Freitag, 5. Juli 2024
Risse im Brockhaus 26

Die Gefahr von Meteoriten, die unversehens vor unseren Füßen einschlagen, wird in den Medien sicherlich öfter beschworen als der drohende Absturz von Spionagesatel-liten der CIA. Laut Brockhaus gehen schätzungsweise jährlich 20.000 Meteroite auf unserem Planeten nieder. Sie können aber kleiner als Senfkörner sein. Einschlags-krater von der Größe des Steinhuder Meeres sind eher selten beziehungsweis plumpe Fälschungen von Leugnern des Klimawandels. Manchmal liegt auch einfach eine versehentliche Verwechslung mit Kometen vor. Die Angst vor diesen ist übrigens unbegründet, wie schon die biblische Weihnachtsgeschichte bewies.

Leider ist gegen die Meteoriten bislang kein Kraut gewachsen, jedenfalls bei uns nicht. Immerhin haben sich die sogenannten Meteoritenfallen bewährt, die im Brockhaus sträflich vernachlässigt werden. Er tut so, als kenne er sie nicht. Nach Ignaz Honigbär wurden sie einst von den Wikingern erfunden. Sie wirken freilich nur noch in der Antarktis. Wahrscheinlich sind sie den Wikingern einst gestohlen und eben am Südpol aufgebaut worden.

Die entscheidende Abwehrwaffe gegen Meteoriten könnte uns demnächst Rheinmetall bescheren. Die Ingenieure des beliebten Düsseldorfer Rüstungsunternehmens arbeiten schon seit mehreren Jahren »mit Volldampf« an ihrer Entwicklung, wie Fachzeitschriften berichten. Das liegt natürlich erfreulich auf der Linie der »Kriegstüchtigkeit«, die sich das Berliner Bundeskabinett auf die Flaggen vorm Reichstag geschrieben hat. Als Meilenstein in diesem Trend wird auch der Sponsorenvertrag empfunden, den Rheinmetall soeben mit dem benachbarten Fußball-konzern Borussia Dortmund abgeschlossen hat.* Die Leidpresse rühmt die Vereinbarung auch als »Novum«, weil es so etwas bis dahin noch nie gegeben hat – jedenfalls beim zweimaligen Weltkriegsanstifter Deutschland nicht.

Die Sprecher der 1. Bundesliga-Mannschaft des glorreichen Ruhrpott-Clubs machten den Kohl gleich fett, indem sie sich bereit erklärten, zukünftig jedes zweite Trainingslager in der Ukraine zu veranstalten. Schließlich lägen dort derzeit gewisse personelle Engpässe vor. Prompt freute sich der Rheinmetall-Boß und lobte für jeden Spieler, der in der Ukraine nachweislich von einem Lynx, also einem bei Rheinmetall gebauten Schützenpanzer verwundet werde, eine Sonderprämie aus. Sei der Spieler tödlich verwundet worden, gehe das Geld natürlich an die Witwe und die Kinder. Dadurch werde den Kinder der ersehnte Weg auf die einst von Carl Diem gegründete Kölner Sporthochschule geebnet. Man sehe somit wieder: Nachwuchspflege schreibe Rheinmetall in allen Bereichen ganz groß.

* https://www.jungewelt.de/artikel/476293.kontrollierte-offensive-des-tages-borussia-dortmund.html, 30. Mai 2024



Als Brockhaus dem US-Rockjazz-Gitarristen und Komponisten Pat Metheny (* 1954) in seinem Band 14 von 1991 fünf Zeilen bewilligte, war der Mann aus Kansas City, Missouri, noch keine 40 Jahre alt. Dabei hatte er anfänglich, als Knabe aus musikalischem Hause, Trompete gespielt. Zur Gitarre lockten ihn angeblich erst die Beatles, als er sie (1964) im Fernsehen sah. Ja, das war unsere selige Zeit. Inzwischen lebt der immer noch üppig haarträchtige Star mit seiner Gattin (drei Kinder) in NYC und kann sich vor Bedeutung und Auszeichnungen kaum noch retten. Rebell war er anscheinend nie. Mir persönlich lag er aber hauptsächlich wenig, weil er in jedem Video, das mir unterkam, vor lauter Verzückung die empfindlichen Mikrofonständer ins Schwanken bringt und sich Zwerchfell und Luftröhre bis zur Lebensgefahr einquetscht. Als Trompeter oder Sänger wäre er damit nicht durchgekommen. Hier ein Auftritt in Montreal 2005. Der überragende Mann am Steinway-Flügel heiß Lyle Mays, auch ein langjähriger Mitkomponist des Bandleaders. Mays ist neulich (2020) gestorben.



Der verschiedentlich als altmodisch bespöttelte, dafür von Anhängern »bezaubernd« genannte »klassische« Komponist Robin Milford (1903–59) ernährte sich hauptsächlich als Schullehrer, Organist und Musikkritiker, da seine Werke wenig Geld abwarfen. Im Brockhaus fehlt er. Geboren in Oxford als Sohn eines Verlegers, lebte er überwiegend in London, im Dorf Butcomb bei Bristol und zuletzt im südenglischen Küstenstädtchen Lyme Regis (bei Exeter, Dorset), wo er auch starb. Milford spielte Flöte, Orgel und natürlich auch Klavier und war mit der Sopranistin und Geigerin Kirstie Newsom verheiratet. Nach Peter Hunter* hing er stark von seiner Frau ab. Ein durchaus freundlicher und humorvoller Zeitgenosse, neigte der dunkelhaarige Komponist entgegen seiner knochig und kantig wirkenden Gestalt doch zu Sanft- und Schwermut, Verklärung seiner Kindheit, wohl auch Wehleidigkeit. Sein Selbstwertgefühl sei gering gewesen. Etliche Schicksalsschläge machten ihn dann offenbar reif für den Selbstmord. Als kurzzeitiges Mitglied der Royal Army erlitt Milford bereits nach einer Woche Dienst in einem Camp einen Nervenzusammenbruch; erste Selbstmordversuche; dies auch 1941, nachdem Milfords knapp sechsjähriger Sohn Barnaby bei einem Straßenverkehrsunfall umgekommen war; ferner starben Milfords Eltern früh, die Mutter 1940, der ihn unterstützende Vater 1952; dann der Tod seiner engen Freunde und Kollegen Gerald Finzi (1956) and Vaughan Williams (1958); schließlich der Umstand, daß Oxford University Press Milfords Werke aus dem Programm nahm. Am Jahresende 1959 schluckte der 56jährige eine Handvoll Tabletten, laut Hunter Aspirin. Mein Lieblingsstück auf der CD Chamber Music, London 2014, die ich besitze, ist ein heiteres Trio für Klarinette, Cello und Piano von 1948. Einige andere Stücke dieser Auswahl sagen mir wenig zu.

Ob die Milfords Auto fuhren, weiß ich nicht. Das erwähnte Söhnchen, Barnaby, kam anscheinend als Radfahrer um. Nach Hunter hatte ihn sein Vater, wohl in Epsom bei London, am 3. Mai 1941 zum Kauf von Manuskriptpapier in einen nahen Laden ausgesandt. Dabei wurde der Bub, der sein Kinderrad genommen hatte, von einem Lieferwagen umgefahren. Der Vorfall schwang vermutlich nicht unerheblich bei Robin Milfords Selbstmord mit, obwohl inzwischen fast 20 Jahre verstrichen waren.

* Peter Hunter, »Robin’s Life and Temperament«, https://www.robinmilfordtrust.org.uk/lifeofrobin.pdf, 2009



Die berühmte »rheinische Frohnatur« Willy Millo-witsch (1909–99), für Brockhaus einfach nur »Volksschauspieler«, hat in den fünf Lexikon-Zeilen weder Todesdatum noch Kritik zu erleiden. Millowitsch lebte eben 1991 noch. Möglicherweise wuchs er im Lauf seiner Karriere im Leibesumfang deutlicher als im Charakter, was sich aufgrund des beigefügten Paßfotos schwer entscheiden läßt. Wie sich versteht, lächelt und zwinkert er auf dem Foto. Die Leitung der väterlichen Kölner Juxbühne hatte er 1940 übernommen. Gut 10 Jahre darauf griff das Fernsehen zu und wurde gleichsam Abonnent seiner Inszenierungen und Lieder. Erstaunlicherweise faßt ihn das Internet kaum härter als Brockhaus an. Einmal froh, alle froh. Das Portal Rheinische Geschichte läßt in seine wohlwollende Würdigung (Ingeborg Nitt, Stand 2017) immerhin einfließen, während des Zweiten Weltkrieges sei die Kölner Truppe auf Fronttournee gewesen – »von der NS-Organisation Kraft durch Freude« veranstaltet. Das war eine sichere Bank für die SpaßmacherInnen, soweit sich keine Granaten zu ihnen verirrten. Sie kehrten unversehrt heim. Nun habe sich Kölns Oberbürgermeister Adenauer persönlich für die unverzügliche Wiedereröffnung des weitgehend von ausländischen Bombern verschonten Millowitsch-Theaters an der Aachener Straße ins Zeug gelegt. Er hatte die Regel Brot und Spiele in seinem Jurastudium gut gepaukt. Millowitsch konnte sogar singen, und zwar besser als Eva Braun oder Konrad Adenauer. Von den Hits, die er landete, hebt Nitt »Schnaps, das war sein letztes Wort« und »Wir sind alle kleine Sünderlein« hervor. Laut einem erfrischenden Geburtstagsgruß* in der Berliner Zeitung lag das Sündhafte aber nicht etwa in Millowitsch, der nebenbei ein jähzorniger Patriarch gewesen sein soll, sondern in seinem Material, den Stücken. Kotte zitiert: »Auch ich habe bis zur letzten Minute Theater gespielt, weil wir im Sinne von Kraft durch Freude die Leute vom Krieg abgelenkt haben. Das haben wir nicht extra gemacht. Die Stücke waren so.«

* Hans-Hermann Kotte, »Der Etappenhase«, 8. Januar 1999: https://www.berliner-zeitung.de/archiv/volksschauspieler-willy-millowitsch-wird-heute-90-jahre-alt-der-etappenhase-li.723376



Eigentlich wäre zum Minarett nicht viel zu sagen, denn 1.) weiß jeder, um was es sich dabei handelt, und 2.) ist zumindest kritischen Köpfen klar, daß die muslimischen Gebetsrufer- und Wachtürme trotz ihrer erstaunlich vielfältigen Gestalten nicht aus dem religions- und imperienübergreifenden Bereich des Turmhaften, Emporistischen, Größenwahnsinnigen herausfallen, von dem ich schon eher zu oft gesprochen habe. So wundert es nicht, wenn die historische Tendenz bei der Gestaltung der mal freistehenden, mal angebauten Minarette auf das Zugespitzte, Nadelige, meist auch Elegante geht. Damit verglichen, kann man die meisten christlichen Kirchtürme nur plump nennen. Eine bemerkenswerte Zwischen-stellung nimmt das 52 Meter hohe, beinahe kegelförmige Minarett Malwija der schon früh zerstörten riesigen Moschee in Samarra, Irak, ein, von dem Brockhaus ein Farbfoto bringt. Malwija stammt aus dem Jahr 852. An solch einem Turm kann man sich wirklich die Zähne ausbeißen. Der spiralige Eindruck kommt von der umlaufenden Rampe, die man einer Treppe oder einer Strickleiter vorgezogen hat. Irgendwie muß der Muezzin schließlich hinauf- und wieder hinunterkommen, und zwar in der Regel fünfmal am Tag. Nimmt man an, er wird mit umgerechnet 50 Euro täglich entlohnt, geht schon bald die Hälfte für Wegegeld drauf. Oder vielleicht für einen Zwergmaulesel, ich weiß es ja nicht. Es ist nicht so einfach, in fremde Sitten und Gebräuche einzudringen. Bei uns Christen nehmen sie ja bereits für die Bischöfe Esel, weil die nicht so üppige Gehälter und Spesen verlangen wie ein Bischof.

Den ersten Auf- und Abstieg des Tages hat der Gebetsrufer übrigens schon vor Sonnenaufgang zu leisten – Vorschrift. In Israel gibt es allerdings seit 2017 das sogenannte Muezzin-Gesetz, das lästigen Lautsprecherlärm, darunter insbesondere muslimische »Haßreden«, zumindest nachts unterbinden soll. Damit fällt jener erste Gebetsruf natürlich flach. Nebenbei läßt sich daraus schließen, der Beruf des Gebetsrufers sei ähnlich wie die Vernunft längst zum Aussterben verurteilt. Jetzt sitzt da irgendein Rentner in der Moschee, der zu den Gebetszeiten einen Mausbefehl an die Lautsprecheranlage gibt, fertig. Dadurch werden die Maulesel für den Turmaufstieg eingespart. Im Iran wollte man eigentlich auch den Rentner einsparen, weil ein Roboter genausogut sei. Denkste, Puppe! Die CIA hackte den Computer der zentralen Moschee-Verwaltung und gab die unmöglichsten Sommer- und Winterzeiten ein. Das führte zum größten Gebetschaos in der Geschichte des Islam, und so arbeitet man heute wieder mit Rentnern.

Den Vogel der Verbote schoß bereits 2009 das Volk Wilhelm Tells ab. Die Eidgenossen ließen sich einen sogenannten Volksentscheid gefallen, durch den es, da die Antiislamisten siegten, ab sofort verboten war, in der Schweiz Minarette zu errichten. Bislang ist dieses meist so genannte »Minarettverbot« auch nicht gekippt worden, obwohl sich VerteidigerInnen der »Religionsfreiheit« in dieser Hinsicht einige Mühe gaben. Mir persönlich wäre ein weltweit greifendes Verbot von Verboten lieber, aber man predigt in taube Ohren. AfD und BSW schwenken jetzt auch schon auf die beliebte Verbotslinie ein. Während sich die AfD für ein Pizzaverbot stark macht, weil Pizzagenuß deutsches Reinheitsempfinden verletze, es sei denn, der Bäcker verwende ausschließlich schwarze Oliven, haben sich die Wagenknecht-Leute ein Kaugummiverbot auf die Fahnen geschrieben. Das ist so die reformistische Art und Weise, auf Antiamerikanismus zu setzen, ohne daß es gleich jeder merkt. Man hört freilich schon von Fraktionskämpfen. Die gemäßigten WagenknechtlerInnen möchten lediglich die Unsitte verbieten, Kaugummi unter die Tischplatten zu kleben. Durch die Unsitte erschwere sich das erfolgreiche Aufspüren von Miniwanzen, die der Verfassungsschutz bekanntlich nur zu gern einsetze, um die Sitzungen des BSW-Vorstandes zu belauschen. Lächerlich! Als ob es in diesem Vorstand jemals zu einer halbwegs anständigen Verschwörung kommen könnte.



Der Japaner Mishima Yukio (1925–70) war Schrift-steller, vor allem jedoch, auch laut Brockhaus, »Führer einer nationalistischen, paramilitärischen Gruppe«. Er habe rituellen Selbstmord begangen (Seppuku). Näheres verrät das Internet. Danach konnte Mishima der literarische Ruhm, den er bereits genoß, keineswegs genügen. Als Kind war er teils verzärtelt, teils gedemütigt worden. Wohl von daher entwickelte er, neben dem Trieb zu schreiben, auch eine Leidenschaft für Schauspiel, Kampfsport und Homosexualität. Schließlich bildete er, vornehmlich aus Studenten, eine Schildgesellschaft, nämlich eine Art kleines, angeblich 80 Mann starkes Freikorps, das er persönlich trainierte. Am 25. November 1970 begab er sich mit lediglich vier Getreuen ins Tokioer Hauptquartier der Armee, drang unter dem Deckmantel eines Besuchstermins bis ins Büro des diensthabenden Kommandanten vor und erklärte diesen, General Mashita, zur Geisel. Dann trat der 45jährige berühmte »Dichter« und Schwertträger auf den Balkon hinaus, wetterte gegen den Parlamentarismus und forderte die Wiedereinführung der Monarchie. Wie sich rasch zeigte, wollten das weder die im Hof anwesenden Soldaten noch die aufsteigenden Hubschrauber, die vorsorglich Lärm machten. Der Held ging wieder hinein.

Allerdings hatte Mishima mit diesem Fehlschlag seines »grotesken Staatsstreichs« gerechnet. Von daher nahm er auch seinen Selbstmord keineswegs »spontan« vor.* Er veranstaltete nun in der besetzten Kommandatur und offenbar vor den Augen des gefesselten Generals gemeinsam mit seinem erst 25 Jahre alten Vertrauten Masakatsu Morita (1945–70), der auch sein Geliebter war, jenen Seppuku. Zu dieser Sitte, die vorwiegend im alten japanischen Kriegeradel beliebt war (unter den »Samurai«), erläutert Brockhaus in Band 20, neben der Selbsttötung habe sie den Erweis von Mut, Selbstbe-herrschung und Reinheit der Gesinnung bezweckt. So konnte sie »der Wahrung der eigenen Ehre, der Rettung vor Gefangenschaft oder Strafe, dem Loyalitätsbeweis gegenüber dem eigenen Herrn oder dem Widerstand gegen politische Herrschaft dienen.« Was die Ausführung angeht, kommt es anscheinend zunächst darauf an, sich im Sitzen den Bauch aufzuschlitzen. Dann läßt man sich von einem Getreuen (»Sekundanten«) blitzschnell enthaupten. Im vorliegenden Fall scheint es ein paar Pannen gegeben zu haben*, aber darauf kommt es wohl nicht an. Zwei Krieger hatten sich jedenfalls »entleibt«. Man muß sich das Blut, die Gedärme, den Kot und den Urin auf dem doch ziemlich erlauchten Linoleum des Hauptquartiers ausmalen, dann begreift man, daß Mishima ein rechter Happening-Künstler war, der die Ästhetik mit der Politik und der Gosse zu verbinden verstand. Im Westen firmiert das Happening meist als Harakiri.

Für die juristische Verteidigung der übriggebliebenen und natürlich verhafteten drei Getreuen soll Mishima fürsorglich Geld hinterlegt haben. Er galt sowieso als reich. Von seinem großartigen Seppuku-Abgang hatte er den meisten Quellen zufolge seit Jahren geträumt. Was General Mashita angeht, nehme ich an, er wurde zunächst einmal in die Obhut eines Militärpsychologen gegeben, bevor man ihn zur Sau machte. Dazu sagt das Internet nichts.

* Konrad Muschg, https://www.srf.ch/kultur/literatur/seltsamer-suizid-vom-staatstreich-zum-selbstmord-die-geschichte-des-yukio-mishima, 25. November 2016



Auch bei der Misteldrossel spart Brockhaus die Stimme kaltblütig aus. Das ist in diesem Fall besonders betrüblich. Die vergleichsweise große, eher unscheinbar gefleckte Drossel bewohnt meist Nadel- und Mischwälder, und da sie oft schon im Februar/März zu hören ist, scheint sie den Schnee von ihrem Baumwipfel aus geradezu inständig zu bitten, sich endlich zu verpissen. Ihre kurzen Strophen klingen vielleicht nicht so volltönend wie bei der Amsel, aber deutlich einfältiger, wehmütiger und somit ergreifender. Niemals würde sie Befehle herauskrähen wie die Singdrossel, die ihr lediglich im Kleid ähnelt. Nimmt man dem Wald das Lied der Misteldrossel, hat man ihm schon die Hälfte seines Zaubers geraubt. Zum Alarm schlagen dient ihr leider ein häßliches Schnarren. Das paßt natürlich gar nicht zu ihr, jedoch zum jeweiligen Eindringling.



Sicherlich könnte man auch mit der von hartem Schicksal geschlagenen Misteldrossel Mitleid haben. Mit den milchglasigen Beeren, die sie gern frißt, jedoch nicht? Hier scheint ein Problem auf, das Adorno, Brockhaus und Nietzsche wahrscheinlich gar nicht kennen. Das Lexikon schließt seinen gelehrten Eintrag mit dem Hinweis, Mitleid erstrecke sich auch auf die »nichtmenschliche Kreatur« und verweist in Klammern auf → Tierliebe. Diese wiederum scheint umso mehr gefragt zu sein, sofern die betreffende leidende oder hilflose »Kreatur« weinen und Mama sagen kann, also an Kinder erinnert. In der Regel zählen wir jedenfalls die stramme Lärche, auf der die Misteldrossel hockt, nicht zur »Kreatur«; folglich darf sie mit der Motorsäge gnadenlos umgelegt werden. Man wird vielleicht einwenden, das Weinen und Mamasagen sei doch ein deutliches Zeichen von Hilfsbedürftigkeit oder gar Angst, aber dieses Thema hatten wir bereits. Wir sind nicht nur in Kategorien wie »unten« und »oben«, sondern auch in unseren Empfindungen befangen. Ob Lärchen oder Kohlröschen etwas empfinden, und wenn ja, was, entzieht sich leider unserem Einblick. Den Elefanten ebenfalls, und deshalb trampeln sie unbedenklich auf dem Kohlröschen herum, falls sie in höheren Lagen des Tessins wohnen oder dort Urlaub machen. Und überlegen Sie einmal, wieviele Ameisen, Käfer, Würmer, Schnecken Sie, je nach Wetter, allein bei einer Halbtageswanderung völlig unbeabsichtigt vernichten. In der sogenannten Schöpfung liegen doch überall schreiende Mißverhältnisse vor, und allein das wäre schon Grund genug, diese Schöpfung abzulehnen. Aber FG Jünger und der Würzburger Weihbischof möchten, daß wir sie sogar preisen. Lächerlich.



Der südtiroler Tischler und Zimmermann Peter Mitterhofer (1822–93) hat rund fünf Zeilen plus Farbfoto. Gezeigt wird das erste Modell seiner Typenkorb-Schreibmaschine von 1864. Ja, auf so eine Idee muß erst einmal einer kommen! Fast möchte ich trotz meiner Befangenheit behaupten, die Schreibmaschine zähle höchstwahrscheinlich zu den 30 bedeutensten kulturellen Errungenschaften der Menschheit. Aber ich bestehe nicht darauf. Bei Mitterhofers Urmodellen wurde das flach ausgespannte Papier noch nicht bedruckt, vielmehr, von unten, durch den Tastenanschlag und die benadelten Typenhebel perforiert. Im übrigen soll der Tiroler auch Sänger, Bauchredner und überhaupt vielseitig gewesen sein. So erfand er ein Musikinstrument namens Hölzernes Glachter (Gelächter), wie das Internet weiß. »Dabei handelte es sich um eine klavierähnliche Apparatur, bei der Hämmerchen auf Holzblättchen schlagen und so Töne erzeugen, die an menschliches Gelächter erinnern.« Fachleute nähmen an, just dieses Ding hätte Mitterhofer zu der Schreibmaschine geführt. Außerdem habe er für seine geplagte Gattin eine Waschmaschine erfunden – wer wollte das nicht loben! Gleichwohl blieb Mitterhofer zu Lebzeiten verkannt. 1867 entwickelte der Buchdrucker und Zeitungsmann C. L. Sholes in den USA, mit Partnern, unabhängig von dem Tiroler eine Schreibmaschine, die ab 1874 vom Schußwaffen- und Nähmaschinenhersteller Remington fabrikmäßig gebaut wurde. Die Schußwaffen sind bei meiner 30er-Rangliste auszunehmen. Heute hat Mitterhofer in seinem Heimat- und Wirkungsort Partschins, Italien, ein eigenes Museum. Doch immerhin, Dresden glänzt neuerdings auch mit einem Urstück von ihm.



Das österreichische Städtchen Mittersill, 800 Meter hoch über dem Salzachtal gelegen, kam 1945 zu seiner Bedeutung, als in ihm ein prominenter Komponist erschossen wurde. Davon hat Brockhaus natürlich keinen Schimmer. Auch in Band 23 wird das dramatische Ende des Wiener Schönberg-Schülers Anton Webern (1883–1945) übergangen. Allerdings war der Mann schon 61. Und wie so oft, ranken sich die Legenden in allerlei Varianten um seinen Tod, für jeden Geschmack etwas, sogar für unbelehrbare RaucherInnen.

Webern hatte mit seiner Gattin Minna im März 1945 in Mittersill »vor den Sowjets« Zuflucht gesucht, die ihm kurz zuvor, in Rußland, den dort als Hitlersoldat dienenden Sohn ermordet und inzwischen Wien aufs Korn genommen hatten. Am Abend des 15. September 1945 hielt er sich in der Wohnung seiner Tochter Christine auf, die mit Mann und Kindern eine Bleibe im Hause der Familie Fritzenwanger gefunden hatte. Die offizielle Webseite Mittersills* bevorzugt die Variante mit der Zigarre, weil sie recht zu Herzen geht. Wahrscheinlich fußt sie hauptsächlich auf Minna Weberns Erzählung. Danach war ihr Gatte gegen 22 Uhr rücksichtsvollerweise vor die Tür getreten, ehe er sich eine Zigarre ansteckte, die ihm übrigens just Benno Mattel, der Schwiegersohn, geschenkt haben soll. Im Haus schliefen in einem Zimmer die Enkel, deren Träume der Komponist nicht verräuchern wollte, während im anderen Zimmer Verhandlungen über etwas anrüchige »Geschäfte« zwischen Mattel und zwei Yankees stattfanden, bei denen Webern ebenfalls nur gestört hätte. Also trat er vors Haus. Dieses war aber offenbar bereits von Soldaten der neulich eingerückten U. S. Army umstellt. Und als Webern, ob ahnungslos oder tollkühn, die Zigarre entzündete – da fielen in der Dunkelheit drei Schüsse, und Webern war tot.

Nach anderen Darstellungen, die sich vor allem den Forschungen Hans Moldenhauers verdanken dürften**, war die liebe Christine mit einem gestandenen Nazi verheiratet, der sich am besagten Abend, die Zeichen der Zeit erkennend, mit eingefallenen Yankees über Schwarzmarktgeschäfte zu verständigen suchte. Er hatte sich freilich zwei Lockspitzel ins Haus geholt. Diese waren bewaffnet, nahmen Mattel fest – und im Zuge dieser Verhaftung gab der eine Lockspitzel jene drei Schüsse ab, weil er sich, in der Dunkelheit, von Mattels Schwiegervater bedroht oder gar angegriffen fühlte. Dieser Mann hieß Raymond Norwood Bell, wie auch ein Zeit-Autor bestätigt.*** Lockspitzel Bell, aus North Carolina stammend, war im »Hauptberuf« Koch der Stabskompanie des 242. Infanterieregiments der 42. Division (der berühmten »Rainbow-Division«) der US-Armee. Angeblich erhielt er als Strafe für sein nervöses, übereiltes Handeln vor dem Haus der Fritzenwangers drei Tage Stubenarrest. Er soll später nachhaltig unter Gewissensbissen gelitten und sich bereits mit 41 Jahren (1955) im Alkohol ersäuft haben.

Was aus dem umtriebigen Benno Mattel wurde, scheint noch ziemlich im Dunkeln zu liegen. Metzger erwähnt, der braune Schwarzhändler habe später, wie so viele, eine neue Wirkungsstätte in Argentinien gefunden. Dem Fragesteller »Monteavaro« aus dem Axis History Forum zufolge**** hatte Mattel vorher, wie auch seine Gattin Christine, ein Jahr im Gefängnis gesessen. Dieser anscheinend recht beschlagene Diskutant behauptet weiter, der 1917 geborene Mattel sei bereits mit 14 Jahren Mitglied der NSDAP geworden. 1938 soll er sich zum Kreisleiter der SS (wohl eine Verwechslung M.s mit der Partei) in der Stadt Perchtoldsdorf, vielleicht auch Mödling (beide bei Wien) aufgeschwungen haben. Im selben Jahr habe er sich mit der jüngsten, 1919 geborenen Tochter des Komponisten Webern verheiratet. Man darf wohl annehmen, daß die politische Rolle Mattels sowohl der Tochter wie dem Schwiegervater im Kern bekannt war. Mehr noch, hatte Webern, trotz der Attacken gegen seine »entarteten« Werke, wiederholt seine Sympathien für die auf Österreich übergegriffenen Bestrebungen des »Dritten Reiches« bekundet. Andererseits war er mit vielen Juden befreundet. Möglicherweise wußte er mit dem Zusammenbruch dieses Reiches nicht mehr ein noch aus. Der kosmopolitische Autor Michael Stein***** hält es deshalb für keineswegs abwegig zu vermuten, an jenem verhängnisvollen Abend in Mittersill habe Webern Bell, wenn auch vielleicht nur »instinktiv«, in der Tat angegriffen – nämlich von dem Wunsch geleitet, sich ein für allemal seiner heillos verhedderten Lage zu entledigen: indem er sich töten ließ.

* »Anton Webern«, https://www.mittersill.at/system/web/sonderseite.aspx?menuonr=221053096&detailonr=221053096", o.J., laut unterem Band leicht bewölkt, Tagestemperatur um 18° (und das im Juli!)
** Hans Moldenhauer: The Death of Anton Webern: A Drama in Documents, New York 1961
*** Heinz-Klaus Metzger, https://www.zeit.de/1995/38/Ich_will_keine_Symbole_Ich_moechte_die_Dinge, 15. September 1995
**** Monteavaro, https://forum.axishistory.com/viewtopic.php?t=117225, 2007. Möglicherweise hat M. unter anderem in den Erinnerungen des 1923 geborenen Schönberg-Enkels Arnold Greissle-Schönberg geblättert, wo sich ähnliche Angaben über Mattel finden: Arnold Schönberg's European Family, Kapitel 4, Abschnitt Bombed Out (im letzten Drittel der Webseite)
***** Michael Stein, https://bodyliterature.com/2013/01/15/deaths-of-the-artists-anton-webern-in-twelve-tones/




Der Wiener Schauspieler Friedrich Mitterwurzer (1844–97), bereits von Bühnenkünstlern in die Welt gesetzt, wird überall zu den Spitzen seines Fachs gezählt. So gönnt ihm Brockhaus ebenfalls ein paar Zeilen, wenn auch ohne Mitterwurzers letztes Gurgeln. Er war wiederholt am berühmten Burgtheater engagiert, gab sich dazwischen aber überdies, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen, einem rastlosen Wanderleben hin. Er soll große Ausstrahlung besessen und die jeweilige Aufführung in der Regel beherrscht haben. Zu seinen Paraderollen gehörte, neben verschiedenen Shakespeare-Gestalten, Hjalmar Ekdal aus Ibsens Wildente.

Nach Eugen Guglia* war der stattliche Mann im Gemüt so wechselhaft wie auf der Bühne wandlungsfähig. Freunden gegenüber habe er freimütig seine Angst bekannt, einmal dem Wahnsinn zu verfallen. Aber ist das nicht gerade unter Schauspielern normal? »Geheimnißvoll wie seine Persönlichkeit« sei sein plötzlicher Tod (mit 52) gewesen, fährt Guglia fort. »Einige sprachen von Selbstmord, die Section ergab Vergiftung durch ein [Chlorkali-]Medi-cament, das, zum Gurgeln bestimmt, von ihm eingenommen wurde, doch mochte dies auch nur die Folge eines Irrthums gewesen sein.« Woraus ja immerhin zu schließen ist, es hatten sich keine Absichtserklärungen gefunden.

Wahrscheinlich kann Mitterwurzer nicht als Mönch gelten. So hatte er 1893 eine Tochter namens Anna verloren, wie sich gleich eingangs einem Bericht der Wiener Neuen Freien Presse vom Begräbnis des Künstlers entnehmen läßt.** Zu dieser Tochter wurde er jetzt gebettet. Dagegen war ein Knabe namens Anton noch anwesend – vielleicht Annas Bruder, vielleicht ihr Stiefbruder. Das Blatt nennt ihn »den Sohn« der gleichfalls anwesenden Witwe, nämlich der Hofschauspielerin Wilhelmine Mitterwurzer. Verständlicherweise war die Dame »tief erschüttert«. Die Trauergemeinde war stattlich; es hätten sich »viele Verehrer und besonders Verehrerinnen des Verblichenen« eingefunden. Als das Loch halb zugeschüttet war, fuhr als Knalleffekt auch noch ein Fiaker vor, dem »Fräulein Mirovic« entstieg, »die Freundin« des Verblichenen, in deren Haus er auch verstorben sei. Sie hatte ebenfalls einen Anton dabei, »ihr Söhnchen« nämlich. Auch Mirovic weinte heftig, während sie Blumen ins Grab warf. Der »kleine Anton« aber, so das Blatt ungeachtet aller Verwechslungsgefahr, habe in das Loch hinabgerufen: »B'hüt dich Gott, Vater!« Mirovic, die verspätete Dame, habe sich kaum von dem Grabe trennen können. Soweit der Bericht.

Mehr oder weniger klein dürften ja beide Antons gewesen sein. Wen von den beiden Buben das Blatt nun meinte, wird nicht klar. Sollte der Redakteur nicht einfach schlecht gewesen sein, dann im Gegenteil durchtrieben.

* ADB, Band 52 (1906), S. 423–26
** https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?apm=0&aid=nfp&datum=18970228&seite=06, 28. Februar 1897, S. 6




Wie es aussieht, durfte auch der Germanist Walter Mitzka (1888–1976) vom bundesdeutschen Verzeihungs- und Wirtschaftswunder zehren. Brockhaus stellt ihn lediglich in wenigen Zeilen als Professor in Danzig (1929) und Marburg (1935 [eher 33]) vor, führt jedoch Arbeiten »volkskundlicher« Natur an, die aufhorchen lassen. Nach Klee und anderen hatte sich der Professor 1933 öffentlich zu Adolf Hitler bekannt. 1936 habe er dem Führer zum Geburtstag sogar persönlich »Tondenkmale« (Schallplatten) mit deutschen Dialekten überreicht. Ein Jahr darauf wurde Mitzka Parteimitglied. Das führte dann 1947 zu seiner Suspendierung (in Marburg), aber 1951–56 sehen ihn die Studenten wieder als Ordinarius. Eine Webseite der Marburger Philips Universität bestätigt seine 1956 erfolgte Emeritierung.* Sie findet es freilich eleganter, jene Nachkriegslücke (Suspendierung und vermutlich »Entnazifizierung«) kurzerhand zu überspringen. Bei ihr steht Mitzka groß und tadellos da. Sollte sie das vom Brockhaus haben?

* https://www.uni-marburg.de/de/fb09/dsa/einrichtung/institutsgeschichte/gruender-und-leiter



Ein Möbius-Band kann jedes Kind herstellen. Es nimmt einen Papierstreifen und klebt ihn gegensinnig, wie Brockhaus meint, an den beiden schmalen Stoßkanten zusammen. Der Streifen muß also vor dem Verbinden um 180 Grad verdreht werden. Um das herauszufinden, bedurfte es im Jahr 1858 des biederen sächsischen Mathematik-Professors August F. Möbius. Der dozierte dann, jetzt verfüge man endlich mal über eine einseitige Fläche. Tischplatten und Kartoffeläcker zum Beispiel haben immer zwei Seiten: eine oben, eine unten – es sei denn, man dreht sie … In Wahrheit scheint die Natur aber mit Möbius-Flächen zu geizen. Und auch, was deren technische Anwendbarkeit angeht, behauptet Reinhard Kleindl, sie halte sich in Grenzen.* Selbst das Kind wird Mühe haben, sich ein Möbius-Band zum Indianerspielen als Stirnband aufzusetzen. Nur in Kunst und Popkultur ist es schon massenhaft mißbraucht worden. Somit riecht diese Angelegenheit von vorne bis hinten nach fruchtloser Spielerei.

Da liegt ein vorausgreifender Blick auf die berühmte Müller-Lyer-Täuschung nahe. Laut Brockhaus (Band 15) wurde sie um 1890 von einem Psychiater entdeckt. Zwei gleiche Strecken wirken unterschiedlich lang, sobald sie an den Enden mit unterschiedlichen Pfeilpaaren versehen werden, nämlich a] nach außen (>), b] nach innen (<) gerichtet. Nun kommt uns die Strecke b] kürzer vor. Nach einigen Untersuchungen gilt das aber nicht für gewisse »primitive« Völker, die mehr mit Krümmungen als mit Graden zu tun haben, das nur nebenbei. Was lehrt uns Müller-Lyers Entdeckung? Nach Brockhaus nichts. Matthias Steinke dagegen meint**, sie stoße uns unsanft auf die Subjektivität unseres Blickes in die Welt. Das schließt den nicht selten beträchtlichen Unterschied zwischen einem Tatbestand und dessen Darstellung ein. Meines Erachtens kommt es allerdings nicht nur auf unsere Befangenheit (zum Beispiel Interessen), sondern auch auf den jeweiligen Zusammenhang an, wie ja die M-L-Täuschung drastisch nahelegt. Kehre die Pfeile um, und die Situation ist eine ganz andere, obwohl die Strecke gleich bleibt. Jedenfalls hält unser Alltag unzählige Beispiele für die Subjektivität und die Relativität unserer Wahrnehmung bereit, wie man, zuweilen täglich, oft recht schmerzlich zu erfahren hat.

Annalena Baerbock und die sie anhimmelnden Fachkräfte im Außenministerium und bei Rheinmetall haben die Schmerzen jedoch bislang noch nicht zu spüren bekommen. Im Gegenteil, ihre Aktien sind beängstigend gestiegen. Der deutsche Durchschnittswähler scheint von der Aussicht, endlich mal wieder Russen jagen zu dürfen, begeistert zu sein. Es wäre übrigens schon das dritte Mal seit 1914. Eigentlich ist das für einen durchschnittlich gebildeten und kritischen Deutschen unfaßbar. Schon das Weglügen der durchaus verständlichen wahren Gründe für den russischen Einmarsch in den Donbaß war ein selten dreistes Kabinettstückchen. Und nun sollten Baerbock und ihre WählerInnen wirklich zu dumm dafür sein, sich den Einschlag von Waffen eines weit überlegenen Gegners in deutschen Stadt- und Landstrichen auszumalen? Sehen Sie das denn nicht täglich im Fernsehen von anderswo her? Eben. Der Deutsche gewöhnt sich an alles. An die Vernichtung von »Menschenmaterial« in KZs, ans Abschlecken von ihn bewachenden Smartphones und dann, in den Trümmern, an ein abenteuerliches Ratten-dasein. Zur Stunde schützt mich nur der Hoffnungsschim-mer vor Verzweiflung, die kriegsverweigernden Staaten Italien, Ungarn und Bulgarien könnten sich noch rasch vermehren.*** Die sind wenigstens auch nicht so fett wie Deutschland.

Ja, wenn das Wörtchen wenn nicht wär! Hätten es die Angelsachsen 1945 trotz Stalins gegenteiligem Wunsch geschafft, Deutschland in Teilstaaten zu zerlegen, sähe die Welt inzwischen womöglich angenehmer aus. Jetzt hat Putin den Salat. Die Angelsachsen bedachten es noch einmal und sagten sich: ein fettes Deutschland als Prellbock und Kanonenfutterlieferant gegen unsere »bolschewistischen« Rivalen ist doch viel günstiger. Und so geschah es leider. Dabei hätte man Baerbocks niedersächsische Mama, die die Natur sehr liebte, in einem zerlegten Deutschland sicherlich (aus Hannover) in die vorsichtshalber eingezäunte Lüneburger Heide locken können. Dort hätte die kleine Annalena nach Herzenslust im Sand gespielt, das Trampolin zum Quietschen gebracht und wütend auf ihrem Möbius-Band herumgetrampelt, weil es um keinen Preis auf ihren Dickkopf passen wollte. Jetzt spielt sie mit dem Feuer. Mit einem für uns alle.

* https://www.derstandard.de/story/2000142132608/wenn-man-licht-in-einer-moebiusschleife-einfaengt-geschieht-erstaunliches, 1. Januar 2023
** https://www.re-vue.org/beitrag/im-kopf-mueller-lyer-die-welt-die-wir-sehen-matthias-steinke, 18. August 2021
*** Ulrich Heyden, https://www.nachdenkseiten.de/?p=116172 4. Juni 2024




Von der norddeutschen Malerin Paula Modersohn-Becker (1876–1907) gibt Brockhaus ein Gemälde wieder, das mich fast so stark berührt wie Konstantinos Panorios‘ Cosette, obwohl es viel klobiger gemalt ist. Das kleine Mädchen des Griechen stellte ich in Folge 15 vor. Modersohn-Beckers Worpsweder Bauernkind, gleichfalls ein kleines Mädchen, um 1905 porträtiert, hockt sogar ähnlich verschämt und garstig auf seinem Stuhl. Aber wer weiß, vielleicht blickt einen nur ein hartes Los aus den dunklen Kulleraugen an.

1899 zum ersten Mal in Paris, begeisterte sich die junge Malerin für die Werke eines gewissen Paul Cézanne, der damals noch nahezu unbekannt war. Ihre eigenen Versuche, vorwiegend Porträts, Stilleben und Landschaften, werden, falls überhaupt zur Kenntnis genommen, mit Hohn oder Kopfschütteln bedacht. Sie schafft in nur 14 Jahren 750 Gemälde, doch an dem Ruhm, den wir heute mit ihrem Namen verbinden, darf sie noch nicht einmal riechen. Dafür läßt sie sich von ihren Bremer Eltern zu einem Kochkurs in Berlin nötigen, auf daß sie dem Maler Modersohn, den sie 1901 heiratet, eine gute Gattin sei. Was Wunder, wenn diese Ehe überwiegend wackelt. Paula fühlt sich gräßlich vereinnahmt und unverstanden zugleich. Die letzte Versöhnung – er reiste ihr von Worpswede aus nach Paris hinterher – gipfelt in einer Schwangerschaft, die sie bestenfalls mit halber Seele ersehnt hat. Prompt wird die 31jährige kurz nach der Geburt, 1907, von einer Embolie ereilt. Dürfen wir ihrem Mann Otto trauen, seufzte sie »wie schade!«, ehe sie im Bett zusammensank und starb. Immerhin hatte er sich selber und den gemeinsamen Freunden nie vorgemacht, er könne seiner Frau in künstlerischer Hinsicht das Wasser reichen.

Über die Qualität des monumentalen Denkmals, das der Bildhauer Bernhard Hoetger auf Paulas Grabstelle in Worpswede türmen durfte, läßt sich vielleicht streiten, schwerlich dagegen über die Berechtigung, mit der dies geschah. So sieht es jedenfalls Herbert Eulenberg.* Er beruft sich auf eine Stelle aus dem Tagebuch der Malerin, an der sie die von ihr erwünschte schlichte Grabstätte unmißverständlich beschreibt. Nelken, Rosen und Kies möchte sie verwendet wissen. Von Grabsteinen und in Stein gehauenen sterbenden Müttern auf hüfthohen gemauerten Sockeln ist keine Rede. Modersohn-Becker erwähnt lediglich eine »kleine, schwarze Holztafel mit meinem Namen, ohne Datum und Worte. So soll es
sein …«

Nach dem Willen der lieben Hinterbliebenen sollte es aber nicht so sein. Und als Toter hat man in der Frage, wer nun recht habe, immer ziemlich schlechte Karten.

* Herbert Eulenberg, Ausgewählte Schattenbilder, Ostberlin 1951, S. 238–47



Statt uns den zuletzt ämterreichen sozialistischen franzö-sischen Politiker Guy Mollet (1905–75) zuzumuten, angeblich sowohl Sozialist wie Widerstandskämpfer, hätte ich an Guy Môquet (1924–41) erinnert. Der wurde mit 17 als französische Geisel der Nazis ermordet. Sohn eines Pariser Arbeiters und KP-Abgeordneten, war er im Oktober 1940 im faschistisch besetzten Frankreich von einheimischen Polizisten am Gare de l'Est wegen der Verbreitung kommunistischer Schriften verhaftet worden. Ab Mai 1941 saß Môquet in einem Internierungslager der bretonischen Kleinstadt Châteaubriant. Nicht weit davon entfernt, in Nantes, wurde der dortige deutsche »Feldkommandant«, Oberstleutnant Karl Hotz (64), am 20. Oktober 1941 Opfer eines von Kommunisten verübten Anschlages. Hitler ordnete daraufhin drakonische Vergeltungsmaßnahmen an: 50 Geiseln sollten daran glauben. Prompt ließ der Innenminister von deutschen Gnaden Pierre Pucheu, »um zu verhindern, daß man 50 gute Franzosen erschießen läßt«, eine Vorschlagsliste mit den Namen von 61 Häftlingen erstellen, die als Geiseln in Frage kämen. Die Deutschen bedienten sich. Aus dem Lager Châteaubriant wählten sie 27 Häftlinge als Geiseln aus. Der Rest verteilte sich auf Nantes und Paris. Der 17jährige Guy Môquet war der Jüngste unter den Häftlingen aus Châteaubriant. Alle 27 wurden ebendort am 22. Oktober 1941 von deutschen Soldaten erschossen. Dieser Massenmord, die Opfer von Nantes und Paris eingeschlossen, sorgte für große Empörung im Land und nagte das Ansehen des Vichy-Regimes weiter an. Heute sind zahlreiche Straßen und öffentliche Einrichtungen nach dem blutjungen Guy Môquet benannt, darunter eine Pariser Metrostation.

Was das Anschlagsopfer Hotz angeht, fallen mir im Internet einige Versuche vor die Füße, ihn als Ehrenmann hinzustellen. Die Krönung liefern womöglich die Frän-kischen Nachrichten mit einer Perle »ausgezeichneten Qualitätsjournalismuses« aus jüngster Zeit, die das Blatt leider hinter der bekannten Bezahlschranke verbirgt.* Hotzens Gattin hieß Dora – mehr konnte ich dem Internet nicht abringen.

* »Karl Hotz verlor erst seine Frau, dann sein Leben«, https://www.fnweb.de/orte/wertheim_artikel,-wertheim-karl-hotz-verlor-erst-seine-frau-dann-sein-leben-_arid,1867391.html, 20. Oktober 2021



Laut Brockhaus ist ein Monogramm ein Namenszeichen. Meistens werde es aus den Anfangsbuchstaben von Vor- und Familienname gebildet. Na schön. Was sollten aber meine Großeltern Helene und Heinrich tun, die sich, als Eheleute, das Monogramm HV wohl oder übel teilen mußten? Wie sollten sie zum Beispiel ihre Baumwoll-Taschentücher auseinander halten? Nun ja. Mein Großvater tat in dieser Hinsicht gar nichts. Er war eher für Kohlenkeller und Schrebergarten zuständig. Meine Großmutter dagegen stickte brav HV in eine Ecke eines jeden Taschentuchs. Für den Unterschied sorgte nämlich die damals gültige, wie immer schwachsinnige Mode. Herrentaschentücher hatten a) groß, b) blau, Damen-taschentücher zierlich und rosa zu sein. Somit kam es auf das Monogramm nicht wirklich an.

Diplomaten und KünstlerInnen benutzten das Monogramm schon im frühen Mittelalter, um ihre Urkunden und Werke fälschungssicher und sich selber unverwechselbar zu machen. Da lag es nahe, das Monogramm selber zur künstlerisch hochwertigen Miniatur zu erheben, wie man es etwa von Albrecht Dürer kennt. Eine verwandte Linie dürften wir in Siegel, Wappen, Stempel, Logo haben. Ich persönlich hatte vor einigen Jahrzehnten zunächst gediegenes vorgedrucktes Schreibpapier mit einem stilisierten Pferdeschädel im Briefkopf. Das kam mir jedoch rasch zu blöd vor. So ließ ich den nächsten Stapel Briefpapier mit der Nachahmung einer selbstgebastelten Spielzeug-Brosche bedrucken, die mir einmal eine Geliebte geschenkt hatte. Nun war in der rechten oberen Ecke der Briefbögen der Schattenriß eines plumpen, scheinbar nur zweibeinigen Pferdchens zu sehen. Da ich es auf der Druckvorlage schräg gestellt hatte, schien es immerhin zu hüpfen. Ich fürchte jedoch, die Anspielung auf das Dichterroß Pegasus war gleichwohl kaum weniger plump als das Pferdchen.

Heute stößt man hier und dort auf wirklich köstliche Logos, aber das würde den Rahmen dieses Werkes sprengen. Erfrischend ist eine Pressemitteilung über das neue Logo der Green Party Alabama (GPA), deren Galionsfigur Cindy Fairglock gute Aussichten hat, bei der nächsten US-Wahl als Außenministerin ins Weiße Haus einzuziehen. Ihre Partei wählte ein stilisiertes vierbeiniges Raubtier, das vorn wie ein Mink (Amerikanischer Nerz), hinten wie ein Streifenskunk aussieht. Ich glaube, die sogenannten Analdrüsen des Skunks sitzen gleichfalls hinten, unter dem buschigen Schwanz.



Ich vermute stark, den französischen Hauptmann Arnaud de Montaigne (1541–64) kennt lediglich eine Handvoll spezialisierter LiteraturwissenschaftlerInnen. Von denen hatte die Brockhaus-Redaktion gerade keinen zur Hand. Arnaud war ein Bruder des – richtig … Den angeblichen Erfinder der Prosaform »Essay« Michel de Montaigne kennt schließlich jeder, wenigstens dem Namen und der angeblichen Bedeutung nach. Stimmt dieser berühmte Montaigne in seiner Betrachtung Philosophieren heißt sterben lernen beispielsweise in die über alle Epochen erklingenden Hymnen auf den blutrünstigen und herrschsüchtigen Alexander »den Großen« ein, schwant Lesern wie mir, die Grenzen von Montaignes Ketzertum könnten niedriger als die Katzenklappen in seinen häuslichen Küchentüren und Scheunentoren gewesen sein. Umso erstaunlicher, wenn der Schloß- oder Gutsherr von der Dordogne im selben, mit antiken Lesefrüchten überladenen Text auch das Schicksal seines Bruders Arnaud streift. Als sich der junge Offizier ein Jahr nach dem frühen, wohl durch Pest o.ä. verursachten Tod von Michels Busenfreund Étienne de La Boétie (32) beim schon damals allgemein beliebten Ballspiel vergnügte oder ertüchtigte, war er erst 23. Er landete ebenfalls im Sarg. Nach Mitteilung seines Bruders hatte ihn einmal der Ball »ein wenig über dem rechten Ohr« am Kopf getroffen – wenige Stunden nach Spielschluß wurde Arnaud von einem Schlaganfall weggerafft, den die Ärzte auf jenen Treffer zurückführten.* Möglicherweise hatten die jungen Leute in der Tat dem Schlagballspiel gefrönt, das ziemlich alt sein soll. Dabei wurden die eher kleinen Bälle mit Stöcken (»Pritschen«) Richtung Gegner gedroschen und kamen sicherlich zuweilen Gewehrkugeln gleich.

Damals hätte der andere Montaigne, zeitweilig auch Bürgermeister der Großstadt Bordeaux, sicherlich mit Recht toben können: »Sport ist Mord!« Er neigte zur Behäbigkeit, obwohl er eher ein schmächtiges Kerlchen gewesen sein soll. Dagegen dürfte er die Einsicht, auch Militär sei Mord, immer nur halbherzig geknurrt haben. Er mochte sich gelegentlich edle Wilde ausmalen – eine Welt ohne Militär war damals so gut wie undenkbar. Auf diesem Stand sind wir heute noch.

* Essais, einbändige Auswahl von Herbert Lüthy im Manesse Verlag, Zürich 1985, S. 127



Den Naturforscher Ernest Coquebert de Montbret (1780–1801) erwischte es noch jünger als Arnaud, doch auch er war nicht unbedingt Pazifist. Brockhaus streift ihn nur bei der Gartenzierpflanze Montbretie, die just nach dem Diplomatensohn benannt worden ist. Im Sommer 1798 durfte De Montbret als Bestandteil einer fetten wissenschaftlichen Kommission Napoleon beim Einfall in Ägypten begleiten, und dann tat es ihm anscheinend die dortige Flora an. Er durchreiste das Land am Nil und lieferte botanische Beschreibungen. Bald soll ihn allerdings die Pest ereilt haben, woran er, in Kairo, mit 21 Jahren starb. Immerhin nahm er keine Geldsorgen mit ins Grab, nehme ich an. Man ist weitgehend auf Vermutungen angewiesen, weil die Quellenlage auch im Internet den bekannten nordafrikanischen Wüsten gleicht.



Da ist Uruguay sicherlich schon etwas anderes, ein hübsches kleines Land an der südamerikanischen Atlantikküste, mildes Klima, keine Riesengebirge, die ausgedehnten, Campos genannten Steppen vielleicht inzwischen etwas baumarm, aber in denen wohnt sowieso kein Mensch. Diesen Seitenhieb verdanke ich dem Brock-haus-Eintrag über Montevideo, Uruguays Hauptstadt. Sie habe 1985 rund 1,25 Millionen EinwohnerInnen gezählt, und das seien 42 Prozent der Landesbevölkerung gewesen. Heute wird die Gesamtbevölkerung, laut Internet, auf 3,44 Millionen beziffert. Dabei könne Montevideo, als Ballungsraum, bereits 1,97 Millionen EinwohnerInnen vorweisen. Narrt mich meine Rechenkunst nicht, sind das rund 57 Prozent. Gut die Hälfte des Landes tritt sich somit allein in Montevideo auf die Füße. Das Internet wehrt natürlich sofort ab: im Vergleich sei Montevideo die südamerikanische Großstadt mit der höchsten »Lebensqualität«. Ja, sicher. Hongkong oder die Hölle dürften noch schlimmer sein.

Man macht sich selten klar, daß die sogenannte Industrialisierung (= Kapitalisierung) des 18./19. Jahrhunderts ganz wesentlich auch eine Verstädterung war. Mottek beschreibt das im zweiten Band seiner Wirtschaftsgeschichte (S. 218–23) unmißverständlich. Die Kapitalisierung der Gutshöfe machte zahlreiche TagelöhnerInnen und HäuslerInnen überflüssig. Die städtischen Fabriken wiederum entzogen dem dörflichen Hausgewerbe und den dortigen Handwerksbetrieben den Boden. Folglich blieb den Landlosen und Proletarisierten nur der Weg in eben diese städtischen Fabriken. Zufällig wurden damals auch wie der Teufel Chausseen und Eisenbahnstrecken gebaut. Da konnte man einen Teil der Erwerbslosen erst einmal günstig einsetzen – und wenn sie fertig waren, rauschten sie gleich dreimal so schnell in die Städte, und ein Löwenanteil aus den Dörfern folgte ihnen zudem auf den Fuß. Man könnte glatt von der Völkerwanderung des Industriezeitalters sprechen. Unterschlagen wir aber nicht die rund 2,5 Millionen Deutschen, die um 1850 nach Amerika auswanderten, ob nach Montana oder Montevideo.

Mottek gibt sogar Zahlen über das preußische Berlin. Es sei zwischen 1820 und 1870, also in nur 50 Jahren, von rund 200.000 auf gut 800.000 EinwohnerInnen angewachsen. Das ist eine Vervierfachung, ganz schön happig. Heute hat Berlin 3,75 Millionen EinwohnerInnen, darunter betrüblich viele Bürokraten. Gewiß laden Großstädte oder Ballungsräume, von allen anderen Gebrechen einmal abgesehen, geradezu dazu ein, sie zu bombardieren und in Trümmerwüsten zu verwandeln. Trotzdem nehme ich an, sie werden ihre jeweiligen Länder eher durch jene anderen Gebrechen verwüsten, etwa durch Schmutz, Lärm, Seuchen, Verbrechen und all den Hader, den sich die lieben StädterInnen untereinander bereiten. Sie erdrosseln sich eigenhändig, was soll man sie da noch bombardieren? In diesem Fall bestünde ja doch, wie ich kürzlich schon sagte, die Gefahr, die Elite setzt die eigenen Produktions- und Verkaufsstätten und die eigenen Sprößlinge aufs Spiel.

Nein, wir stehen wahrscheinlich auch in der Kriegsführung an einer »Zeitenwende«: sie wird auffallend niederträchtiger und abscheulicher. In den jüngsten Wochen häuften sich Anschläge auf Staatsmänner. Die Waffen sind eben inzwischen so ausgefeilt oder »präzise«, daß man sich fast beliebig die Oberhäupter unerwünschter Rebellen oder Rivalen beziehungsweise die kinderreichen Familien von palästinensischen Führern herauspicken kann. Eine ferngesteuerte Drohne, zwei oder drei Raketen – weg sind sie. Vielleicht war das klassische linke Verdammungsurteil, Soldaten seien Mörder, in der Tat ein bißchen leichtfertig. Aber man wußte es nicht besser, weil die Kriegsgeschichte, soweit ich sehe, erst im Lauf der Postmoderne zur Mordgeschichte wird. Die kaum zählbaren Mordanschläge von CIA, Mossad, KGB und dergleichen bis 2007 kann man bei Tim Weiner nachlesen. Dann kam »Hausneger« Barack Obama ins Weiße Haus, um die Drohneneinsätze prompt beträchtlich zu steigern. Die jüngsten Mordanschläge werden Sie morgen wieder Ihrem Nachrichtenportal entnehmen können. Solange es nicht Sie selber trifft.



Sollte es unwahrscheinlicherweise noch einmal zu einer Brockhaus-Druckausgabe kommen, wird die Redaktion viele Generäle oder Feldmarschälle streichen können, um dafür ein paar Leute von der Kragenweite des DDR-Lehrers Werner Moritz (1928–67) einzurücken. Der Mann war zuletzt Schuldirektor in Rogätz (nördlich von Magdeburg). Am 6. Juli 1967 befand er sich mit rund 250 anderen Fahrgästen in einem Personenzug von Magdeburg nach Thale im Harz, wo er an einer vogelkundlichen Tagung teilnehmen wollte. Der Zug wimmelte von Schulkindern, die sich auf ihr Ferienlager im Harz freuten. Sie alle kamen an diesem Tag nur bis Langenweddingen, das südlich von Magdeburg liegt. Dort gab es einen nicht ordnungsgemäß geschlossenen Bahnübergang, den gegen acht gerade ein mit 15.000 Litern Leichtbenzin gefüllter Minol-Tanklastwagen benutzte. Die Dampflok des Zuges, 85 km/h schnell, da hier kein Halt geplant war, erfaßte den Lkw noch mit einem Puffer. Im Ergebnis kam es zu Explosionen und einer wahren Feuersbrunst. Kinder, die noch genug Luft hatten, schrien: »Es ist Krieg, es ist Krieg!« Die Behörden gaben später 94 Todesopfer an, darunter der Benzinfahrer und 44 SchülerInnen. Es wären beinahe 12 oder 13 mehr gewesen, hätte Moritz sie nicht aus dem brennenden Zug gerettet. Dabei zog sich der 39jährige freilich schwere Verbrennungen zu, denen er anderntags in einem Magdeburger Krankenhaus erlag. 1995 benannte man die Grundschule in Rogätz nach ihm. Er selbst hatte drei Kinder und deren Mutter hinterlassen. Schrankenwärter und Fahrdienstleiter wurden damals zu je fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Kaum entlassen, brachte sich der Schrankenwärter um.*

* Katrin Löwe, »Zugunglück: Der Tod in der Flammenhölle«, Mitteldeutsche Zeitung, 5. Juli 2007: https://www.mz.de/mitteldeutschland/zugungluck-der-tod-in-der-flammenholle-2839341



Laut Brockhaus begann die neuenglische Farmersfrau Anna »Grandma« Moses (1860–1961) erst als 70jährige damit, Hartfaserplatten mit bunten Szenen aus dem fröhlichen Landleben zu bemalen. Andere Leute machen in diesem Alter ihr Testament. Das Lexikon unterbreitet uns eine Fröhliche Schlittenfahrt. Internetquellen steigern Moses‘ Debütjahr gern auf 75 oder 78. Jedenfalls war ihre märchenhafte Karriere nicht mehr aufzuhalten. Der Ingenieur und Kunstsammler Louis J. Caldor aus NYC verirrte sich ins Dorf, entdeckte Gemälde von Moses im Kramladen, hing alles an die große Glocke und verwandelte »Grandma« in einen Star der »naiven Malerei«. Als solcher war sie dann auch bald im New Yorker Museum of Modern Art vertreten, obwohl sie ja eigentlich eher altmodisch malte. Ihr hohes Alter scheint aber auch den Vorteil mit sich gebracht zu haben, daß ihr Ruhm und Dollarflut nicht zu Kopfe stiegen. Ihr Gatte Thomas war bereits 1927 gestorben, Herzinfarkt. Freilich hatte die Künstlerin etliche Kinder und Enkel, die vermutlich den Weihnachtskarten und Hemden, die mit Grandmas Werken bedruckt waren, ein Bündel Banknoten vorzogen. 2006 brachte es ihr Gemälde Sugaring Off bei Christie‘s auf einen Erlös von 1,2 Millionen Dollar. Ein anderer Rekord war ohne Zweifel ihr Tod mit 101. Die näheren Umstände werden nirgends gestreift. In dieser Hinsicht ist der buchstäbliche Fall der Altersgenossin und Landsmännin Connie Reeves dankbarer, wie Sie exklusiv in einem Archivbeitrag von mir nachlesen können.



Beim Motmot – folgt im Brockhaus in eckigen Klammern »mexikanisch (lautmalend)« – handelt es sich nicht etwa um den nächsten Bildenden Künstler, vielmehr um eine Vogelart, genauer um → Sägeracken, so der Verweis des Lexikons auf Band 19. Danach leben diese bunt gefärbten und aberwitzig langschwänzigen Vögel allerdings ebenfalls in Amerika, wie einst Moses. Nur glaube man nicht, das Lexikon würde uns nun andeuten, wie der Motmot Laut gebe, also rufe oder singe. Hier hilft das Internet etwas weiter. Zwar ergattere ich keine Tonaufnahmen, aber die umfangreiche Webseite fotoreiseberichte.de meldet beispielsweise zum Trinidadmotmot, seine Stimme sei leise und eher unauffällig, weshalb man die Vögel oftmals trotz ihrer leuchtenden Farben im üppigen Grün nicht entdecke. Na, Pech gehabt. Jetzt aber kommt der Diademmotmot, der mich sogar zum Lachen bringt. Diese Art ist in Costa Rica anzutreffen. Vor allem morgens seien ihre dumpfen Rufe zu hören, die an Hundegebell aus entlegenen Gehöften erinnerten. Sie klängen ungefähr wie mot-mot-mot oder hoop-hoop. »Es scheint fast so, als würden die Vögel ihren Namen rufen.« Das erinnert mich unweigerlich an einen Scherz, den der Sprachforscher Walter Porzig einmal anführte. Ein Bauer wendet sich nach einem astronomischen Vortrag an den Redner. Er begreife ja durchaus, daß sich die Bahnen der Sterne berechnen ließen. »Aber wie in aller Welt hat man ihre Namen herausgebracht?« Schließlich rufen oder singen die ja nicht, soweit wir wissen.
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