Mittwoch, 26. Juni 2024
Risse im Brockhaus 25

Wenige Tage, nachdem er in einer Rede vor der römischen Abgeordnetenkammer die Faschisten angeprangert hatte, wurde der 39 Jahre alter Politiker Giacomo Matteotti (1885–1924) von vermeintlichen Banditen entführt und ermordet – die sich später als Getreue »aus der engsten Umgebung Mussolinis« entpuppten, wie sich sogar Brockhaus festzuhalten getraut. Wahrscheinlich war der gemäßigte Sozialist und studierte Jurist nach dem Überfall bereits bei der Autofahrt aufgrund eines Fluchtversuchs erstochen worden – was hieße, einige Folter blieb ihm erspart. Er hinterließ seine Frau nebst zwei oder drei Kindern. Mit dem Wendepunkt der sogenannten Matteotti-Krise ließ der »Duce« spätestens im Folgejahr des Mordes sein demokratisches Mäntelchen fallen. Nach dem Krieg wurden noch lebende Ausführende zu hohen Haftstrafen verurteilt; Mussolini dagegen war inzwischen selber tot. Angeblich hatte er sogar öffentlich die »Verantwortung« für das Verbrechen übernommen, entnehme ich verschiedenen Internetquellen. Wohl daher der Brockhaus-Mut.

1973 wurde der Stoff mit Franco Nero in der Hauptrolle und Mario Adorf als Mussolini unter dem Titel Il delitto Matteotti (Die Ermordung Matteottis) verfilmt. Ganz am Rande kommt er auch in einem seltsamen Roman von Friedrich Georg Jünger vor, gestorben 1977. Bekanntlich schätze ich in FGJ vorwiegend den Essayisten und Verfasser kürzerer Erzählungen. Er verfaßte jedoch auch drei, durchweg kaum bekannte Romane. Zwei Schwestern ist der »mittlere« Roman. Ich will ihn bei dieser Gelegenheit vorstellen. Ein Deutscher im heiratsfähigen Alter verbringt einige Sommermonate in Rom – aus welchem Grund, ist einem auch nach 260 Seiten nicht wesentlich klarer als zu Beginn der Lektüre. Vielleicht darf man den Hauptgrund in den titelgebenden Schwestern sehen, von deren Existenz der Gast aus Deutschland freilich vor seinem Eintreffen gar nichts wußte. Ansonsten liebt er Bücher, Altertümer und Feigenbäume, spricht gelegentlich von Studien und läßt sich außerdem in diplomatisch-geheimdienstliche Machenschaften verwickeln, angeblich jedenfalls. Bei allem scheint es ihm weder an Zeit noch Geld zu mangeln. Handlungszeit des Romans dürfte um 1930 sein, da von Weltkriegsan-strengungen noch nicht die Rede ist, dafür aber von der »Ermordung Matteottis«, »eine üble Geschichte«. Sie war ja 1924 vorgefallen. Jüngers Roman wurde 1956 vom anspruchsvollen Programm des Hanser Verlages mitgeschleppt, wie man wohl behaupten darf. Gegen heutigen Müll stellt er sicherlich Gold dar, weil FGJ sorgsam formuliert und auch ein gewisses Romanklima zu schaffen versteht. Doch gegen die erwähnten Ansprüche gehalten, ist er Blech.

Das darf man buchstäblich verstehen. Zu allem Unglück ist jener gelehrte deutsche Kunstfreund nämlich auch der Ich-Erzähler des Romans, den keine Macht daran hindern kann, sein Lamento über die Berechenbarkeit und Vernutzung der modernen Welt über sämtliche Buchkapitel auszubreiten. Selbst LeserInnen, die dieses Lamento noch nicht kennen und die es keineswegs abwegig finden, könnten ungehalten werden, weil es von diesem Mann vorgebracht wird, der nie Geldsorgen hat und der die hechelnden Mühlen des Erwerbslebens wahrscheinlich lediglich vom Hörensagen kennt. Während der Autor »nur« eine Kriegsversehrtenrente von etwa der Hälfte eines Arbeiterlohnes bezog, muß seinem offensichtlichen alter ego »Giorgio« (Georg) mindestens das Sechsfache zur Verfügung gestanden haben. Was Wunder, wenn er sich in Rom, der Hotels überdrüssig, ein mehrgeschossiges Häuschen mit Garten und Springbrunnen mietet. Da findet dann auch bald die erste der beiden Schwestern Platz, Rosalie, trotz der Gegend eine Blondine. Die schwarzgelockte Fernanda, die nach wenigen Monaten in ihre Fußstapfen tritt, zieht nur deshalb nicht ebenfalls ein, weil sich Giorgio zur Rückreise entschließt – in Fernandas Begleitung. Jüngers Vorstellungen über die Rolle von Geliebten waren immer altmodisch und simpel. Hier versucht er Gewinn an Dramatik zu erzielen, indem er Rosalie einer tödlichen Krankheit zum Opfer fallen und Giorgio über seine ursprüngliche und wahre Hinneigung zu Fernanda im Dunkeln läßt. Erst spät fällt bei diesem Müßiggänger der Groschen: Fernanda gibt sich so feindselig und schnippisch, weil auch sie sich vom ersten Besuch bei den Schwestern an stark zu dir hingezogen fühlte und es lediglich der Schwester oder dem elterlichen Haussegen zuliebe verbarg!

Dieses dramaturgische Rezept wäre vielleicht aufgegangen, wenn Jünger in der Er-Form erzählt hätte. So aber wird es krampfhaft. Giorgio darf sich seine Begierde nach der Schwarzgelockten nie eingestehen und hat sich einer vergleichsweise langatmigen »Eroberung« dieser zweiten Schwester zu unterziehen. Kaum weniger verquollen (und ertraglos) gestaltet sich die Geheimniskrämerei, die Jünger seinem Giorgio in Sachen Spionage verordnet. Der müßte ja eigentlich wissen, ob und warum er eine Figur im Spiel der Geheimdienste sei, doch er hütet sich, obwohl Ich-Erzähler, uns davon etwas zu verraten. Dieses Bemühen, den Leser auf die Folter zu spannen, wirkt wahrlich peinlich, oder zumindest albern. Das ganze Geschehen nimmt einen Zug der Belanglosigkeit an. Angeblich findet es vor dem Hintergrund des Kampfes zwischen faschistischen und demokratischen Bestrebungen statt, doch auch davon, den entsprechenden Positionen und der Kräfteverteilung, erfahren wir lediglich in Andeutungen, die das Gesamtbild schön verschwommen halten. Damit ist Jünger auch in diesem Fall eine Auseinandersetzung mit dem eigenen, dem deutschen Faschismus erlassen, der hier nur in Gestalt der Randfigur des Kriminalbeamten Silbermann vorkommt. Auch ihn gibt Jünger so »rätselhaft«, wie er wahrscheinlich den ganzen deutschen Faschismus gern gehabt hätte.



Streift Brockhaus Mattium, den »Hauptort der in Nordhessen wohnenden germanischen Chatten«, stellt er beiläufig meine Immunität gegen Patriotismus auf die Probe. Ich darf mir somit keinen Ausfall gegen den römischen Feldherrn Germanicus erlauben, der Mattium im Jahr 15 n.Chr. verwüstet haben soll. Wo es genau lag, weiß man übrigens immer noch nicht. Wie es aussieht, überwand Germanicus von Süden her Lahn und Eder, um den frechen chattischen »Bauernkriegern«, die schon in der Wetterau aufgetaucht waren, eins auf die Rübe zu geben. Lange Zeit nahm man als deren Hauptquartier die Altenburg bei Niedenstein an; das soll jedoch inzwischen widerlegt sein. Als ziemlich sicher gilt eigentlich nur, daß die fragliche Festung, Kultstätte, möglicherweise auch ganze lokale Besiedelung »Mattium« in der Gegend lag, die in folgender Karte umrissen wird. Man sieht vielleicht, es handelt sich um nichts Geringeres als die Gegend meiner Kindheit.

Eben hat ein Edelpatriot sogar den nahe bei Gudensberg gelegenen Odenberg in die Waagschale geworfen.* Im Städtchen Gudensberg saß ich meine Grundschulzeit ab. Ich jagte Molche im Goldbach, beschimpfte unsere schwarze Schäferhündin Anka und möglicherweise auch hin und wieder meinen Vater Rudi – aber nur aus gehöriger Entfernung. Angeblich war er zu hartherzig, vor allem gegen meine Mutter Hannelore. Bald nach der Ehescheidung gab Rudi sein Rundfunk- und Fernsehgeschäft am Untermarkt auf und zog nach Niedenstein, wo er sich ein recht stattliches, modernes Haus am Hang erbaut hatte. Von der Terrasse aus hatte man rechterhand just den bewaldeten Hügel »Altenburg« im Blick. Dort waren Überreste einer mutmaßlich chattischen Ringwallanlage freigelegt worden. Daß Rudi einmal auf der Altenburg herumstapfte und -stöberte, ist eher unwahrscheinlich. Ich glaube, die Natur ließ ihn ähnlich kalt wie die Geschichtswissenschaft.

Einen Vater schlecht zu machen, an den man kaum noch eigene Erinnerungen, ansonsten lediglich befangene Urteile Dritter hat, dürfte unzulässig sein. Eine Tante behauptete einmal, nachdem mir wegen irgendwas der Kragen geplatzt war: »Das hast du bestimmt von Rudi!« Sie meinte den Jähzorn. Und wenn schon! Ein Vater kann ja wohl so wenig für seine Anlagen wie dessen Sohn. Man darf ihm deshalb nicht vorhalten, er hätte dem Sohn diese oder jene ungünstige Neigung eingepflanzt. Was ich allerdings schon seit etlichen Jahren verwerflich finde, ist sein hartnäckiger Wunsch, überhaupt zu pflanzen. Wer auf diesen Planeten heute noch Sprößlinge setzt, muß entweder so hartherzig wie angeblich Rudi oder so dumm wie Wahlschafe und ihre Leidhammel sein. Kürzlich hat mir sogar ein jüngerer Brieffreund, der eigentlich als kluger, rand- und widerständiger Kopf gilt, beiläufig gestanden, er habe gerade eine Familie gegründet; Mutter und Söhnchen seien wohlauf. Ich war entsetzt. Was hat denn dieses Söhnchen noch an Gesundheit, Freude und Zukunft zu erwarten? So gut wie nichts. Beziehungsweise ganz überwiegend Qual. Das habe ich dem Brieffreund aber wohlweislich nicht gesagt. Er weiß es schließlich selber. Doch er setzt sich brutal über sein Wissen hinweg, weil auch in ihm der irrationale »Vaterwunsch« keimt. Der Wunsch nach dem Eigenen. Für Genaueres verweise ich auf meine Register-Stichworte »Bevölkerungsfrage« und »Kinder«.

* Helmut Saehrendt, »Argumente für den Odenberg«, 2024, 20 Seiten, Beschreibung https://www.grin.com/document/1470264



Wem wäre die östlich von Madagaskar gelegene Insel Mauritius einschließlich der einst dort ausgegebenen »ersten englischen Kolonialpostwertzeichen«, die später astronomisch hohe Preise erzielten, nicht bekannt? Na also. Ich wende mich deshalb der ersten Freien Post dieses Planeten zu. Sie wurde um 1900 in der Freien Republik Mollowina gegründet. Da dieses Schwarzmeerländchen auch von Geld frei ist, pflegen die Leute dort, rund 40.000, auch keine Briefmarken zu kaufen. Es gibt dort überhaupt keine Gebühren, folglich entfallen auch Briefmarken. Das soll freilich nicht heißen, die dort von den berittenen Postkurieren des Hauptstädtchens Kusmu dreimal wöchentlich beförderten Botschaften der Republikaner-Innen wären bereits von den Briefumschlägen her stinklangweilig. Sie sind im Gegenteil oft auf die reizendste und verblüffendste Art bemalt oder bekritzelt. Die einzige offizielle Vorschrift, wenn man sie so nennen darf, besteht in der Ermahnung, Anschrift und Absender einigermaßen deutlich aufzubringen, damit die Postkuriere keine Lupe bemühen oder erst einen Ermittlungsausschuß gründen müssen. Kusmu liegt ungefähr in der Mitte des Ländchens. Bald nach dem Umsturz (Junker- und Türkenherrschaft!) wurde die Republik für die Zwecke der Benachrichtigung nach Art von Blütenstrahlen in 12 Posttouren eingeteilt, die von den Kurieren, ab Kusmu Marktplatz, ohne Hetze in höchstens einem Tagesritt zu bewältigen sind. Dann liefern sie ihre Gäule wieder im einzigen Gestüt der Republik ab, das unterhalb des Städtchens am Kusufer liegt. Ihre Entlohnung besteht aus den Eindrücken, die sie im Verlauf ihrer Tour in den Dörfern empfangen und ausgetauscht haben, darunter manche Scherze und lächelnde Gesichter. Die neu zu versendenden Botschaften bringen sie ebenfalls mit nach Hause. Sie werden im Postbüro am Marktplatz sortiert. Botschaften an den Republikrat, beispielsweise eine Bitte um ein paar Spannschlösser oder einen Rüffel für die Bildungsrätin Aneta Pillat, gehen in der Regel sofort an das gegenüber liegende ehemalige Rathaus von Kusmu, in dem nun jener Republikrat sitzt. Auch die drei Bezirke des Hauptstädtchens werden als Dörfer bezeichnet und entsprechend verwaltet. Im ganzen teilen sich die RepublikanerInnen auf rund 50 Dörfer auf. Fundament eines jeden Dorfes und damit der gesamten Republik sind die sogenannten Grundorganisationen (GO‘s), meist zwischen 70 und 100 Köpfe stark, Kinder eingeschlossen. Wer es genauer wissen will, muß meinen Kurzroman Zeit der Luchse lesen.



Ich mute Ihnen einen kurzen Blick auf den schottischen Rennfahrer Colin McRae (1968–2007) zu, obwohl er für Brockhaus ersichtlich zu spät kam. Er war erst 1995 als erster Brite Rallye-Weltmeister geworden. Nachdem er einige heftige Unfälle überstanden hatte, bekam er unter Kollegen und Fans den Spitznamen »Rollin’ McCrash«. Gleichwohl endete McRae, mit 39 Jahren, keineswegs auf der Piste, obwohl er nach wie vor Rennen fuhr und sich außerdem der Entwicklung eigener Rennwagen widmete. Aber der Brite flog auch gern. Als er am 15. September 2007 bei mäßig böigem Wind und guter Sicht in seinem privaten Hubschrauber des Typs Eurocopter Squirrel auf das Gelände seines alten Herrensitzes Jerviswood House bei Lanark, Schottland, zuhielt, befanden sich neben ihm selber sein fünfjähriger Sohn John Gavin, dessen sechsjähriger Freund Ben Porcelli sowie Graeme Duncan, ein Jugendfreund McRaes, an Bord. In das Mouse Water Valley eingebogen, stürzte die Maschine in ein Gehölz und geriet in Brand, wodurch sämtliche vier Insassen zu Tode kamen. Duncun war 37.

Nach Presseberichten über das Ergebnis einer amtlichen Untersuchung lagen keine technischen Absturzursachen vor. Vielmehr habe Pilot McRae »unnötig und fahrlässig« gehandelt; er sei überflüssigerweise, vielleicht aus Übermut, in das »schwierige Gelände« dieser Schlucht und dabei viel zu tief, außerdem zu schnell geflogen. Nebenbei auch illegal; habe er doch, so Sheriff Nikola Stewart, keine im Unfalljahr gültige Fluglizenz für die betreffende Maschine besessen.*

Wie sich versteht, hatte die Medienlandschaft nach dem »tragischen Ende« eines stets zum Scherzen aufgelegten Champions von Schmerzenslauten gezittert. Der einsame Seufzer eines Zynikers, immerhin habe Vater McRae seinem Sprößling Johnny eine Laufbahn als Rennfahrer erspart, war darin untergegangen. Prompt nahm die Fachwelt den Unglücksraben Ende 2008 mit allen Ehren in die Scottish Sports Hall of Fame auf. Zu deren Gründungspaten (2002) zählt immerhin ein hochadliges Weib, Prinzessin Anne. Ich weise außerdem auf die witzige Umkehrung des Falles Rita → Maiburg aus der vorausgegangenen Folge hin. Damals (1977) war die Pilotin als Autofahrerin verunglückt.

* »Colin McRae blamed for fatal helicopter crash«, BBC News 6. September 2011: http://www.bbc.com/news/uk-scotland-glasgow-west-14803595



Hätten Sie diesen Künstler gekannt? Laut Brockhaus brachte der niederländische Maler Han van Meegeren (1889–1947) »jahrelang erfolgreich meisterhafte Fälschungen« von berühmten Vorgängern in den Handel, etwa Vermeer, Terborch, Hals. Er gilt noch heute als König unter den Kunstfälschern. Den Gipfel seiner Karriere erreichte er 1942, als Europa gerade in Trümmer fiel. Mit Hilfe eines Mittelsmannes gelang es ihm damals, seinen angeblichen Vermeer »Christus und die Ehebrecherin« für den Rekordpreis von 1,65 Millionen Gulden keinem Geringeren als Hermann Göring anzudrehen. Und der hängte dieses Gemälde überglücklich in seinen schon kürzlich erwähnten Landsitz Carinhall.*

Mit dem Kriegsende kamen jedoch die Yankees in den Besitz der Göringschen Sammlung. Und das sorgte in den Niederlanden für einige Empörung: »Landesverräter« Meegeren haben den Nazis einen Vermeer verscheuert, um noch reicher zu werden, als er ohnehin schon war. Er soll in den Niederlanden fast 70 Häuser, darunter Hotels, besessen haben. Seine Erlöse aus Fälschungen wurden um 1970 auf 30 Millionen Dollar geschätzt. Jetzt aber sah sich der Künstler in einer peinlichen Zwickmühle. Hütete er das Geheimnis seiner Könnerschaft und seines Reichtums, winkte ihm der schändliche Tod als Landesverräter; bekannte er sich dagegen als Fälscher, somit Betrüger, kam er »nur« ins Gefängnis. Für das zweite entschied er sich auch. Allerdings nahm ihm das verblüffte Gericht sein Bekenntnis zunächst nicht ab. Dazu seien die heiklen Gemälde viel zu gut. Sie müßten echt sein. Erst eine gründliche Untersuchung durch einen Experten-Ausschuß stimmte das Gericht um. Nun zog es seinen Hut vor dem Künstler und brummte ihm lediglich ein Jahr Gefängnis auf. Das war am 12. November 1947.

Irre ich mich nicht, hatte Meegeren freilich schon vor dem Krieg in der Klemme gesessen. Schließlich hatte er sich damals (in Nizza) unter gründlichen Vorbereitungen sehr wahrscheinlich nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch deshalb zu der Laufbahn als Fälscher entschlossen, weil er wütend war. Er hatte sich über die Verkennung seitens der Kunstkritik gegrämt, die seine Erzeugnisse für Kitsch oder billige Nachahmung hielten. Als er dann seine ersten gelungenen Fälschungen an den Mann brachte, besaß er zwar die Genugtuung, diese verächtlichen Urteile zermalmt zu haben – nur war er leider, von seiner Ehefrau vielleicht abgesehen, der einzige Mensch auf der Welt, der das wußte. Schließlich konnte er seine Urheberschaft nicht an die große Glocke hängen. Diese Möglichkeit bot ihm erst der Nachkriegsprozeß um das Göring-Gemälde. Allerdings konnte er seinen Triumph so gut wie nicht mehr genießen. Er starb nämlich dummerweise bereits am 30. Dezember 1947 an »Herzversagen«, wie die Nachschlagewerke der Einfachheit halber sagen. Er war nur 58 geworden. Die Vermutung, er sei der ganzen Aufregung nicht mehr gewachsen gewesen, liegt natürlich nahe. Ein begnadeter Maler zu sein und echte Marderhaarpinsel einzusetzen, ist eine Sache, aber man braucht auch ein dickes Fell.

Zum Beispiel hilft einem das dicke Fell auch dabei, sich nie als Versager zu fühlen. Laut englischer Wikipedia war Meegeren in seiner Schulzeit vom Vater wiederholt dazu verdonnert worden, strafweise hundertmal zu schreiben: »Ich weiß nichts, ich bin nichts, ich bin zu nichts fähig.« In seiner Zeit als Meisterfälscher sei er zunehmend von diversen Drogen abhängig geworden. Den deutschen Faschismus habe er, nebenbei, bewundert. Nach dem glimpflichen Ausgang seines Gerichtsverfahrens soll er mit bitterer Miene erklärt haben, sein Triumph als Fälscher sei seine Niederlage als schöpferischer Künstler gewesen. In diesem Bewußtsein steckte er die beiden Herzanfälle ein, die ihn in den Sarg beförderten.

Sind wir schon einmal bei Fälschungen, gestatte ich mir ein paar Bemerkungen zu Regenauers jüngstem Manova-Rundschlag.** Die Einsicht, das Überleben unserer Eliten stehe und falle seit vielen Jahrzehnten mit großangelegter »Manipulation«, auch PR genannt, setzt er natürlich voraus. Neuerdings jedoch suche man lästige Umwege zu vermeiden, indem man unmittelbar ins Hirn der Massen ziele. Es geht also um »Gedankenkontrolle«, wie der orwellsch geprägte Laie sagen würde. Der IT- und Militär-komplex zückt seine hinterhältigen »Neuronalwaffen«. Die Datenverarbeitungsplattform Insight von Interpol – der nie gewählten Weltpolizeiorganisation – strebe bereits seit 2020 die lückenlose Speicherung unserer Personaldaten an, den »gläsernen« Weltbürger also. »Abschalten lässt sich die BLE-Übertragung nicht.« Schließlich ist inzwischen so gut wie jeder an diverse Funk- und Überwachungsnetze angeschlossen. Hinzu käme jetzt aber die unmerkliche Fernsteuerung mithilfe von Nanopartikeln, die wir etwa durch Nahrung und Arznei oder einfach durch die Luft aufnähmen. Das klingt so erschreckend, daß Regenauer viele Belege auffahren muß – und er hat sie. Deshalb bezweifele ich die von ihm umrissenen Möglichkeiten und Anstrengungen keineswegs. Trotzdem lassen mich die Ausblicke auf die weltumspannenden finsteren Großer-Bruder-Pläne, die wir ja eigentlich schon seit etlichen Jahrzehnten zu lesen bekommen, stets auf gewissen Bedenken sitzen. Ich nenne nur zwei.

Zunächst bezweifle ich die angebliche vollständige Skrupellosigkeit unserer Eliten, an die Regenauer ausdrücklich glaubt. Ich sage mir, auch diese SpitzenmanagerInnen und SpitzenverdienerInnen haben doch Kinder oder Enkel. Sie sind ja auf geeigneten Nachwuchs angewiesen. Sollten sie nun diesen Lieben all die verheerenden, nun auch körperlich Gestalt annehmenden manipulativen Eingriffe, die sie den breiten Massen zugedacht haben, ebenfalls zumuten? Das Impfen mit Schrott und Chips und Begierden, die sie nicht mehr abwehren oder beherrschen können? Diese Einheitslösung kommt mir doch ein bißchen zu einfach vor. Nebenbei besitzen etliche Staaten seit Jahrzehnten Kernwaffen, aber nach dem furchtbaren US-Versuchsballon in Hiroshima hat noch kein Politiker oder General es gewagt, seine Kernwaffen einzusetzen. Dadurch gingen ja nicht nur ihre Sprößlinge, vielmehr auch sie selber drauf. Damit will ich die Möglichkeit von Irrsinnstaten oder »Versehen« keineswegs ausschließen.

Mein zweiter Einspruch haut gleichfalls in die Kerbe »Einheitslösung«. Ich befasse mich seit Jahren mit Geschichte, ob des Neandertals, des Kapitalismus‘ oder anarchistischer Kommunen. Dabei ist mir echte und einigermaßen dauerhafte Einigkeit noch nie begegnet. Alle Gesellschaften, alle Bewegungen, alle Grüppchen sind gespalten oder jedenfalls leicht spaltbar. Davon hat natürlich auch die CIA gezehrt – und das gewichtige Buch von Tim Weiner über deren Geschichte bis 2007 beweist, auch dieser brutale Geheimclub selber litt unentwegt an Spaltungen und Spaltbarkeit in den eigenen Reihen. Deshalb werden mich auch turmhohe Stapel von Manifesten, man müsse und werde jetzt dies und das tun, nicht davon überzeugen, das es auch geschieht. Die Elite wird immer wieder über unerwartete Klüfte im eigenen Lager stolpern. Sie wird immer Rivalität, Intrige und Verrat am Hals haben. Damit will ich natürlich nicht behaupten, das unterbinde nun die meisten von ihr geliebten Scheußlichkeiten. Sie wird im Gegenteil noch viel Unheil anrichten, und von daher kann ich dem Zufall nur für mein vergleichsweise hohes Alter danken.

Nebenbei kostet es mich einige Selbstdiziplin, Regenauer nicht die vielen scheußlichen Fremdworte anzukreiden, die er hartnäckig liebt. Er selber hätte gesagt: notorisch. Dabei habe ich natürlich nicht die kaum vermeidbaren angelsächsichen Fachbegriffe der IT-Branche im Auge. Vielmehr völlig grundlose, überflüssige Wendungen wie: Relevanz, kapriziöses Gesetz, Eleminierung mißliebiger Informationen, definitive Abgrenzung, den zu priori-sierenden Sicherheitsinteressen, skalieren, expandieren und dergleichen mehr. Das soll aber nicht am Verdienst des Überblicks rütteln, den er in seinem Aufsatz gibt.

* Armin Fuhrer am 13. August 2021 für https://www.focus.de/wissen/mensch/geschichte/nationalsozialismus/vermeer-fake-machte-ihn-reich-genialer-kunstfaelscher-narrte-selbst-hitler-vize-goering_id_13552153.html
** Tom-Oliver Regenauer: https://www.manova.news/artikel/die-sechste-dimension, 25. Mai 2024




Wahrscheinlich werden Sie wissen, was ein Mofa ist – aber Mefo ..? Auf die Mefo-Wechsel stieß ich erstmals im dritten Band von Motteks Wirtschaftsgeschichte. Brockhaus kennt sie auch. 1934–38 gaben die Nazis mit Hilfe einer Scheingesellschaft Wechsel aus, durch die sie einen Teil ihrer Rüstungsausgaben kaschieren und geheimhalten konnten. Dadurch wurden die Rüstungs-bosse um mindestens 12 Milliarden Reichsmark fetter, allerdings beschleunigte dieses »Instrument« auch die Inflation. Die Scheingesellschaft hieß, langatmig gesagt, Metallurgische Forschungsgesellschaft m.b.H. Flott abgekürzt, hieß sie eben Mefo.

Nahm ich mich schon früher unserer Vorliebe für Abkürzungen an, ob Trampelpfade oder Sammelbegriffe, habe ich doch die Stutzung von Worten vernachlässigt. Auch sie dient sicherlich der Beschleunigung und Vereinfachung unseres Verkehrs, manchmal auch der Verniedlichung. Durch »Abi« und »Uni« ist eigentlich nicht sonderlich viel eingespart, aber es verleiht den Ausbildungseinrichtungen einen Kosenamen-Hauch. Wer diese Stutzungen kritisieren will, kann sich vielleicht auf meine Ausführungen gegen Fremdworte stützen. Sie sind oft unanschaulich, jedenfalls in der ersten Zeit oder für gewisse Bevölkerungskreise. Was sollte sich meine Großmutter Helene, immerhin Lehrerstochter, unter einem Mofa oder einer Mefo vorstellen? Somit wirken viele Abkürzungen auch ähnlich einschüchternd wie Fremdworte. Sie gehören dem Bezirk der »Insider« und der Jägerlateiner an. Damit will ich nicht verlangen, Sie müßten immer brav »Bundesausbildungsförderungs-gesetz« sagen, wenn sie Bafög meinen. Was Sie aber tun können: Unser Bildungssystem verächtlich machen, gewisse BundesminsterInnen auf den Bafög-Höchstsatz setzen und den allgemeinen Beschleunigungswahn geißeln, bei dem nicht nur die Sorgfalt unter die Räder kommt. In Stuttgart 21 ziehen die schwäbischen Bosse gerade ihr Brandbeschleunigungsding durch, heißt es im Internet.



Aus Furcht vor meinen Bannsprüchen hat die Brockhaus-Redaktion den Kreisschulinspektor Ferdinand von Meggenhofen (1760–90) lieber ausgespart. Zu allem Unglück war der junge Beamte auch keineswegs Bade-, vielmehr Jagdfreuden nachgegangen, als er Ende Oktober 1790 in der Gegend von Braunau, Oberösterreich, im Inn ertrank. Aber immerhin, er mußte sich dabei nicht mehr verfolgt sehen.

Fünf Jahre früher hatte der studierte Jurist (Ingolstadt), inzwischen Regimentsauditor im oberbayerischen Burghausen, beträchtliche Schwierigkeiten mit der Obrigkeit des Kurfürstentums Bayern bekommen, weil er seit mehreren Jahren aktives Mitglied des antiklerikalen, in Maßen auch antiautoritären Geheimordens der Illumi-naten war. Ein Auditor war eine Art Gerichtsreferendar. Der Geheimorden fühlte sich wie sein zeitweiliges Flaggschiff Freiherr Adolf von Knigge der Aufklärung verpflichtet, ging jedoch schon nach wenigen Jahren im selbstangelegten Sumpf der »Rechthaberei«, »Eitelkeit«, des »mystischen Formelkrams« und der »Wichtigtuerei« unter, wie jedenfalls Egon Friedell befindet.* Der enttarnte Meggenhofen wurde damals vom Dienst suspendiert, ja er wurde gar, so Uwe Puschner, »auf unbestimmte Zeit in das Münchener Franziskanerkloster eingewiesen, um dort 'auf den rechten Weg der Tugend' zu gelangen«. Allerdings kam er aufgrund eines Gnadengesuches (und schon früherer Distanzierung vom Orden) bereits nach einem Monat Haft wieder frei.**

Über diese leidvollen Erfahrungen verfaßte Meggenhofen einen aufschlußreichen, schon damals vielgelesenen und -gerühmten Bericht (Meine Geschichte und Apologie), der erstmals 1786 erschien. Meggenhofen verteidigt darin vor allem seine »Menschenrechte« auf Meinungsfreiheit und Entfaltung der Persönlichkeit. Ende 1787 konnte er dann, nach vergeblicher Stellensuche in Wien, den erwähnten Inspektorenposten übernehmen: im kaiserlichen Kreisschulamt zu Ried, Innviertel, Oberösterreich. Wie glücklich er damit war, entzieht sich meiner Kenntnis. Ende Oktober 1790 nahm er jedenfalls die Einladung seines ehemaligen Obersten, des Joseph Graf von Paumgarten zu Frauenstein, zu einem Jagdvergnügen an; es ging auf Wasservögel. Am späten Nachmittag des 26. Oktobers, einem Dienstag, setzte die achtköpfige Jagdgesellschaft mitsamt ihrer Ausbeute bei leichtem Hochwasser unweit von Ering in einem Kahn über den Inn, um in das jenseits, in Bayern gelegene gräfliche Landgut Stubenberg zu gelangen – und vermutlich tüchtig zu spachteln und zu bechern, was uns Walter Geiring*** aber nicht verrät. Schon war das andere Ufer »in greifbarer Nähe« (25 Meter!), als der Kahn einen aus dem Wasser ragenden Wurzelstock rammte und dadurch kenterte. Während sich sechs der Verunglückten retten konnten, kamen ausgerechnet der Gastgeber, seines Zeichens sogar Reichsgraf, und unser 30 Jahre alte Schulinspektor Meggenhofen zu Tode.

* Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, 1927–31, hier einbändige Ausgabe München 1974, S. 694
** Uwe Puschner in der NDB 16 (1990)
*** Walter Geiring am 6. September 2012 in den OÖNachrichten: http://www.nachrichten.at/oberoesterreich/innviertel/braunau/Reichsgraf-ertrank-in-Heitzing-im-Inn;art14857,959857. Nach freundlicher Auskunft von Uwe Puschner, Historiker in Berlin, deckt sich Geirings Darstellung mit Angaben in Friedrich Samuel Mursinnas Werk Leben und Charakter berühmter edler Männer, die 1790 verstorben sind, Halle 1792, Artikel über Meggenhofen S. 149–54.




Teilt Brockhaus mit, der südafrikanische Schriftsteller niederländischer Herkunft Johannes van Melle (1887–1953) hätte die Wahrheit gesucht und sich dabei sogar auf Ironie und Humor verstanden, könnte ich mir vielleicht überlegen, mich einmal näher mit ihm zu befassen. Aber ein abschließender Hinweis schreckt mich wieder ab. Er habe wiederholt »die Unfähigkeit der Sprache« beklagt, »eine Brücke der Verständigung zwischen den Menschen zu schlagen.« Das kenne ich leider schon von vielen anderen modernen Schriftstellern, mich selber eingeschlossen. Erfreulicherweise hing ich dieser Klage aber nur in meiner jugendlichen Weltschmerzphase an. Später dämmerte mir, in der Sprache wahrscheinlich das beste Verständigungsmittel zu haben, das der Menschheit überhaupt zur Verfügung steht. Das soll nicht heißen, sie würde es auch erfolgreich benutzen. Ganz im Gegenteil, wie der heillose Verlauf der Weltgeschichte beweist. Das darf man aber nicht der Sprache anlasten. Das Übel liegt im falschen Umgang mit ihr. Gerade durch ihren erstaunlichen Reichtum bietet die Sprache eine Möglichkeit der Klarstellung, die etwa gestischen, vor allem jedoch gefühligen Verständigungsmitteln der religiös gepolten ZweibeinerInnen weit überlegen ist. Was erleben wir aber? Die Aussagen werden verwaschen, bis man durch ein nebelverhangenes Neandertal zu torkeln hat. Sie werden undurchdringlich aufgetürmt. Es wird gelogen, daß sich die Balken biegen. Statt der Wahrheit ans Licht zu helfen, wird alles getan, um sie zu verbergen. In vielen Fällen dürfte hier noch nicht einmal böse Absicht im Spiel sein. Ein Hauptgebrechen der Moderne ist die Flüchtigkeit. Man liest und schreibt gleichermaßen hastig, oberflächlich, ohne jedes Verantwortungsbewußtsein. Die von Van Melle gesuchten Brücken müßte man pflegen, doch meine Zeitgenossen lassen sie verrotten. Sie bilden sich kurzerhand ein, sie flögen über sie, mit dem Smartphone vor der Nase.



Ein Zeitgenosse Van Melles war der russisch-sowjetische Architekt Konstantin Stepanowitsch Melnikow (1890–1974). Laut Brockhaus wird er zu den Häuptern des »Konstruktivismus« gezählt. Anscheinend hing er dem Weg der gestischen Verständigung an. Brockhaus bringt ein Farbfoto seines Moskauer Klubs Russakow, errichtet um 1928, auch Kulturhaus genannt. Ich glaubte zunächst, vor einer zu groß geratenen zähnefletschenden Bulldogge oder einem dreiteiligen Rammbock zu stehen. Gewiß bedarf ein Urteil auch des Anblicks der übrigen Gebäudeseiten und vielleicht sogar eines Überblicks. Aber gerade in dieser Hinsicht herrscht in jeder Großstadt Mangel. Sie hat keinen Platz. Dann müssen die Baumeister in die Höhe ausweichen, bis zu jenen schon weiter oben gestreiften Wolkenkratzern, die man nur aus drei Kilometern Entfernung ins Bild bekommt.

Möglicherweise wollte Melnikow dieses Problem überspielen, indem er sich etwas später bemühte, sein eigenes Haus Melnikow in vergleichweise enge Gassen der Moskauer Altstadt einzufügen. Die Genehmigung dafür bekam er jedenfalls. Das Eigenheim besteht vorwiegend aus einem zylindrischen Gebäude mit zahlreichen sechs-eckigen Fenstern, die an Einschußlöcher angreifender Geheimpolizei erinnern. Vielen Avantgardisten entlockt das Werk noch heute Schreie des Entzückens. Melnikow selber scheint gegen 1940 wegen »Formalismus« in Ungnade gefallen zu sein, wenn er sein Haus Melnikow auch bis zum Tod bewohnen durfte. Er mußte sich als Lehrer an Technischen Hochschulen und als Porträtmaler über Wasser halten.

Im zweiten Fach soll er bereits als junger Kunststudent viel Lob eingeheimst haben. Vielleicht war es ein Fehler, nicht gleich dabei zu bleiben. Als staatlich beauftragter Architekt richtet man doch viel eher beträchtliche Flurschäden an. Hat man ein dickes Fell, wird man gleichwohl 84, wie Melnikow.



Die Stadt Menden im nördlichen Sauerland wies bereits 1990 knapp 60.000 EinwohnerInnen auf. Aber wer hat schon jemals von ihr gehört? Ich selber wäre ohne Brockhaus sehr wahrscheinlich niemals über sie gestolpert. Und so gibt es unzählige deutsche Städte, die keine nennenswerte öffentliche Aufmerksamkeit erringen, weil sie der Öffentlichkeit leider nichts zu bieten haben.

Auf den ersten Blick steht es mit dem Städtchen Mendig, Kreis Mayen-Koblenz, noch viel trauriger, weil es viel kleiner ist. Bei dieser Winzigkeit (um 8.000) ist noch nicht einmal auf einen berühmten mehrtürmigen Dom zu hoffen; er würde gar nicht hineinpassen. Auch mit einem fesselnden Mordfall oder der Explosion einer Chemiefabrik kann Mending, soweit ich weiß, nicht glänzen. Seine Rettung liegt jedoch in der nahen Stadt Mayen. In ihr wuchs der berühmte Schauspieler Mario Adorf auf, geboren 1930. Sagen Sie nicht, Sie machten sich gar nichts aus Theater und Kino. Dann nehmen Sie eben die Politik. Oberbürgermeisterin von Mayen war die knallharte Blondine Veronika Fischer – wenn auch nur bis 2012. Da war sie 47, hielt ihre Verhärtung selber nicht mehr aus und nahm sich in ihrer Wohnung am Mayener Marktplatz das Leben. Näheres finden Sie bei Bedarf in meinem Nasen-Lexikon. Adorf dagegen scheint zur Stunde noch zu leben.

Die schwäbische Kreisstadt Metzingen, heute gut 22.000 EinwohnerInnen, wurde von dem Maler und Lyriker Robert Gernhardt aus ihrem Schattendasein und ihrer Öde erlöst. Sie regte ihn zu einem populären kurzen Gedicht an, in dem er die Vor- und Nachteile von Schönheit und von Häßlichkeit abwägt. Populärer kann ein Gedicht kaum sein: Tragen Sie dem Suchroboter auf »Gernhardt Metzingen«, und schon prasselt es auf Sie ein.

Das Schloß des thüringischen Städtchens Meuselwitz, Kreis Altenburg, können Sie vergessen. Es wurde im Zweiten Weltkrieg beschädigt und um 1948 abgerissen. Ansonsten ist das Städtchen nur noch unter ein paar eingeweihten Antifaschisten wegen seiner beachtlichen ZwangsarbeiterInnen-Betriebssamkeit bekannt. Es gab eine HASAG-Rüstungsfabrik und regen Austausch mit dem Weimarer KZ Buchenwald. Im Brockhaus erfahren Sie davon nichts. 1944 mußte auch der junge Wiener Fred Schwarz in Meuselwitz ein Gastspiel hinter Maschen- und Stacheldraht geben, das er in seinem lesenswerten Buch Züge auf falschem Gleis, wohl 1998 erschienen, sogar näher geschildert hat. Er hatte viele sowjetische Mitgefangene. Sich am Zaun zwecks Erbettelung eines Brotkanten oder einer Zigarette herumdrückend, konnten diese Gefangenen dann die hämischen Einheimischen erleben, die etwas später, nach Kriegsende, von allem nichts gewußt hatten.

Laut Farbfoto im Brockhaus hätte das Kreisstädtchen Miltenberg am Main, zwischen Aschaffenburg und Würzburg gelegen, immerhin das prächtige Fachwerkgebäude Gasthof Riesen zu bieten, aber das ist veraltet: 1590. Rund 400 Jahre später zählte Miltenberg um 9.000 EinwohnerInnen und war so gut wie in Vergessenheit geraten. Ende 2006 wurde es jedoch vom katholischen Pfarrer der Jakobuskirche Ulrich Boom aus dem Höllenfeuer gerissen. Er brachte Miltenberg in die Schlagzeilen, weil er eine Kundgebung von Neonazis auf dem Marktplatz durch 20 Minuten Glockenläuten platzen ließ. Sie kamen einfach nicht zu Wort. Und das, obwohl die Jakobuskirche rund 800 Meter vom Marktplatz entfernt liegt! Da hatte er sich also mächtig ins Zeug gelegt. Alle Häuser zitterten. Ein Lokalreporter rief bewundernd aus: »Ja, das können sie eben, die Christen, Gewalt mit Gewalt beantworten!« Bald darauf stieg Boom auch prompt auf. Papst Benedikt hatte die Jakobus-Glocken anscheinend selbst in Rom gehört und war derart beeindruckt, daß er Boom 2008 zum »Weihbischof« in Würzburg ernannte. Da haben sie wenigstens einen richtigen Dom.



Bei Merina handele es sich um »das wichtigste Volk der Madagassen mit (1989) rund 2,8 Millionen Angehörigen«, klärt mich Brockhaus auf. Ursprünglich Feldbauern und Handwerker, gingen sie inzwischen auch anderen Berufen nach, oft in Städten. Nun habe ich nicht vor, Ihnen die Merinas besonders nahe zu bringen – denn für mich ist jedes Volk auf Erden wichtig. Man könnte sich höchstens noch fragen, warum sie denn so wichtig sein sollen. Bei derzeit knapp 30 Millionen Madagassen wohl kaum aus quantitativen Gründen. Also ist zu vermuten, sie waren besonders schlau oder anpassungs-, kurz besonders elitefähig. Vielleicht erlösten sie Madagaskar aus dem Dämmerschlaf des »Entwicklungslandes«, weil sie die restlichen dortigen Völker gut beherrschten und mit den jeweiligen Kolonialmächten beste Beziehungen pflogen. Aber diese Entwicklungen kennen Sie ja längst.

Den erwähnten quantitativen Gesichtspunkt darf man natürlich nicht geringschätzen. Die Yankees zum Beispiel – falls sie überhaupt ein Volk darstellen – sind schon immer unglaublich viele gewesen, sie waren fruchtbar und mehrten sich und wurden immer furchtbarer. Nur dank dieser Mehrheitsverhältnisse haben sie es wahrscheinlich zu Sklaven, zur Ausrottung der IndianerInnen und zur »Supermacht« gebracht. Tim Weiner müßte der USA eigentlich bescheinigen, sich mit der UdSSR über Jahrzehnte hinweg um den GIS-Ehrentitel (Größter Irdischer Schurkenstaat) zu zanken, aber er ist Patriot, und er achtet die Mehrheitsverhältnisse, auch wenn er nachweist, daß sich die Yankees die ihnen günstigen Mehrheiten weltweit in mindestens 700 Fällen zusammen-gekauft oder sonst wie erpreßt haben, notfalls mit Hilfe von Maschinengewehrgangstern und Napalmbomben. Das wird aber die hiesigen Leidblätter nicht daran hindern, mich des primitiven »Antiamerikanismus« zu bezichtigen, falls sie einmal auf mich aufmerksam werden sollten.

Selbstverständlich hat das Mehrheitsdenken etwas mit Stärke, Kraft, Gewalttätigkeit zu tun. Erfeulicherweise sind aber die meisten MitläuferInnen dieser Weltsicht so dumm oder jedenfalls gehetzt, daß sie wahrscheinlich gar nicht auf die Idee kämen einmal nachzugucken, ob sich das Stichwort Mehrheitsdenken vielleicht in Reitmeiers Blog-Register finden läßt. Dort werden zwei Beiträge genannt, die mir durchaus am Herzen liegen.



Der namhafte Flugzeugbauer Willy Messerschmidt (1898–1978), Spezialist für Jagd- und Raketenflugzeuge, war unter anderem »Wehrwirtschaftsführer«, Arbeitgeber für KZ-Häftlinge, ab 1948 amtlich anerkannter »Mitläufer«, ab 1955 Lieferant von Bundeswehr und Nato. Dies alles habe ich nicht von Brockhaus, vielmehr von Klee. Das Lexikon erwähnt jedoch, Messerschmidts Me 109 sei »das meistgebaute Jagdflugzeug des Zweiten Weltkriegs« gewesen. Na also. Ein Wohltäter der Menschheit.



Zwei Jahre nach der weltberühmten, 36jährigen Schauspielerin und zeitweiligen Gattin Arthur Millers Marilyn Monroe ging eine US-Bestseller-Autorin von uns, die heute wahrscheinlich kaum einer kennt. Im Brockhaus hat Grace Metalious (1924–64) sechs Zeilen plus Fußnote mit Werken. 1956 hatte sie mit Peyton Place, ihrem »aufregenden, schmutzigen« Erstling, so Biografin Emily Toth, beträchtliches Aufsehen erregt. Ich habe ihn nicht gelesen. Der Roman soll den in Heuchelei gebun-denen Strauß aus sexueller Ausschweifung, Abtreibung, Drogenkonsum, Korruption und Gewalttätigkeit schildern, der in den Häuschen der fiktiven neuengländischen Kleinstadt, wo sich sein Geschehen zutrug, nicht gerade in den Fenstern stand. Kinder wie Greg Hatfield mußten das Buch im Schein einer Taschenlampe unter der Bettdecke lesen, wie er 2013 erzählt.* Ihm zufolge wurden bis dahin rund 40 Millionen Exemplare von Peyton Place verkauft. Schon ein Jahr nach Erscheinen brachte Hollywood eine wenn auch entschärfte Fassung in die Kinos (Regie Mark Robson).

Anläßlich der deutschen Rowohlt-Ausgabe (Die Leute von Peyton Place) sprach der Spiegel 1958 von einem forsch und kunstlos erzählten Schlüssellochroman. Grace Metalious, die Schöpferin des Verkaufsschlagers, bis dahin Hausfrau und Mutter mit abenteuerlichen Träumen und sogar Affären, hielt Literaturkritikern entgegen, wenn sie eine erbärmliche Schriftstellerin sei, dann besäßen eine Menge Leute einen erbärmlichen Geschmack. Metalious war aus ärmlichen und zerrütteten Verhältnissen gekommen. Als ihr Vater, ein Matrose, auf Nimmerwiedersehen vom häuslichen Deck verschwand, war sie 10. In den gleichen Verhältnissen endete sie auch wieder, nachdem sie vorübergehend ähnlich wohlhabend und glücklich verheiratet wie Monroe gewesen war. Warm Novel Raises Cain in N.H. Town, titelten die Blätter beim Debüt der 32jährigen. MitbürgerInnen aus Gilmanton, New Hampshire, und andere Leute, die sich selbst, ihr Heimatstädtchen oder die ganze US-Ostküste durch Metalious‘ Werk in Verruf gebracht wähnen, überziehen sie mit Beschimpfungen oder gleich Verleumdungsklagen, darunter sogar ihre eigene Mutter. Ihr Gatte verliert seinen Posten als Schuldirektor, die Ehe (drei Kinder) zerbricht. Auch ihre nächste Ehe, angeblich mit einem Disk Jockey, hält nicht lange. Versuche, weitere Bestseller zu Papier zu bringen, mißlingen ihr, wie zumindest die Kritik befindet. Die stämmige Frau, die sich meist in Blue Jeans zeigt und von Bekannten als ungezügelt und freigeistig, aber auch gutgläubig und einfältig beschrieben wird, verfällt dem Alkohol, häuft Schulden und Liebschaften an. Toth zufolge seufzt sie einmal in hübscher Verharmlosung ihres tristen Vorlebens: »Könnte ich die Sache noch einmal tun, wäre es einfacher arm zu bleiben. Vor meinem Erfolg war ich glücklich wie fast jedermann.«

So erstaunt es wenig, wenn eine Wiederverheiratung mit ihrem ersten Mann keine Wende bringt. 1964, zwei Jahre nach Monroes mutmaßlichem »Freitod« mit Hilfe einer Barbiturat-Dröhnung, ist Metalious‘ Gesundheits- und Gemütszustand ebenfalls für ein verfrühtes Ableben reif. Die Lexika sprechen von einer Leberzirrhose oder gleich davon, sie habe sich zu Tode gesoffen. Sie wurde 39. Die berühmtesten Sätze ihres Hauptwerkes sollen dessen Auftaktsätze sein: »Indian summer is like a woman. Ripe, hotly passionate, but fickle**, she comes and goes as she pleases so that one is never sure whether she will come at all, nor for how long she will stay.«

* »A Short Essay on Grace Metalious: Beyond Peyton Place«, 29. September 2013: https://greghatfield.wordpress.com/2013/09/29/a-short-essay-on-grace-metalious-beyond-peyton-place/. Blogger Greg Hatfield ist nach eigenen Angaben Dramatiker und Schauspieler, wohl in Cincinnati, Ohio, USA. Nebenbei gibt er das Sterbealter der Kollegin falsch an, wohl aus Versehen.
** wechselhaft, launisch, unzuverlässig u.ä.




Zoologen nennen die Metamorphose (Verwandlung, Umgestaltung), soweit sie im Tierreich vorkommt, Metabolie. Wieder etwas gelernt! Bei dieser handelt es sich also um »die indirekte Entwicklung vom Ei zum geschlechtsreifen Tier durch Einschaltung gesondert gestalteter Larvenstadien«, die man von nicht wenigen Tieren kennt. Die genausten Forschungen lägen hier über Insekten und Lurche vor. Naja, diesen irrwitzigen Weg von einem Schmetterlingsei (mit den Stationen Raupe und Puppe) zu einem bunten Flattermann kennt ja wohl jeder. Aber niemand will mir verraten, was das soll – auch Brockhaus weigert sich. Er gibt noch nicht einmal einen Anflug von Begründung, woraus ich schließe, man hält Vergeudung für selbstverständlich. Offenbar gehört sie zur sogenannten Schöpfung so notwendig wie der Militarismus zur Menschheit und der Stiel zum Apfel. Dabei könnte der Apfel auch viel einfacher und viel bequemer erreichbar aus der Erde wachsen, wie man an Kartoffeln und Steinpilzen sieht. F.G. Jünger sprach in einem ganzen, sehr stoffreichen Buch von der vollkommenen Schöpfung (1969), und ich muß Ihnen unter der Hand sagen, der Mann spinnt. Er meinte das nämlich ernst; er hatte Ironie sowieso geächtet. In Wahrheit gibt es nichts Planloseres, Absurderes und Lachhafteres als eben diese Schöpfung, wenn man sich einmal die Mühe gewisser Einblicke und Erklärungsversuche gemacht hat. Dabei liegt ihr Hauptzug wahrscheinlich in der Tat in der gewaltigen Vergeudung, die sie sich gestattet. Die Einblicke und Erklärungs-versuche eingeschlossen. Und die derzeit noch sieben Milliarden Menschen haben diese Groteske mit- oder sogar hauptsächlich auszubaden.

Sicherlich gibt es einen beliebten Haupteinwand, der noch lachhafter ist. Meine Verdammung sei »anthropozen-trisch«! Dabei sei der Mensch doch nachweislich in einem womöglich ganz beschränkten Denken gefangen! Wie könne er sich anmaßen, über etwas zu urteilen, das ihm ersichtlich himmelweit überlegen ist – schon durch seine schiere Größe und Undurchsichtigkeit überlegen! Eben hier hat der Einspruch anzusetzen. Wie können es irgend-welche Kräfte, die sich noch nicht einmal vorzustellen pflegen, wagen, einem freiheitlich gestimmten Wesen etwas derart Großes, Undurchsichtiges, Unverdauliches zuzumuten? Woher nehmen sie die Anmaßung, mich zu einem Schicksal als Befehlsempfänger und herumwieselnden Automaten zu verdonnern, als ob ich eine Ameise wäre!

Sollte dieses Schicksal freilich für die Aufrechterhaltung des gutgeschmierten kosmischen Geschehens unum-gänglich sein, wäre ich lieber gleich Ameise geworden. Es hat mich aber nie einer gefragt.



Wer chronisch an Eigenbrötelei und Abhärtungssucht erkrankt ist, sollte sich einmal um die mordssteile, bis 554 Meter hohe Sandsteinfelsengruppe Meteora bei Kalambaka in Thessalien, Mittelgriechenland, kümmern. Sie ist von altersher ein beliebter Tummelplatz für Eremiten und Mönche, wenn man das bei dieser Enge so ausdrücken darf. Ursprünglich Stätte von 24 Klostern oder Klausen, sind heute nur noch sechs in Betrieb. Brockhaus bringt ein Farbfoto, das uns Kloster Hagia Triada schmackhaft macht, gegründet um 1450. Es soll ebenfalls noch bewohnt sein. Lange Zeit sei der Zugang nur über Seilwinden und Strickleitern möglich gewesen, heißt es im Internet. »Erst seit 1925 gibt es eine Treppe.«

Ich selber wäre nicht abgeneigt, sofern man mir das sogenannte Spirituelle, also Religion und Gefühlsduselei, vom Halse hielte. Denn dafür wäre ich auch die Stechmücken los. Sie versteigen sich nie über 500 Meter, habe ich mir sagen lassen. In Thessalien bleiben sie also gefälligst am Fuß der steilen, mit Klöstern überkronten Zähne. Dort verläuft der Fluß Pinios. Die nahe Stadt Kalambaka hat immerhin um 8.000 EinwohnerInnen und sogar einen Bahnhof, in dem Fernzüge halten. Man könnte mich also besuchen.

Oder man hätte den Fluchtweg für das Gold, fällt mir nicht so ganz unvermittelt ein. Seit Monaten schwebt mir eine Räuberpistole vor, die ich zum Beispiel in meiner 1939 ausgerufenen Republik Iberien ansiedeln könnte. Gewiß gibt es dort kein Geld, aber etwas Gold schon. Das haben die Leute der GO Abtei Santa Molinga eines Tages, vielleicht um 1960, erfreut entdeckt. Die ehemalige Abtei liegt in den östlichen Pyrenäen – just auf ungefähr 500 Meter. Zur GO zählen Wälder und ein Wildwasser, das bei der Stromerzeugung nützlich ist. Aber plötzlich stoßen Kommunarden beim Baden oder Waten auf Goldkörnchen! Sie posauen es nicht gerade heraus, aber mit dem Republikrat in Madrid verständigen sie sich schon. Es wird beschlossen: »Sobald ihr ein paar Kilo herausgewaschen habt, ruft uns an, wir schicken einen Kurier.« Das war nur vernünftig, denn in Madrid saß eine sowjetische Bank, die dem Rat beim Umtausch und dem sinnvollen Einsatz des Goldes behilflich sein konnte.

Der Kurier war ein fröhlicher blonder Lockenkopf um 40, früher Schwede, jetzt Pedro mit Namen. Er konnte sogar reiten. So verstaute er die paar Kilo Gold in seinem Rucksack und schwang sich auf einen Gaul der GO. Die Abtei liegt etwas außerhalb des gleichnamigen Städtchens Molinga, das ebenfalls, wie Kalambaka, einen Bahnhof hat. Die zweigleisige Strecke führt gen Westen nach Saragossa, gen Osten nach Girona. In Molinga begegnen sich die Züge. Pedro wird den Gaul bei der Kommune Z abgeben, die öfter in der Abtei zu tun hat, und den Mittagszug nach Saragossa erklimmen. Sicherlich ein einleuchtender Plan – aber um Mittag tauchte Inge aus der Abtei (eine gebürtige Deutsche) am Bahnhof auf, weil sie, ebenfalls zu Pferd, unerwartet in die Apotheke mußte und nun noch den Bahnhofschef nach Pedros Pferd und gleich auch Post fragen wollte, ehe sie, vielleicht mit dem Handpferd an ihrer Seite, zurück zur Abtei trabte. Nebenbei hatte sie irgendein mulmiges Gefühl. Doch nicht deshalb war sie in der Apotheke gewesen. Vielmehr hatte ihr der Lockenkopf aus Madrid am Vorabend, als sie beim Abendessen zufällig an seinem Tisch saß, nicht so recht gefallen. Jetzt schüttelte sie Luc, dem erstaunlich jungen Bahnhofschef, die Hand. Sie war eben eine Deutsche. »Hat Pedro unseren Gaul bei der Kommune Z abgeliefert?« erkundigte sie sich. »Und den Mittagszug nach Saragossa hat er auch bekommen?«

»Ja, den Gaul schon, hat er mir jedenfalls versichert.«

Inge verkniff ihre blauen Augen. »Was heißt hier: den Gaul schon ..?«

»Den Mittagszug nach Saragossa wollte er ja gar nicht bekommen«, zuckte Luc die Achseln und grinste, weil er sich einbildete, er hätte die flotte Inge durch einen Scherz für sich eingenommen. »Er ist in den Gegenzug gestiegen. Nach Girona. Wußtet ihr das nicht ..?«

Inge sah ihn natürlich entgeistert an. Aber ich will die Geschichte straffen, sonst kreiden mir LiteraturkritikerInnen an, ich hätte mein Thema verfehlt, nämlich die Brockhaus-Kritik und die Klöster.

Inge denkt scharf nach, sieht nach der Bahnhofsuhr und läßt sich von Luc die geplante Ankunftszeit für Girona sagen – aha, noch ungefähr 20 Minuten Zeit. Sie umreißt Luc den etwas heiklen Kurierauftrag und bittet ihn, sofort in Girona anzurufen. »Beschreibe ihnen Pedro. Sie sollen beobachten, ob er im Zug sitzt, wie er sich verhält, ob er vielleicht aussteigt oder ob er einfach auf die Weiterfahrt wartet. Wenn ja, sollen sich zwei mit Pistolen bewaffnete Vertrauensleute unter die Reisenden mischen. Du verstehst ..?«

Luc verstand. Von Girona aus war es nicht mehr weit bis zur französischen Grenze, und jenseits winkte Pedro, falls er sich aus dem Staub zu machen gedachte, die Großstadt Perpignan, in der es selbstverständlich etliche Banken, notfalls auch HehlerInnen gab. Verließ er also am letzten Bahnhof vor der Grenze den Zug, lag sein Vorhaben auf der Hand: in der Dunkelheit über die Grenze robben, dann immer schön der Goldnase nach, bis Perpignan. Wurde er in Frankreich kontrolliert, konnte er sich problemlos als Iberianer ausweisen, denn aufgrund des Kurierauftrages hatte er die erforderlichen Papiere. Von dem Gold ahnte ja niemand etwas. Nur Inge hatte jenes mulmige Gefühl gehabt.

Es trog sie nicht. Die beiden Vertrauensleute sahen Pedro vor der Grenze aussteigen, stellten ihn zur Rede, hörten sich sein Gedruckse nicht so lange an, drückten ihm vielmehr ihre Pistolen in die Hüften und zückten den Strick, den sie auf Lucs Bitten nicht einzustecken vergessen hatten. Nein, nein! Keine Lynchjustiz bitte. Nicht in einer Freien Republik. Sie fesselten Pedro lediglich die Hände und nahmen ihn auf einer Bank im Bahnhof vorsichtshalber zwischen sich, während sie auf den nächsten Gegenzug Richtung Saragossa warteten. Sie telefonierten aber auch mit den Bahnchefs in Girona und Molinga, außerdem natürlich mit der Chefin vom Dienst in der Abtei Santa Molinga. Alle waren einverstanden – sogar Pedro. Er fing schon auf der Bahnhofsbank an, den reumütigen Sünder zu geben. Er würde nun in die Abtei zurückkehren müssen, um sich dort vor einem Schiedsgericht zu verantworten. Inge hatte sich bereits mit Madrid in Verbindung gesetzt, um sich ein besseres Bild von dem Sünder machen zu können. Die Genossen hielten es für überflüssig, einen Vertreter für die Verhandlung loszueisen, schlugen jedoch vor, den Schiedsrat der katalanischen Landesleitung hinzuzuziehen. So verfuhr die Abtei denn auch.

Eigentlich ist die Gerichtsverhandlung das Interessanteste an der ganzen Geschichte. Sie taugt freilich nicht für eine Räuberpistole. Wir vertagen sie also. Es ist den Lesern ja unbenommen, einstweilen Wetten darüber abzuschließen, was nun voraussichtlich mit Pedro geschieht. Ich selber nehme stark an, er bedauert seinen Rückfall in die Eigensüchtigkeit und Selbstherrlichkeit aufrichtig und glaubwürdig. Schon hat Inge erneut eine Art Eingebung, jedoch eine gute dieses Mal. Sie will von Pedro wissen, ob er sich vorstellen könnte, bis auf weiteres in Molinga zu bleiben und in dem goldhaltigen Wildwasser sozusagen etwas Strafarbeit zu leisten, also beim Durchsieben des Sandes und Gerölls im Bach zu helfen. Diese Arbeit ist schon deshalb kein Deckchensticken, weil einem das Wildwasser selbst im Sommer Frostbeulen beibringen kann. Da heißt es viele Witze reißen, um sich bei Laune zu halten. Prompt zeigt eine Probezeitlerin aus dem Publikum Inge ein Vögelchen, vielleicht eine Wasseramsel. »Du spinnst ja wohl! Den Bock zum Gärtner machen!« Der Landesschiedsrat konnte ihr aber durch einen Kurzvortrag ein paar der Regeln klarmachen, von denen sich alternative Rechtsprechung leiten läßt. Eine davon lautet, Vertrauen wirke oft Wunder. Ihr Gegenteil heißt: Wer Wind sät, wird Sturm ernten.

Das Gold in Pedros Rucksack haben wir keineswegs vergessen. Madrid versprach in einem ersten Telefon-gespräch mit der Chefin vom Dienst der Abtei, sofort den nächsten Kurier zu schicken. »Aber bitte nicht wieder so eine trübe Tasse wie den blonden Lockenkopf!«, schimpfte Maggi Redbone ins Telefon. Diesmal kam sogar eine Frau. Mescalin hieß sie, eine kleine, drahtige Dunkelhaarige. Dummerweise verliebte sich just Inge erfolgreich in sie, und so dauerte es noch einmal drei Tage, bis das Gold endlich in Madrid eintraf. Inge fuhr kurzerhand mit. Sie war ohnehin noch nie in der ehemaligen, auf der Meseta thronenden Riesenstadt gewesen. Jetzt war Madrid großzügig ausgelichtet und in soundsoviele »Dörfer« unterteilt. Mescalin wohnte in einer GO des hügeligen Dorfes Höhenrausch. Na, wenn das nicht paßte!
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