Mittwoch, 12. Juni 2024
Risse im Brockhaus 23

Bei Hildesheimer hat Giacomo Leopardi (1798–1837) Differenzen mit Selbstmord-Befürworter Marbot. In der Tat vermute ich stark, obwohl ausgemachter Schwarz-seher, hätte sich dieser vor allem unter Melancholikern berühmte italienische »Dichter« niemals umgebracht. Dazu war er in gewissem Sinne zu feige. Habe ich nämlich verschiedene Stellen in Leopardis Zibaldone genannten Aufzeichnungen richtig verstanden (deutsche Auswahl Das Gedankenbuch, 1985), schreckte ihn die nicht völlig ausschließbare Möglichkeit, durch einen Selbstmord könne man, »um des Zeitlichen willen«, »das Ewige aufs Spiel setzen« – kurz, ihn schreckte, so nahe bei Rom, die Religion.

Als Lyriker wurde Leopardi im Lande schon zu Lebzeiten geschätzt. Später erhoben ihn auch die deutschen Philosophen Schopenhauer und Nietzsche zu ihrem Bruder oder Vorläufer. Meldet Brockhaus gegen Leopardis »trockene«, mit »glehrtem Ballast« überladene Prosa Vorbehalte an, spricht er mir aus der Seele. Das Verständnis jener Aufzeichnungen fällt mir jedenfalls ziemlich schwer, weil der enorm belesene Grafensproß von der Adriaküste als Nicht-Lyriker das Gewundene und Verschachtelte liebte, was möglicherweise seiner Haarspaltewut entsprach. Die Lektüre ist mehr Quälerei als Genuß. Verdammen wir Leopardi aber deshalb nicht, das Schicksal hatte ihn übel genug gestraft. Der kleingewachsene, bucklige Geistesarbeiter kränkelte von Kind auf, wurde seitens der streng katholischen Eltern stets gegängelt und sogar in finanzieller Hinsicht kurz gehalten. Seine frühe Sehschwäche verschlimmerte sich von Jahr zu Jahr. Daneben rang er mit Lungen- und Herzproblemen. Mehrere angebetete Frauen gaben ihm einen Korb. So erlag er seiner rundum zerrütteten, zuletzt durch Asthmaanfälle gekrönten Verfassung (1837 in Neapel) bereits mit knapp 39 Jahren.

Rund 60 Jahre später wurde Leopardis Grabmal in den Parco Virgiliano verlegt und zum italienischen Nationaldenkmal erklärt. Der Wiener Egon Friedell ehrte ihn (in seiner um 1930 veröffentlichten Kulturgeschichte der Neuzeit) mit dem Satz, Leopardi verwerfe die Welt in so ergreifend schönen Versen, daß er zu ihr bekehre.



Die Krankheit Lepra, durch ein Bakterium verursacht, auch »Aussatz« genannt, war über Jahrhunderte hinweg die entstellende Seuche und das entsprechende Schreckbild. Sie galt noch zu Zeiten der US-Chemikerin Alice Ball (1892–1916), an die ich hier kurzerhand erinnern will, als unheilbar. Es gab lediglich ziemlich untaugliche Versuche zur Linderung mit Hilfe des pflanzlichen, aus Asien stammenden Chaulmoogra-Öls. Ball, die blutjunge dunkelhäutige, anscheinend auch bildhübsche Forscherin afroamerikanischer Herkunft, die von Seattle, Washington, ans College auf Hawaii gewechselt war, fand buchstäblich die Lösung. Es gelang ihr, das Öl so zu verflüssigen, daß es gefahrlos injiziert werden konnte. Auf Hawaii gab es eine ganze »Lepra-Kolonie«; stellte man nämlich eine Erkrankung an Lepra fest, wurde der Befallene kurzerhand verhaftet und auf die Hawaii-Insel Molokai verbannt. Ob sich Ball dort öfter aufhielt, habe ich nicht herausgefunden.

Nebenbei war Alice Ball, Tochter von Fotografen, die erste Frau, die am College, der späteren University of Hawaii, einen naturwissenschaftlichen »master« machte. Sie wurde außerdem umgehend zur Forschung und Lehre herangezogen.* Die durch Ball in kürzester Zeit entschieden verbesserte Heilmethode mit dem Baumsamenöl blieb noch für rund 30 Jahre, bis zur Entdeckung der Antibiotika, das einzige halbwegs wirksame Mittel gegen Lepra. Aber sie konnte kein Lob mehr einheimsen. Sie erkrankte im Jahr nach ihrer Entdeckung, fuhr zu ihren Angehörigen in Seattle zurück – und nach wenigen Monaten, Ende Dezember 1916, war sie mausetot, 24 Jahre jung. Nun heftete sich ein Vorgesetzter – vermutlich ein Weißer – ihre Erkenntnisse ans Revers und benannte Balls Methode dreist nach sich selbst. Das wurde 1922 in einer Fachzeitschrift aufgedeckt. Gleichwohl erhob man Ball erst um 2000 ihrerseits zum Forschungsgegenstand, wodurch sie auch erstmals zu nennenswerter Aufmerksamkeit und Anerkennung von Seiten akademischer und staatlicher Stellen kam.

Bis ins Persönliche scheint diese Forschung allerdings nach wie vor nicht vorgedrungen zu sein. Balls Temperament? Ihre Meinungen, Ängste, Sehnsüchte? Ging sie gelegentlich Vergnügungen nach? Von alledem ist zumindest im Internet kein Komma zu lesen. Wie es aussieht, bleibt selbst ihr früher Tod im Dunkeln. Eine Beschreibung der Krankheit, die sie nach Hause trieb, ist im Internet nicht zu haben. Immerhin erwähnt* das UNMC einen Zeitungsartikel aus Honolulu, wonach wahrscheinlich eine Vergiftung durch Chlor vorlag. Offenbar hatte Ball (aus Weltkriegsgründen) im Unterricht demonstriert, wie eine Gasmaske zu bedienen sei, und dabei Chlor eingeatmet. Das College dementierte. Ent-sprechend gibt der amtliche Totenschein »Tuberkulose« an – und nicht etwa Lepra. Laut Brockhaus ähnelt die Lepra, was den Erreger angeht, der Tuberkulose sogar. Das wird im Artikel der Mediziner aus Nebraska bestätigt.

Der Brockhaus-Eintrag (von 1990) betont überdies, die Ansteckungsgefahr bei Lepra sei wesentlich geringer, als in früheren Zeiten vermutet, weshalb sich eine strenge Isolierung der Erkrankten erübrige. Früher hatte man panische Angst vor »Aussätzigen« – und setzte sie deshalb unerbittlich aus. Daher der Name »Aussatz«. Neuerdings hatte man Corona. Man verdonnerte bereits die ABC-Schützen zum Tragen irrwitziger, mitunter lebens-gefährlicher »Atemschutzmasken« und verordnete den hochbetagten Sterbenden Besuchssperren. Man könnte glauben, es sei noch Krieg – und genau das ist auch der Fall. Die Menschen kämpfen seit Jahrtausenden gegen ihre Angst. Und einige Menschen gegen den Verlust ihrer Macht. Hatte der »Aussätzige« des Mittelalters Ausgang, mußten er jeden Bürger, dem er sich nahte, mit der Lazarusklapper warnen. Geht heute einer, der kein erklärter Russenfeind ist, an einer Bundeswehr-Kaserne vorbei, hat er nach neuster Verordnung die Arme abzuspreizen, damit er nicht etwa eine Handgranate aus dem Ärmel zieht.

* University of Nebraska Medical Center, »Overlooked No More«, 11. April 2o23: https://www.unmc.edu/healthsecurity/transmission/2023/04/11/overlooked-no-more-alice-ball-chemist-who-created-a-treatment-for-leprosy/



Beim schottisch-neuseeländischen Meerbau-Ingenieur James Melville Balfour (1831–69), in Brockhaus Band 2 schändlich übergangen, wäre man nicht verwundert, wenn er aus Turmhöhe in sein Grab gefallen wäre, gilt der tatkräftige und lichtvolle Pfarrerssohn doch als Errichter und Hüter des Rings aus Leuchttürmen, der seine Wahlheimat Neuseeland seit rund 150 Jahren schmückt. Er wurde jedoch ein Opfer der Seefahrt. Ich schmücke hier den Brockhaus-Eintrag über Leuchtfeuer mit ihm aus. Einige Arbeiten von Ingenieur Balfour sind in der englischen Wikipedia abgebildet.

1863 mit Frau und Kind im Lande eingetroffen, hatte es Balfour drei Jahre später bereits zum Marine Engineer, Inspector of Steamers and Superintendent of Lighthouses der aus zwei großen Inseln bestehenden britischen Kolonie gebracht. Das Unheil nahte sich dem Mann im Dezember 1869 durch das schlechte Vorbild seines Busenfreundes und Kollegen Thomas Paterson, mit dem er einst in Edinburgh gemeinsam die Schulbank gedrückt hatte. Der geringfügig ältere Schulfreund, als Ingenieur auf Eisenbahn-, Straßen- und ausgerechnet Brückenbau spezialisiert, war am 15. Dezember (auf der Ostseite der Südinsel) von Dunedin nach Timaru unterwegs, um den Behörden die Pläne für eine Brücke über den Fluß Rangitata zu unterbreiten. Als seine Postkutsche just eine Furt des schmalen, wenn auch Hochwasser führenden Kakanui Rivers in Angriff nahm, kippte sie um und gab Paterson den Fluten preis. Außer ihm soll eine junge Lehrerin namens Ross ertrunken sein.* Das Unglück unterstrich die Dringlichkeit des Baus von Brücken, die bekanntlich ähnlich sicher sind wie Leuchttürme, Wolkenkratzer und Kernkraftwerke.

Inspector Balfour, wahrscheinlich in Wellington am Fuß der Nordinsel zu Hause, hielt sich damals gerade in Timaru auf, um Arbeiten an der dortigen Hafenanlage zu überwachen. Wie sich versteht, war er sofort entschlossen, zu Patersons Beerdigung zu reisen, weshalb er am 19. Dezember im Verein mit sieben anderen Fahrgästen versuchte, bei schwerer See mit einem »whale boat« das Küstenschiff SS Maori zu erreichen, das außerhalb des Hafens vor Anker lag. Prompt geriet dieses Boot in Seenot, worauf die Maori ein Rettungsboot aussandte, das die Bedrängten aufnahm. Das Rettungsboot hatte das Mutterschiff schon so gut wie erreicht, als es von einer Sturzwelle gegen die Schiffswand geschleudert wurde und kenterte, wie ein Wochenblatt anderntags berichtete.** Für zwei Insassen kam jede Hilfe zu spät: einer davon war Balfour, der 38jährige Herr der Leuchttürme, der andere Mr. Smallwood, Kassierer der Union Bank, von dem weiter nichts überliefert ist.

* Laut Beverley Evans, Christchurch 2010, Meldung in der Tageszeitung The Star, Christchurch, Freitag 17. Dezember 1869, S. 12
** »Sad accident at Timaru«, The Press, Christchurch, Montag 20. Dezember 1869: https://paperspast.natlib.govt.nz/newspapers/CHP18691220.2.10




Brockhaus bildet sein angeblich bekanntestes Werk ab: Übergang Washingtons über den Delaware, gemalt um 1850. Auf dem Fluß treiben Eisschollen, aber die Flagge im Boot weht, und der Yankeeführer mit der Pelzmütze richtet seine Adleraugen unwiderstehlich auf das andere Ufer. Ja, der deutschstämmige Historienmaler Emanuel Leutze (1816–68) versorgte die junge USA nur zu gern mit anfeuernden Bildnissen, voran das sechs mal neun Meter große Wandgemälde Westward the Course of Empire Takes Its Way von 1861, das Leutze, nach Vorstudien, in einem Treppenhaus des Kapitols (in Washington D.C.) schuf, wo es seitdem sowohl von der Größe des US-Imperialismus wie von der unheimlichen Tiefe deutscher Gefolgschaftstreue zeugt. Auch die Szene mit Mrs. Schuyler überzeugt. Während die beherzte Farmerin noch Petroleum und einen Negerjungen bemühen mußte, um ihr Weizenfeld vor den gefräßigen Briten zu schützen, genügte zum Ausbrennen des Künstlers im Sommer 1868 die Sonne. Schon seit Wochen unter schwüler Ostküsten-Bruthitze leidend, bricht der 52jährige in Washington D.C. nach einem Spaziergang zusammen und erliegt einem Hirnschlag.

Im Sommer 2016 stand Leutzes »200. Geburtstag« an – folglich sonnte sich vor allem dessen Kindheitsstadt Schwäbisch Gmünd in seinem Ruhm.* Anflüge von kritischer Färbung scheinen die Schwaben nicht auf ihrer Palette zu haben. Dafür galoppiert im Kopf der verlinkten Webseite ein comic- und kinoreifer Westerngaul von rechts nach links. Hat man die Seite gelesen, galoppiert er immer noch beziehungsweise schon wieder. Ich nehme an, den Unterhalt für diesen unermüdlichen Gaul zweigt die Stadtverwaltung von dem angewelkten Gemüse ab, das für die Armen-Tafel in der Rinderbacher Gasse 15 gespendet wird.

Leutze wird der »Düsseldorfer Schule« zugeschlagen. Sein Bewunderer Moritz Blanckarts gab uns 1883 (ADB 18) sogar einen Umriß von der leibhaftigen Erscheinung des Künstlers, dem 1858 auf Geheiß des preußischen Königs der Professorentitel »zu Theil« geworden war. Der wahrscheinlich Dunkelhaarige sei »ein kräftiger, stark gebauter Mann, lebhaften Temperaments, thatkräftig, gewandt und schlagfertig in der Rede und von einer umfassenden Bildung« gewesen. Was freilich fehlt, sind die wechselnden Bärte, die Leutze anscheinend liebte. Das ging vom Walroßschnauzer bis zum Vollbart. Aber auch diese Tracht schützte ihn vor jenem Hitzschlag nicht.

* https://www.schwaebisch-gmuend.de/2016-emanuel-leutze.html



Den Politiker Felix Fürst Lichnowsky (1814–48) meldet Brockhaus (vier Zeilen) wohl zu Recht als ermordet. Wie vielleicht nicht jeder weiß, hatte dieser Fall auch eine literarische Dimension. 1850 brachte dem Kaufmann, Schriftsteller und Feuilletonleiter der Kölner Neuen Rheinischen Zeitung Georg Weerth ein selbstverfaßter Fortsetzungsroman drei Monate Gefängnis ein, die er am Erscheinungsort des kommunistischen Blattes absaß. Das Gericht war zu der Überzeugung gelangt, mit seiner häppchenweise servierten Satire Leben und Taten des berühmten Ritters Schnapphahnski habe er das Andenken eines Toten geschändet, nämlich just jenes schlesischen Großgrundbesitzers und spanienerfahrenen Offiziers, der zwei Jahre zuvor, 1848, mit 34 Jahren bei den sogenannten Septemberunruhen in Frankfurt/Main zu Tode gekommen war. Hier hatte Lichnowsky der berüchtigten Paulskirchen-»Nationalversammlung« angehört, die eher einer Schule für Rhetorik als einem Institut fürs Volkswohl glich. Als »nationalliberaler«, kaisertreu gestimmter Abgeordneter (für den Wahlbezirk Ratibor) soll der attraktive, schnurrbärtige Redner, auch Husar des Parlaments genannt, »zu den hervorragendsten Erscheinungen« gezählt haben – wobei wohl deutlich zu spüren war, »daß ihm weniger daran lag, zu überzeugen als durch Effekte zu glänzen«, wie sogar sein Fürsprecher Franz Freiherr von Sommaruga einräumt.*

In den linken Reihen machte sich Lichnowsky durch sein sowohl reaktionäres wie hochnäsiges Auftreten geradezu verhaßt. Bei den besagten Unruhen, als »verhetzte Volksmassen« (Sommaruga) Barrikaden errichteten und die Paulskirchen-Schwatzbude zu sprengen suchten, setzte sich der Fürst über wiederholte Ratschläge hinweg, sein Quartier lieber nicht zu verlassen, und sprengte in Begleitung des Generals Hans von Auerswald (55), den er überredet hatte, hoch zu Roß in Richtung Stadtrand, wo er hilfsbereite auswärtige Truppen in Empfang zu nehmen gedachte. Sommaruga: »Auf der Bornheimer Chaussee ward er jedoch von einem Haufen bewaffneten Gesindels erkannt, das sofort mit Flinten und anderen Mordwerk-zeugen auf die beiden Wehrlosen Jagd machte …« Beide seien wie Hasen erschossen beziehungsweise »in wahrhaft kannibalischer Weise erschlagen« worden. Diese Darstellung erscheint keineswegs übertrieben, berücksichtigt man andere zeitgenössische Quellen, die etwa das Wissenschaftsmagazin der Uni Ffm erwähnt.** Danach waren neben Knüppeln auch Sensen im Spiel. Ich kann nur hoffen, Weerths Satire, die ich nicht kenne, schloß keine Begrüßung einer derart vergeltungssüchtigen Grausamkeit ein.

Georg Weerth (1822–56) wurde, gerade wie der Geschmähte, auch nur 34. Nach einigen Enttäuschungen, darunter die gescheiterte deutsche Revolution von 1848 und ein zurückgewiesener Heiratsantrag, faßte der gelernte Kaufmann aus Detmold den Plan, sich in Havanna auf Kuba zur Ruhe zu setzen. Das war 1856, als er geschäftlich in Mittelamerika unterwegs war. Diese Ruhe sollte sich freilich, noch im selben Jahr, als Grabesdunkel erweisen. Übrigens hatten damals noch die spanischen Zuckerbarone in Kuba das Sagen, keine Genossen – die Weerth ohne Zweifel, zwecks Bruderkuß, umschlossen hätten. Als ursprünglich demokratisch gestimmter Pfarrerssohn hatte sich Weerth bereits 1838, in Barmen bei Wuppertal, mit dem revolutionären Versschmied Ferdinand Freiligrath angefreundet. Den entscheidenden Anstoß, sich dem Kommunismus zuzuwenden, gaben Weerth dann um 1845 die erschreckenden sozialen Verhältnisse in England, die ja auch Engels und Marx nicht entgangen waren. In der Tat schloß er sich nach seiner Rückkehr von der britischen Insel dem neuen Bund der Kommunisten an und hob 1848 in Köln gemeinsam mit dem Gespann Marx/Engels die Neue Rheinische Zeitung aus der Taufe. Weerth übernahm das Feuilleton.

Im März 1856 schickte sich Weerth zur erwähnten Übersiedlung (von der Karibikinsel Saint Thomas) nach Kuba an. Allerdings führten ihn im Juli noch einmal Geschäfte nach Santo Domingo. Auf dieser Reise ereilte ihn ein heftiges Fieber, für das Ärzte eine Gehirnhaut-entzündung und letztlich eine Malariaerkrankung verantwortlich machten. Er kehrte noch nach Havanna zurück, war aber nicht mehr zu retten. Der 34jährige starb Ende Juli 1856, ohne jemals auch nur eine Fahne mit dem Konterfei Che Guevaras erblickt zu haben. In der Calle Aramburu der kubanischen Hauptstadt erinnert eine Gedenktafel an ihn. Möglicherweise ist auf ihr die erste Strophe von Weerths Gedicht Der Abschied zu lesen. »Meine alte, gute Mutter, / Die nähte die halbe Nacht; / Sie hat mir aus feinem Linnen / Ein feines Hemd gemacht.«

* Artikel über L. in ADB 18 (1883)
** Anne Hardy / Wilhelm R. Schmidt, »Demonstration, Straßenkampf und ein brutaler Mord«, Forschung Frankfurt, Nr. 1/2007, S. 67–70: http://www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de/36050090/Demonstration__Strassenkampf_und_ein_brutaler_Mord_12_.pdf




Der niederländische Lehrer Jan Ligthart (1859–1916), Sohn eines Amsterdamer Krämers, wird zu den »Reformpädagogen« christlich-sozialdemokratischer Sorte gezählt. Nach Brockhaus strebte er einen lebensnahen, fächerübergreifenden und von handwerklicher Betätigung gesäumten Unterricht an, wobei ihm insbesondere die Förderung von Arbeiterkindern am Herzen lag. Seine Frau Marie, mit der er drei Kinder hatte, war gleichfalls Lehrerin. Ab 1885 leitete Ligthart eine öffentliche Schule im Den Haager proletarischen Viertel Schilderswijk, nach der Adresse Tullinghstraat genannt. Es heißt, er persönlich habe stets vegetarisch und abstinent gelebt, doch den zeittypischen Vollbart ließ er sich nicht nehmen. Seine Schule wurde zunehmend von ausheimischen Kollegen besichtigt. Er betätigte sich außerdem gewerkschaftlich und schriftstellerisch. Freilich hatte er mit vielen Widerständen zu kämpfen. So stellten sich um 40 zunehmend Herzanfälle, Ohrensausen, Müdigkeit und Trübsinn bei ihm ein. Zu allem Unglück verlor er einen neunjährigen Sohn durch Blutvergiftung. Das war 1905. Den Rest gab ihm möglicherweise der »Kriegsausbruch«, besser gesagt, der Taumel, mit dem die Massen diesen begrüßten. Ende 1914 begab sich Ligthart in ein Sanatorium in der Gemeinde Rheden, Gelderland, wo er nicht mehr lange zu leben hatte. Sein Ende wird von Quellen, die ich der niederländischen Wikipedia entnehme, ungefähr übereinstimmend geschildert – ich betone das ungefähr. Für die einen wurde der 57jährige enttäuschte und geschwächte Mann Mitte Februar 1916 bei einem Spaziergang von einem Schneesturm überrascht, der ihn gleichsam in einen Kanal blies, wo Ligthart ertrank. Für die anderen ging er an besagtem Tag ins Wasser. Ein Schiffer sei noch zur Hilfe geeilt, doch Ligthart war bereits tot.



Jeder kennt ihn von der einen oder anderen Ballsportart her, voran Fußball: den Linienrichter. Es handelt sich um den Assistenten eines → Schiedsrichters. Aha, also weiter in Band 19. Danach überwacht der Linienrichter vornehmlich die Spielfeldbegrenzung. Er kann seinen Boß, den Schiedsrichter, auch auf andere Regelverstöße aufmerksam machen. Im professionellen Fußball hat der Boß sogar zwei Assistenten, auf jeder Längsseite des Sportplatzes einen. Dafür hat der Assistent Flagge, während sich der herkömmliche Schiedsrichter mit einer Trillerpfeife und ein paar bunten Karten begnügen muß. Hat der Assistent Glück, zieht ihn der Boß auch von sich aus in heiklen Fällen heran, bittet ihn also um sachdienliche Beobachtungen und Ratschläge. Diese Blitzkonferenzen müssen mit Grenzverletzungen gar nichts zu tun haben, etwa wenn es um unzulässige »Abseits«-Positionen oder versteckte »Fouls« auf dem Platz geht. In jüngeren Quellen lese ich, inzwischen hätte der Boß auch schon häufig zusätzliche, ihrerseits im Tribünengebäude versteckte »Video-Assistenten«, die mit ihm, dem »Schiri«, in Funkverbindung stehen. Sie drehen den Film zurück und schalten die Zeitlupe ein. Denen entgeht gar nichts. Mein Gott, das erinnert ja alles offenkundig an das »normale« Geschehen, das wir von Geschäfts- und Schlachtfeldern her kennen. Überwachung, Spionage und Bürokratie ohne Ende.

Geht man noch einen Brockhaus-Band weiter (Nr. 20), lernt man einen längeren Eintrag über Sport kennen. Die dortigen Ausführungen sind durchaus genießbar, sogar recht kritisch. Der Eintrag eröffnet treffend mit der Feststellung, »Sport« komme von disport/desport her, nämlich von Vergnügen. Jetzt schauen Sie sich einmal in der Stadt oder im Wald nach den Joggerinnen, ShopingerInnen und TalkrundendreherInnen um und verraten Sie mir, wo das Vergnügen denn geblieben sei? Es liegt in den allerletzten Zügen. Das Marktgeschehen wird von der Verbissenheit und der Effekthascherei beherrscht. Das einzige Vergnügen, das der Marktteilnehmer kennt, ist die Vernichtung seiner GegnerInnen, und das sind so gut wie alle, die ihm begegnen. Brockhaus meint ausblickend, angesichts der gewollten Kommerzialisierung und Professionalisierung des Sportgeschehens könne man schon fast von einer »Versportung der Gesellschaft« sprechen. Ich hielte es aber für angemessener, eher umgekehrt von einer Militarisierung auch des Sportge-schehens zu sprechen. Das Umfassende und Allesdurch-dringende ist die Militarisierung. Die erwähnte Joggerin keucht sich der rotgrüngelben »Kriegsertüchtigung« zuliebe ab.*

Mit jener »Versportung der Gesellschaft« könnte eine Phase erreicht sein, »in der die Frage nach den ethischen und sinnhaften Grundlagen des Sportes neu gestellt« werden müsse, beschließt das Lexikon seine Ausführungen. Wie man sich denken kann, ist mir das viel zu zahm. Der Sport muß weg. Die Militarisierung muß weg. Wünschenswert sind kleine, überschaubare Republiken, in denen mit vielen anderen Klüften auch die unselige Trennung zwischen Arbeit und Vergnügen aufgehoben wird. Sagen Sie nicht, das sei utopisch. Ich habe in zwei anarchistischen Kommunen gelebt und kann mich nicht erinnern, daß dort irgendjemand Sport getrieben hätte. Ein lustiges Fußballspiel in einem Monat war schon viel. Ein paar Leute haben Yoga gemacht, aber das ist ja wohl das Gegenteil von Militarisierung. »Bewegung« hatte jeder in Mengen, eben durch die gemeinsame Arbeit, den Küchen- und Kloputzdienst eingeschlossen. Allerdings hatte man auch einigen Ärger aneinander, und wer ihn um des lieben Hausfriedens willen hinunterzuschlucken versuchte, lebte nicht gerade gesund. Das Auf-den-Tisch-hauen war dann wieder der Durchblutung förderlich.

* Da fällt mir als Zugabe glatt eine Zwerglied-Aufnahme solo von 2012 ein: der fitnesser (mp3, 1,331 KB)



Ich hole hier notgedrungen einen Fingerzeig auf den schwedischen Naturforscher aus geistlichem Hause Peter Artedi (1705–35) nach. In Brockhaus Band 2 fehlt er. Dabei war er nicht nur Student der Medizin, sondern auch ein enger Freund des später weltberühmten Carl von Linné (1707–78). Leider soll Artedi 1735 in Amsterdam auf dem nächtlichen, unbegleiteten Heimweg von einer Gesellschaft bei seinem Gönner Seba betrunken in eine Gracht gefallen und auf diese Weise, erst 30 Jahre alt, umgekommen sein. Die Polizei habe ihn anderntags als Leiche herausgefischt. Es ist natürlich nicht undenkbar, daß bei dem Sturz jemand nachhalf, etwa jener ehrgeizige Freund, vielleicht sogar Liebhaber Linnaeus, der sich damals ebenfalls in den Niederlanden aufhielt, wohl hauptsächlich in Leiden. Er hatte Artedi als wissenschaftlichen Rivalen empfunden und »kümmerte« sich dann prompt um dessen interessanten Nachlaß und dessen Biografie. So scheint es jedenfalls der US-Meeresbiologe Professor Theodore W. Pietsch aus Seattle, Washington, mit seinem Roman The Curious Death of Peter Artedi: A Mystery in the History of Science anzudeuten, falls E. Charles Nelsons Besprechung in einem schottischen akademischen Magazin zu trauen ist.* Das 2010 erschienene Buch sei mit Fußnoten und Quellenangaben ausgestattet: »so it is not an ordinary novel«. Den berühmten Taxonom und Artedi-Biografen Linnaeus gebe der Autor als hinterhältigen und ausgesprochen eitlen Charakter, der alles daran gesetzt habe, sich nach dem Ableben seines besten Freundes dessen Beschreibungen, Einsichten und unveröffentlichte Manuskripte ans eigene Revers zu heften.

Übrigens galt oder gilt Artedi, jener weitgehend mittellose, frühzeitig angeblich in einen Kanal gestolperte 30jährige Schwede mit den ausgeprägten anziehenden Gesichtszügen, als Fachmann, ja sogar »Vater« der Ichthyologie, einem zoologischen Zweig, der ihn auch nach Amsterdam geführt hatte, wo seine Studien von dem bereits erwähnten wohlhabenden Apotheker Albertus Seba gefördert wurden. Die Ichthyologie ist die Fischkunde, falls Sie es nicht wissen – der Artedi, so könnte man unken, bis zum letzten Atemzug nachging.

* E. Charles Nelson in Archives of Natural History, Vol. 38 Iss. 2, Edinburgh University Press, Online September 2011: https://www.euppublishing.com/doi/full/10.3366/anh.2011.0053



Was sagt uns der karge Hinweis von Brockhaus, Rudolf Lochner (1895–1978) habe »in wesentlichen program-matischen Beiträgen eine empirische Erziehungswissen-schaft« vertreten? Den einen vielleicht gar nichts. Den anderen immerhin, da wird er ja zumindest kein akademischer Rowdy gewesen sein. Bei Klee fehlt Professor Lochner merkwürdigerweise. Wikipedia dagegen führt ihn gleich im Vorspann recht zünftig als »Agitator der sudetendeutschen völkischen Bewegung« ein. Lochner war in Prag als Sohn eines Industriebeamten zur Welt gekommen. Von 1946–63, nach dem Zusammenbruch gewisser germanischer Weltherrschaftspläne also, sei er dann (in Celle und Lüneburg) wieder Professor gewesen. Die Faschisten hatten ihn in östlichen Hochschulen, aber auch als Offizier im Weltkrieg eingesetzt. Er war SA- und NSDAP-Mitglied. Dies alles scheint in Celle und Lüneburg nicht als anstößig gegolten zu haben. Auch sonst, im restlichen Internet, nur einiges Lob, dafür noch nicht einmal ein Anflug von Kritik, soweit ich sehe.



Meine letzten Westberliner Jahre (um 1990) wohnte ich in einem großen, ungewöhnlich menschenfreundlich verwalteten Mietshaus Ecke Kameruner-/Togostraße. Es war der Weddinger »afrikanische« Winkel. Er hatte sogar eine übergreifende Afrikanische Straße zu bieten. Mit diesem Winkel war die unverbrüchliche Freundschaft des deutschen Volkes mit allen Negern bekräftigt, wie man damals noch sagen durfte. Den tropischen, für Baumwolle und Kaffee günstigen Landstrich Togo an der westafrikanischen Küste hatte sich der deutsche Imperialismus 1884 unter den Nagel gerissen – nur zu »Schutz«-Zwecken selbstverständlich. 1914/16 kamen die Franzosen in seinen Genuß. Ja, hätten wir den Ersten Weltkrieg nur gewonnen, hätten wir diese Wachablösung verhindern oder wieder rückgängig machen können! So aber erklärten einheimische schwarze Bosse Togo im Jahr 1960 für unabhängig. Darüber wird heute noch gelacht: über die Unabhängigkeit. Zu den ersten Großtaten jenes Jahres zählte die Errichtung eines, wie Brockhaus meint, »monumentalen« Unabhängigkeitsdenkmals in der Hauptstadt Lome (frz. Lomé). Das Lexikon bringt sogar ein Farbfoto, ungefähr so. Ich schätze, das Kunstwerk ist ähnlich wuchtig wie die barocke Waltershäuser Stadtkirche und hat auch nicht unbedingt weniger gekostet. Das wäre der volkswirtschaftliche, vielleicht lediglich untergeordnete Gesichtspunkt. Die Errichtung von fünf geräumigen Dorfgemeinschaftshäusern für dieselbe Summe wäre meines Erachtens beträchtlich sinnvoller gewesen. In der Hauptsache geht mir freilich auf, daß ich, als Anarchist, Denkmäler grundsätzlich aus sozialpsychologischen Gründen ablehnen sollte. Einen »Umsturzplatz« hier und dort könnte ich vielleicht noch verkraften. Aber bei Pferden und fäuste- oder computermausschwingenden Zweibeinern hörts wirklich auf. Man kann Achtung vor verdienten Mitstreitern so wenig verordnen wie Revolutionen. Jeden Personenkult verabscheut der Anarchist sowieso. Nebenbei würden Denkmäler in Freien Republiken gegen meine wohlbegründete Abneigung verstoßen, den öffentlichen Raum, ob Marktplatz oder Birkenhain, bis zur Unkenntlichkeit zu verschandeln. In dieser Hinsicht bin ich ganz Umwelt- und sogar Luftschützer.



Der Zoologe und Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903–89) war in meiner Jugend schon fast weltweit als Graugans-Dompteur beliebt. Darüber hatte der Professor (ab 1940 in Königsberg nahe Moskau) populäre Bücher geschrieben. Seine Graugänse fraßen ihm aus der Hand und klebten ihm bei jedem Gang durch die Obstwiese an den Füßen. Das fanden viele stark. So fiel es auch Brockhaus nicht schwer, den Professor (1990) als sympathischen, hemdsärmeligen Naturforscher zu malen, der 1973 sogar den Nobelpreis einstrich. Niemand wäre auf die Idee gekommen, Lorenz hätte womöglich auch seinerseits den Gantern, die um 1940 Deutschland beherrschten, aus den Händen gefressen und ihnen die Füße geküßt. Klee behauptet, der gebürtige Wiener habe Darwins Entwicklungsgedanken mit NS-Rassenhygiene verbunden. Nach dem »Anschluß« Österreichs (1938) wurde Lorenz auch Parteimitglied. 1948 konnte der vorübergehende Lagerarzt sowjetischen Gefangenenlagern den Rücken kehren und bald darauf ein oberbayerischer Max-Plank-Instituts-Direktor werden. Im Jahr des Nobelpreises trat er in den Professoren-Ruhestand. Er heimste emsig weiterer Ehrungen ein und wurde noch 85.

Im Internet scheint er inzwischen jedoch, kraft seiner Prominenz, zu den »Umstrittenen« zu gehören.* Das ist natürlich auch eine Möglichkeit, die Prominenz noch zu steigern. Am Maßstab »Größe« rüttelt mal wieder keiner. Alle fragen nur, wie groß er denn nun war. Als ob es darauf ankäme! Beim berüchtigten »Mitlaufen« kommt es nicht auf die Leibeslänge, vielmehr die Ausdauer an.

Eine kleine Warnung ist vielleicht angebracht. Man darf Lorenz nicht mit dem Heldentenor Max Sülzenfuß verwechseln, ein Zeitgenosse von ihm. Der hatte sich nämlich, verständlicherweise, in den Wagneropern-Programmheften als Max Lorenz (1901–75) drucken lassen. Dieser Lorenz war wohl auch nicht gerade Antifaschist, mußte jedoch wegen jüdischer Ehefrau und eigener Homosexualität verschiedene Stolpersteine verkraften, die ihm die Nazis in die Laufbahn warfen. 1944 durfte er aufatmen, weil ihn Goebbels auf die »Gottbegnadetenliste« setzte. Nach dem Krieg sahen ihn dann die Bayreuther, Wiener und Salzburger wieder als Star. Brockhaus läßt Sülzenfuß‘ Größe in nur 7 ½ Zeilen aufscheinen, das ist ja wohl auch eine Kunst.

* Die Webseite des Deutschlandfunks etwa schreibt am 27. Februar 2024 zum fünfminütigen Hörbeitrag Monika Seynsches »Forscher mit Nazi-Vergangenheit« einleitend, der verdienstvolle Wissenschaftler habe sich von den Nazis »vereinnahmen« lassen und seine Parteimitgliedschaft ein Leben lang verschwiegen.



Für die hochbeinigen, dafür stummelschwänzigen Luchse habe ich bereits andernorts wiederholt die Lanze gebrochen. Und das nicht nur wegen ihres hübsch getüpfelten, meist blaßgelben oder hellbraunen Katzenfells. In meinem Porträt Kurt Helds, von dem viele den Roman »Die Rote Zora« kennen dürften, betonte ich, der Luchs greife so gut wie nie Menschen an, auch keine Kinder. In meiner um 1900 gegründeten Freien Republik Mollowina (Roman »Zeit der Luchse«) wurde er sogar zum Wappentier und Amulett erhoben. Der einzige »Verdienstorden« der jungen Republik ist ein kleiner, stilisierter, aus Bernstein geschnitzter Luchs, der bei Bedarf am Halsband oder als Brosche getragen werden kann. Die Zwergrepublik am Schwarzen Meer verfügt selber über ein Bernstein-Vorkommen. Ich glaube fast, diesen Einfall hat mir (2019) Brockhaus eingegeben. Nach einer Sage, so teilt das Lexikon mit, habe der Luchs aus Neid und Mißgunst seinen Urin verscharrt, weil er dem Menschen den daraus entstehenden Bernstein, den Luchsharnstein Lyncurium, mißgönne. Merken Sie es sich also: der Neidhammel ist der Luchs, und nicht etwa der Mensch.

Seinen Namen soll er seinen »funkelnden« gelben Augen verdanken. Als Nachtjäger hat er neben den scharfen Augen auch ein ausgezeichnetes Gehör. Ein Comiczeichner, den Gott zur Schöpfung mitgenommen hatte, stattete die Luchsohren mit den bekannten lustigen Haarpinseln aus. Woran Gott nicht dachte, das war die Möglichkeit der Gefangenschaft. Sonst hätte er dem Luchs eine Feile in die Krallen eingebaut. Um 1990 wohnte ich in Kassel-Wilhelmshöhe am Rammelsberg. Der kleine bewaldete Hügel diente mir oft zur Vogelpirsch. Die nahe Drusel, ein Bach, wies sogar Wasseramseln auf. Aber der Rammelsberg hatte leider auch einen sogenannten Kleintierzoo zu bieten. Er lag auf der Nordseite am Rand des bei Joggern beliebten Rundweges. Prunkstück dieser privaten Einrichtung war ein Luchs – ein Bild des Jammers.

Ich stand damals öfter vor seinem Käfig, stirnrunzelnd und kopfschüttelnd. In seiner einzigen Astgabel liegend, blickte er die Leute draußen ungläubig an, als hätte Gott außer den Luchsen und Rehen (zum essen) nur noch ZweibeinerInnen geschaffen, denen durchweg der Wahnsinn aus den trüben Augen quoll. Er verstand die Welt nicht mehr. Alles Grübeln brachte ihm keine einleuchtende Erklärung ein. Er tat mir entschieden mehr leid als jener Panther, den Rilke einmal besang, wie alle Real- und OberschülerInnen wissen. Nur Rilke selber bedauerte ich noch mehr, weil der Meister ausschließlich aalglatte Verse drechseln konnte, die die Wahnsinnigen als besonders elegant empfanden. Rilke hatte nur Augen für die zermürbende Gefangenschaft seines »Sujets«. Es war die Freiheitsberaubung, die den Salondichter empörte. Vor dem Rammelsberger Luchs stehend, sagte ich mir dagegen, so ausgestellt und schamlos gemustert zu werden, muß ihm doch mindestens ebensoviel Qual bereiten. Möglicherweise sprach da das langjährige Westberliner Aktmodell aus mir. 1992 trat ich eine Lehre zum Raumausstatter an.



Vom kurzzeitigen Ministerpräsidenten Patrice Lumumba (1925–61) räumt Brockhaus ein, er sei ermordet worden. Er sagt nur nicht deutlich, von wem. Vielleicht wäre das aber, für das Erscheinungsjahr 1990, auch zuviel verlangt gewesen. Denn im ganzen mußten vier Jahrzehnte vergehen, bis Licht in diesen Akt des Staatsterrorismus kam, dem der 35jährige schwarze Afrikaner 1961 zum Opfer gefallen war. Im Jahr zuvor hatten ihn seine Landsleute zum ersten Ministerpräsi-denten des rohstoffreichen, nun »freien« Kongo gewählt. Schon bei den Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit hatte es der hochgewachsene, hagere Mann gewagt, sich nicht nur jede zukünftige ausländische Bevormundung zu verbitten, sondern auch dem anwesenden belgischen König Baudouin alle Schandtaten der Kolonialmacht vorzuhalten, die dieser befohlen oder gedeckt hatte. Das gefiel weder dem König noch dem belgischen und nordamerikanischen Kapital, das den Kongo auch weiterhin auszuschlachten gedachte. Nach dem üblichen Rezept säten sie Zwietracht, worauf sich die Provinz Katanga abspaltete und Lumumba von ehemaligen Mitstreitern für abgesetzt erklärt wurde. Er kam in Haft, konnte aber mindestens einmal entkommen. Im Januar 1961 erneut ergriffen, wurde er mit seinen Gefolgsleuten Maurice Mpolo und Joseph Okito per Flugzeug nach Elisabethville (Lubumbashi), der Hauptstadt Katangas, gebracht und außerhalb der Stadt, vielleicht nach Folterungen und Demütigungen, von katangischen Soldaten unter belgischem Kommando am Rande einer Grube aufgestellt, die man wohl eigens in der Savanne ausgehoben hatte. Sie wurden erschossen und verscharrt.*

Bahnbrechend bei der Aufdeckung dieses Verbrechens wirkten um 2000 Bücher von Heribert Blondiau und Ludo de Witte. 2007 steuerte Tim Weiner in seiner umfangreichen CIA-Geschichte – wie er glaubt – Belege dafür bei, daß US-Präsident Eisenhower und dessen Geheimdienstchef Allen Dulles Lumumba unbedingt »beseitigen« lassen wollten. Es gab auch einen Vergiftungsplan; dann jedoch hätten sich die Yankees lieber Lumumbas Gegenspieler »Oberst« Joseph Mobutu ausgeguckt, der ihn kurzerhand verhaften und nach Katanga ausliefern ließ. In der Tat setzte sich Mobutu nach einigen Wirren durch und »führte« den Kongo für drei Jahrzehnte mit brutaler Hand. Laut Weiner stellte er in jener Zeit das wichtigste »antikommunistische« US-Werkzeug in Afrika überhaupt dar.**

Wie es aussieht, ist die Verwicklung der belgischen Regierung in die Ermordung Lumumbas inzwischen unwiderlegbar erwiesen. Was Wunder, wenn sich Brüssel bereits nach Ludo de Wittes Enthüllungen genötigt sah, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß einzusetzen. Als dieser 2001 seinen Abschlußbericht vorgelegt hatte, räumte die Regierung eine »moralische Verantwortung« für das Verbrechen ein, ergriff jedoch keine juristischen Maßnahmen, wobei es anscheinend bis heute blieb. Vermutlich will sie vor allem Entschädigungs-zahlungen an den Kongo vermeiden. Das wäre nur zu verständlich, weil es sich im Grunde um ein Faß ohne Boden handelt. Bezogen auf die Anfänge um 1890, stellt Gert von Paczensky in seiner schon wiederholt erwähnten Geschichte des Kolonialismus fest, »unter Führung ihres geldgierigen Königs Leopold II.« hätten auch die Belgier »große Fähigkeiten kolonialer Plünderei« entfaltet. Danach nahmen hier ebenfalls Konzessionsgesellschaften eine gigantische Enteignung vor, bemächtigten sich Dutzender von Millionen Hektar, zündeten die Dörfer an, jagten und verschleppten die Bevölkerung, zwangen sie mit vorgehaltenem Gewehr zur Plackerei auf den Plantagen oder in den Kupfergruben. Hier wurzelt unter anderem der Konzernriese Union Minière du Haut Katanga, der sich um 2000 in Umicore umtaufte – mit dem höhnischen Untertitel materials for a better life. Firmensitz ist Brüssel.

2010 reichte Lumumbas Sohn Guy in Brüssel Klage gegen ein Dutzend noch lebende Tatverdächtige ein, anscheinend alles belgische Regierungsbeamte. Das Schicksal dieser Klage ist mir unklar geblieben. Aber die DrahtzieherInnen werden ja sowieso nie belangt. Im übrigen ist zu hören, auch die Familie Lumumba sei, wie schon eine staatliche belgische Lumumba-Stiftung, zerstritten und weitgehend handlungsunfähig. Hier ist der Hinweis angebracht, es wäre wohl auch verfehlt, den gequälten und getöteten Patrice Lumumba für einen Heiligen zu halten. Er wird ja gern verklärt. Als die Truppen des frischgebackenen kongolesischen Ministerpräsidenten die drohende Sezession zu unterbinden suchten, gingen sie freilich nicht eben zimperlich mit der Zivilbevölkerung um – vor allem mit Leuten aus der Volksgruppe der Luba. Sie selber, die Truppen, gehörten nämlich mehrheitlich der Volksgruppe der Tetela an – wie auch Lumumba, der Ministerpräsident. Schon bei den Wahlen ist es, laut Zeit-Bericht***, seitens seiner AnhängerInnen zu »regelrechten Pogromen« gegen die Minderheit gekommen. In dieser Hinsicht – der Eigensüchtigkeit – hat sich die Welt in sechs Jahrzehnten um keinen Deut geläutert.

* Samuel Misteli / Fabian Urech, »Afrikanischer Märtyrer«, Neue Zürcher Zeitung, 17. Januar 2021: https://www.nzz.ch/international/mord-an-patrice-lumumba-vor-60-jahren-afrikanischer-maertyrer-ld.1596085
** Weiner CIA, deutsch 2008, S. 225–27 + 739–40
*** Andrea Böhm, »Lumumbas Märtyrium«, Zeit, 13. Januar 2011: http://www.zeit.de/2011/03/Kongo-Lumumba, inzwischen auf 4. Februar 2012 datiert und ähnlich stumm gemacht wie Lumumba




Ich nehme an, mein zeitweiliger Jugendgenosse Bernd F. Lunkewitz (* 1947), hier und dort als »Che von Kassel« gerühmt, hätte nichts dagegen, sich just wie Guevara im Brockhaus wiederzufinden – aber wahrscheinlich muß er dazu erst einmal das Zeitliche segnen. Zur Stunde soll er Bürger des idyllischen kalifornischen Städtchens Los Angeles sein. Das heißt, er kroch unter die Schürze jenes Weltpolizisten, den nicht nur die Kubaner aus vollem Herzen hassen. Dafür ließ er 2015 Frankfurt/Main und seine dortige nette Hundehütte im Stich. An findig herbeigeschafften Möpsen und an zündenden Einfällen fehlte es meinem Landsmann selten. Dabei hatten seine Kasseler Eltern »bloß« eine Reinigung und eine Wäscherei betrieben. Immerhin machte er Abitur und schrieb sich an der Frankfurter Uni in Philosophie und dergleichen ein. Tatsächlich studierte er freilich eher die antiautoritäre Revolte, und ein bißchen auch den Maoismus. Dann warf er sich aber durch einen günstigen Aushilfsjob bei einem Makler just selber auf die Immobilienbranche. Er wurde reich. An seine marxistischen und philologischen Wurzeln anknüpfend, erwarb er 1991 sogar den irgendwie doch immer noch linken Berliner Aufbau-Verlag. Es war nach der »Wende« und wirkte zunächst wie ein Paukenschlag. Allerdings soll ihm dieser Vorstoß auf den Verlegerthron, wegen unklarer Eigentumslage und womöglich auch wegen Beschiß von seiten der berüchtigten Treuhandanstalt, bis zur Stunde viel Verdruß und nach wie vor offene Rechtsstreitigkeiten eingebracht haben. Andererseits kam er dadurch ins Gespräch. Als Immobilienhai wirkt man ja eher im trüben Tiefwasser. Und seiner ausgezeichneten Finanzlage tat es offensichtlich keinen Abbruch. In Los Angeles soll er erneut in einer Villa wohnen, dazu orts- und standesgemäß Fäden zur Filmbranche geknüpft haben. Er teilt sich die Villa mindestens mit seiner Gattin Stephanie, einer Bildenden Künstlerin, die ihm drei Kinder schenkte. Bis zum Sozialismus sei es noch weit, betonte Lunkewitz kürzlich in einem lesenswerten Interview.* Seine im Grunde gut leninistischen Vorstellungen über die Entwicklung der Produktivkräfte durch ein paar hundert rundum verheerend wirkende Megakonzerne und deren anschließende Bekehrung zur Sozialisierung kann ich, um ehrlich zu sein, nur befremdlich nennen; was jedoch den Rechtsstreit um Aufbau angeht, beweisen seine Äußerungen, daß er sich keinen Blütenträumen über die Klassenjustiz der jeweils herrschenden Systeme hingibt. Insofern will ich ihm gern die Daumen drücken. Gewinnt er den Rechtsstreit, möge er mich aber bitte fragen, was er nun mit dem ganzen Zaster anfangen soll. Ich hätte da einige Ideen.

* Karsten Krampitz, »Sie wussten genau, was sie taten«, Neues Deutschland (verschämt in nd umbenannt), 27. Dezember 2021: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1159921.bernd-f-lunkewitz-sie-wussten-genau-was-sie-taten.html



Ein seltsames und sicherlich kaum beneidenswertes, von Brockhaus ohnehin übergangenes Schicksal erlitt der französische Hochschullehrer und Schriftsteller Jacques Lusseyran (1924–71). Seine Eltern, beide Wissenschaft-lerInnen, gaben ihm ihre Neigung zu Rudolf Steiners Anthroposophie mit. Doch mit acht Jahren wird der Sohn durch einen Unfall in der Schule blind. Die Eltern lehren ihn Blindenschrift. Er bleibt ein ausgezeichneter Schüler. Trotz seiner beträchtlichen Behinderung nimmt Lusseyran als junger Mann an der Resistance teil, was ihm, durch Verrat, im Sommer 1943 ein halbes Jahr Gefängnis, Krankheit und die Überstellung ins KZ einbringt, nach Buchenwald. Hier helfen ihm seine hervorragenden Deutschkenntnisse und der Glaube an sein »inneres Licht«, wie er es nennt. Nach der Befreiung ist ihm aufgrund seiner Blindheit der Staatsdienst in Frankreich verwehrt. So wird er Freier Schriftsteller, Dozent und Vortragsreisender. Angeblich zeigen sich viele Menschen von seiner »charismatischen« Ausstrahlung beeindruckt; wahrscheinlich versteht sich Lusseyran als »Heiler«, wie schon sein Mentor Georges Saint-Bonnet. Als er 1953 den Prix Louis Barthoux für ein autobiografisches Buch erhält, beglückwünscht ihn auch Albert Camus. 1969 erlangt Lusseyran eine Professur (für französische Literatur) in Honolulu, Hawaii, doch das tropische Klima bekommt ihm nicht. Mit der Aussicht auf einen Lehrstuhl in Basel hält er sich im Sommer 1971, inzwischen 46 Jahre alt, bei Verwandtschaft in Frankreich auf. Hier wird ihm an einem Julimittag eine Fahrt nach Nantes mit dem von seiner dritten Ehefrau Marie (31) gesteuerten Auto zum Verhängnis. Der Wagen sei bei Ancenis auf nasser Straße plötzlich ins Schleudern geraten und gegen ein Fahrzeug des Gegenverkehrs geprallt, heißt es in einem kleinen Porträt.* Beide Lusseyrans wurden dadurch aus ihrem Wagen geschleudert und zusätzlich von einem dritten Auto überfahren. Offenbar starben sie noch am Unfalltag. Die sechs anderen Beteiligten seien unverletzt geblieben. So weit Schachenmann. Ich selber sage mir, für Marie dürfte es eher ein Glück gewesen sein, sich nicht unter den Überlebenden zu befinden.

* Conrad Schachenmann in der Zeitschrift für Anthroposophie die Drei (Stuttgart), Heft 9/1971



In einer nach 1945 erschienen Romantriologie schildere Felix Lützkendorf (1906–90) »die enttäuschten Hoffnungen einer Generation im Zeitraum von 1910 bis zum Zweiten Weltkrieg«, erklärt uns Brockhaus und schließt seinen Eintrag über den aus Leipzig stammenden Schriftsteller. Da packt uns natürlich Mitleid. Daß Lützkendorf seine Hoffnungen vor 1945 auf das Hakenkreuz setzte, geht in dieser Erklärung großartig unter. Immerhin erwähnt das Lexikon, bis 1943 sei er Chefdramaturg an der Berliner Volksbühne gewesen, ab 1940 auch »Kriegsberichterstatter«. Nach anderen Quellen war NSDAP- und SS-Mitglied Lützkendorf strammer Faschist. Als Drehbuchautor für die UFA wirkte er auch an etlichen Einheizfilmen mit. Er ging gern in den Volksmassen auf. Wikipedia deutet das durch ein schönes Foto an. Die Mammut-Enzyklopädie scheint leider die einzige ausführliche und zudem kritische Internetquelle zu Lützkendorf zu sein. Nach Kriegsende sah sich der braune Dichter offenbar für mehrere Jahre zur publizistischen Zurückhaltung gezwungen. 1950 habe er sich in München niedergelassen, wo er 1984 sogar einen Dramatikerpreis errang. Er arbeitete nach wie vor mit dem Filmregisseur Veit Harlan zusammen, der sich, laut Brockhaus Band 9, zeitweise »in den Dienst der national-sozialistischen Propaganda« gestellt hatte. 1990 wurde Lützkendorf auch in München begraben. Die Leiche war 84 Jahre alt.

Übrigens zeigt Wikipedia auch eine Webseite der Familie des Verblichenen an – angeklickt, erscheint Not Found. Das könnte mein Glück sein. Schließlich hat mir meine Hausärztin schon vor Jahren empfohlen, mich nicht mehr so leicht aufzuregen. Nebenbei behauptet Wikipedia, als jener »Kriegsberichterstatter« sei Lützkendorf recht exklusiv für die Leibstandarte SS Adolf Hitler tätig gewesen. Das hatte Brockhaus vielleicht nicht gewußt. Die genannte Truppe scheint ein vielbeschäftigter, europaweiter Mordbrennerclub gewesen zu sein.



Gehen wir einen Weltkrieg zurück. Ende Oktober 1917 wurde der 33jährige, aus Schwaben stammende Arzt Hans Diefenbach in Ausübung seines Berufes, wenn auch unter den verschärften Bedingungen der »Westfront«, tödlich von einer Granate getroffen. Sein Testament hatte er wohlweislich schon früher verfaßt, im August 1914. Darin* vermachte er 50.000 Mark, die er seinerseits von seinem Vater geerbt hatte, Frau Rosa Luxemburg (1871–1919) in Berlin – unter der Bedingung, daß ihr lediglich die jährlichen Zinsen regelmäßig zum Lebensunterhalt ausgezahlt würden, sei sie doch »in der Privatökonomie vielleicht keine ganz so geniale Meisterin wie in der National-Ökonomie.« Der deutlich jüngere Arzt betonte dabei, die kleine, etwas verwachsene und hinkende »ausgezeichnete« Freundin, Rednerin, Briefautorin und Theoretikerin Luxemburg habe diese Rente »nicht bloß, wie dies ihrem großartigen Natürel entspräche, für andere bedürftige Leute sondern in erster Linie für sich selbst« zu verwenden. Die Bedingung, sie müßte noch länger leben, vergaß er zu stellen. Soweit ich weiß, ist der erschütterten Luxemburg die großzügige Verfügung Hänschens gar nicht mehr zu Ohren gekommen. Bekanntlich wurde die inzwischen 47jährige Kommunistin im Januar 1919, ein gutes Jahr nach Diefenbachs Tod, auf höchste Anweisungen als Festgenommene kurzerhand erschossen und wie ein räudiger Hundekadaver in den Berliner Landwehrkanal geschmissen. Die durchaus bekannten Ausführer und Drahtzieher dieses Mordes (unter anderem Hauptmann Waldemar Pabst und Reichswehrminister Gustav Noske, SPD) wurden nie belangt. Brockhaus mel-det verschwommen: ermordet von »Freikorpsoffizieren«.

Zu den tragenden Geschichtslügen der Bundesrepublik Deutschland zählt die Versicherung, die Berliner »Januaraufstände« breiter streikender Arbeitermassen seien »von den Spartakisten« angezettelt worden, somit hätten sich die Oberspartakisten Liebknecht und Luxemburg die Kugeln, die sie trafen, eigenhändig auf den Hals gezogen. Was in Wahrheit bereits Anfang Dezember 1918 angezettelt worden war, las sich auf Berliner Litfaßsäulen so: Das Vaterland sei vom inneren Feind bedroht, eben der Spartakusgruppe. »Schlagt ihre Führer tot! Tötet Liebknecht! Dann werdet ihr Frieden, Arbeit und Brot haben!« Der Umstand, daß sich die Spartakisten ab Januar 1919 KPD nannten, rüttelt nicht an dem sehr geringen Einfluß dieser eben erst gegründeten »Partei«. Wie Bernt Engelmann schreibt**, hatte sie die Streiks weder geplant noch auch nur vorausgesehen. Diese Proteste durch Gewaltakte einiger Entschlossener in eine »Revolution« verwandeln zu wollen, hätte auch den programmatischen Erklärungen der neuen Partei widersprochen, die »Terror als politisches Mittel«, in Abgrenzung zu leninistischen Praktiken, ausdrücklich verworfen hatte. Luxemburg – die dem 53köpfigen gewählten »Revolutionsausschuß« noch nicht einmal angehörte – warnte vor diesem Abenteuer, während sich ihr Genosse Karl Liebknecht nur mitziehen ließ, weil er befürchtete, sich andernfalls von den Massen zu isolieren. Aber genau er war dann das einzige Mitglied dieses vom betagten USPD-Politiker Georg Ledebour geleiteten Gremiums, das den Aufstandsversuch zu büßen hatte: indem er als Gefangener bei Nacht und Nebel im Tiergarten ermordet wurde. Er wurde wie seine Genossin Rosa lediglich 47 Jahre alt.

In literarischer Hinsicht kann mich Luxemburg nur durch ihre gesammelten Briefe überzeugen. Bei anderen Texten – soweit ich sie kenne – kommt auch bei ihr der Dogma-tismus durch, was leider immer auch dem Stil schadet. Sich ernsthaft Fragen zu stellen und auf mögliche Über-raschungen gefaßt zu machen, ist kein kommunistisches Geschäft. In vielen Briefen läßt es Luxemburg jedoch zu, und deshalb sind sie eine Wohltat, auch wenn sie oft aus dem Kerker kommen. Ich gäbe viel darum zu wissen, was der verhafteten Frau auf ihrer kurzen Autofahrt in den Tod durch den Kopf ging. Ich nehme an, sie war eine selbst für Kommunisten ungewöhnlich tapfere Frau. Schließlich hatte sie ja auch immer gegen ihre körperlichen Benachteiligungen und ihre seelischen Anfechtungen zu kämpfen.

1962 leistete sich die Adenauer-Regierung, wohl durch die Feder des Pressesprechers und Staatssekretärs Felix von Eckhardt, wieder einmal ein besonders starkes antikommunistisches Stück. Sie stellte sich in einer amtlichen Verlautbarung*** schützend vor den ehemaligen Reichswehr-Major Waldemar Pabst, den unmittelbaren Befehlsgeber des Mordkommandos gegen Rosa Luxemburg. Der war inzwischen als Waffenhändler in Düsseldorf tätig, wurde jedoch, in der Presse, immer mal wieder angegriffen. Das habe er nun zurückgewiesen. Zwar bestreite Pabst »seine Verantwortung für die standrechtlichen Erschießungen« nicht, stelle aber klar, »es in höchster Not und in der Überzeugung getan zu haben, nur so den Bürgerkrieg beenden und Deutschland vor dem Kommunismus retten zu können.« Sie haben richtig gelesen: Standrechtliche Erschießungen. Auf anderen Planeten unserer Galaxie werden solche Äußerungen Freibriefe für Staatsterrorismus genannt.

* https://www.diegeschichteberlins.de/geschichteberlins/persoenlichkeiten/persoenlichkeiteag/422-diefenbach.html, 2003
** Bernt Engelmann, Einig gegen Recht und Freiheit, erstmals 1975 erschienen, Ausgabe Göttingen 2001, S. 48–75
*** »Die Rolle Piecks«, Bulletin der Bundesregierung, Nr. 27 vom 8. Februar 1962, S. 223: https://media.frag-den-staat.de/files/media/main/bc/b9/bcb9400e-6020-457c-b30e-d00e9d9cdd4a/bulletin-1962-27.pdf




Statt meine kritischen Stellungnahmen zur Lyrik, insbesondere der Modernen, zum x-ten Male vorzutragen, will ich ein Loblied auf meinen guten Bekannten Maximilian Zander (1929–2016) singen, der leider schon seit acht Jahren unter der Erde liegt. Zander war Chemiker – und Lyriker. Brockhaus kennt ihn selbstverständlich nicht. Das paßt aber zu diesem Akademiker, weil er ausgesprochen uneitel war. Er pflegte seine Verdienste als Chemiker, Lyriker und Familienvater noch nicht einmal an ein Maiglöckchen zu hängen, obwohl er in der Ruhrgebietsstadt Castrop-Rauxel (auch die kennt keiner, habe ich recht?) ein Einfamilienhaus mit Garten bewohnte. Als Pädagoge und Leser hatte er ebenfalls Qualitäten, die mir seit Ende 2001 zugute kamen. Damals spitzte ich über der Jahresschrift Muschelhaufen, die auch mir schon die Spalten geöffnet hatte, bei einer Handvoll Aphorismen Zanders die Ohren. Der vergleichsweise alte Mann murmelt da etwa: »Es kann lange dauern, bis man merkt, daß man gestorben ist.« – »Ein erfahrener Hellseher sieht erst einmal schwarz.« – »Früher galt als Künstler, wer ein Kunstwerk hervorbrachte. Heute gilt als Kunstwerk, was ein Künstler hervorbrachte.« Das fügte sich trocken und nahtlos in ein Bollwerk gegen den sogenannten Erweiterten Kunstbegriff ein: Robert Gernhardt. Dieses Bollwerk fiel 2006. Zander erwiderte treu meine Briefe und schrieb nach wie vor Gedichte. Das war allerdings ein heikler Punkt in unserem Verhältnis – und nicht der einzige.

Wie Sie vielleicht schon wissen oder ahnen, halte ich von Moderner Lyrik, soweit sie ungebunden, dafür jedoch umso verrätselter daherkommt, gar nichts. Sie stellt für mich die Documenta der Literatur dar, nämlich einen Tummelplatz für Windbeutel und SchaumschlägerInnen. Auf ihn hatte sich auch Zander verirrt, der wahrlich weder das eine noch das andere war. Und angesichts seiner großen Klugheit und seines filigranen Sprachgefühls war es ein Jammer. So zehrte ich vor allem von unsrer Korrespondenz, die mir jede Menge Anregung und Anerkennung schenkte. Ohne Zander hätte ich den vielen Körben, die mir der Literaturbetrieb Anfang dieses Jahrhunderts an den Kopf warf, kaum widerstanden. Dafür war er selber jedoch hart im Nehmen. Griff ich im Meinungsstreit zu Titulierungen wie »Bürger« oder »Sozialdemokrat«, schluckt es der Forschungsleiter (in einer Fabrik) und Professor an der TU in Clausthal, Harz. Er glaubte, ob einer zum Radikalismus oder zur Versöh-nung neige, entschieden dessen Gene. Wahrscheinlich hat der Chemiker recht. Da es auch unter Oberschichtlern Linksradikale gibt, kann man auf soziale Lagen offenbar unterschiedlich reagieren. Man sieht das zuweilen auch an Geschwistern, etwa Brüdern. Sie kommen aus demselben Stall, doch der eine Bruder wird »Che von Kassel«, der andere Postbeamter, bis er als Regierungsrat in Rente gehen darf.

Hier liegt der nächste heikle Punkt. Was Biografisches und Gefühlsleben angeht, hielt sich Zander in unserem Briefwechsel von Anfang an bedeckt. Erwähnte er, schon früh einen Sohn verloren zu haben, kam es bereits einer Herzausschüttung gleich. Ob und wie ihn dieser Verlust schmerzte und prägte, verriet er nicht. Da ich selber in Briefen eher viele Auskünfte gebe, erhält das Schiff der Kommunikation natürlich Schlagseite. Diese Ungerechtigkeit machte mich zuweilen wütend. In anarchistischen Kommunen ist Schlagseitenkommuni-kation verpönt. Alle haben sich ähnlich weit zu öffnen. Diese Öffnung hält die Verletzbarkeit gleich, dient aber auch als Riegel gegen Mutmaßungen, Unterstellungen, Groll. Zu allem Unglück gesellte sich zu Zanders Zugeknöpftheit der Zündstoff des klassischen Vater-Sohn-Konfliktes, war er doch gut 20 Jahre älter als ich. Keine Zuneigung ist ohne Machtkampf zu haben.

Immerhin tobte oder kratzte er in unserem Fall bloß auf Briefpapier. Distanz mildert. Im Sommer 2006 schrieb Zander, er ziehe vor Gernhardt auch deshalb den Hut, weil er sich bis zuletzt (Später Spagat) mit dem Tod auseinandergesetzt habe. Ich erwiderte, dann sei es ja nicht mehr taktlos, sich auch einmal bei ihm zu erkundigen, wie er es mit dem Tod und vielleicht mit Gegenmaßnahmen halte. Vielleicht hätten wir uns Zaubermittel oder wenigstens Trost zu bieten. Diese Anfrage überging er jedoch wie schon manche Anfragen zuvor. Gewiß hatte er seine Gründe dafür – die er nicht preisgab. Wollte auch ich mich einmal als Aphorist versuchen, wäre hier der Hinweis fällig: Um uns aufzupäppeln und uns einzutrichtern, wie das Leben zu meistern sei, vergeuden unsere Eltern 20 Jahre ihrer kostbarsten Zeit. Für die heikle Frage unseres Abgangs opfern sie keine 10 Minuten.

Wer Zander in einem Gedicht zu sich nehmen möchte, hat ihn auf den Seiten 61 bis 63 seines Bändchens Antrobus‘ Tagebuch von 2004 gleichsam wie im Weinglas. Da sitzen »Ein paar ältere Herren« zusammen. Auch Zanders Verschlossenheit hat man in diesem funkelnden, tulpenförmigen Glas. Die Lage ist ernst, sagen Sie? / Ach, junger Freund, / es geht immer um Leben & Tod, / und hier sprechen Sie mit Experten. Aber sie erklären sich eben nie; sie unterhalten sich lieber mit Anekdoten, Bonmots, Zitaten. Jetzt glänzt der Gastgeber (das meine ich durchaus bewundernd) mit folgenden Worten. In der vierten Strophe / sollte der Mond erscheinen, / und, bitte: da ist er. / Na, dann reden wir mal / über die Wahrheit / der Dichter, der Physiker. / Am Ende stehen die Quoten / 3:2, aber für wen / wird nicht verraten.

Für den Leser jedenfalls nicht – will doch der Lyriker Zander verhüllen statt aufdecken. Hier hätten Sie zum Schluß auch ein wichtiges Glaubensbekenntnis hinsichtlich meines eigenen Schaffens.
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