, Dämonen, vielleicht auch Götter entpuppt. Natürlich war es geraten, sich mit diesen Wesen möglichst gutzustellen, erwiesen sie sich doch als erstaunlich wirkmächtig, vor allem, weil sie unsichtbar waren. In der christlichen Ära vereinfachte sich die Angelegenheit. Christus am Kreuz konnte jeder anfassen – und sogar essen, solange die Schiffsbäuche Abendmahlsoblaten lieferten.

Ich bemerke nur nebenbei: Rund um die beliebte »Seele« haben Theologen, Philosophen und Pädagogen sicherlich schon Tausende von Schiffsladungen voll Abhandlungen und Ratschläge verfaßt, aber noch keiner von ihnen hat die »Seele« jemals gesehen. Deshalb befragt man diese Gelehrten auch durchweg vergeblich danach, um was es sich bei der »Seele« eigentlich handele. In der Postmo-derne wurde auch diese Angelegenheit vereinfacht, indem man die »Seele« in die »Psyche« oder ins sogenannte Bewußtsein verschob. Die sind zwar gleichfalls schwer zu sehen, dafür aber umso leichter zu manipulieren.



Der größte Strom Afrikas ist bekanntlich der Nil. Um ehrlich zu sein, war ich nie dort. Das hinderte mich aber um 2012 nicht daran, ein dort spielendes Zwerglied zu schreiben: Am Nil. Ich zähle es sogar zu meinen 12 besten Songs. Schauen Sie mal hinein. Eine verlinkbare Tonaufnahme habe ich derzeit leider nicht zur Hand. Sie können das Stück aber gerne selber aufnehmen. Nur sehen Sie bitte davon ab, auch nur ein Komma am Text zu ändern oder im (instrumentalen) B-Teil die Töne es und des zu verschleifen.



Im Sommer 1937 konnte man auf vielen spanischen Titelblättern und Hauswänden plötzlich lesen: Gobierno Negrín: ¿dónde está Nin? (»An die Regierung Negrín: Wo ist Nin?«). Der Mann war verschwunden. Im Brockhaus fehlt er leider auch. Dabei war er sogar prominent. Der Republikaner Andrés Nin (auch Andreu, 1892–1937) zählte zur Führung der als »trotzkistisch« verschrieenen POUM, die der moskauhörigen KP ein ähnlich schmerzender Dorn im Auge war wie verschiedene anarchistische Organisationen, und er war streckenweise auch Regierungsmitglied. In den Truppen der POUM kämpfte zeitweilig der britische Schriftsteller (und Ex-Polizeichef) George Orwell mit, während seine Frau Eileen O’Shaughnessy in Barcelona bei der Büroarbeit half. Kurz nach den dortigen unseligen Bruderkämpfen zwischen den beiden Lagern vom Mai 1937 wurde Nin auf Betreiben der Kommunisten verhaftet. Zunächst in eins der Gefängnisse gesteckt, die damals von den Kommunisten kontrolliert wurden, wußte doch bald niemand mehr, wo sich Nin aufhielt. Auch eine von der POUM eingeleitete und von manchen namhaften Ausländern unterstützte Kampagne brachte ihn nicht wieder zum Vorschein. In der Regel – selbstverständlich nicht unter traditionsbewußten Kommunisten – wird heute angenommen, Nin sei auf Geheiß Stalins verschleppt, ausgiebig gefoltert und schließlich am 20. Juni ermordet worden. Er war erst 45. Abtrünnige Söhne ziehen sich ja oft den besonders ausgeprägten Haß der Väter zu. Nin hatte 1921 die spanische KP mitgegründet und bald darauf in Moskau für rund ein Jahrzehnt Komintern-Arbeit geleistet. Ein bemerkenswerter Artikel über seinen Fall erschien vor knapp 30 Jahren in einer Berliner Tageszeitung, mit der man sich inzwischen nur noch den Hintern abwischen kann: Jaime Pastor, https://taz.de/Ein-Opfer-der-Normalisierung/!1625950/, 12. März 1993.



Über den 1968 verstorbenen Juristen und Professor Hans Carl Nipperdey, 1954 bis 1963 erster Präsident des demokratischen, damals in Kassel sitzenden Bundesarbeitsgerichts, weiß Brockhaus nur Ehrenvolles zu berichten. Das sind peinliche 10 Zeilen. Aber selbst NDB besitzt noch 1999 die Frechheit zu schreiben: »Die Universität Köln, der er trotz mehrerer Rufe bis zur Emeritierung 1963 treu blieb …« In Wahrheit war es umgekehrt, die Uni blieb ihm treu, und zwar seit 1925. Mehrere Internetquellen stellen ihn denn auch unzweideutig – in meinen Worten – als Faschisten- und Kapitalistenknecht vor. Am erfrischendsten fand ich, trotz gewisser Schwächen in Satz und Stil, den knappen Beitrag eines bei Köln sitzenden Bildjournalistenverbandes.* Nebenbei rühmt Brockhaus, Nipperdey habe »über 400 Werke verfaßt«, »Beleg für sein breitgefächertes Wirken«. Dagegen behauptet Wikipedia, der Löwenanteil seiner Arbeiten stamme von ungenannten akademischen Mitarbeitern, die er zielstrebig ausgenutzt habe. Das ist freilich in Professorenkreisen schon fast Gewohnheitsrecht.

* Hans-Dieter Hey, https://r-mediabase.eu/hans-carl-nipperdey-arbeitsrechtler-der-ns-zeit/, 7. Februar 2024



Der charmante französische Schriftsteller Paul Nizan (1905–40) neigte sowohl zum Dandytum wie zum Kommunismus. Doch 1939 trat er »aus Protest gegen den Hitler-Stalin-Pakt«, wie auch Brockhaus weiß, aus seiner Partei, der KPF, wieder aus. Jetzt hatte er kübelweise Schmutz er ertragen, die seine Ex-Genossen über ihm ausgossen.* Aber nicht so lang: Im Jahr darauf stirbt der 35 Jahre alte Journalist und Buchautor bei Dünkirchen als Soldat an der Front. Die HauptschmutzausgießerInnen dagegen saßen bequem in ihren Pariser Arbeitszimmern und Parteibüros.

Dazu zitiert Thomalla treffende Sätze von Sartre, der Nizan sowohl von der Schule wie von der Front her kannte. Aber sie erinnert auch an Nizans heikle Kindheit in der mittelfranzösischen Stadt Tours. »Die Mutter bigott und hart, der Vater, ein verkrachter Eisenbahningenieur, ein potentieller Selbstmörder, der Nacht für Nacht, wenn er das Haus in solcher Absicht verließ, den Jungen in tiefsten Ängsten zurückließ.« Denn Paul habe den Vater, an oder unter dem er litt, auch geliebt. Diese Ambivalenz dürfte ihm dann später ein paar Nummern größer mit der Partei, ihren Bossen und mit Sowjetchef Stalin wiederbegegnet sein.

Ariane Thomalla, https://www.deutschlandfunk.de/100-geburtstag-des-schriftstellers-und-journalisten-paul-100.html, 7. Februar 2005



Vater Vespian, nebenbei römischer Kaiser, hielt seinem Sprößling Titus eines Tages die ersten Einnahmen unter die Nase, die er der neuen Besteuerung der haupt-städtischen Bedürfnisanstalten verdankte, und sagte: »Schnupper mal! Na und ..? Geld non olet, mein Sohn!« Das hieß übersetzt, es stinke nicht. Von daher wird diese Redewendung bis heute in Fällen benutzt, wo einem Gegenüber bedeutet werden soll: »man merkt dem Geld nicht an, auf welche Weise es erworben wurde«, wie uns Brockhaus aufklärt.

Wenn wir schon einmal beim Geld sind: Nobelpreisträger Bob Dylan hat sich in seinem erst kürzlich* erschienenen Alterswerk The Philosophy of Modern Song ebenfalls zu diesem vertrackten Phänomen geäußert. »Der Arme in seiner billigen Rostlaube steht genauso wie der Reiche in seinem Luxusschlitten eine Stunde lang in demselben Verkehrsstau. Sicher, die Sitze sind vielleicht weicher, die Klimaanlage [läuft] besser, aber man steckt trotzdem fest auf der 405. Das Einzige, was man nicht kaufen kann, ist Zeit. Der Hillbilly-Songwriter Bob Miller hat einen Song über die Ungerechtigkeit zwischen Arm und Reich geschrieben, sich aber damit getröstet, dass beide gleich tot sind, wenn sie ihre letzte Fahrt antreten.«

Unten auf derselben Seite, wenn auch mit anderem Bezug, findet sich noch der erfrischende Kommentar: »Im aufklärerischen Sinne ist das ziemlich schmale Kost.« Dylan liebt das Ausgedehnte und Überladene, denkt aber zuweilen etwas zu kurz. Selbstverständlich kann ich mir Zeit kaufen, sofern ich, wie der Meistersänger, im Schnitt geschätzt 80.000 Dollar täglich einnehme.** Dafür benötigen normal ausgebeutete Leute in der Regel mehrere Jahre. Ich halte mir einfach einige Bedienstete und DienstleisterInnen, die mir soundsoviele Arbeiten abnehmen, damit ich Angeln gehen oder ein Philosophiebuch schreiben kann. Das ist echter Gewinn an Zeit. Dafür unterschlägt Dylan jedoch ein paar wichtige Dinge, die in der Tat nicht kaufbar sind, auch nicht mit einem geschätzten Gesamtvermögen von mindestens 180.000 Millionen Dollar: Echte Zuneigung etwa; natürliche (medizinische) Abwehrkraft; eine persönliche Lektüre über Jahrzehnte hinweg und die entsprechenden Einsichten in das Getriebe der Welt.

Einen kleinen Scherz aus der Buchvertriebsbranche steuert passend die englische Wikipedia bei. Es geht um das von mir zitierte Werk. »900 limited edition hand-signed autograph versions of the book were offered for sale online through Simon & Schuster for a price of $599 in the U.S. but it was soon discovered that they were not actually hand-signed by Dylan. The books in question appeared to be machine signed by an autopen or signing device, using at least 17 different signature variations. The publisher apologized in a tweet and provided refunds.«

Beachten Sie auch: 599. Darüber hat Rio Reiser mal einen Song geschrieben.

* New York und München 2022, deutscher Titel »Die Philosophie des modernen Songs«, Übersetzung Conny Lösch, S. 49
** https://www.nd-aktuell.de/artikel/1146129.bob-dylan-verwertung-bis-zum-letzten-ton.html, 22. Dezember 2020




Laut Brockhaus studierte das US-Mittelstandskind aus Chicago Frank Norris (1870–1902) Bildende Kunst in Paris. In der Tat hatte er bereits in der Schulzeit als begabter Zeichner gegolten. Dann entschied er sich jedoch für ein Literaturstudium und das Schreiben. Nach einer Phase als Journalist und Bohemian wandte er sich dem bitteren Los der werktätigen Bevölkerung zu – das er möglicherweise durch eine links romantisch, rechts sozialdarwinistisch verglaste Brille musterte. Sein Roman-Debüt gab er 1898/99 mit den Büchern Moran of the Lady Letty und McTeague. Das zweite Buch diente Erich von Stroheim 1924 als Vorlage für seinen Stummfilm Gier. Die Kritik ordnete Norris zunächst strafend im Schmutzfach »Naturalismus« ein. Heute heißt es, er habe unter anderem Kollegen wie Upton Sinclair, Theodore Dreiser und Sinclaire Lewis beträchtlich beeinflußt. Ob sie auch den beträchtlichen judenfeindlichen Schmutz übernahmen, der Norris von der Antisemitismus-Enzyklopädie Richard S. Levys (2005) und der Harvard-Professorin Elisa New (2013) bescheinigt wird, entzieht sich meiner Kenntnis.

Norris lebte abwechselnd in New York City und San Francisco, sofern er nicht reiste. Einst als Kriegsbericht-erstatter in Südafrika und Kuba unterwegs, hatte er üble Begegnungen mit der Malaria gehabt. Diese Vorbelastung spielte angeblich mit, als er im Herbst 1902 eine Blinddarmoperation mit seinem Leben zu bezahlen hatte. Der 32jährige hinterließ seine Ehefrau Jeanette, ein Töchterchen und etliche Manuskripte, die posthum veröffentlicht wurden. Das Erscheinen seines oft gepriesenen Romanes Der Oktopus (1901) über den Kampf einer Handvoll kalifornischer Farmer gegen die Southern Pacific Railroad hatte Norris noch erlebt. Die Farmer verteidigen ihre schönen Weizenfelder, sind freilich unter Umständen auch bereit, sie schön teuer zu verkaufen. Das Werk soll spannend, streckenweise plump oder geschwätzig, in philosophischer Hinsicht oberflächlich sein. Jedenfalls wurde es zu einem Renner, der vermutlich mit zum Trost der Hinterbliebenen beitrug.

Witwe Jeanette, deutlich jünger als er, wird als selbstbewußte, elegante Schönheit geschildert. Wahrscheinlich trug sie ihr dunkles Haar vor allem auf den Zähnen, wie später Orwells Witwe Sonia. Bruder Charles Norris soll 1930 behauptet haben, Frank sei der Gattin ungleich stärker verfallen gewesen als umgekehrt. Die New York Times läßt an der Männlichkeit des offenbar blonden, schlanken Schriftstellers zumindest in ihrem knappen Nachruf* keinen Zweifel. Erst vor knapp drei Monaten, am 2. August 1902, habe Norris in San Francisco eine Tragödie verhindert. Es war auf einer Versammlung der Treuhänder des staatlichen Heims für Schwachsinnige. Der Vorstand hatte soeben den Superintendenten Dr. W. M. Lawler entlassen. Als auch Colonel J. T. Harrington dessen Amtsführung energisch rügte, erhob sich Theodore Lawler, der hünenhafte Sohn des Gefeuerten, und schritt bedrohlich auf den vergleichsweise schmächtigen Colonel zu. Der aber, weiß vor Wut, hatte einen Revolver, den er auch zog. Alles habe nach einer Schießerei ausgesehen. Da sei plötzlich Norris zwischen die beiden nur noch durch wenige Fuß voneinander getrennten Kampfhähne gesprungen. Das habe den anderen Treuhändern ermöglicht, die Ruhe im Saal wieder herzustellen.

Ob auch Norris zu den Treuhändern der Schwachsinnigen zählte, läßt das Blatt offen. Vielleicht war er nur als Kriegsberichterstatter oder Romancier anwesend. Jedenfalls war er zu diesem Zeitpunkt offensichtlich noch nicht vom Tod gezeichnet. Aber die Einzelheiten von jener, möglicherweise »kunstfehlerhaft« verlaufenen Blinddarmoperation verrät natürlich auch die NYT nicht. Inzwischen ist die Literatur über Norris allerdings umfangreicher als ein nordamerikanisches Weizenfeld und gibt die Einzelheiten vermutlich preis, sofern man geduldig auf sie eindrischt.

* »Death of Frank Norris«, 26. Oktober 1902: https://timesmachine.nytimes.com/timesmachine/1902/10/26/118483563.pdf



Ich jubele Brockhaus hiermit wider den Kalender, aber ganz im ukrainisch gestimmten Zeitgeist die Rechtsan-wältin Irina Nosdrowskaja unter. Die 38jährige wurde am 1. Januar 2018 ermordet in einem Fluß bei Kiew aufgefunden. Sie wies Messerstiche auf. Nach Ulrich Heyden* hatte sie versucht, den Tod ihrer erst 26 Jahre alten Schwester Swetlana Sapatinskaja aufzuklären. Die war am 30. September 2015 »an einer Bushaltestelle von dem angetrunkenen Dmitri Rossoschanski, dem Neffen des damaligen Vorsitzenden des Bezirksgerichts Wyschgorod, angefahren und dadurch getötet worden.« Der Neffe bekam in erster Instanz sieben Jahre. Daraufhin setzten Drohungen gegen Nosdrowskaja ein, unter anderem »vom Vater des Verurteilten«, wie die Deutsche Welle behauptet.** Die Bedrohte hatte sich auch dafür eingesetzt, die Begnadigung zu verhindern, die dem Neffen winkte. Der Mörder von ihr selbst sei nach wenigen Tagen verhaftet worden. Laut Kripo bereue er nichts. Seine Identität und seine Beweggründe bleiben ungenannt. Überhaupt ist über beide Todesfälle und den Stand der Ermittlungen erschreckend wenig zu lesen. Es ist viel wichtiger, die neuste Zahl der Schützenpanzer oder Raketen zu kennen, die Berlin nach Kiew geliefert hat. Von daher läßt sich vermutlich auch das blaue Warnschild in dem Telepolis-Archivbeitrag erklären, das von Heydens veralteten Maßstäben spricht.

* Ulrich Heyden, https://www.heise.de/tp/features/Ukraine-Nach-Mord-an-Menschenrechtlerin-Empoerung-ueber-verfaultes-Justizsystem-3933812.html?seite=all, 4. Januar 2018
** https://www.dw.com/de/ukrainische-polizei-verk%C3%Bcndet-festnahme-im-mordfall-nosdrowska/a-42083227, 9. Januar 2018




Erspart uns Brockhaus den preußischen General August Ludwig von Nostitz (1777–1866), kann ich ihn eigentlich nur loben (das Lexikon). Nur fällt damit leider auch die Berliner Nostitzstraße unter den Tisch. Sie war um 1977 vorübergehend bedeutend, weil sie einen Teil der Musikgruppe Trotz & Träume beherbergte. Das Foto zeigt den Kopfteil der Nostitzstraße, der etwas anstieg. Hinten links konnte man zum Chamissoplatz abbiegen, an dem die Kneipe Schlemihl lag. In dieser hockten wir kleinen Kreuzberger Liedermacher des öfteren beim Pils. Was Manfred und mich anging, wohnten wir jedoch in einem Hinterhof weiter vorn, wo »die Nostitz« in die Gneisenaustraße mündete. In einem Vorderhauskeller genau gegenüber von unserem Haus lag günstigerweise eine Kohlenhandlung. Die Inhaberin lieh uns einen nach hinten offenen Tragkasten, wie ihn ihre Leute für die Briketts und die Maurer für ihre Ziegelsteine benutzen, und mit dieser beträchtlichen Last auf dem Buckel keuchten wir dann zu unseren Wohnungen im zweiten und dritten Stock des Seitenflügels hinauf. Man war eben jung und überschätzte sich. Vermutlich hatte die Beförderung unserer Briketts auf unsere Bandscheiben den gleichen Effekt wie einst das sommerliche Weitsprungtraining für die sogenannten Bundesjugendspiele. Immer schön den Absprungbalken treffen, und das mindestens 30 mal in den beiden Sportstunden.

Unser Hinterhof war auch insofern musikalisch, als in einem anderen Seitenflügel jenseit der rückwärtigen Hofmauer ein sogenannter Gastarbeiter aus Jugoslawien wohnte, wie mir einmal seine Hauswartsfrau erzählt hatte. Dieser arme Gastarbeiter schien lediglich eine Schallplatte zu besitzen, und die legte er mit Begeisterung (volle Pulle) jeden zweiten oder dritten Tag auf. Merkwürdigerweise klang sie nicht nach Zigeunerweisen, vielmehr nach fernöstlicher Musik. Es war ein bewegter, üppig orchestrierter Singsang von hohen Frauenstimmen, der mich anfangs ziemlich betört hatte. Aber nach wenigen Wochen hing er mir naturgemäß zum Hals heraus. Man muß dazu bedenken, daß ich ja selber darum bemüht war, meiner Gitarre und meiner geringen Begabung als Komponist Musikstücke abzuringen. Nur schwebte mir dabei weniger Fernöstliches, vielmehr Westberlinerisches vor, so Richtung Ton Steine Scherben, Werner Lämmerhirt und Charlie Mariano. Das war ein Saxophonist, der sein Leben 2009 in Köln aushauchte.
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